OSCARNIEMEYER
FOTOS VON ALAN WEINTRAUB | TEXT VON ALAN HESS
HAUSER
DEUTSCHE VERLAGS-ANSTALT
''
Dank
Einleitung
DIE HÄUSER OSCAR NIEMEYERS
Kapitel eins: Häuser 1936–1953
Kapitel zwei: Häuser 1953–1961
Kapitel drei: Häuser 1961–2005
AUSGEWÄHLTE HÄUSER 1940–2005
Sr. Cavalcanti 1940
Oscar Niemeyer, Lagoa 1942
Francisco Inácio Peixoto 1942
Mrs. Prudente de Morais Neto 1943
Juscelino Kubitschek 1943
Leonel Miranda 1952/1955
Francisco Pignatari 1953
Oscar Niemeyer, Canoas 1953
Alberto Dalva Simão 1954
Edmundo Cavanelas 1954
Catetinho 1956
Oscar Niemeyer, Brasilia 1960
Anne und Joseph Strick 1964
Nara Mondadori 1968
Carmen Baldo 1969
Flavio Marcilio 1973
Carlos Miranda 1983
Darcy Ribiero 1983
Sebastião Camargo 1985
Marco Antonio Amaral Rezende 1985
Orestes Quércia 1990
Ana Elisa Niemeyer 2005
Schlussbemerkung
Anmerkungen & Bibliografie
Register
9
11
20
29
36
44
46
54
60
64
74
82
88
100
110
120
126
130
140
154
164
170
182
188
198
208
220
227
230
231
INHALT
Aus dem Englischen übersetzt von Wiebke Krabbe
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http:dnb.ddb.de> abrufbar.
© 2006 Deutsche Verlags-Anstalt, München
Verlagsgruppe Random House GmbH
(für die deutsche Ausgabe)
Titel der Originalausgabe Oscar Niemeyer Houses
© 2006 Rizzoli International Publications, New York
Alle Fotos, wenn nicht anders angegeben © 2006 Alan Weintraub
Text, wenn nicht anders angegeben © 2006 Alan Hess
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Zand Gee Design
Satz der deutschen Ausgabe: Boer Verlagsservice, München
Printed and bound in China
ISBN-10: 3-421-3580-6
ISBN-13: 978-3-421-3580-6
S. 1: Oscar Niemeyer, seine Frau Annita und ihre Enkel Kadu in ihrem Haus in Canoaas, 1959.
Foto Dmitri Kessel/Time & Life Pictures / Getty Images OWNED
S. 2: Haus Alberto Dalva Simão, Belo Horizonte, MG, 1954
S. 4–5, 228: Haus Oscar Niemeyer, Canoas, Rio de Janeiro, RJ, 1953
S. 6–7: Zeichnung von Oscar Niemeyers Haus, Mendes, RJ, 1949
S. 10: »Wir sind jetzt an der Avenida Atlantica, wo alle Räume auf die Landschaft der Bucht schauen
und Strand und Meer zu einem Spaziergang einladen.« Blick aus Oscar Niemeyers derzeitigem
Büro an der Copacabana, Rio de Janeiro
S. 11: Der Architekt an seiner Staffelei, 2004
S. 14: Niemeyers persönliches Arbeitszimmer
S. 16–17: Konferenzbereich des Büros. Bank und Sessel sind Entwürfe von Niemeyer.
S. 18: Haus Juscelito Kubitschek, Pampulha, Belo Horizonte, MG, 1943
S. 43: Haus Orestes Quercia, Pedregulho, SP, 1990
S. 222: Oscar Niemeyers derzeitiges Büro an der Copacabana, Rio de Janeiro
Alle Archivfotos und Zeichnungen (mit Ausnahme der nachfolgend genannten) mit freundlicher
Genehmigung der Oscar Niemeyer Stiftung
© Fundação Oscar Niemeyer
Arquitetura Urbanismo Oscar Niemeyer
S. 22–23: Fotos und Zeichnungen des Hauses Herbert Johnson, Fortaleza, Ceara, 1942, Copyright
S. Johnson & Sohn, mit freundlicher Genehmigung.
S. 35: Haus Carmen Baldo, Teresopolis, RJ, 1963, mit freundlicher Genehmigung der Familie Baldo
S. 38: Jaburu Palace, Brasilia, DF, 1975, Foto aus der Sammlung Alan Hess
Hinweis:Die genannten Daten beziehen sich auf den Entwurf, danach folgt das Baudatum,sofern dies abweicht. Soweit möglich, werden nähere Angaben zur Lage der Bautengemacht. Die Abkürzungen JR, SP, MG und DF stehen für die Bundesstaaten Riode Janeiro, São Paulo, Minas Gerais und Federal District of Brasilia.Verschiedene Quellen geben abweichende Daten für Entwurf und vorgesehenenStandort der nicht verwirklichten Projekte an. Mit Unterstützung der Oscar-Niemeyer-Stiftung haben wir versucht, eine möglichst vollständige und exakte Liste derEinfamilienhäuser des Architekten zusammenzutragen. Viele der verwirklichtenBauten wurden im Lauf der Jahre verändert. Soweit möglich, haben wir uns bemüht,auf heutige Abweichungen gegenüber den ursprünglichen Entwürfen hinzuweisen.
Für Sinclair
M i t b e s o n d e r e m D a n k a n
Kadu Niemeyer
V i e l e n D a n k a u c h a n
Fundação Oscar Niemeyer
Arquitetura Urbanismo Oscar Niemeyer
Maria Fernanda Martins
Carmen Baldo
Elizabeth Baldo Correa
Marco Antonio Amaral Rezende
Antônio de Pádua Bittencourt Neto
Júlio da Costa
Rodrigo Carletti
José and Ana Maria Carletti
— Alan Weintraub
Für Jennifer, durch die das Schreiben zum Vergnügen wurde.
I c h d a n k e f e r n e r d e r
Graham Foundation for Advanced Studies in the Fine Arts für Fördermittel,
die es mir erlaubten, durch Brasilien zu reisen, Beispiele der brasilianischen
Architektur und Landschaftsarchitektur der Moderne kennen zu lernen
und Oscar Niemeyer, Lucio Costa und Roberto Burle Marx zu interviewen.
Ohne diese Unterstützung hätte dieses Buch nicht zustande kommen können.
Die Hilfe von Ruth Evora, Severino Garcia sowie Robert und Carley Stone
war auf diesen Reisen von unschätzbarem Wert.
— Alan Hess
Wir danken den jetzigen Besitzern der Häuser für die großzügige Erlaubnis,
diese bedeutenden Werke der modernen Architektur zu fotografieren.
Für die Unterstützung bei der Recherche sind wir vor allem Ana Lucia Niemeyer
von der Fundação Oscar Niemeyer, João Niemeyer, Caique Niemeyer,
José Carlos Sussekind und Cecelia Scharlach sowie der Familie
Sabastião Camargo, Carlos und Suzanna Miranda, der Familie
Francisco Inácio Peixoto, Maria Jacy Ribeiró, Michael und Gabrielle Boyd,
Pascal Goujon, Juracy Brasiliense Guerra, Kate Micek von
den S. C. Johnson Archives, Edgar de Picciotto, Orestes Quércia,
der Familie Alberto Dalva Simão, Anne Strick und Gilberto Strunck
zu großem Dank verpflichtet.
E I N L E I T U N G
Mir gefallen keine rechten Winkel und
gerade, von Menschenhand geschaffene Linien.
Mich sprechen
fließende,
sinnliche
Kurven an.
Kurven wie die der Hügel meines Landes, der
Windungen seiner Flüsse, der Wellen des Ozeans
oder des Körpers einer geliebten Frau.
— Oscar Niemeyer1
O
12 OSCAR NIEMEYER HÄUSER
» Ich habe in meinem
Inneren ein Privatmuseum.
Es enthält alles, was ich in
meinem Leben gesehen
und geliebt habe.«
— André Malraux 2
scar Niemeyer macht es uns nicht leicht, seine Häuser zu studieren. Er ist ein
Architekt, der mit Städtebauprojekten und öffentlichen Bauten die Architektur
des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt hat, doch Wohnhäuser spielen eher
eine untergeordnete Rolle. Unter den führenden Architekten des 20. Jahrhun-
derts widmete sich nur Frank Lloyd Wright hauptsächlich dem Bau von Wohn-
häusern. Niemeyer schreibt wenig über seine Wohnhäuser. Sein Lieblingsprojekt,
so räumt er ein, war sein eigenes kleines Ferienhaus außerhalb von Rio de
Janeiro – eine bescheidene Neuinterpretation eines Stalls. Trotzdem spielte bei-
spielsweise das Haus, das er für sich selbst in Rios Bezirk Canoas entwarf, für sei-
nen internationalen Ruf eine wichtigere Rolle. Architekturkritiker fanden die sinn-
liche, wolkenartige Dachkontur einfach unwiderstehlich und betrachteten das
Haus als bestechende, aber unverkennbar moderne Alternative zu der kubisti-
schen Abstraktion der europäischen Moderne.
Obwohl die meisten Kritiker Niemeyers Wohnhäusern keine besondere Bedeu-
tung beimaßen, verdienen sie doch einige Aufmerksamkeit. Wer Niemeyers
Bedeutung für die Architektur des 20. Jahrhunderts ermessen will, muss diesen
modernen Baumeister mit der ungewöhnlich langen Schaffenszeit im Kontext der
Zeitgeschichte betrachten. Sie sind ungewöhnlich, variantenreich und machen
mit ihrem ansprechenden Design einfach Freude.
Noch ein Grund spricht für eine nähere Beschäftigung: Sie verdienen es, mit den
Wohnhäusern anderer Meister aus dieser fruchtbaren Periode um die Mitte des
20. Jahrhunderts verglichen zu werden, über die wir noch viel lernen können.
Oscar Niemeyer zählt zu den großen Architekten, die Strömungen des Wohnens
– und interessanterweise Arbeitens – geprägt haben, die bis ins 21. Jahrhundert
fortdauern.
Eine Vorreiterrolle nimmt Niemeyer insofern ein, als er ungeniert die Formen-
sprache der Moderne mit den weiter gefassten Konzepten von Fantasie und
kulturellem Ausdruck vermischte. Obwohl sein Tätigkeitsgebiet von Norwegen
bis zum Mittleren Osten und von Südamerika bis Kalifornien reichte, ist er immer
Brasilianer geblieben – genauer gesagt, Bewohner der attraktiven Küstenstadt
Rio de Janeiro. Als Schüler von Charles Édouard Jeanneret Le Corbusier (geb.
1887) war er mit der Moderne bestens vertraut, doch erst durch die brasilianische
Seite seines Wesens und seines Lebens konnte er die Architektur erneuern.
Für einen Vorreiter des modernen Lebens und der Technologie war eine Karriere
in Brasilien gleichermaßen befruchtend und hinderlich. Die Regierung unter
Getulio Vargas (Diktator nach 1937) besaß wenig Erfahrung mit der zentralisierten
Planung, die es Mexiko ermöglicht hatte, verschiedene öffentliche Projekte ganz
E INLE ITUNG 13
im Geist der Moderne zu verwirklichen. Der Standard der Industrie Brasiliens wurde
den Anforderungen der Massenproduktion nicht gerecht und die soziale Struktur
ließ die Entstehung einer breiteren Schicht von Konsumenten nicht zu. Vielleicht
war Brasilien auch zu sehr mit seiner industriellen und wirtschaftlichen Entwicklung
beschäftigt, um viel Zeit und Geld in die Architektur zu investieren. Trotzdem konn-
te Niemeyer mehrmals während seiner langen Karriere sein Talent, Freundschaften
und Förderer einsetzen, um Projekte ins Leben zu rufen, auf die die Welt aufmerk-
sam wurde. Er verstand es, Chancen zu erkennen und zu nutzen und sein Talent
durch beeindruckend selbstbewusste Selbstvermarktung zu unterstützen.
»Unsere moderne Architektur spiegelt die gesellschaftlichen Widersprüche, mit
denen wir leben und die zu ihrer Entwicklung beigetragen haben«, klagte er Mitte
der 1950er Jahre. »Angesichts von Auftraggebern, die an den Problemen der
Bauwirtschaft nicht interessiert sind, und einer Regierung, die vor groß angeleg-
ten Projekten und landesweit greifenden Konzepten zurückschreckt, ist Impro-
visation auf allen Ebenen unser tägliches Brot geworden.«3
Während das wirtschaftliche und politische Klima Brasiliens der Entwicklung einer
modernen Architektur nicht zuträglich war, bildete die natürliche Landschaft des
Landes, das nach dem Brasilholz-Baum benannt ist, Niemeyers revolutionären
Konzepten viele Inspirationen.4 Wer den Flughafen Santos Dumont nahe der
Guanabara Bay anfliegt, wird den Grund verstehen. Die Landschaft, in der
Niemeyer geboren wurde und aufwuchs, beeindruckt durch ihre kraftvolle
Schönheit. Als Kind zeichnete er mit dem Finger die Konturen der weißen Wolken
und der bewaldeten Berge nach, die sich imposant über der Bucht erhoben.
Buchten mit weißem Strand rahmten die Küstenlinie. Selbst Le Corbusier, der Rio
erstmals 1922 besuchte, war beeindruckt von den »grünen Flammen über der
Stadt«5. Brasilien ist ein weites Land – fast so groß wie die Vereinigten Staaten –
mit einer abwechslungsreichen, exotischen Landschaft, in der die Menschen nur
eine Chance haben: sich ihr unterzuordnen.
Im Kontext der bewegten Geschichte und der sozialen Schichtung Brasiliens
erzeugen diese Bilder einen Widerspruch, der sich in Niemeyers Werk stets spie-
gelt: Natürliche Formen, geschaffen mit künstlicher Technologie, bautechnischer
Logik und übersteigerten Emotionen, schlichte Konturen und komplexe Funk-
tionen. Wie sein Werk ist auch Niemeyer selbst voller Widersprüche: Als lang-
jähriges Mitglied der Kommunistischen Partei Brasiliens baute er Häuser für die
Reichen des Landes.
Seine Häuser sind Ausdruck seiner Vielseitigkeit. Er baute an Berghängen, in
Städten, an der Küste, in der Wüste, in Vororten und auf dem hügeligen Land. Er
baute aus Beton, Backstein, Stahl und Holz, mit schmalem Budget für Freunde
und Verwandte aus der Mittelschicht und mit großzügigen Mitteln für Brasiliens
Plutokraten. Er entwarf Bauten für den Diktator Getulio Vargas, für hohe Beamte
wie Gustavo Capanema, für Medienbosse und Baulöwen, für intellektuelle
Freunde und die Kommunistische Partei Frankreichs. Man könnte meinen, als
Kommunist würde er sich vor allem auf sozialverträgliche Architektur konzentrie-
ren (und man warf ihm vor, es nicht zu tun), doch als Architekt wollte er nur eines:
bauen.
»Ich habe politische Überzeugung und private Freundschaft immer getrennt«,
erklärt Niemeyer. »Ich habe gute – politisch rechts stehende – Freunde, die ich für
fehlgeleitet halte und die das Gleiche von mir denken. Trotzdem sind wir gute
Freunde. Beruflich geht es mir ähnlich. Ich bekenne mich öffentlich zum Kommu-
nismus und werden dennoch von meinen Auftraggebern herzlich empfangen. Sie
glauben an meine Architektur und meine Integrität.«6
Niemeyers Bauten folgen keinem einheitlichen Thema. Sie haben sich im Lauf
seiner Karriere verändert und orientieren sich an den Anforderungen von Lage,
Auftraggeber und Funktion. Man kann sie als idealisierte Ausdrucksformen von
Niemeyers architektonischen Ideen, als Inbegriff seiner Sichtweise der dramati-
schen Umgebung, der Lebenskunst, Freude und Fantasie betrachten.
In der Gestaltung der Häuser zeigt sich die umfassende und fortwährende
Entwicklung seiner Ideen. Frühe Bauten sind vom Einfluss Le Corbusiers ge-
prägt, den er bewunderte und mit dem er 1936 gemeinsam den Wolkenkratzer
des Ministeriums für Bildung und Gesundheit in Rio entwarf. Doch selbst in die-
ser frühen Phase ist bereits seine kompromisslose Integration der Landschaft
und Kultur Brasiliens erkennbar. Er entschied sich, in der Architektur einen
eigenen Weg zu gehen – und er nahm die Architektur auf diesem Weg ein Stück
mit.
Spätere Entwürfe zeigen Niemeyers Herangehensweise an freie Form und offene
Räume. Seine Häuser brauchen den Vergleich mit weltberühmten Architektur-
beispielen der Moderne nicht zu scheuen, etwa Phillip Johnsons Glashaus in
Connecticut, Frank Lloyd Wrights Fallingwater oder Alvar Aaltos Villa Mairea.
Andere Häuser zeugen von Niemeyers Achtung vor der historischen Architektur,
vor allem den portugiesischen Kolonialbauten des 18. Jahrhunderts, den Guts-
häusern der Plantagen und den fazendas des Landesinneren. Betrachtet man
seine mutigen, aber respektvollen Interpretationen, wird deutlich, dass Niemeyer
die Vergangenheit längst nicht so entschieden ablehnte, wie es die Theoretiker
der Moderne forderten.
14 OSCAR NIEMEYER HÄUSER
• • •
Als Oscar Niemeyer 1907 in Rios Bezirk Laranjeiras geboren wurde, hatte die
Stadt noch relativ klare Grenzen. Er wuchs in einem großen Haus an einer Straße
auf, die später nach seinem Großvater Almeida de Ribeiro benannt wurde.
Ribeiro war im Lauf seines Lebens Mitglied des Obersten Gerichtshofes,
Generalstaatsanwalt und Premierminister. Das Haus lag nur etwa fünf Kilometer
vom Stadtzentrum und knapp zwei Kilometer vom Meer entfernt. Ein Foto der
Botafago Bay aus dem Jahre 1906 zeigt den Anblick, den der junge Niemeyer
wohl kannte: ein breiter Karrenpfad, eingerahmt von tropischen Bäumen, der sich
entlang des breiten Küstenstreifens zieht und einen Blick auf die Kuppel von Pao
de Acucar am Rand der Bucht bietet; formal angelegte Rasenflächen mit hüb-
schen Häusern in portugiesischem Kolonialstil, deren Pfannendächer dem Garten
zugewandt sind.7 Die Anlage ist unverkennbar eine Hommage an die tropische
Schönheit der Umgebung.
So ein angenehmes Leben mit Stränden, Cafés und ganzjährig warmer Tempe-
ratur kannten andere Vertreter wie der Schweizer Charles-Edouard Jeanneret
(geb. 1887) oder der Berliner Walter Gropius (geb. 1883) nur aus den Abenteuer-
büchern ihrer Kindheit. Während Charles-Edouard seine Häuser im Kontrast zur
Natur konzipierte und der junge Frank sich mit den vertrackten Wechsel-
beziehungen der Natur vertraut machte, lernte der junge Oscar in dem milden
Klima das Vergnügen an sinnlichen Formen und gutem Leben kennen.
Neben Wohnraum, Esszimmer und Küche befanden sich im Erdgeschoss des
großen Niemeyer-Hauses auch die Wohnungen seiner Großeltern sowie von
Tante und Onkel. Oscar wohnte mit seinen Eltern, drei Schwestern, zwei Brüdern
und einem Cousin oben. Nach dem Essen versammelte man sich auf der Veranda
zum Gespräch. Oscar besuchte die Klosterschule der Barnabiten, las Bücher von
Theilhard de Chardin, spielte Fußball und sah im örtlichen Kino Western mit Tom
Mix und William S. Hart.
1928 heiratete er Annita Balso, die 1932 ihre Tochter Ana Maria zur Welt brachte.
1930 begann er sein Studium an der Staatlichen Kunstschule in Rio, die nach den
Veränderungen nach der Wahl des Präsidenten Getulio Vargas kurzzeitig von
Lucio Costa geleitet wurde. Als Costa wenig später durch ein konservatives
Mitglied der Fakultät abgelöst wurde, streikten die Studenten.8 Die Moderne galt
noch als anrüchig.
Niemeyer und andere junge Architekten, darunter der Landschaftsarchitekt
Roberto Burle Marx, waren sich Costas Einfluss jedoch bewusst. Nach seinem
Abschluss im Jahre 1934 trat Niemeyer in die Firma von Costa und Carlos Leao
ein, wo er mit Eduardo Reidy und Milton Roberto zusammenarbeitete. Sie
bildeten den Kern des Teams, den Costa für die gemeinsame Arbeit mit Le
Corbusier zum Entwurf des Ministeriums für Bildung und Gesundheit um sich
scharte.
Das Projekt war nur eines von verschiedenen progressiven Maßnahmen der
brasilianischen Politik und Kultur nach Getulio Vargas’ Wahl im Jahre 1930. Sein
Programm des Estado Novo (Neuer Staat) forderte Sozialreformen, Einführung
der Schulpflicht, Wahlrecht für Frauen und Gesetze zur Regelung von Kinder-
arbeit. 1937 setzte Vargas die Verfassung außer Kraft und eignete sich damit die
Macht eines Diktators an. Er hatte aber auch progressive Intellektuelle in seinen
Stab aufgenommen, darunter Gustavo Capanema als Minister für Bildung und
Gesundheit. Lucio Costa war an vielen der progressiven Projekte beteiligt. Er
hatte in den frühen 1930er-Jahren die Aufmerksamkeit auf die historische Stadt
Ouro Preto mit ihren schönen Bauten aus der Kolonialzeit gerichtet und 1936
zusammen mit Capanema die Nationale Denkmalsschutz- und Kulturorganisation
Servico do Patrimonio Historico e Artistico Nacional (SPHAN) gegründet, um
E INLE ITUNG 15
diese Schätze der barocken Kolonialarchitektur zu schützen, die sich vor allem in
den Goldgräberstädten des im Binnenland gelegenen Staates Minas Gerais
befanden.9 Dadurch nahm er beträchtlichen Einfluss auf den jungen Modernen
Niemeyer, der später unter Rodrigo de Andrade für SPHAN arbeitete. Er sagt
dazu: »So entwickelte ich ein Verständnis für unsere alte Architektur, die barocken
Kirchen, die alten Bauernhäuser, und vor allem die schönen Columbandes,
Landhäusern mit ihren weiß gekalkten Mauern, dem ausladenden Dach und den
weißen Veranden – schlicht und Respekt einflößend wie all diese alten Häuser.«10
Für Capanema war dynamische, moderne Architektur ein Symbol für Brasiliens
Weg in Richtung Ordnung, Fortschritt, Zukunft. 1936 lud er neben dem französi-
schen Architekten Auguste Perret, einen Erneuerer der Betonarchitektur, Le
Corbusier ein, Vorträge zu halten. Bahnbrechend war der Auftrag an Le Corbusier,
bei der Gestaltung des neuen Ministeriums für Bildung und Gesundheit mitzuwir-
ken. In Italien hatte Mussolinis faschistisches Regime die moderne Architektur als
Propagandainstrument vereinnahmt, um sich selbst als Vorreiter in die Zukunft
darzustellen. Die kommunistische Sowjetunion, die demokratischen USA und das
faschistische Deutschland hingegen bevorzugten für ihre offiziellen Bauten
Variationen des klassizistischen Stils.
Costa versammelte junge Architekten um sich, um ein Projekt zu entwickeln, das
den brasilianischen Modernismus vorantreiben sollte. Niemeyer wurde wegen
seiner zeichnerischen Begabung zum Assistenten Le Corbusiers bestimmt. »Als
ich bei der Entwicklung des Ministeriums für Öffentliche Bildung und Gesundheit
mit Le Corbusier zusammenarbeitete, begann ich meine Berufung zum
Architekten zu spüren«, berichtet er später. »Meine Aufgabe war, die Idee des
Meisters am realen Standort umzusetzen. Das trieb mich an, bei der Arbeit und in
meiner Freizeit an einer Lösung zu arbeiten.«11
Nach Howe und Lescazes Gebäude der Savings Fund Society in Philadelphia
(1931) war dies der aufstrebendste Ausdruck der abstrakten, streng geometri-
schen Prinzipien der Moderne internationaler Prägung. Für ein Land an der
Schwelle der Industrialisierung war es ein mutiger Schritt – und genau das hatten
Capanema und seine progressiven Mitstreiter gewollt. Der hohe, kantige
Büroklotz, der sich auf Säulen erhebt und von beweglichen Sonnenschutz-
Jalousien bedeckt ist, erhebt sich wie ein Sinnbild der europäischen Moderne.
Die blau-weißen Wanddekorationen aber, die an traditionelle portugiesische
azulejos erinnern, oder die subversiven Schwünge der Dachlandschaft von Ro-
berto Burle Marx, legten den Samen der brasilianischen Revolution der Moderne.
Die Landschaft Brasiliens »fördert die Entwicklung vielfältiger und individueller
architektonischer Formen und Lösungen. Was von außen betrachtet lächerlich
erscheint, mag für uns durch die Gegebenheiten des Alltags diktiert sein«, erklärt
Niemeyer. »Darum schließen wir uns dem europäischen Streben nach einer stren-
gen, unpersönlichen, industriellen Architektur nicht an. Und wir versuchen auch
niemandem vorzumachen, dass es so etwas wie eine Grundlage für eine ›soziale
Architektur‹ gibt.«12
Seine Kunstbegeisterung hat ihn ebenso beflügelt wie die surreale, überborden-
de Landschaft um Rio. Sein Ansatz sprüht vor neuweltlicher Subversivität, die
direkt dem Unbewussten entspringt und die einem vernachlässigten Aspekt der
Moderne Geltung verschafft. •
D I E H Ä U S E R O S C A R N I E M E Y E R S
Als Architekt arbeite ich für jeden Auftrag-
geber… [meine öffentlichen Bauten] dienen nicht
immer der sozialen Gerechtigkeit, aber ich strebe an,
sie so schön und eindrucksvoll zu gestalten, dass
auch die Armen innehalten, sie betrachten, berührt
und begeistert sind. Mehr kann ich als Architekt
nicht leisten.
— Oscar Niemeyer 1
20 DIE HÄUSER OSCAR NIEMEYERS
KAP I T E L E IN S : HÄUS ER 1936 – 1 9 53
Entwurf und Bau des Ministeriums für Bildung und Gesundheit nahm Niemeyer
von 1936 bis zu seiner Einweihung 1942 in Anspruch.2 1939 gab Costa die Leitung
des Design-Teams an ihn ab. Damals arbeitete er bereits an weiteren großen
Projekten für Costa und Minister Capanema.3 Während dieser Zeit übernahm er
auch einige Aufträge in eigener Regie, darunter das Obra do Berco (1937), ein
Wohlfahrtszentrum für Kinder in einem neuen Viertel an Rios Lagoa Freitas. In der
Nähe entstanden auch seine ersten Wohnhäuser.
Seinen ersten Entwurf stellte der junge Architekt 1936 fertig, gleich nach seinem
Abschluss an der Staatlichen Kunstschule (1934) und seinem Eintritt in Lucio
Costas Unternehmen (1935). Die Villa Henrique Xavier wurde nicht gebaut, zeigt
aber, dass Niemeyer einerseits das Vokabular der Moderne beherrschte und
andererseits bereits begann, einen eigenen Stil zu entwickeln. Licht und Luft
fluteten durch die ineinander übergehenden Räume, ähnlich wie in Le Corbusiers
Entwurf für L’Esprit Nouveau (1926). Corbusier hatte eine neue Sichtweise der
Architektur vorgestellt, die weltweit viele junge Architekten ansprach – so auch
Niemeyer. Seine Entwürfe des Maison Domino (1914) und des Maison Citrohan
(1922) zeigten bereits klare, leicht zu errichtende Strukturen mit offenen, flexibel
nutzbaren Räumen und neuen Formen, die einer rationalen Geometrie gehorch-
ten und funktionalen Anforderungen kreativ gerecht wurden.
Die Haupträume des vierstöckigen Xavier-Hauses, das für ein schmales Grund-
stück in Rio konzipiert war, stehen über dem Boden auf Säulen, um Platz für einen
bepflanzten Garten zu schaffen. Bemerkenswert ist das Zusammenspiel der Ebe-
nen, wodurch in den oberen Stockwerken Terrassen entstehen. Ans Wohnzimmer
im zweiten Stock grenzt eine große Terrasse an, die über dem Garten schwebt.
Das Dach dieser Terrasse bildet der Fußboden des Schlafzimmers. Im obersten
Stockwerk befindet sich ein Arbeitszimmer mit eigener Dachterrasse – wie man es
in einem von »Corbu« inspirierten Haus erwarten darf.
Das Haus unterscheidet sich durch die glatten Wände und die Flachdächer erheb-
lich von anderen zeitgenössischen Bauten Rios, die im neokolonialen Stil mit
pfannengedeckten Giebeldächern, weiß gekalkten Wänden und gleichmäßig
angeordneten Fenstern mit dekorativen Rahmen ausgestattet waren. Seine
Formen sind rational, erzeugen aber ein greifbares Raumgefühl.4
Mit dem Entwurf für das Haus Oswaldo de Andrade in São Paulo ging Niemeyer
1938 noch einen Schritt weiter. Das Einfamilienhaus ist sehr geradlinig, obwohl es
im Gegensatz zum Haus Xavier nicht zwischen die Mauern der Nachbarhäuser
gezwängt ist. Der Aufbau ist allerdings einfacher, es besteht aus einem zwei-
stöckigen, quadratischen Block und einem kleineren einstöckigen, in dem sich
die Garage befindet. Ein gemeinsames Dach, das mit einer kleinen Wölbung
beginnt und sich dann aufwärts neigt, verbindet das Ganze ebenso wie eine
niedrige Steinmauer, die in klarer Linienführung vorderen und hinteren Garten
sowie Küche und Wohnbereich voneinander abgrenzt. Ein dekoratives Wand-
gemälde unter der Dachwölbung begrüßt Besucher und schlägt eine Brücke von
der Architektur zur Kunst. Unter der Dachschräge hat Niemeyer ein Zwischen-
geschoss mit zwei Schlafräumen und einem Bad untergebracht, das man über
1936
Henrique Xavier, Rio de Janeiro, RJ.
Das Stadthaus zeigt den Einfluss von Le Corbusier
auf den jungen Niemeyer. Nicht verwirklicht.
1938
Oswaldo de Andrade Haus, São Paulo, SP.
Das gewölbte Dach ist ein neues, skulpturhaftes Element,
das Niemeyer in Pampulha weiter entwickelte. Nicht ver-
wirklicht.
1939
M. Passos Haus, Miguel Pereira, RJ.
Eine große zweigeschossige Veranda verbindet
das ganze Haus mit dem Garten. Nicht verwirklicht.
1940
Cavalcanti Haus, Rio de Janeiro, RJ.
Ein Haus im Stil Le Corbusiers. Das obere Geschoss steht
auf Pfeilern, darunter liegt ein Teil des Gartens. Verwirklicht.
1942
Oscar Niemeyer Haus, Gavea, Rio de Janeiro, RJ.
Im ersten selbst genutzten Haus auf einem Hanggrundstück
entwickelt der Architekt das Konzept des Cavalcanti-Hauses
weiter.
KAPITEL E INS: HÄUSER 1936–1953 21
eine Wendeltreppe erreicht. Eine hohe Glaswand begrenzt den zweistöckigen
Wohnraum.5
Das Dach als Element, das ein kleines Haus zu einer Einheit werden lässt, taucht
auch 1939 im Entwurf des M.-Passos-Ferienhauses in Miguel Pereira auf, im
Hügelland rund 50 Kilometer außerhalb Rios. Es hat eine T-Form, bestehend aus
einem eingeschossigen Küchen- und Wohnflügel und einem zweigeschossigen
Flügel. Das Haus wirkt luftig und geräumig. An zwei Seiten ist es von einer
Veranda umgeben, die die Innenräume beschattet. Auf der unteren Ebene des
zweistöckigen Flügels liegt ein offener Wohnraum, der an die geräumigen
Veranden der fazendas der Kolonialzeit erinnert. Auch die Schlafräume im ersten
Stock haben jeweils eine eigene Veranda.
Diese kleinen Entwürfe zeigen, dass Niemeyer keiner starren Formel folgt. Jeder
ist ein neues Experiment mit Raum und Struktur. In seinem ersten verwirklichten
Entwurf, dem Cavalcanti-Haus (1940) in Rios Bezirk Gavea, spiegelt das Design die
Gegebenheiten von Lage und Klima.
Statt eines Flachdachs, wie er es für das Xavier-Haus vorgesehen hatte, baute er
ein schräges Dach mit roten Pfannen, von denen der Regen leicht abfließt. Die
runden Säulen im Stil Le Corbusiers werden hier eingesetzt, um einen Kontrast
zwischen Haus und Hanglage zu erzeugen. Sie heben die Schlafräume an, sodass
sie die Lagoa de Freitas überblicken, und schaffen eine schattige Terrasse vor
dem Wohnbereich im Erdgeschoss. Niedrige Mauern grenzen Garage und Hof
von der wohnlicheren Terrasse ab, ohne die Luftzirkulation oder die Aussicht zu
behindern.
Ganz in der Nähe liegt das Haus, das Niemeyer 1942 für sich selbst, seine Frau
Annita und ihre Tochter Ana Luise baute. Hier führt er die Ideen der europäischen
Avantgarde noch weiter und verbindet vier Ebenen mit einer scherenartigen
Rampe, die an Corbusiers Entwurf für die Villa Savoie erinnert. Betonpfeiler heben
die Konstruktion in die Luft. Solche »Pfahlbauten« erleichtern auf abschüssigen
Grundstücken die Konstruktion und senken die Kosten, weil sie nur kleine
Fundamente brauchen. Mit dem schrägen Pfannendach, das an die funktionale
Architektur der Kolonialzeit erinnert, ist das Haus dennoch typisch brasilianisch.
• • •
Frank Lloyd Wright bezeichnete Herbert Johnson als einen seiner liebsten
Auftraggeber. Der Chef des Familienunternehmens aus Wisconsin war ein innova-
tiver und produktiver Geschäftsmann, der Wrights moderne Architektur verstand
und schätzte. Wright gestaltete 1936 den Hauptsitz der Firma Johnson Wax und
im Folgejahr auch Wingspread, das Haus der Familie. Johnson reiste regelmäßig
nach Cerara im Norden Brasiliens, wo er hochwertige Öle für die Wachsproduk-
tion einkaufte. Als er sich entschied, in Forteleza ein Haus bauen zu lassen, das er
auf diesen Reisen nutzen konnte, wählte er als Architekten Niemeyer.
Es war eine überraschende Wahl. 1942 war Niemeyer nördlich des Äquators noch
wenig bekannt. 1939 hatte er zwar mit dem brasilianischen Pavillon, den er mit
dem großzügigen Lucio Costa für die Weltausstellung in New York entworfen
hatte, einige Aufmerksamkeit erregt. Der erste Bau, der ihm internationales
22 DIE HÄUSER OSCAR NIEMEYERS
Renommee eintrug, war jedoch die Kapelle des Heiligen Franz von Assisi in
Pampulha.6
Das Haus an der Küste bei Fortaleza ist ein rechteckiger Klotz, der wie das
Cavalcanti- und das Niemeyer-Haus in Gavea, auf Säulen ruht. Im Inneren gehen
die Räume auf drei Ebenen, über die sich ein einfaches Pfannen-Schrägdach
spannt, fließend ineinander über. Das Haus, das bei Flut auf seinem mächtigen
Beton-Unterbau über dem Wasser schwebt, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit
R. M. Schindlers Lovell Beach House im kalifornischen Newport Beach (1926), von
dem Niemeyer 1942 jedoch wahrscheinlich nichts wusste. Das Lovell House, das
später als Meisterwerk anerkannt wurde, war seinerzeit außerhalb Kaliforniens
kaum bekannt.
Im offenen Erdgeschoss des Johnson-Hauses befindet sich ein Pool. Eine
Wendeltreppe führt zum Eingang und dem Hauptgeschoss darüber. Wohn- und
Essbereich gehen in die Veranda über, nur Paneele und Türen aus Holzlamellen
bilden eine subtile Abgrenzung, die in der heißen Luft der Äquatorregion eine
gute Belüftung gewährleistet. Das Ende des Wohnbereichs liegt unter einer
Galerie, auf der sich die Schlafräume befinden. Der Essbereich mit der Treppe
zum oberen Stockwerk hat doppelte Raumhöhe. Gegenüber dem Fenster mit
dem Strandpanorama liegt eine Lamellenwand. Auch die Schlafräume im oberen
Stockwerk werden durch solche offenen Holzlamellen belüftet.
Das Haus ist geradlinig, dennoch sind die Räume im Inneren sorgfältig konzipiert.
Die Plattform des dritten Stockwerks hat eine abgeschrägte Kontur, die dyna-
misch wirkt, den Blick fängt und gleichzeitig den Essbereich mit den darüber lie-
genden Schlafräumen verbindet. Als weißer Kasten, der auf Säulen in der Luft
schwebt, ist das Johnson-Haus Niemeyers letzter Entwurf, der unverkennbar von
Le Corbusier beeinflusst ist. Dann war er dieses Konzepts überdrüssig. Von einem
ähnlichen Entwurf für das Obra do Berco sagt er, es sei »eine mäßige Arbeit, ohne
große Bedeutung für meine architektonische Laufbahn. Für mich beginnt meine
Karriere in Pampulha, Minas Gerais.«7
Während er nämlich 1942 diese Häuser entwarf und baute, war er mit einem wei-
teren entscheidenden Projekt beschäftigt. Ursprünglich war es weder groß noch
bedeutend: eine Hand voll Gebäude für den neuen Vorort Belo Horizonte in
Pampulha, einem Ferienort der oberen Mittelklasse im Bundesstaat Minas Gerais
im Zentrum Brasiliens. Nach seiner Rückkehr aus New York im Jahre 1940 hatte
Niemeyers Freund und Initiator des Gebäudes des Ministerium für Bildung und
Gesundheit ihn mit Benedito Valladores, dem Gouverneur von Minas Gerais,
bekannt gemacht. Valladores erteilte ihm den Auftrag zum Bau eines Casinos am
Ufer des künstlichen Sees von Pampulha.
Als Niemeyer mit dem jungen, dynamischen Bürgermeister sprach, einem ehe-
maligen Arzt namens Juscelino Kubitschek de Oliveira, nahm das Projekt andere
Dimensionen an. Kubitschek hatte Größeres im Sinn. Bei einem Spaziergang am
Ufer des künstlichen Sees beschrieb der Bürgermeister dem Architekten seine
Vision eines eleganten Vororts mit Casino, Jachtklub, Veranstaltungshalle, 100-
Zimmer-Hotel, Theater, Parks, Wohnhäusern und Kirche. Er gab Niemeyer einen
Tag Zeit, um das Casino zu entwerfen, und dieser legte einen noblen, modernen
Spielpalast mit Spiegel- und Marmorwänden, Säulen mit Edelstahlverkleidung
1942
Herbert Johnson Haus, Fortaleza, Ceara.
Der Industrielle Herbert Johnson ließ dieses Haus entwerfen,
um es als Stützpunkt auf Geschäftsreisen zu nutzen. Verwirklicht.
KAPITEL E INS: HÄUSER 1936–1953 23
und einem angrenzenden Nachtklub mit gläserner Tanzfläche vor.8 Kubitschek war
beeindruckt.
»Als ich Pampulha entwarf, erschloss sich mir diese faszinierende Welt der Kurven
und ungewöhnlichen Formen, die mit Stahl- und Spannbeton möglich sind …
Eigentlich begann Brasilia in Pampulha«, erklärt Niemeyer.9
Verglichen mit den zukunftsträchtigen Bauprojekten in Westwood Village im kali-
fornischen Los Angeles Ende der 1920er-Jahre oder in Radburn in New Jersey
Ende der 1930er-Jahre hatte das brasilianische Vorhaben konzeptionelle
Schwächen. Einige wenige markante Gebäude sollten andere Investoren und
Bauherren anlocken. Hotel, Theater und Parks wurden nie gebaut. Die übrigen
Gebäude waren 1944 fertig gestellt, doch als das Glücksspiel verboten wurde und
der künstliche See Konstruktionsmängel zeigte, florierte das Projekt nicht so, wie
man es sich erhofft hatte. Immerhin aber förderte es Niemeyers Karriere beträcht-
lich. Neben den Aufträgen für öffentliche Bauten vertraute Kubitschek ihm auch
den Umbau seines eigenen Hauses in dem neuen Stadtteil an. Niemeyer entwarf
ein asymmetrisch geschwungenes Dach (ähnlich dem des größeren Jachtklub-
Gebäudes) über einem Wohnraum mit zwei Ebenen und einer Galerie mit drei
Schlafräumen.
Mit Pampulha schlug Niemeyer eine neue Richtung ein. Statt an den kantigen
Linien der europäischen Moderne orientierte er sich bei der Gestaltung des
Dachs des Tanzsaals an den rhythmisch fließenden Konturen der brasilianischen
Landschaft. Diese Formensprache hatte auch der Landschaftsarchitekt Roberto
Burle Marx im Dachgarten des Ministeriums für Bildung und Gesundheit verwen-
det, wo fließende Linien und leuchtende Farben einen starken Gegenpol zu den
geraden Konturen des Gebäudes selbst bilden.10 In der Kapelle des heiligen Franz
setzte Niemeyer erstmals große, wellenartige Betongewölbe ein, die mit blauen
Mosaiken verkleidet waren. Vor Pampulha, so schrieb er, »war ich von Le
Corbusier beeinflusst. Das hinderte mich aber nicht, eine eigene Stilrichtung zu
finden, was Corbusier immer verstanden und gelobt hat«. Niemeyers Einschät-
zung zufolge war es auch für seinen ehemaligen Lehrmeister eine Revolution.
»Man sagt, dass die Kapelle von Ronchamp eine Wende markiert. Nach ihrem
Bau haben meine Arbeiten den großen Architekten beeinflusst. Und das höre ich
natürlich gern.«11
»Mit den ersten Skizzen für Pampulha fing alles an. Schon in der allerersten Phase
verzichtete ich bewusst auf die übertrieben strengen rechten Winkel und die
rationalistische Architektur von Lineal und Dreieck. Ich wandte mich der Welt der
Kurven und Geraden zu, die der Beton mir eröffnete«, schreibt Niemeyer. »Schon
auf dem Papier, beim Zeichnen der Entwürfe, habe ich mich gegen die mono-
tone, gleichförmige Architektur aufgelehnt … Die Auflehnung ergab sich ganz
natürlich aus meiner Lebensumgebung, den weißen Stränden, den gewaltigen
Bergen, den alten Barockkirchen und den schönen, braungebrannten Frauen. Ich
trage nicht nur Rios Berge in mir, wie Le Corbusier es einmal ausdrückte, sondern
alles, was mich je bewegt hat.«12
Neben Pampulha brachte das Belo-Horizonte-Projekt auch Aufträge für verschie-
dene Wohnhäuser im Staat Minas Gerais mit sich. Im Peixoto-Haus (1942) in
Catagauzes kombinierte Niemeyer die Idee des Wohnbereichs auf zwei Ebenen
UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE
Alan Hess
Oscar Niemeyer - Häuser
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 232 Seiten, 27,9x27,9ISBN: 978-3-421-03580-6
DVA Architektur
Erscheinungstermin: August 2006
100. Geburtstag des Architekten 2007 Die Bauten Oscar Niemeyers gaben der Architektur des 20. Jahrhunderts eine neue Richtung.Der Erbauer Brasilias bewies, dass die rhythmischen, geschwungenen Linien der brasilianischenModerne neben den kubischen Formen des Bauhauses durchaus ihre Berechtigung haben.Niemeyer (geboren 1907), der letzte noch lebende Vertreter aus der Architektengenerationder klassischen Moderne, ist im allgemeinen Bewusstsein vor allem der Erbauer zahlreicheröffentlicher Gebäude und Wohnanlagen in Brasilien und Europa. Kaum bekannt sind hingegenseine Häuser und Villen für private Bauherren. Diese Lücke schließt das neue Buch von AlanHess mit den beeindruckenden Aufnahmen von Alan Weintraub. • Erstmals: die Privathäuser Oscar Niemeyers• Informative Texte, herausragende Aufnahmen