arc
hit
he
se
2
.20
11
M
ärz
/ A
pri
l P
reis
: 28
CH
F/1
8 E
uro
O
be
rflä
ch
en
– S
urf
ace
s
ZEITLOS Wenn ein Teppich nicht nur schmuckes Accessoire, sondern modernes Design ist. Wenn seine Ästhetik Räume durchflutetund ein Gefühl von stiller Intimität schafft. Dann steht gewiss der Name TISCA TIARA dahinter. Mit aussergewöhnlichen Materialien undfaszinierenden Strukturen. Für Teppich- und Stoffkreationen von bleibender Schönheit. www.tisca.ch TTHE TOTAL TEXTILE COMPANY
adve
rtis
ing,
art
& i
deas
Leserdienst 115
architheseÜber die Fläche zwischen Architektur und Mensch
Gespräch mit Amateur Architecture Studio
Das Verhältnis von Mensch, Maschine und Architektur
Neugestaltung Eduard-Wallnöfer-Platz, Innsbruck
AFF Architekten – Schutzhütte am Fichtelberg
Rotor – Belgischer Pavillon Biennale Venedig 2010
Enric Ruiz Geli / Cloud 9 – MediaTIC, Barcelona
Eine oberflächliche Einführung zur Oberfläche
Antón García-Abril / Ensamble Studio – Trufa
SPLITTERWERK /GRAZT – Froschkönig
Knapkiewicz & Fickert Wohnüberbauung Rigiplatz
landau + kindelbacher, Holzer Kobler Grube Messel
Peter Kunz Architektur Villa im Appenzell
Interview Michele Arnaboldi
2.2011
Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
International thematic review for architecture
Oberflächen
Surfaces
4 archithese 2.2011
E D I T O R I A L
Oberflächen
Das vorliegende Heft entstand unter schwierigen Bedingungen. Als Redaktion
einer Architekturzeitschrift, welche seit vierzig Jahren den Architekturdiskurs
begleitet, nach Strukturen fahndet und noch heute den intensiven Diskurs den
Abbildungen vorzieht, war ein Heft über Oberfläche eine keinesfalls oberflächli-
che Herausforderung. Vieles schien uns bereits bis zur Erschöpfung diskutiert:
Die Medienfassaden und grünen Fassaden, die mittels lasercutting hergestellten
flachen Ornamente, die berührungssensitiven Materialien; selbst die Thermohaut
wurde in den letzten Monaten erschöpfend thematisiert. Rettet man sich von der
Oberfläche zum internationalen Begriff surface, so erschliesst sich damit zwar
eine ganze Geschichte der jüngsten Designavantgarde, weil sich die surface im
Gegensatz zur Oberfläche vom Untergrund emanzipiert hat und zu einem Objekt
der Geometrie wurde. Aber auch die Austriebe dieser Wurzeln, die folds und skins,
liegen bereits zwanzig Jahre zurück. Ihre Nachfolger, die iconic skin buildings,
überwiegend in China und den Emiraten gebaut, waren in der Diskussion weder
sonderlich beliebt noch ergiebig – und fanden mit der Finanzkrise nach Meinung
vieler ihr berechtigtes vorläufiges Ende.
Im Jahresplan nicht vohersehbar, wurde während der Ausarbeitung des Heftes
die Oberfläche in einer ganz anderen Weise und Dimension getestet. Die Umwäl-
zungen in den arabischen Ländern und insbesondere in Libyen liessen den Tep-
pich der Despotie zerreissen, Strukturen brachen auf, weil das Volk die repressive
politische Oberfläche nicht mehr duldete. Ein Zeichen auch für die internationale
Staatengemeinschaft, welche sich aufgrund der Abhängigkeit von Öl oder wegen
anderer Gründe eine fragwürdige Oberfläche zurechtpinselte.
Während der Produktion kam dann das Erdbeben mit nachfolgendem Tsunami
und der Atomkatastrophe in Japan. Nach der politischen brach somit auch die
natürliche Oberfläche und verwandelte sich von der ruhigen Meeresoberfläche
zur tödlichen Welle, welche die nur an der Medienoberfläche sichere Atomkraft
aus ihrem containment herausriss und eine zum Zeitpunkt der Fertigstellung noch
nicht absehbare Katastrophe und lang währende Tragödie zur Folge haben wird.
Neben all diesen Ereignissen verschwimmt die Bedeutung unseres Versuchs,
die Oberfläche auf neuen Pfaden zu erkunden – und doch ist es vielleicht der rich-
tige Zeitpunkt, über einige der im Heft vorgestellten Aspekte aus neuer Perspektive
und zwecks gewünschter Verunsicherung nachzudenken. Letztlich ist keine Ober-
fläche nur oberflächlich; sie ist Ergebnis einer Reaktion auf Strukturen und stets
selbst Struktur. So ist die Haut als menschliche Oberfläche nur vermeintlich unsere
Umrisslinie – vielmehr ist sie Trägerin unseres Empfindens für die Aussenwelt und
mitunter Ausdruck der Innenwelt. Bei der Architektur verhält es sich nicht anders.
– Für unser Thema machte sich der Fotograf Oliver Godow auf den Weg nach Berlin.
Redaktion
Groninger Museum,
Alessandro Mendini
(Foto: Hannes Mayer)
28 archithese 2.2011
A R C H I T E K T U R A K T U E L L
Konstruktion und Form
1 Lageplan
2 Rückwärtige Ansicht
(Fotos: Claudia Luperto)
3 Blick vom Empfangs-
bereich auf die Felswand
4 Terrasse des Wohn-
geschosses
1
2
29
PETER KUNZ ARCHITEKTUR:
VILLA IM APPENZELL
Zurückhaltende Eleganz verkörpert eine opu-
lente Villa in der Ostschweiz. Die in den Hang
integrierte Konstruktion, in Wahrheit dreige-
schossig, tritt als gigantischer, sich zwischen
Betonplatten entwickelnder Glaspavillon in
Erscheinung.
Eine Villa bezeichnet ursprünglich ein meist frei
stehendes, repräsentatives Einfamilienhaus auf dem
Land, immer ergänzt um eine Gartenfläche. Das
jüngste Projekt von Peter Kunz entspricht einer Neu-
interpretation dieses Begriffes. Ein lang gezogenes
Wohngebäude mit grossem Garten ist eingebettet
in die sanfte appenzellische Hügellandschaft. Die
Parzelle mit 5200 Quadratmetern liegt oberhalb des
Dorfes, beinahe am höchsten Punkt, und verfügt
über eine einzigartige Sicht.
Das Ergebnis eines eingeladenen Wettbewerbs
überzeugte die Bauherrschaft hauptsächlich durch
die Idee einer ungewöhnlichen Erschliessung, die
sich als neue Darstellung der klassischen Vorfahrt
versteht – eine gewagte Eingebung zwischen ima-
ginärem time channel und spektakulärem James-
Bond-Szenenbild.
Der Architekt hat mit seinem Entwurf die Her-
ausforderung angenommen, zu einem bestehenden
Thema, das ihm sehr am Herzen liegt, eine neue
Geschichte zu schreiben. Das Gebäude stellt den
Versuch einer zeitgenössischen Umsetzung des
traditionellen Appenzeller-Bauernhauses dar – ein
Solitärvolumen, das auf dem höchsten Punkt des
Hügels neben einem grossen Baum steht. Bewusst
unterscheidet sich das vorliegende Projekt aber
durch seine Eingeschossigkeit vom Original. Anstelle
eines Holzhauses mit kleinen Fenstern und grossem
Dach präsentiert es sich als scheinbar schwebende,
flache Betonkonstruktion mit riesigen Glasflächen,
die fast uneingeschränkte Ausblicke in die unberühr-
te Landschaft und auf die nahen Berge ermöglichen.
Die Konstruktion definiert das Gebäude die Plas-
tizität ergab sich aus dem Rohbau. Die Statik der
nach aussen verlegten Ortbetonstützen ermöglichte
einen Glaspavillon, der zurückgesetzt und beinahe
unabhängig zwischen den Betonplatten liegt und
aus dessen Position sich eine umlaufende Zone mit
zwei grossen, seitlich gelegenen Terrassenflächen
ergibt. Die architektonische Sprache ist reduziert
und konzentriert sich auf das Wesentliche. Der An-
schein der Eingeschossigkeit trügt allerdings. Der
Neubau besteht aus drei Volumina, wovon zwei als
Sockel ausgebildet sind und in einer Wiese liegen,
die bis ans Haus führt.
Ein hohes Gespür für Ästhetik und ein eiser-
ner Wille zu Konstruktion und Form zeichnet diese
Arbeit aus. Hochwertige Massarbeit und präzise
Detaillierung prägen den Ausdruck des Gebäudes.
Der Architekt lehnte seinen Entwurf ausserdem ge-
danklich an die Villen der Dreissigerjahre an und
versuchte, deren Hauptmerkmale für sich und seine
anspruchsvolle Bauherrschaft umzusetzen.
Die Anforderungen sind ambitioniert, das Raum-
programm umfangreich, die gewünschte technische
Ausstattung zeigt sich auf höchstem Niveau. Die
Bauherrschaft wünschte einerseits ein Haus für sich
allein, andererseits die Möglichkeit, erwachsene Kin-
der und Gäste komfortabel unterzubringen – ein
Gebäude also mit Intimität und viel Raum zugleich.
3 4
52 archithese 2.2011
Über das Verhältnis von Mensch, Maschine und Architektur im 21. Jahrhundert
Seit Jahrtausenden lebt der Mensch mit der Architektur in einer Beziehung, die überwiegend visuell
geprägt ist. Nach den mechanistischen Weltbildern stellt sich heute die Frage, inwieweit die
durch die Ästhetik auf Distanz gehaltene Architektur mit dem Körper des Menschen ein Gefühl
der Nähe enstehen lassen kann.
DIE WEICHE ARCHITEKTUR DER BERÜHRUNG
Text: Michael Wihart
Übersetzung aus dem Englischen: Claudia Kotte
Die Maschine, die das heutige Leben quasi bis zur Unsicht-
barkeit durchdrungen hat, ist im architektonischen Denken
schwerer zu fassen als man aufgrund des mechanischen
Bildes, das man von ihr hat, meinen möchte. Es lässt sich
nicht leugnen, dass die Herrschaft der Maschinen unsere
Ideen prägt und damit auch unwiderruflich unseren Begriff
von architektonischem Raum sowie letztendlich auch un-
sere physischen Beziehungen innerhalb dieses Raumes. Der
menschliche Körper ist sozusagen in einen wechselseitigen
Austausch mit gleichsam talentierten Maschinen eingetreten
und hat sein isoliertes Dasein als dimensionale Schablone
hinter sich gelassen.1 So behauptet Chris Salter: «Wenn das
vorherrschende Maschinenparadigma für den technologisier-
ten Körper das 20. Jahrhundert eingeläutet hat, so steht der
mit Prothesen versehene, mit Hilfe des Computers erweiterte
und durch Daten simulierte Körper an der Schwelle zum 21.
Jahrhundert».2 In dem Masse, wie der datensimulierte Kör-
per das mechanisierte Bild des Körpers revidiert, drängt er
zugleich im Gegenzug die Technologie dazu, menschlicher
zu werden.
Der Körper wird nicht mehr als ein maschinistisches, aus
Bauteilen bestehendes Ensemble verstanden, sondern als
etwas, das veränderbar ist und durch bioinvasive Techni-
ken (Implantate), Sensoren und Prothetik mit synthetischen,
aussermenschlichen Systemen verbunden werden kann
bzw. verbindbar ist. Interessanterweise zeigen die techno-
logischen Entwicklungen des späten 20. Jahrhunderts eine
Verlagerung in Richtung eines vitalistischen und häufig an-
thropomorphen Verständnisses von künstlichen Systemen.3
Wenn Jonathan Crary in Techniques of the Observer fragt:
«Wie entwickelt sich der Körper […] zu einer Komponente
neuer Maschinen, Ökonomien, Apparaturen, seien sie so-
zialer, triebhafter oder technologischer Art?»,4 dann macht
1, 2
53
3 Lucie Olivier, Soft
darkness touches
architecture,
London 2011
(Foto: Lucie Olivier)
1 Videostill aus
dem Musikvideo
All is full of Love
von Björk, 1999.
Regie: Chris
Cunningham
2 House reduced
to installations,
Illustration von
Francois Dallegret
für einen Artikel
von Reyner Ban-
ham, 1965
er sich darüber Gedanken, wie die Technologisierung des
menschlichen Körpers ihrerseits eine Humanisierung der
Technologie ausgelöst hat.
Körper | Physiologische Verbindung
Tatsächlich hat etwas inhärent Menschliches die Technolo-
gie vereinnahmt. Luis Fernández-Galiano konstatiert, dass
«organische Verweise fast immer davon beeinflusst sind, wie
der Organismus durch die Maschinen des jeweiligen Zeital-
ters betrachtet wird».5 Ob wir nun Begriffe aus der Hydraulik
verwenden – wenn etwa die Kanalisation mit ihren Rohren
und Aufbereitungsanlagen als Verlängerung des Magen-
Darm-Traktes gesehen wird (wobei die Toilettenschüssel
als kulturell entwickelte Schnittstelle fungiert) – oder ob
wir Begriffe aus der Elektronik verwenden – wenn etwa der
Bildschirm derart konstruiert ist, dass er dem Spektrum des
menschlichen Auges entspricht: Das Medium, das allen Aus-
tausch ermöglicht, ist der menschliche Körper. Nur durch den
Körper treten wir mit der Welt in Verbindung.
In La Nature de la nature erläutert Edgar Morin die
wechselseitige Beeinflussung von maschinistischer und
organischer Theorie und schreibt auf geradezu parodisti-
sche Weise: «[D]as lebendige Wesen ist eine thermo-hyd-
raulische Maschine in langsamen Verbrennungsmodus; es
funktioniert zwischen null und sechzig Grad Celsius, achzig
Prozent bestehen aus Umlauf- und Speicherwasser; unab-
lässig verbraucht werdend und sich selbst verbrauchend.».6
«Es ist eindeutig eine wohltemperierte, vielfach regulierte
Maschine mit einem beachtlichem Informationsapparat».7, 8
Indem die Technologie des menschlichen Körpers architek-
tonisch interpretiert wird, kann «Architektur selbst als ein
exosomatisches Artefakt des Menschen verstanden werden,
das ausserhalb des Körpers existiert».9
In Anbetracht der imminenten Materialität der Architek-
tur ist die physiologische Abhängigkeit des Körpers von sei-
3
62 archithese 2.2011
AFF Architekten: Schutzhütte am Fichtelberg Als Ferienhaus erwarben Berliner Architekten eine
knapp vierzig Jahre alte Blockhütte am Fichtelberg. Da das kleine Gebäude nicht zu erhalten war, die Kubatur
aber nicht verändert werden durfte, wurden die bestehenden Holzwände als Schalung verwendet –
der Abdruck im Inneren des Neubaus hebt den Bestand im doppelten Sinne auf.
FASSADENRECYCLING
1
63
1 Aussen
(Fotos Stefan Müller)
Text: Mathias Remmele
Die Geschichte der Schutzhütte begann mit dem Katalog
einer Immobilienauktion. Darin entdeckten ein paar junge
Berliner Architekten eine kleine Holzhütte, rund neunhun-
dert Meter hoch gelegen am Fichtelberg, gerade neben dem
Dörfchen Tellerhäuser und in nächster Nachbarschaft zum
Wald. Von Urlaubstagen aus der Kindheit her der Gegend –
einer touristisch recht populären Region des sächsischen
Erzgebirges, hart an der Grenze zu Tschechien – emotional
verbunden, entschloss man sich spontan zu einem Gebot,
und unbesehen kam das unscheinbare Hüttchen mitsamt
dem Minigrundstück drumherum in ihren Besitz.
Der umgebaute Fertig-Ferienbungalow aus DDR-Produk-
tion mit Baujahr 1971 hatte bis in die Nachwendezeit einem
Skiklub als Umkleide und Servicestation gedient. Jahrelang
vernachlässigt, befand sich die nur wenige Meter von der
zeitweise stark frequentierten Duchfahrtsstrasse entfernte
Bude freilich in einem erbärmlichen baulichen Zustand, und
bald wurde klar: Das Ding ist nicht zu retten. Weil das Grund-
stück im sogenannten Aussenbereich liegt, wo der Bestands-
schutz gilt, waren aber den Planungen für einen Ersatzbau
enge Grenzen gesetzt. Lage, Grösse und Kubatur hatten dem
Altbau zu entsprechen.
Fest entschlossen, hier keine sich etwa auf regionale Tra-
ditionen berufende folkloristische Idylle zu schaffen, entwi-
ckelten AFF Architekten das Konzept einer aus rohem Beton
gegossenen «Schutzhütte für Verpflegung und Unterkunft
von vier bis sechs Personen». So einfach wie nur möglich
sollte das Bauwerk werden, auf die wesentlichen Funktio-
nen einer Berghütte reduziert: Ein sicheres Dach über dem
Kopf, Schlafplätze, Feuerstellen zum Wärmen und Kochen,
eine Toilette, eine Waschgelegenheit, Kaltwasseranschluss
und Strom. Ansonsten galt: keinerlei zivilisatorischer Luxus,
kein Hightech, keine edlen Materialien. Der spannendste und
ungewöhnlichste Teil des Konzepts betrifft aber den Um-
gang mit der baufälligen Holzhütte: Statt den Altbau einfach
2
1 Aussenansicht
(Foto: Sven Fröhlich)
2 Innenraum mit
Oberlicht über der
Schlafkoje
(Fotos 2, 3 + 6: Hans Christian Schink)
68 archithese 2.2011
USUS – Der belgische Pavillon bei der Biennale di Venezia 2010 von Rotor
Bereits zur Biennale 2008 überzeugte Belgien mit After the Party des jungen Büros Office.
Auch 2010 wurde der Pavillon von einer ganz jungen Generation konzipiert und erhob
sich aus der Fülle des allzu Bekannten, welche die Biennalen üblicherweise auszeichnet.
DER KOSMOS DES NUR SCHEINBAR MINIMALEN
Text: Hannes Mayer
Selbst die letztjährige Biennale, entzerrt von der Kuratorin
Kazujo Sejima, war noch eine Herausforderung, um in den
meist wenigen Stunden, die dem Besucher zur Verfügung
stehen, vollständig durchmessen werden zu können. Ins-
besondere an den sommerlichen Hitzetagen schaltet in der
Folge die Wahrnehmung mitunter auf eine weniger vertiefte,
oberflächlichere Haltung um, werden Texte überflogen –
wenn überhaupt gelesen, und Objekte nur noch in ihrer
formalen Erscheinung betrachtet; manchmal gar auf Farbe
und Kontur reduziert. So blieb dann auch der belgische Pa-
villon für einige Besucher eine Ansammlung von Minimal
Art, eine überflüssige, an Ellsworth Kellys Ausstellung in der
Serpentine Gallery von 2006 erinnernde Ansammlung von
farbigen Flächen primärer Körper in unterschiedlichen Grös-
sen. Rechts drei Quadrate mit Noppen in Anthrazit, gerade-
aus zwei kleine gewölbte und verchromte Scheiben, links im
nächsten Raum, um den Bezug zur Architektur herzustellen,
ein Treppengeländer. Dabei wurde die Bejahung der eigenen
flinken Analyse aus der Gewohnheit heraus durch den Titel
USUS auf der Tafel zur Rechten bestätigt.
Wer sich nun seiner plötzlich eintretenden Unlust und
Hast beugte, brachte sich allerdings um Konzept wie Pointe
und mangels Interesse auch den ergänzenden Katalog, wel-
cher die Ausstellung ohne die üblichen redundanten Repro-
duktionen der Objekte fundierte. Wer genauer hinschaute,
für den wandelten sich Dutzende Objekte – die anthrazit-
farbenen Quadrate in Ausschnitte von Noppenindustriebö-
den aus der Brüsseler Metro, die verchromten Scheiben in
Türgriffe, die in doppelter Reihung (vgl. Donald Judd) an der
Wand hängenden Holzbretter – dunkel mit halbmondartigen
Aufhellungen – in ausgetretene Treppenstufen, der gross-
formatige rote Wandteppich in den Teppich einer Wohnung,
welcher die Spuren seiner ehemaligen Bewohner aufzeigt
und dessen Ausschnitt Zeugnis vom einstigen Kamin gibt.
Belgien seziert
Konzipiert wurde USUS / USURES vom Brüsseler Kollektiv
Rotor, das 2005 von Tristan Boniver und dem damals 21-jäh-
rige Maarten Gielen gegründet wurde. Rotor, ein im mehr-
sprachigen Belgien multilaterales Wort als Ersatz für den im
Recycling üblichen Begriff des Kreislaufs, beschäftigte sich
von Beginn an mit der künstlerischen architektonischen wie
produktiven Verwertung von (Bau-)Material und der Wieder-
verwendung von Industrieabfällen. Erste Aktivitäten fokus-
sierten auf die Erstellung der Rotor Database, welche mehr
als zweihundert belgische Firmen und die Art der Abfälle,
die dort anfallen, auflistet. 2008 kumulierte dieser Arbeits-
schwerpunkt in der Ausstellung Deutschland im Herbst der
Ursula Blickle Stiftung und erkundete den Inhalt der Daten-
bank auf ihr Potenzial zu Skulptur und Readymade.
USUS hingegen war weder Minmal Art noch Duchamp.
Marcel Duchamps Pissoir zeigte keine Spuren von Urin, kei-
nen Kalk – es war ein fabrikneues Produkt. Als solches stellte
es den jungfräulichen Zustand dar, verkörperte den statischen
Klassizismus und unveränderlichen Absolutismus noch vor
1 Hauptraum
des Belgischen
Pavillons
(Fotos 1,2,5: Eric Mairiaux)
2 Rechts vom
Durchgang des
Hauptraums ein
Acrylfaserteppich
aus einem Wohn-
zimmer neben
einem Schlafzim-
mer und Korridor.
Beide Räume hatten
Kamine mit Gas-
konvektoren
69
74 archithese 2.2011
Eine oberflächliche Einführung zur Oberfläche … Surface ist nicht allein die Übersetzung
von Oberfläche. Surface hat sich zu einem eigenständigen Begriff verselbstständigt und
von seinem Untergrund losgelöst. Seitdem bestimmt sie in hohem Masse die Architektur-
avantgarde und wurde zum diskreten Helfer des Stars.
DIE FALTE AUSGEWALZT
Text: Hannes Mayer
Etablierte Hefte zur Architektur haben die Eigenschaft, mit-
unter zu spät zu kommen. Bis von den vorsichtigen Versu-
chen der Avantgarde die nötige Durchschlagskraft erzeugt
wird – sei es durch gebaute Werke oder die nötigen Kontakte
zu den Mediatoren – vergeht Zeit. Mit redaktionellem Ge-
schick lässt sich rückwirkend diese Strukturschwäche kom-
pensieren, lassen sich disparate Werkgruppen zu Strömun-
gen konstruieren, unter eingängigen Titeln zusammenfassen
und damit schlagfertig mit Theorie vereint in den Diskurs
einbringen. Die Oberfläche allerdings ist zu allgemein, zu
allgegenwärtig; es haftet ihr der Makel des Konkreten an
und sie ist auf Gedeih und Verderb mit der Fassade verbun-
den. Ornament, Stein, Putz, Thermohaut, Denkmalschutz. Die
vermeintlich progressiven Kräfte arbeiten an der sich nach
dem Sonnenstand ausrichtenden Eco-Fassade, Entwerfer mit
Hang zum tinkering an Medienfassaden, die reaktionären
Kräfte hingegen feiern die Wiedergeburt der Lochfassade,
75
2
3
Regionalisten wiederum die erfolgreiche Adaption kunstfer-
tiger historischer Sgraffitotechnik. Das alles hat seine Berech-
tigung, jedoch kaum mit Architektur als Raum zu tun.
Die Falte schliesslich war der Kunstgriff, Raum und Ober-
fläche zusammenzubringen, wodurch im weiteren Bogen die
Oberfläche zur surface wurde. Entscheidend hierfür war das
an Leibniz und den Barock anknüpfende Buch Le Pli von Gil-
les Deleuze, 1988 geschrieben und 1992 von Tom Conley ins
Englische übersetzt. 1 Ein Jahr später publizierte Architectu-
ral Design Folding in Architecture.
Die Onomatopoesie des Blobs
Das Konzept der surface schien zu Beginn der angloame-
rikanischen wie niederländischen Avantgarde vorbehalten.
Während in den USA Greg Lynn als Schüler Eisenmans ange-
strengt nachdachte, übte sich in Europa NOX unter Führung
von Lars Spuybroek und Maurice Nio am Krümmen von Flä-
chen zu geschlossenen Körpern und baute die ersten Blobs
– so den Freshwater-Pavillon im Deltapark Neeltje Jans
(1993 – 1997) – mittels Kreisbogensegmenten, weil die CAD /
CAM-Maschinen keine anderen Daten lesen konnten. Auch
Erick van Egeraat machte sich mit der Popstage in Breda
(1997), einer zu allem Überfluss kupferbraunen Wurst, um
die Popularität des Blobs verdient und bewies, dass die Öff-
nungen im Blob die eigentliche Entwurfsproblematik darstel-
len. Will Alsop in London liebte es bekanntlich farbenfroher
und internalisierte mit der Peckham Library (2000) den Blob
als Pod. Der bis heute faszinierende Versuch, doppelt ge-
krümmte Flächen mit Standardtapeten von der Rolle zu be-
kleiden, verdeutlicht die damaligen Herausforderungen und
den Stand der Technik. Gleichzeitig erklärt er die relative
Häufigkeit von eindimensional gekrümmten Monumental-
wellen als wörtlich übernommenes Ergebnis Gilles Deleuzes
Schriften. Das Educatorium von OMA (1999), das VPRO-Bü-
rogebäude von MVRDV (1993 – 1997), das unrealisierte Eye-
beam von Diller + Scofidio (2001) und in leicht abgewandelter
Form das Belgo Zuid von Foreign Office Architects (1999) –
sie alle übten sich im Falten und Wellen, im Kontinuitätsge-
danken und der Krümmung von Claude Parents Function of
the oblique. Zaha Hadid und ihr AA-Schüler Ben Van Berkel
mit Caroline Bos waren in der offiziellen Erinnerung noch
deutlich tektonischer und blieben überwiegend zackig, hat-
ten jedoch mit dem Holländischen Pavillon zur 19. Triennale
di Milano 1996 (Van Berkel & Bos) und dem Interieur für das
Moonsoon Restaurant in Sapporo (Hadid, 1989 – 1990) bewie-
sen, dass sie die Faltung schon weitaus länger bewegt.
1 Zaha Hadid
Architects: Oper
Guangzhou, Audito-
rium, 2011
(Fotos 1, 4, 5: Roland Halbe)
2 + 3 Contemporary
Architecture Prac-
tice, Ali Rahim und
Hina Jamelle, New
York: IWI Orthodon-
tics, Tokio, 2010
(© Ali Rahim and Hina Jamelle / Con-temporary Architec-ture Practice. New York)