archithese 6.13 - Natur / Nature
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architheseEin dynamisches Naturverständnis
Is Organic Architecture still relevant today?
Die Räume des Chen Kuen Lee
Wissenschaftsbauten von Fehling+Gogel
New Aaltoism: Tendencies in Nordic Architecture
Die Natur der jungen Architekten in Japan
Frei Ottos IL Mitteilungen
Wasserkunst und Kunstlandschaft
Patrick Geddes Biopolis
Nachhaltigkeit im Biokapitalismus
Irrtümer der Ökobewegung
Architekturprinzipien und Naturwissenschaft
The Milieu of Synthetic Biology
SPEZIAL: Bildatlas
Architektur die hilft: Hitoshi Abe und ArchiAid
J. MAYER H. Architekten, a2o architecten, Lens°Ass architecten: Neuer Gerichtshof Hasselt
SPBR/Angelo Bucci: Wochenendhaus São Paulo
6.2013
Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
International thematic review for architecture
Natur | Nature
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4 archithese 6.2013
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E d I T o R I A L
Nachhaltigkeit, Öko(logie), Carbon, Klima, Eco, Umwelt, Green, Grün, Energie –
verlieren wir bereits Ihre Aufmerksamkeit?
Die Begriffe aus dem Dunstkreis der Natur haben Konjunktur, und doch wurde
dieses Heft mit Skepsis erwartet. «NATUR» schrieb dann auch der selten um
Worte verlegene Harvard-Professor Sanford Kwinter in der grösstmöglichen
Schrift in seine Präsentation, mit der er in Wien einen Vortrag zur Ökologie unter-
legte. Mehr könne er dazu nicht sagen, als ihre Bedeutung mit Grösse zu unter-
mauern. Natur – ein Problemwort wie ein Problembär. An sich gut, auch schön zum
Anschauen; im Kontext der Zivilisation jedoch problematisch.
Natur ist populär, und gerade deshalb schwer zu erkennen. Der skeptische
Zeitgenosse mag vermuten, dass das, was allerorten als Natur bezeichnet und
beschrieben wird, nicht die eigentliche Natur ist. Dieses Unverständnis ihr gegen-
über beschäftigt die Philosophie seit jeher auf grundsätzlicher Ebene und hat die
Naturwissenschaften entscheidend geprägt wie vorangebracht. Von hier wirkt es
auf die Gesellschaft und die Ökonomie zurück. Wenn wir also schon nichts über
einzelne Dinge in der Natur direkt wissen können, so müssen wir uns dem Ver-
ständnis der allgemeinen Beziehungen und Zusammenhänge widmen und können
dieses Wissen verfeinern. Die Architektur gibt diesem Wissen um Beziehungen
Form.
Wir erkennen, dass das Problem mit der Natur tiefer liegt. Frank Lloyd Wright
fand hierfür eine schöne Naturmetapher: Radikal heisst an die Wurzel gehen. Das
Radieschen erklärt das etymologisch.
In diesem Sinne haben wir zu graben begonnen und für das vorliegende Heft
Philosophen, Historiker, Geografen und Architekten beauftragt, die Erscheinun-
gen der Natur und die Beziehungen zwischen Natur, Architektur und Mensch zu
untersuchen. Diese Hinwendung zum Denken in Zusammenhängen sowie ein
prozesshaftes und dynamisches Wesen können als wichtige Eigenschaften eines
Naturverständnisses festgehalten werden. Hier lassen sich Widersprüche zu
einem rationalistischen Verständnis der Architektur als statisches Produkt er-
kennen – Spannungen, die sich aus der Verschiebung von Weltbildern ergeben,
welche die Philosophie seit Jahrtausenden untersucht hat und deren materiali-
sierte Abbildung sich in der Architektur zeigt. Im vorliegenden Heft finden einige
dieser Abbildungen zueinander und formen ein kreatives Milieu, ein geistig-
visuelles Habitat, dessen einzelne Elemente aufeinander einwirken sollen.
Dass die Architektur bereits einen mannigfaltigen Naturbegriff kultiviert, zeigt
die Bild- und Projektsammlung zum Ausklappen in der Heftmitte. Hier wird deut-
lich, dass nicht allein die Natur als stetig produzierend gedacht werden muss,
sondern auch die Architektur. Kunst sei Schaffen «wie Natur», sagte Kant, und in
ihr fände sich eine Brücke zwischen Natur und Freiheit. Wie natürlich sollte dem-
nach die Baukunst sein?
Die Redaktion
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A R C H I T E K T U R A K T U E L L
Ein Refugium in der Innenstadt
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1 Blick von der Strasse auf Wohn und Poolkubus
2 Das von Hochhäusern umgebene Quartier nahe der Faria Lima
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WoCHENENdHAUs IN são PAULo
voN sPbR/ANGELo bUCCI, são PAULo
Der Ruf der brasilianischen Megametropole
als Betonstadt mit permanentem Verkehrs
kollaps weckt wenig Assoziationen mit
Erholung. Trotzdem entschied sich ein älte
res Paar dazu, sein Wochenendhaus statt auf
dem Land in der Innenstadt São Paulos zu
bauen. Dieser ungewöhnlichen Bauaufgabe
begegneten die damit betrauten Architekten
mit einer roh belassenen Freizeitarchitektur,
die sie vom Garten, dem Sonnendeck und
dem Pool ausgehend entwickelten.
Autor: steffen Hägele
An Wochenenden verlassen Tausende bewohner
são Paulos die stadt, um Erholung von der lärmi-
gen Metropole zu suchen. da die meisten dafür mit
dem Auto fahren, kommt es an freitagen und
sonntagen zu stundenlangen staus, die weit ins
Hinterland reichen. die stadtplanung versucht
zwar, innerstädtische Grünräume wie die bewalde-
ten Hügel im Norden, die verwahrlosten brachen
entlang der flüsse sowie die Wasserreservoirs im
süden als Erholungsräume vor allem für die ver-
nachlässigte ärmere bevölkerung zu aktivieren und
sie zugleich zwischen den weiterwachsenden in-
formellen siedlungen als freiräume zu sichern.
Grosse Teile der besser gestellten oberschicht be-
stehen allerdings auf eigenen Landhäusern – auch
um einem gewissen status zu entsprechen. Trotz
der öffentlichen Projekte entstehen deswegen
weiterhin unzählige Anwesen – genannt sítios – im
Umland são Paulos sowie beachresorts und
Gated Communities mit grossem flächenver-
brauch an der nahen Küste, obwohl diese städti-
schen satelliten mittlerweile bis zu drei stunden
von são Paulo entfernt sind – dafür ohne stau.
Ein älteres Paar suchte ebenfalls nach einem
Refugium für seine freien stunden, wollte sich da-
bei jedoch von den verkehrsproblemen unabhän-
gig machen. Entgegen aller Trends ergab sich so
der unerwartete, aber umso logischere Entschluss,
ein Wochenendhaus in der Innenstadt von são
Paulo für sich bauen zu lassen. statt aufs Land zu
fahren, genügt nun der kurze Weg in ein ruhiges
Wohnquartier wenige Hundert Meter entfernt vom
boomenden Geschäftsbezirk entlang der faria
Lima. diese strassenachse südlich der Avenida
Paulista als historischem Zentrum stellt ein weiteres
lineares Zentrum dar, das sinnbildlich für são Pau-
los verlagerung der Geschäfts- und Zentrumsfunk-
tionen in Richtung stadtauswärts steht.
betrachtet man das Wochenendhaus, fällt es
durch seine plastische und gleichsam schmale
Kubatur zwischen den benachbarten bauten auf,
obwohl es deren Körnigkeit aufgreift. Leichtfüssig
kragen zwei vielgestaltige volumen zur strasse hin
aus und verdeutlichen, dass es sich hier nicht um
ein gewöhnliches Wohnhaus handelt. vielmehr ent-
warfen Angelo bucci und sein Architekturbüro
sPbR das Wochenendhaus als Erholungsstruktur.
statt Garten und Pool nachträglich an das Haus
anzulagern, drehten die Architekten das Programm
um und überhöhten diese meist peripheren Ele-
mente, machten sie zum Kern ihres Projekts – er-
gänzt durch einen minimierten schlafbereich, eine
kleine Haushälterwohnung sowie einen Raum zum
Kochen und Gäste empfangen. die distribution des
Programms verläuft dabei vertikal; allerdings nicht
in einer rigiden stapelung von Räumen, sondern in
einer offenen und gleichsam komplexen staffelung.
so wird der Übergang vom introvertierten Garten
zuunterst und dem im gleissenden sonnenlicht ex-
ponierten sonnendeck mit Pool zuoberst graduell
erlebbar.
die differenzierung des Raums geschieht vor-
nehmlich im schnitt. Mit dieser Entwurfshaltung
führt Angelo bucci die Tradition der Escola Paulista
und deren Architekten – beispielsweise vilanova
Artigas oder Paulo Mendes da Rocha – weiter. be-
reits 1991 sorgte bucci als junger Absolvent mit
seinem unrealisierten Entwurf für den brasiliani-
schen Pavillon der Expo sevilla 1992 für furore, als
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Die «eigenwüchsigkeit» Der naturÜber ein dynamisches Naturverständnis und unser Verhältnis zur Natur Der Architekturdiskurs begegnet der Natur
mit Skepsis. Jenseits schöner Landschaften wird die Suche nach dem Wesen der Natur durch die allgemeine Popularität des
Begriffs erschwert. Dies wird befördert durch eine Baugeschichte, welche die Baukunst traditionell als statischen Gegen-
punkt zu einer Natur begreift, die seit der Antike als etwas in seinem Wesen Dynamisches und Prozesshaftes gedacht wird.
Die Architektur spiegelt hier eine allgemeine Tendenz wider: Obwohl wir als leibliche Wesen doch Teil der Natur sind, haben
wir uns im Lauf der Geschichte immer mehr als ihr Gegenüber betrachtet. Naturphilosophische Ansätze versuchen diese
Kluft immer wieder zu überwinden.
Autor: Norman Sieroka
Die Architektur vermittelt zwischen Mensch und Natur – und
sie tut dies ganz konkret, indem sie räumlich zwischen uns
und unsere natürliche Umgebung tritt. Man kann Architek-
tur somit als die praktische Antwort auf die Frage betrach-
ten, wie sich das Verhältnis von Mensch und Natur gestaltet.
Nun hat diese Frage aber auch eine theoretische Seite, und
die Disziplin, die sich auf dieser Ebene um unser Naturver-
ständnis und um das Verhältnis vom Menschen zu seiner
natürlichen Umgebung bemüht, ist die Naturphilosophie.
Oder anders formuliert: Wo die Architektur räumlich ausge-
dehnte Gebäude schafft, schafft die Philosophie begriffliche.
Solche Begriffsgebäude sind keineswegs ewig. Sie sind
historisch bedingt, unterliegen Zerfallsprozessen, Verschie-
bungen, Neuerungen. Will man sich philosophischen Frage-
stellungen – wie eben beispielsweise zur Natur und unserem
Verhältnis zu ihr – widmen, so ist es oftmals aufschlussreich,
die Geschichte der dazu herangezogenen Begriffe zu unter-
suchen. Eine Analogie zur Optik vermag die Methode zu il-
lustrieren: Begriffsgeschichtliche Betrachtungen verhelfen
uns zu einem stereoskopischen Blick und geben unseren
Überlegungen damit eine Tiefenschärfe. Es kommt eine neue
Dimension hinzu, indem wir etwas nicht nur aus der heuti-
gen, sondern auch aus einer früheren Perspektive betrachten.
Wurzeln des Naturbegriffs
Woher stammt also unser Begriff «Natur», und wie hat er
sich entwickelt? Die Ursprünge des abendländischen Natur-
begriffs oder, wie man im Vorgriff auf das Folgende termino-
logisch treffender sagen könnte, seine «Wurzeln» – reichen
zurück ins archaische Griechenland. Die klassische Textpas-
sage, an der der Begriff der Natur (griechisch phýsis) zum
ersten Mal in prominenter Weise auftrat, stammt aus Homers
Odyssee. Als Odysseus sich auf den Weg macht, seine Ge-
fährten zu retten, die von der Zauberin Kirke in Schweine
verwandelt wurden, begegnet ihm der Götterbote Hermes.
Damit Odysseus nicht auch wie diese dem Zauber der Kirke
anheimfällt, reisst Hermes eine spezielle Pflanze aus dem
Boden, die als Zaubermittel wirkt und Odysseus schützen
soll. Im Zuge dieser Handlung weist Hermes Odysseus nun
auf die «Natur» (phýsis) dieser Pflanze hin – und zwar im
Sinne ihres Wuchses und ihrer besonderen Gestalt.
Etymologisch stammt das Wort phýsis vom Verb phýein
ab, was «wachsen» bedeutet. Die Natur als phýsis meint also
tatsächlich den «Wuchs» – oder allgemeiner das, was durch
sich selbst verursacht und in seiner besonderen Gestalt her-
vorgebracht wird. «Eigenwüchsigkeit» wäre eine zwar un-
gewöhnliche, aber wohl recht treffende Übersetzung. Ganz
ähnliche Konnotationen von Wachstum schwingen auch in
unserem Wort «Natur» mit, das dem Lateinischen entlehnt
ist. Dort meinte natura ursprünglich die Gebärpforte der
Tiere; das zugrunde liegende Verb nascere bedeutet «gebo-
ren werden».
Aus heutiger Sicht fallen die biologischen Konnotationen
des antiken Naturbegriffs auf. Von «Wuchs» und «Wachs-
tum» sprechen wir heute im Allgemeinen bei Pflanzen und
Lebewesen. Im Kontext von Chemie und Physik wird
«Wachstum» zwar noch im Bezug auf Kristalle verwendet,
aber nicht, wenn es beispielsweise um den Aufbau von Ato-
men oder Anziehungen zwischen elektrischen Ladungen
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Die Odyssee- Fresken im Gross-herzoglichen Museum zu Weimar (Abb.: © Deutsches Historisches Museum, Berlin)
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erweiterung Der architekturGefalteter Raum, bewohnte Landschaft Die Aufhebung der Grenze zwischen innen und aussen sowie die Frage
nach einer «Wohnlandschaft» standen schon Mitte des letzten Jahrhunderts auf der Agenda einiger Architekten.
Die Bauten des Scharoun-Schülers Chen Kuen Lee versinnbildlichen auf ideale Weise die Verschmelzung zwischen
Natur- und Lebensraum und stehen in der Tradition des organischen Bauens.
Autor: Eduard Kögel
Eine enge Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Dis-
ziplinen verändert manchmal sowohl die Auffassung des
Raumes wie die des Bauwerks. Die hier dargestellte Genese
einer organischen Architektur in der Auslegung von Hugo
Häring und Hans Scharoun zeigt jedoch auch, dass widrige
Umstände während des Nationalsozialismus wesentlich zu
einer neuen Auffassung von «Architekturlandschaft» beige-
tragen haben.1 In den Fünfzigerjahren entwickelten ihre
Schüler diese Haltung weiter. Am Beispiel von Wohnhaus
und Garten Straub senior von 1956/1957, das der Scharoun-
Schüler Chen Kuen Lee mit dem Landschaftsarchitekten
Hermann Mattern konzipierte, wird ein praktisches Ergeb-
nis der zuvor gespannten Diskurslinien dargestellt.
Von Hans Scharouns Vorkriegsbauten sticht das 1933 fer-
tiggestellte Landhaus Schminke im sächsischen Löbau als
«Dampfschiff der Moderne» hervor. Es hat alle Attribute, die
für eine ikonografisch wirksame Promotion der modernen
Doktrin erforderlich schienen: linearer Grundriss, flaches
Dach und Transparenz bestimmen das Bauwerk. Bei diesem
Projekt lernte Scharoun die Landschaftsarchitektin Herta
Hammerbacher und ihren Ehemann Hermann Mattern ken-
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nen, für die er anschliessend ein kleines Wohnhaus realisie-
ren konnte, das ebenfalls noch keine Konzessionen an die
ideologisch begründete Formvorgabe des Satteldaches unter
der nationalsozialistischen Herrschaft zeigte.2 Dadurch
lernte Scharoun den Bornimer Kreis kennen, der sich um den
Staudengärtner Karl Foerster gebildet hatte. Foerster, Ham-
merbacher und Mattern betrieben seit 1928 zusammen eine
Gartenbaufirma, die sich um eine Reform der Gartengestal-
tung bemühte und deren Ideen bei Scharoun auf fruchtbaren
Boden fielen.
Die Satteldachvorgabe der nationalsozialistischen Behör-
den führte Mitte der Dreissigerjahre bei Scharoun zu einer
Haltung, aus der zum Beispiel das Haus Baensch (1934/1935)
und das Haus Mohrmann (1938) in Berlin hervorgingen, bei
denen sich die biederen Strassenseiten gravierend von den
Gartenseiten unterscheiden. In beiden Fällen löst sich der
Grundriss des Hauses zum Garten hin auf, den jeweils die
Gestaltung von Hermann Mattern prägte. Eine ganz beson-
ders schwierige Auseinandersetzung folgte für Scharoun
beim Haus für den Kunstsammler Ferdinand Möller
(1937/1939) am brandenburgischen Zermützelsee – an einer
Stelle, die durch den Bezug zur Landschaft in besonderem
Mass das Augenmerk der nationalsozialistischen Behörden
auf sich zog.3 Genau in diesem Moment trat der junge Chi-
nese Chen Kuen Lee4 als Absolvent in das Büro von Scharoun
ein und erfuhr so am Entwurfsprozess die Suche nach einer
für alle Beteiligten vertretbaren Lösung. Auch hier wirkte
Hermann Mattern als Landschaftsarchitekt, und im Resultat
fand Scharoun eine unter politischen Vorgaben erzwungene
Zwittergestalt, dessen Schauseite eine Lochfassade zeigt,
während sich die Fassade zum See unter der verzogenen
Form des Satteldaches aus der Topografie begründen lässt.
Die Öffnung der Dachfläche mit einer asymmetrisch gesetz-
ten Kreissegmentgaube erlaubt die Beziehung zur Land-
schaft aus dem zweigeschossig offenen Galeriegeschoss des
Wohnraums. Chen Kuen Lee arbeitete bis 1943 im Büro von
Scharoun und erlernte dort in vielen Diskursen den Umgang
mit den nationalsozialistischen Vorgaben.
Offensichtlich wollte man sich in diesen Auseinanderset-
zungen jedoch nicht von den braunen Ideologien treiben las-
sen und suchte nach eigenen Handlungsspielräumen, die
sich mit selbstgewählten theoretischen Modellen untermau-
ern liessen. Die chinesische Herkunft von Lee befruchtete für
Scharoun – und offensichtlich noch mehr für seinen Kollegen
Hugo Häring – die intensive Suche nach einer originellen Be-
gründung für geneigte Dachformen und sich auflösende
Grundrisse, die mit einer neuen Bedeutungsebene unterlegt
werden mussten.
Von der chinesischen Dachlandschaft zur Dächerei
Hugo Häring traf sich Mitte Oktober 1941 mit drei jungen
Chinesen in Berlin. Chen Kuen Lee und John Woo (auch Woo
Shaoling) hatten Architektur studiert, während eine weitere
Person als Bauingenieur beschrieben wird. Aus dieser Zu-
sammenkunft entwickelte sich eine lose Folge von Treffen,
von denen bis Mitte 1942 neun Protokolle erhalten blieben,
die einerseits Aufschluss über die Diskurse in der Gruppe
geben und anderseits die anwesenden Personen listen.5
Während Lee und Häring an jedem Treffen teilnahmen,
kamen Hans Scharoun und Härings amerikanischer Assis-
tent, John Scott, ab Mitte November 1941 zu mindestens fünf
Zusammenkünften an der privaten Schule Kunst und Werk.
Zusätzlich verfasste Häring eine Denkschrift zur Gründung
eines chinesischen Werkbundes (2. Dezember 1941) und die
undatierte Beschreibung der Stadt des CHIWEB (Abkürzung
für Chinesischer Werkbund). Ein Reihe von Studien aus Hä-
rings Nachlass legen nahe, dass sie in diesem Kontext für ein
imaginiertes China entstanden und gleichzeitig dazu dien-
ten, die eigene Haltung unter nationalsozialistischem Druck
mit exotischen Vorzeichen neu zu deuten.6 Nicht zuletzt re-
feriert der erst 1947 veröffentlichte programmatische Text
«Gespräch mit chen kuan li über einige dachprofile» über die
Anfang der Vierzigerjahre geführten Diskurse. Darin schrieb
er: «Das ist das ganze haus: ein dach – alles andere ist nach-
1 Wohnlandschaft im Haus Straub, Knittlingen, 1956–57, Stahl-treppe von Günter Ssymmank (Foto 1, 10+11: Archiv Eduard Kögel)
2+3 Haus Scharf, Oberstdorf, 1954, Gartengestaltung von Hermann Mattern (Foto 2–4: © Ernst Deyhle, Archiv Eduard Kögel)
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Back tO nature?New Tendencies in Nordic Architecture The architecture of Scandinavia became famous for a different, individual
interpretation of modernism, advocated by Alvar Aalto or Sverre Fehn. Nowadays, the aspect of nature as a theme
in contemporary architecture plays an important role in the work of a group of young Nordic architects. But how has
the relationship between human beings, nature and architecture evolved throughout these generations?
Author: Eeva-Liisa Pelkonen
In the 2013 Venice Art Biennale, Finland exhibited works of
two artists in two locations: Terike Haapoja at the Nordic
Pavilion, designed by Sverre Fehn, and Antti Laitinen at the
Finland Pavilion, designed by Alvar Aalto. A photograph by
Laitinen captured the essence of the shared theme “Fallen
Trees”: a perfect square, clear-cut in the middle of thick
spruce forest, exposing the black soil underneath. One is left
wondering about the status of this new nature: is it an im-
moral act or a source of a new kind of nature and a new kind
of beauty?
The two installations make clear that the generation of
artists born in the 1970s thinks differently about nature than
previous generations; nature is no longer taken for granted
as something easy to understand, react to, or even to classify,
but rather seen as a deep epistemological problem that forces
us to question everything we know about ourselves and the
external world. Haapoja and Laitinen framed the man-nature
relationship, which lies at the heart of this new paradigm, in
different, yet equally puzzling light; Laitinen by depicting
often humorous, even absurd, encounters and battles with
the natural world – a man digging a perfectly aligned path
in metres-deep snow, for example, reminiscent of Werner
Herzog’s movies, and Haapoja, in her laboratory-like setting,
by treating nature as a sovereign agent, by for example hav-
ing the trees speak to each other. One is left wondering about
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the community of animals now dead. In both their works
human beings are defined as just one among many other
species. Fehn’s pavilion with trees growing through the
pavilion’s roof provided a poetic setting for Haapoja’s ques-
tioning of human agency over nature.
Tree Greens: Bjarke Ingels Group, avanto architects
and Helen & Hard
Nature is also a dominant theme in the works of contempo-
rary Nordic architects. Yet, also their understanding of na-
ture has moved far beyond the images of fjords and forests
that tourists flock to see. To be sure, the Nordic region is
hardly an abode of pure nature any longer. Thinking of
densely populated Denmark, where it is hard to find a corner
of the country without signs of human habitation, and even
in the more bucolic northern corners of the Nordic countries,
nature-culture hybrids dominate. In fact, all Nordic countries
have a long history of harvesting nature for economic bene-
fits: wood in the case of Finland, commercial fishing in
Iceland, oil in the case of Norway, wind energy and indus-
trial-scale agriculture in Denmark, mining in Sweden. Fur-
thermore, countries in the region have recently used technol-
ogy and engineering to counter their geographic and climatic
limitations: Sweden changed its geographic focus to the
south by building one of the world’s longest bridges that now
physically connects the country to continental Europe, while
Finnish cafés now provide ultraviolet light to counter the
Nordic gloom.
For the new generation of Nordic architects, who have
grown up in a world defined by clear cutting, windmills and
oil drilling platforms, nature has gained new meaning. The
examples of three firms – BIG from Copenhagen, avanto
architects from Finland, and Helen & Hard from Norway –
illustrate this point.
In the work of BIG, founded by Bjarke Ingels, the path to
nature leads through the lens of a nature-culture hybrid. A
mission statement on the firm’s website claims “the freedom
to change the surface of the planet to better fit the contem-
porary life forms”. An apartment building called Mountain
Dwellings outside Copenhagen exemplifies this approach by
opposing the flat landscape with a building that simulates a
hillside location – a concept that is amplified by a photomural
of the Himalayas. BIG’s buildings both look and work like
nature – the mountain-apartment concept has since then
been scaled up to transform a whole island off the coast of
the capital of Azerbaijan from an arid desert into a lush new
1 Antti Laitinen: Forest Square II, Venice Art Biennale 2013 (Photos 1+2: Antti Laitinen)
2 Antti Laitinen: Attempt to Split the Sea, 2006
3 The Naked Garden, Bolzano, Italy, 2008, architects: Helen & Hard (Photo: Helen & Hard)
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Die natur als haustierÜber das Naturverständnis junger Architekten in Japan Die traditionelle Raumauffassung in Japan ist untrennbar
mit der Natur verbunden. In Primitive Future erneuerte Sou Fujimoto dieses radikale Verhältnis für die zeitgenössische
Architektur mit einfachen Begriffen wie Wald, Baum und Wachstum. Über diesen schematisch-metaphorischen Zugang
hinaus findet in der jungen Archi tektengeneration Japans eine differenzierte Auseinandersetzung mit Naturthemen
statt. Das Natürliche wird in die Lebensumgebung der Menschen reintegriert.
Autoren: Steffen Hägele und Tina Küng
Das Standardfoto vom Haus mit Garten zeigt in der westli-
chen Welt stets eine Ansicht von aussen. Eine japanische
Aufnahme zum gleichen Sujet ist hingegen von innen nach
aussen fotografiert; das Haus existiert nur als Vordergrund,
der sich schrittweise zum Garten hin öffnet. Dazwischen
staffeln sich gestaltete Elemente wie papierne Schiebetüren,
Stützenreihen, mitunter eine Veranda, und der Garten nimmt
schliesslich die Bildmitte ein. Hier ist die Grenze zwischen
innen und aussen, zwischen Haus und Garten graduell; sie
ist weniger scharf als in der Baukunst des Abendlandes, und
die Sphären stehen in einer intensiven Beziehung zueinan-
der. Mit der Öffnung kommt das Äussere nach innen, die
Natur wird in den Wohnraum miteinbezogen.
Der unendliche Raum
Die räumliche Durchlässigkeit der japanischen Architektur-
kultur manifestiert sich auch in der japanischen Schrift be-
ziehungsweise deren chinesischen Zeichen. Wörter aus der
Wortfamilie «Haus» werden durch das Zeichnen eines aus-
kragenden Daches im Querschnitt dargestellt. Am Pendant
der ägyptischen Hieroglyphe könnte man den Ursprung
des westlichen, geschlosseneren Verständnisses erkennen:
Einem leeren Gefäss ähnlich, umschliesst eine Wand das
Haus und besitzt damit eine deutliche Abgrenzung von
seiner Umgebung.
Was sich selbst in der Schrift abzeichnet, manifestiert
sich insbesondere in der Anlage traditioneller Tempelan-
lagen und Schreine des Shintoismus. Die Anlagen beziehen
ganze Wälder, Berge, das Meer oder Wasserfälle in ihre
spirituelle Realität mit ein. Mehr noch ist es dieser Bezug zur
Natur und die damit verbundene Symbolik, was das Unter-
scheidungsmerkmal der jeweiligen Schreine ausmacht. Die
Architektur ist ein Teil dieser Natur und damit des unend-
lichen Raums; sie wird gleichsam von ihm durchdrungen.
Alles steht zueinander in einem sich bedingenden Ver-
hältnis.
Mit Blick auf die zeitgenössische japanische Stadt zeigt
sich das traditionelle Raumkonzept als relativiert. Schreine
liegen wie Inseln in die japanischen Städte eingestreut und
zeugen als Relikt vom Einklang mit der Natur. Der weitaus
grössere Teil des gebauten Häusermeers bricht mit dem Kon-
zept des unendlichen Raums – auf die Spitze getrieben von
fensterlosen Appartements für überarbeitete Stadtnomaden
inmitten der ausufernden Stadt. In diesem Kontext ist die
facettenreiche Hinwendung junger japanischer Architekten
zu Themen und Raumkonzepten aus der Natur zu verstehen:
als Fortsetzung einer Tradition des Natürlichen und gleich-
sam als Kritik an der (über-)entwickelten, modernen Stadt
mit ihren Problemen wie Vereinzelung, Bezugsverlust und
Mangel an Naturerfahrung.
Die Genealogie japanischer Architekten
Innerhalb dieser Renaissance des architektonischen Natur-
bezugs lassen sich zwei sehr unterschiedliche Richtungen
ausmachen, die sich mit markanten Entwicklungslinien ja-
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panischer Architekten aus dem 20. Jahrhundert decken. Im
Unterschied zum Okzident bejahen sie mehrheitlich eine sol-
che direkte Ahnenfolge: Nicht durch Abgrenzung, sondern
aus der Tradition des Meisters heraus entwickeln sich die
jeweiligen Stossrichtungen.
Verallgemeinert stehen auf der einen Seite Architekten
wie Atelier Bow-Wow, Go Hasegawa oder Terunobu Fuji-
mori, die aus dem Dunstkreis von Kazuo Shinohara und sei-
nem Schüler Kazunari Sakamoto hervorgingen – die «Roten»,
wie Fujimori sie bezeichnet. Auf der anderen Seite reihen
sich die Architekten Toyo Ito, Kazuyo Sejima und Ryue Nishi-
zawa (zusammen SANAA), Junya Ishigami sowie Tetsuo
Kondo in eine zweite Entwicklungslinie – als die «Weissen»,
die Abstrakten. Beide Sphären sind in der Realität keines-
falls trennscharf, sondern überschneiden und beeinflussen
sich – erweitert um unzählige, hier unerwähnt bleibende
Architekten. Für einen ersten Zugang hilft diese Klassifizie-
rung jedoch, eine Architektur des Hauses als Behausung auf
der einen und eine abstrakte entmaterialisierte Architektur
auf der anderen Seite festzuhalten.
Natürliche Einflüsse, natürliche Materialien
In der Tradition von Kazuo Shinohara versuchen Architekten
wie Go Hasegawa oder Atelier Bow-Wow innerhalb existie-
render Elemente eines Hauses – Boden, Dach, Fenster, Licht,
Öffnung, Wand – der physischen Abschottung in der generi-
schen Architektur entgegenzutreten und natürliche Ein-
flüsse erfahrbar zu machen.
1 Ägyptische Hieroglyphe für Haus und Eingang, chinesische Hieroglyphe für Haus und diverse Gebäude. Die japanische Schrift hat diese Zeichen über-nommen (Abb. aus: «Japan: Climate, Space, and Concept», in: process: Architec-ture, Nr. 25, Tokyo 1981, S. 26)
2 Terunobu Fujimori, Teehaus Tetsu, 2005: «I dressed science and technology in nature» (Abb. aus: Fujimori Terunobu, Fujimori Terunobu architec-ture, Tokyo 2007, S. 105)
3 Go Hasegawa, Pilotis in a Forest, 2010 (Foto aus: Go Hasegawa, Works, Tokyo 2012, S. 103)
3
Shinohara verzichtete beim Tanikawa House von 1972 bei-
spielsweise auf einen künstlichen Boden und liess den Na-
turboden des umgebenden Waldes durch das Gebäudeinnere
laufen – betonte somit das Haus als einen Teil des universel-
len Raums. Im selben Geist stellte Go Hasegawa jüngst das
Wochenendhaus Pilotis in a Forest auf filigrane Pfeiler – und
hob damit den Wohnraum zwischen die Baumkronen. Der
angehobene Wohnraum und der darunterliegende, gedeckte
Aussenbereich stehen im direkten Bezug zum Wald als über-
geordnetem Raum. Hasegawa führt die Natureinflüsse wie-
derum bis ins Gebäudeinnere: Das Erdgeschoss ist dem Bo-
den, der Erde zugeordnet, der zweite Stock dem Himmel – in
Analogie zum idealen zweigeschossigen Wohnhaus. Durch
die wechselnden Stimmungen in Material und Licht re-inte-
griert Go Hasegawa so den verloren gegangenen Bezug zur
Umwelt ins Gebäudeinnere – ohne dabei die Natur selbst
«mitzuentwerfen».
Terunobu Fujimori hingegen, der – bevor er mit 43 Jahren
sein Erstlingswerk vollendete – sich bereits als Architektur-
theoretiker einen Namen gemacht hatte, entwickelt aus sei-
ner düsteren Absage an die zeitgenössische Stadt eine
fröhlich-folkloristische Architektursprache, in welcher er
vornehmlich im ländlichen Kontext baut. In Abgrenzung zu
den harten, künstlichen Materialien der Stadt bekleidet
Fujimori die notwendige moderne Technik bei seinen Bauten
mit natürlichen und archaischen Werkstoffen. Augenzwin-
kernd lässt er Löwenzahnblüten in unzählige Töpfe über die
eigentliche Dachhaut aus Blech pflanzen, verkohlt von Hand
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