archithese Architektursoziologie Eine junge Disziplin mit neuen Sichtweisen Projekte mit sozialem Mehrwert Herzog & de Meuron: Arena do Morro, Natal Müller Sigrist: Genossenschaft Kalkbreite, Zürich Nutzerinteressen als Entwurfspotenzial Partizipation zwischen politischer Agenda und Lifestyle Etablierter 1970 er-Jahre-Diskurs ? Von der Spaziergangswissenschaft zum inklusiven Design Soziale Interaktion gestalten Transdisziplinäre Suche nach urbanen Qualitäten 2.2015 April Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur International thematic review for architecture Architektur und Soziologie
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architheseArchitektursoziologieEine junge Disziplin mit neuen Sichtweisen
Projekte mit sozialem MehrwertHerzog & de Meuron: Arena do Morro, NatalMüller Sigrist: Genossenschaft Kalkbreite, Zürich
Nutzerinteressen als EntwurfspotenzialPartizipation zwischen politischer Agenda und Lifestyle
Etablierter 1970 er-Jahre-Diskurs ?Von der Spaziergangswissenschaft zum inklusiven Design
Soziale Interaktion gestaltenTransdisziplinäre Suche nach urbanen Qualitäten
2.2015 April
Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
International thematic review for architecture
Architektur und Soziologie
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archithese 2.2015 April 45 . Jahrgang
Titelbild: Joël Tettamanti
4 Editorial
A R C H I T E K T U R U N D S O Z I O L O G I E
10 In welcher Gesellschaft leben wir ?
Architektonische Modi der kollektiven Existenz
Heike Delitz
18 Für eine transdisziplinäre
Erforschung der urbanen Wirklichkeit
Christian Schmid im Gespräch mit
Jørg Himmelreich und Andrea Wiegelmann
26 Das Gebaute als handelndes Objekt ?
Was kann Architektursoziologie
für die Architektur leisten ?
Stephanie Kernich
32 Alle unter einem Dach
Herzog & de Meuron, Arena do Morro, Natal / Brasilien
Gustavo Hiriart
40 Vom Gemeinschaftstraum zum Wunschraum
Zur synergetischen Partizipation der jungen
Zürcher Genossenschaftsprojekte
Andreas Hofer und Margarete von Lupin
46 Crossbenching ?
Critical reflection on the practice of participation
Markus Miessen
52 Urbanity in a Box
Müller Sigrist Architekten,
Housing and commercial project Kalkbreite, Zurich
Suzanne Song
60 Geld regiert den Raum
Über das räumliche und architektonische
Potenzial alternativer Währungen
Stefanie B. Overbeck
66 Die Stadt der Unbekannten
Die Organisation des Nebeneinanders
Dirk Baecker
72 Wie Spazieren Wissen schafft
Über die Spaziergangswissenschaft
nach Lucius und Annemarie Burckhardt
Reto Bürgin und Aline Schoch
80 Direkter Urbanismus
Städtische Planung als offener Prozess
Barbara Holub und Paul Rajakovics
88 Ideologiekritik der modernen Architektur
Die Bauten der Nachkriegszeit
im Kreuzfeuer der Disziplinen
Angelika Schnell
96 Die Stadt, der Mensch und das Design
Zum sozialen Planungsverständnis
von Lucius Burckhardt
Matthias Drilling und Stephanie Weiss
R U B R I K E N
102 Im Gespräch. 8 Positionen zur
Schweizer Architektur
Rezension von Constanze Nobs und
Andrea Wiegelmann
104 Premium Brands Online
105 Neues aus der Industrie
112 Vorschau und Impressum
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2 archithese 4.2015
architheseInternationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
FÜR EINE TRANSDISZIPLINÄRE ERFORSCHUNG DER URBANEN WIRKLICHKEITChristian Schmid im Gespräch mit Jørg Himmelreich und Andrea Wiegelmann Wenn Architekten
und Soziologen voneinander profitieren wollen, dann durch den direkten Austausch, die alltägliche
Zusammenarbeit an konkreten Fragestellungen. Christian Schmid plädiert im Gespräch mit archithese
für eine transdisziplinäre Stadt- und Architekturforschung.
schaft leben wir ? », S. 10 – 17. ] Das gilt es in der
architektursoziologischen Forschung zu fokussieren: die
Architektur in der ihr eigenen « Gestalt, Phänomenalität,
Materialität und Expressivität » .3
Exkurs: Stadt- oder Raumsoziologie ist nicht
Architektursoziologie ( aber Teil davon )
Verallgemeinernd und abkürzend können die Themenfelder
der Stadtsoziologie mit « soziale Differenzierung und Isola-
tion, der ‹ Segregation › in der Grossstadt [ … ], Interaktionen,
Lebensstilen, Vergesellschaftungsmodi ‹ in › der Stadt » 4
zusammengefasst werden.
Als Anfänge der Stadtsoziologie gelten in erster Linie
die sozialökonomischen Studien der Chicagoer Schule 5, die
als eine der ersten die gesellschaftlichen Entwicklungen in
DAS GEBAUTE ALS HANDELNDES OBJEKT ? Architektur wirkt – wie zahllose andere Objekte auch – biografisch prägend. Anders als ein Kleidungsstück oder
ein Auto ist sie jedoch als gebautes Objekt manifest und erreicht damit eine ganz andere Präsenz. Die Architektursoziologie
kann dabei helfen, die Dimensionen des Sozialen, die der Architektur innewohnen, aufzuzeigen, zu entschlüsseln und
damit eine Brücke der Verständigung zwischen Architektur und Gesellschaft zu bilden.
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den Städten veranschaulichten. Stadtspezifischere Unter-
suchungen, die sich auf das städtische Leben und die Stadt
selbst beziehungsweise deren Stadtteile bezogen, waren
erst später Forschungsgegenstand. Als einer der wichtigs-
ten Vertreter der soziologischen Stadtforschung gilt das
Team des Forschungsprogramms « The City». 6 Besonders
das Zonenmodell von Ernest W. Burgess ( erstmals 1925
publiziert ) war hier wegweisend. Dieses Modell beschreibt
« in idealtypischer Weise den Wachstumsprozess von Städ-
ten unter starkem externen Druck ». 7
In den 1960 er und 1970 er Jahren gab es zwar Schnitt-
punkte und gemeinsame Interessensgebiete von Architek-
ten und Soziologen. Diese bezogen sich jedoch aus damali-
ger soziologischer Perspektive weiterhin auf das Leben in
der Stadt.
Neben Aspekten der Stadtvermarktung waren es in den
1970 er Jahren – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Öl-
krise – ökologische Fragestellungen, die in Bezug auf Stadt-
planung und Stadtentwicklung sowohl bei Quartierentwick-
lungsfragen als auch bei Aufwertungs- und Partizipations-
projekten zum Tragen kamen. In beiden Punkten lag es in
der Natur der Sache, dass eine Verknüpfung von Stadtent-
wicklungsthemen mit parteipolitischen Grabenkämpfen
häufig nicht vermieden werden konnte. So wurde beispiels-
weise 1973 das Grossprojekt einer U- und S-Bahn für die
Stadt Zürich nach einem intensiven Abstimmungskampf
von der Bevölkerung von Kanton und Stadt Zürich abgelehnt.
Im Vorfeld der Abstimmung wurden damals neue Begriffe
wie ‹ Wohnlichkeit ›, ‹ Lebensqualität › und ‹ Umweltschutz ›
ins Feld geführt.8 Zum anderen kam vermehrt die Kritik an
der « im Dienste des Kommerz stehenden Stadtplanung » 9
auf. So entbrannten beispielsweise in Deutschland Mitte
der 1970er Jahre hitzige Diskussionen über die « restaura-
tive Stadtgestaltung »10 des Frankfurter Römerbergs.11
Die damalige Annäherung der Disziplinen Architektur
und Soziologie hatte allerdings nicht nachhaltig Bestand:
Rückblickend muss vor allem aufseiten der Soziologie eine
gewisse ‹ Betriebsblindheit › und ein Hang zu dogmatischem
Auftreten und Denken festgestellt werden. In dieser Zeit
Die Bilder dieser Reihe entstanden im Jahr 2004 entlang der Badener- / Zürcher- strasse zwischen Zürich und Dietikon im Rahmen eines Projekts der Gruppe autodidaktischer Fotografen und Fotogra-finnen ( GAF ). Ziel war, den Blick für die gebaute Umgebung zu schärfen und zu entdecken, welche Elemente den Charakter eines Ortes ausmachen. Die hier gezeigten Aufnahmen aus Projekt Nr. 43 stammen von: Andrea Helbling ( Dozentin ), Sonja Casty, Yonca Even Guggenbühl, Wolf D. Herold und Rudolf Michel.
machte das Fachgebiet Soziologie nicht selten Führungs-
ansprüche gegenüber anderen geistes- und sozialwissen-
schaftlichen Disziplinen wie beispielsweise der Politikwis-
senschaft oder der Philosophie geltend. Unter anderem
deshalb wurden in der Disziplin Soziologie ganz andere,
stark politisierte Kämpfe ausgefochten und schier endlose
Grundsatzdebatten aneinandergereiht. Ohne die zum Teil
sehr fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit der oben
genannten Epoche herabsetzen zu wollen, ist festzustellen,
dass gerade in Anbetracht der aktuellen gesellschaftlichen
Herausforderungen die Soziologie der Architektur etwas
schuldig bleibt. Zu viele Differenzierungen, zu starke Spe-
zialisierungen und auch zum Teil intransparente, immer auf
gleiche Weise angewandte Verfahren im Fach Soziologie
erschweren für Nichtsoziologen den Zugang erheblich.
Neuere Untersuchungen zum Thema Stadtsoziologie –
vor allem diejenigen, die ihr Interesse auf raumsoziologische
Konzeptionen richten – vermeiden den Begriff ‹ Architektur ›
und beschäftigen sich mit der von Helmuth Berking und
Martina Löw so genannten « Eigenlogik von Städten ».12
Diese ist zwar soziologisch betrachtet durchaus bedeu-
tungsvoll, wenn sie sich auf mögliche Vergesellschaftungs-
formen in den beiden von Löw verglichenen Städten Berlin
und München bezieht, jedoch dominiert in Löws Analyse
das nach aussen transportierte Image der beiden ausge-
wählten Städte und damit indirekt die Marketingkampag-
nen der Werbebeauftragten. Die architektonische Gestalt
der beiden Städte selbst wird nicht angemessen behandelt.13
Diese raumsoziologischen Konzeptionen sollen jedoch hier
nicht weiter ausgeführt werden, da sie sich ganz eigene
Schwerpunkte setzen. Generell kann mit Ueli Mäder fest-
gehalten werden, dass die aktuelle Raum-Debatte durch
eine « dialektische Dynamik zwischen Raum und Gesell-
schaft » 14 gekennzeichnet ist.
Was ist das Besondere an der Architektursoziologie ?
Gebaute Umwelt – manifestiert durch Baukörper – ist immer
auch die «Gestalt einer Gesellschaft » und bringt sowohl
deren Besonderheiten als auch deren Alltäglichkeiten zur
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CROSSBENCHING?Welcome to Harmonistan ! Over the last decade, the term “ participation ” has become increas-
ingly overused. When everyone has been turned into a participant, the often uncritical, innocent and
romantic use of the term has become frightening. Supported by a repeatedly nostalgic veneer
of worthiness, phony solidarity and political correctness, participation has become the default of politi-
cians withdrawing from responsibility. Rather than breading the next generation of consensual
facilitators and mediators, this text argues for conflict as an enabling, instead of disabling, force. It calls
for a format of conflictual participation – no longer a process by which others are invited ‘ in ’, but
a means of acting without mandate, as uninvited irritant: a forced entry into fields of knowledge that
arguably benefit from exterior thinking. Sometimes, democracy has to be avoided at all costs.
DIE STADT DER UNBEKANNTEN Bekannt und unbekannt, innen und aussen Zwei einfache Unterscheidungen definieren die urbane Architektur.
Ein kultiviertes Miteinander von Fremden war in den vermutlich ersten 300 000 Jahren der Menschheit ausgeschlossen.
Fremde erschlug man, um nicht Gefahr zu laufen, von ihnen erschlagen zu werden. Die soziale Funktion der Stadt
besteht also darin, Unbekannte miteinander leben zu lassen, ein Verhalten zu ermöglichen, das unter Bedingungen als
normal und vertraut gelten kann, die ausschliesslich das Produkt einer alles andere als selbstverständlichen
sozialen Evolution sind.
Autor: Dirk Baecker
Architektur als Medium und Symbol des Sozialen
Die Soziologie der Architektur, so Heike Delitz, betrachtet
die Architektur in Hoch- und Städtebau als Medium und
Symbol des Sozialen 1.[ Siehe auch: Heike Delitz, « In welcher
Gesellschaft leben wir ? », S. 10 – 17. ] Verschiedene Formen
der Vergesellschaftung – etwa die Familie, die Schule, die
Kirche, das Büro, das Theater, das Stadion, das Kranken-
haus, das Gefängnis – sind darauf angewiesen, Räume vor-
zufinden, in denen die jeweilige soziale Interaktion stattfin-
den und von anderen Möglichkeiten unterschieden werden
kann. Die Soziologie spricht von Medien und nicht einfach
von Räumen, weil es diese Räume auszeichnet, nicht als
Konstante, sondern als Variable betrachtet zu werden. Dazu
müssen die Räume in ihre verschiedenen Bestandteile zer-
legt ( analysiert ) und in anderen Kombinationen wieder zu-
sammengesetzt ( synthetisiert ) werden können. Die Organi-
sation des Nebeneinanders, um mit der Soziologin Martina
Löw zu sprechen, ist nicht fix, sondern in allen ihren Dimen-
sionen variierbar, wenn auch nicht nach Belieben.2 Einen
Medienbegriff, der diesem Verständnis zuarbeitet, hat der
Psychologe Fritz Heider [ 1896 – 1988 ] bereits 1926 im An-
schluss an gestalttheoretische Überlegungen formuliert, in-
dem er das Medium als lose gekoppelte Menge von Elemen-
ten vom Ding als fest gekoppelte Menge von Elementen un-
terscheidet.3 Typischerweise verwandelt der Blick eines
Architekten Räume beliebigen Zuschnitts in alternative
Möglichkeiten ihrer Gestaltung. Die Dinglichkeit des Raums
wird aufgelöst und zum Medium der Veränderung des
Raums. Dies gilt für architektonische und innenarchitekto-
nische Eingriffe ebenso wie für städteplanerische. Der Ar-
chitekt sieht einen Raum – und gestaltet ihn um.
Dies allerdings, wie gesagt, nicht beliebig. Die Architektur
ist ein « schweres Kommunikationsmedium », so der Sozio-
loge Joachim Fischer,4 in dem nicht nur auf die Gegebenheit
der Physik und Statik, sondern auch auf das Mass des Men-
schen und die Ordnung der Gesellschaft Rücksicht genom-
men werden muss. Das betrifft vordergründig wirtschaftli-
che und politische Gegebenheiten ebenso wie Präferenzen
für Privatheit und Öffentlichkeit. Weitergehend jedoch auch
Formen der Selbstfindung, Strategien der Individualisie-
rung sowie Möglichkeiten der Begegnung und der Abschot-
tung.
Deswegen ergänzt Delitz ihre Bestimmung der Architek-
tur als Medium des Sozialen um die Definition von Architek-
tur auch als Symbol des Sozialen. Jedes einzelne Element der
Architektur, von der Schwelle über die Tür und das Zimmer
bis zur Strasse, dem Haus und dem Fluchtpunkt symbolisiert
bestimmte Möglichkeiten des Handelns und Erlebens, die
mithilfe dieser Symbole sowohl markiert als auch voneinan-
der abgegrenzt werden. Von Symbolen spricht man frei nach
Jurij Lotman immer dann, wenn die Verknüpfung bestimm-
ter Handlungen mit bestimmten Orten nahegelegt, aber
nicht erzwungen wird.5 So symbolisiert die Schwelle sowohl
die Möglichkeit des Zutritts als auch der Abweisung, lässt
jedoch offen, welche der Möglichkeiten gewählt und ob das
Symbol überhaupt wahrgenommen wird. Soziologen neigen
ebenso wie Architekten dazu, das Symbolwissen als ein im-
plizites, eher in Praktiken und Einstellungen als in bewuss-
ter Reflexion verkörpertes Wissen anzunehmen. So können
sie auch dann auf Wirkung schliessen, wenn die Akteure von
ihrer Orientierung nichts wissen. Doch muss schon wegen
der Vielfalt möglicher und sich in jedem Moment widerspre-
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1 Poller im öffent- lichen Raum als Symbol der Ambi-guität von Durch-lässigkeit und Abweisung. Philipp Goll ( Hg. ), Helmut Höge, Pollerfor-schung. Siegen: 2010 ( Fotos: Helmut Höge )