archithese Günstiges Bauen – Rationalisierung und Gefühl Slums – Gewaltspirale und urbane Segregation Jenseits von Kitsch – Disneys Welten Baukunst für alle! Discounter bauen billig Betrachtungen über die Peripherie Countrytrash und Westernpop Bauten und Projekte: Cité Manifeste, Mulhouse Jean Nouvel, Shigeru Ban / Jean de Gastines, Lacaton & Vassal, Duncan Lewis / Potin + Block, Mathieu Poitevin / ART’M Herzog & de Meuron Allianz Arena, München Peter Eisenman Holocaust-Denkmal, Berlin Bünzli Courvoisier Siedlung Hagenbuchrain, Zürich 4.2005 Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur Revue thématique d’architecture Trash mit
This document is posted to help you gain knowledge. Please leave a comment to let me know what you think about it! Share it to your friends and learn new things together.
Transcript
architheseGünstiges Bauen – Rationalisierung und Gefühl
leicht zu säubern, transparent und nie eine Entscheidung
fürs Leben: Ikea produzierte die idealen Möbel für die erste
bewusst bindungsschwache Generation. In jedes Ikea-Möbel
ist die bevorstehende Trennung mit eingebaut, der klassi-
sche Kunde «besserer» Möbelhäuser dagegen besiegelte
Text: Robert Kaltenbrunner
Vom englischen Klerikalen und Schriftsteller G. K. Chesterton
stammt der schöne Satz: «Was hatte man ‹dem kleinen
Mann› nicht alles versprochen: das Land Utopia, den kom-
munistischen Zukunftsstaat, das Neue Jerusalem, selbst
ferne Planeten. Er aber wollte immer nur eins: ein Haus mit
Garten.»
Die Ironie kann den wahren Kern dieser Aussage kaum
verdecken. Allzu offensichtlich ist, dass vor allem im Woh-
nungsbau Zeitgeist, bildersprachliche Nostalgie und das ak-
tuelle Angebot im lokalen Baumarkt eine (un)heimliche Alli-
anz eingehen. Hat die Postmoderne, wie sie Charles Jencks
vor einem Vierteljahrhundert vollmundig propagierte, sich
unseres Alltags bemächtigt «durch Erweiterung der Sprache
der Architektur [ . . . ] zum Bodenständigen, zur Überlieferung
und zum kommerziellen Jargon der Strasse»1?
Zumindest scheint das Phänomen gesellschaftlich umfas-
send: Die Trash-Kultur blüht, der Unterschied zwischen
Kunst und Kitsch lässt sich kaum mehr dingfest machen.
Nachschöpfung, Fälschung und Simulation sind zu einem
selbstverständlichen Teil der Alltagsästhetik geworden,
Wiederaufbau und Rekonstruktion gelten als legitime und
anspruchsvolle Bauaufgaben. «Heimat» gehört zu jenen sen-
timental aufgeladenen Vokabeln, die uns das 19. Jahrhundert
reichlich beschert hat; seither wurde sie als handfester Be-
sitz an Gut und Boden umgemünzt. Und als die Postmoderne
das Sein zu einer Frage des Designs erklärte und mit der Ent-
deckung der Lebenswelt das Banale nobilitierte, hat das All-
ÄSTHETISCHES HEIMWEH1
008-013_Kaltenbrunner 11.7.2005 14:35 Uhr Seite 8
9
eine Heirat mit dem langjährigen Ratenvertrag für Küche,
Wohn- und Schlafzimmer. Indem Ikea auf Fachverkäufer ver-
zichtet, eliminiert es gleichsam den Agenten einer Ge-
schmackskonvention. Dem Individualismus wird viel Raum
gegeben, der Tendenz zur Abschottung Vorschub geleistet.
Der junge Mensch, der in den Siebzigern den Mann im Mö-
belhaus für eine Art Erziehungsinstanz hielt, ist auch heute
noch allergisch auf Beratung in Stilfragen.
Bei Ikea gibt es, grob gesagt, eine domestizierte Variante
der Bauhausästhetik zu kaufen. Deren Nüchternheit ist abge-
mildert durch die skandinavische Wohnfolklore, die auf einem
sorgsamen Umgang mit Farben und Licht setzt. Inzwischen
wird der ursprünglich auf Kiefernholz basierende Ikea-Look
durch Hartschaum, PVC, Metall, Nylon und Leder ergänzt, der
hölzerne Minimalismus um poppigere Artikel erweitert.
Das Ikea-Design ist weltanschaulich scheinbar neutral; es
ist weder esoterisch angehaucht wie die Futon- und Ost-
asienmode, idyllisiert nicht wie der Landhausstil und protzt
nicht wie das aktuelle amerikanische Art-déco-Revival. So ist
Ikea zum Umschlagplatz einer Wohnlichkeit geworden, die –
paradox genug – Vereinzelung und Vermassung vereint.
Konsum, Kitsch und Moral
Damit hat Ikea geschafft, was der Architektur bislang trotz al-
ler Anstrengungen verwehrt blieb. Kaum je hat diese einge-
sehen, dass es einer persönlichen Ausgestaltung von Iden-
tität und Geborgenheit bedarf – und sei es in immergleichen
Schablonen. Der Möbelkonzern hat verstanden, dass Mas-
senkultur eine Angebotsökonomie darstellt. Die ethisch-mo-
ralische Haltung der Architektur scheint dem nach wie vor
entgegen zu stehen – obwohl es dem Konsumenten nicht um
den Nachvollzug eines vom Architekten erfundenen Inhalts
geht, sondern um die eigene Findung von Bedeutung im Kon-
text des alltäglichen Lebens. Denn Heim und Heimat entste-
hen heute nicht mehr beim Häuslebauen als aktiver Durchar-
beitung der privaten Umwelt, sondern in konsumierender
Aneignung ästhetischer Identitätsangebote.
Die dann allerdings schnell unter Kitsch-Verdacht fallen.
Doch von welchem Standpunkt werden Ramsch, Tand und
Trash als solche definiert? Oder, in Wolfgang Welschs Wor-
ten: «Die gesellschaftliche Zuweisung spezifischer Orte und
Terrains setzt einen Standard von Normalität voraus. Wie klar
ist dieser heute noch? Besteht er überhaupt noch in einer Ge-
sellschaft, von der man gesagt hat, sie habe keine einheitliche
Form mehr, sondern sei durch die lockere Verknüpfung nicht
nur unterschiedlicher, sondern geradezu heterogener Grup-
pen, Lebensformen und Sprachspiele gekennzeichnet?»2
Von einem «Komfort des Herzens», der die Kunst erst zum
Gebrauch qualifiziere, sprach einst Walter Benjamin: «le-
bendige Formen» gibt es für ihn nur um den Preis, dass sie in
sich etwas Erwärmendes, Brauchbares, Beglückendes ha-
ben, dass sie dialektisch den «Kitsch» in sich aufnehmen,
sich selbst damit der Masse nahe bringen und ihn dennoch
überwinden können.
Sozialpolitisch engagierte Avantgarde
Aneignung dessen, was in Serie hergestellt wird, ist längst
eine grundlegende Forderung an die Architektur. Relativie-
rend wäre also auf ein Jahrhundert zurückzublicken, in des-
sen höchst unterschiedlichen Phasen Massenfertigung und
Industriekultur, Verbilligung und Entgrenzung, Rationalisie-
rung und Publikumsgeschmack nicht nur institutionalisiert
wurden, sondern auch Hand in Hand gingen. Viele Akteure
mussten unter dem Druck der Verhältnisse darauf hinarbei-
ten, günstige Behausungen in ausreichender Menge verfüg-
bar zu machen: Weite Kreise der Bevölkerung natürlich, aber
auch Politiker und Parteien – zur Legitimation ihrer selbst –
und die (Bau)Industrie, weil sich mit solchen Modernisie-
rungsimpulsen Geld verdienen und die Voraussetzung für
künftige Absatzmärkte schaffen liess. Die Avantgarde hatte
Rationalisierung und Sentiment in der
Architektur Von der idealistischen Wohnung
für das Existenzminimum über die «totale»
Wohnungspolitik der NS-Zeit und den Plattenbau
des real existierenden Sozialismus bis hin zum
heutigen Fertighaus: Rationalisierung und
Publikumsgeschmack sind nicht ohne weiteres zu
vereinbaren. Die Architektur tut sich mit den
gegenläufigen Tendenzen Individualisierung und
Standardisierung schwer.
21+2 Bruno Taut,Martin Wagner:Siedlung Britz,Berlin, 1925–1927Von der Stadtkronezum Pragmatismus –der Kostendruckerzwang einfacheGrossformen(Peter Gössel,Gabriele Leuthäuser,Architektur des 20. Jahrhunderts,Köln 1994, S. 157)
1 Ansicht 2 Plan
008-013_Kaltenbrunner 11.7.2005 14:35 Uhr Seite 9
24 archithese 4.2005
DUNCAN LEWIS, ANGERS UND BLOCK, NANTES
1
4
014-027_Solt Mulhouse 11.7.2005 14:36 Uhr Seite 24
25
dockt, zum Teil innerhalb und zum Teilausserhalb des ursprünglichen Baukörpers,sei es im Erd- oder Obergeschoss. DieVegetation und der Luftraum über derParzelle werden ebenfalls als Voluminaverstanden und mit Zäunen räumlich gefasst:Dadurch entstehen Gärten, Lauben, gedeckteVorzonen, Autoabstellplätze, Veranden undTerrassen. Die vielfältigen Innen- undAussenräume sind miteinander verbunden
Die Architekten liefern mit ihren zwölf Zwei-bis Vierzimmerwohnungen eine spannendeNeuinterpretation des carré mulhousien,wobei sie sowohl die ursprünglich strengeGrundrissdisposition als auch die wuchern-den An- und Umbauten geschickt aufgreifen.Drei freistehende Einheiten werden kreuz-weise in Viertelhäuser geteilt, ein Block mitder Küche und den Nassräumen aller vierWohnungen bildet das Rückgrat des Erdge-schosses. Der ebenerdige Wohnraum ist 5 mhoch; die Zimmer werden wie Kuben ange-
1 Ansicht von derhistorischen Citéaus; im Hintergrundist die Häuserzeilevon MatthieuPoitevin / ART’M zusehen (Fotos: Jean-MichelLandecy)
2+3 Strassen-ansichten
4+5 GrundrisseErd- und Oberge-schoss 1:500
2 3
5
014-027_Solt Mulhouse 11.7.2005 14:36 Uhr Seite 25
32 archithese 4.2005
«Die im Dunkeln sieht man nicht.» Bertolt Brecht, 19301
Text: Marc Angélil
Nahm sich in den Siebzigerjahren die Architektengilde vor,
vom billigen Städtebau Las Vegas’ zu lernen, so stellt sich
heute die Frage, ob die Entwicklung der Slums nicht umso
dringlicher eine Neuausrichtung des Fachgebiets erfordert.
Wohin man auch in den Städten der Dritten Welt blickt, wird
unser Verständnis dessen, was Urbanismus bedeutet, kom-
promittiert. Armut, Müll, Regellosigkeit bestimmen den Le-
bensraum Abertausender von Menschen – sei es in Bombay,
Caracas, Dhaka, Kairo, Lagos oder São Paulo. Verheerend
sind die sozialen Bedingungen, desolat die ökonomischen
Verhältnisse, trostlos ist die physische Umwelt. Und dennoch
scheinen diese Städte zu funktionieren. Zeugt der verwerfli-
che Ton der flüchtig gefällten Urteile nicht von der Unfähig-
keit, andere Formen sozialer, ökonomischer und räumlicher
Organisation in Betracht zu ziehen? Oder stehen die Phäno-
mene uns vielleicht doch so nahe, dass wir sie nicht für wahr
erachten möchten? Weder Überheblichkeit noch Hilflosigkeit
sind angebracht. Denn die Städte entstehen, wachsen und
1
SLUMS, URBANE SEGREGATION
Zonen der Inklusion und Exklusion Wie eine
kürzlich veröffentlichte Studie der Vereinten Natio-
nen nachweist, bahnt sich seit geraumer Zeit
eine Entwicklung an, deren Folgen kaum einschätz-
bar sind. Während gegenwärtig weltweit eine
Milliarde Menschen in Armen- und Elendsvierteln
leben, weisen Prognosen darauf hin, dass sich
diese Zahl in den nächsten Dekaden – sollten die
erforderlichen Massnahmen ausbleiben –
verdoppeln könnte. Bislang vom Architektur- und
Städtebaudiskurs ausgeklammert, wird sich
die Auseinandersetzung mit Fragen der urbanen
Behausung für Minderbemittelte zukünftig
dieser Herausforderung kaum verwehren können.
032-037_Angelil Slums 11.7.2005 14:38 Uhr Seite 32
33
1 Caracas, Vene-zuela, 2003«Venezuela’sEconomy Down 29Percent in FirstQuarter» (Foto: KimberlyWhite/GettyImages)
2 a Lagos/Kollhaas,FilmstillVideofilm, 2002Leitung: RemKoolhaas, Regie:Bregtje van der Haak
2 b Lagos Wide &Close; an InteractivJourney into anExploding City,Filmstil CVD-Film, 2005Leitung: RemKoolhaas, Regie:Bregtje van der Haak
Weltbevölkerung anzustreben. Dass sich die Organisation
der Völkergemeinschaft vornahm, die Probleme der zuneh-
menden Urbanisierung anzugehen, deutete schon damals auf
die Dringlichkeit der Sachlage hin. Trotz unzähliger bemer-
kenswerter Projekte – Kooperationen mit lokalen Behörden,
soziale Beihilfe und Unterstützung bei der Erstellung techni-
scher Infrastrukturen –, die vornehmlich zur politischen Sen-
sibilisierung für die Komplexität der Problematik beitrugen,
scheint sich die Situation kaum gemildert zu haben. Der kürz-
lich publizierte Bericht The Challenge of Slums legt dies auf
unmissverständliche Weise dar.7
Die Zahl der Menschen, die in Slums leben, ist seit den
Neunzigerjahren drastisch gestiegen. Verschiedene Fakto-
ren haben zur Beschleunigung der Entwicklung beigetragen:
Die Zunahme der Weltbevölkerung, kombiniert mit der un-
aufhaltsam fortschreitenden Migration der ländlichen Ein-
wohnerschaft in städtische Gebiete, sowie auch das sich
weiterhin verschärfende Gefälle zwischen armen und reichen
Gesellschaftsschichten haben zur unkontrollierbaren Aus-