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WDR 3 Kulturfeature
Aus dem Skizzenbuch eines Gestrandeten
Begegnungen mit dem Kinozauberer Peter Lilienthal
Musik Guy Klucevsek: Altered Landscapes: Part one (CD: accordian
tribe)
Atmo Alt Solln, Vögelzwitschern vor den Fenstern, Sommerklänge
Erzähler München – Alt Solln.
Weite Rasen, hohe Hecken, Erkerfenster und Turmzinnen,
Altbauten, viel Grün, viel Geld. Schmiedeeisernes und
Videolinsen über Klingelschildern, moosbewachsene
Sandsteinstufen. Hierhin hat sich Peter Lilienthal zurückgezogen.
Peter Lilienthal Für mich war der Klang, dieser Name Uruguay, das war für mich
eine Briefmarke. Eine Briefmarke mit einem schönen Vogel
drauf...
Erzähler Das Foyer hat eine Raumhöhe von acht Metern – mindestens.
Bühnenreif der Aufgang zur Balustrade. Gute, alte Eiche, ein
massiver Handlauf getragen von geschnitzten dunklen Säulen.
Messingleisten halten den Sisalbezug, der schwarze Stufen
schonen soll.
Peter Lilienthal Als ich hörte, Uruguay liegt am Meer. Und nicht nur am Meer
sondern hat einen breiten Fluss und das Meer, da war ich
natürlich Feuer und Flamme und das war für mich also der
Beginn einer wunderbaren, glücklichen Geschichte, der
Auswanderung, die für andere problematisch und schwierig war,
aber für mich war es nur schön.
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Erzähler Peter Lilienthal, Jahrgang 1929, ist ein Gentleman, ein
Grandseigneur, schlank, mit flinken, jungen Augen.
Hochgewachsen, hager, Altersflecken auf den großen Händen,
mit sanfter Stimme, eloquent.
Musik aus dem Film „David“
Ansage Aus dem Skizzenbuch eines Gestrandeten:
Begegnungen mit dem Kinozauberer Peter Lilienthal
Ein Feature von Jochanan Shelliem
Film „David“
David David, David komm zurück.
Rabbiner Singer Und jetzt bitte, fangt an.
David liest vor
Rabbiner Singer Gut. Und jetzt übersetzten.
David Rette dich auf das Gebirge, dass du nicht umkommst.
Rabbiner Singer Gut.
Peter Lilienthal Freue ich mich so sehr, dass Sie gekommen sind. Es ist eine
Seltenheit dass man mit diesen Berufsjournalisten ein, ich sag
mal, intimes Gespräch führen kann. Ganz selten, weil ich meine,
das ist sicherlich u. a. auch eine jüdische Angewohnheit, dass
man viel von der Seele spricht. Und mit Deutschen von der Seele
zu sprechen ist etwas, was nicht funktioniert. Ein Vorurteil von mir
sicherlich, aber die Begriffe sind anders. Sie weichen schon
diesem Wort aus.
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Erzähler Wir haben viele Gespräche geführt. Für Peter Lilienthal bin ich ein
Periskop in die jüdische Gegenwart, er ist für mich ein Stethoskop
zu den Herzschlägen seiner Vergangenheit. Zwei Jahre nach
unserer ersten Begegnung beginnen wir an einem Hörspiel zu
arbeiten. Unsere Protagonisten wechseln, das Thema nicht.
Peter Lilienthal Ach, da ist ne Figur die insofern eigentlich nicht rein darf, weil sie
mit mir zu tun hat, nämlich meinen russischen Cellolehrer.
Musik Guy Klucevsek: Perusal (CD: Flying vegetables of the
apocalypse)
Alter Ego „Szenen aus dem Leben des Cellisten Gregor Piatigorskiy“
bearbeitet für den Hörfunk von Peter Lilienthal
Grischa Ich saß mit meinem Cello im Orchestergraben und sah den Film
noch vor der Premiere. Der einzige Cellist in der Stadt fürchtete
sich vor der Dunkelheit wenn er nüchtern war und deshalb bekam
ich seine Stelle. Ich kletterte aus dem Orchester Graben, der
Kinobesitzer setzte seine Brille auf:
Stolpikov ( Kinobesitzer ) (Eine Reihe russischer Schimpfwörter.)
Was sehe ich da? Ein Kind! – Sag wie alt Du bist:
Grischa Acht Jahre
Stolpikov Hast Du schon irgendwo gespielt?
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Grischa Zuhause. Quartett mit meinem Vater und meinem Bruder
Stolpikov Quartett. Zu Dritt.
Grischa Ich singe den Bratschenpart dazu. Wollen sie „Marussja hat sich
vergiftet“ oder „Schwarze Augen“ hören?
Grischa ( Singt )
Otschi tschornyje, Otschi schgutschije
otschi strastnyje i prekrasnyje…
Peter Lilienthal Jetzt kann ich schwer eine Figur erfinden, die nicht ich bin, die bei
ihm Unterricht hat oder hatte. Aber er gehört zu den Nebbichs.
Aber durch seine hysterische Art völlig unbrauchbar für eine
harmonische Arbeit in einem Orchester. Dass ich das überlebt
habe mit ihm und dazu noch irgendwie das Theatralische als
etwas Interessantes empfand. Er ist der einzige Mensch, der
einen Hund dazu gebracht hat, Selbstmord zu begehen.
Alter Ego Mein Cello Lehrer in Montevideo-Uruguay, wohin ich als jüdisches
Flüchtlingskind auswanderte, war Leon Donskoi, ein 60jähriger
Weißrusse, angeblich verwandt mit einem berühmten Banditen.
Peter Lilienthal Die Treppe und dann die Tür zu ihm, das Klingeln war ein Akt, der
fast dem Selbstmord gleichkam... diese Klingel stand unter Strom.
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Alter Ego Ihm hatte ich zu verdanken, dass jeder, der mir zuhörte, mir eine
erfolgreiche Cellistenkarriere leider nicht prophezeien wollte.
Peter Lilienthal Was dann passierte, dann wurde das Cello ausgepackt, da gab
es so einen Vorraum. Dann kam er mit seinem Cello. Dann sagte
ich, ich habe heute die erste Cellosuite von Bach vorbereitet. Ach,
hör auf, lass mich erst mal spielen. Dann fing er an zu spielen und
wollte mir vorzeigen, wie man spielt, das machte er immer, und
ich kam gar nicht mehr ran.
Alter Ego Ich wechselte darauf zum Film, wo ich mein eigener Lehrer
wurde.
Film „David“
Wissen Sie, wenn ich mich hier so umschaue, denke ich die
Wirklichkeit ist so wie ein Film. Geht es Ihnen auch so. Früher hat
mich meine Frau öfters gezwungen ins Kino mitzugehen.
Meistens habe ich gar nicht auf die Leinwand gesehen. Ich habe
sie reden lassen, schießen, singen, was auch immer ihnen Spaß
machte, ohne mich!
Erzähler Leon Donskoi, der Cellolehrer mit seinen Räuberpistolen, Grischa
Piatigorskiy, das russische Wunderkind, der orthodoxe
Tellerwäscher, von dem Lilienthal später erzählen wird, der
abgehalfterte Boxer in seinem Film „Das Autogramm“ und der
russische Koch aus der Hotel Pension seiner Mama in Uruguay –
vom Schicksal Ausgestoßene, verblüfft gestrandete Gestalten
eines Pandämoniums, die Peter Lilienthal nie verlassen haben
und deren Geschichte er in seinen Filmen ausgeleuchtet hat.
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Film „David“
David Ich lass mich jetzt in einem technischen Beruf ausbilden, Herr
Cohn.
Cohn Sagen Sie Kon zu mir, das Namensschild habe ich schon
geändert. Ich will nicht, dass jeder Fremde, der hier ins Haus
kommt, weiß, dass hinter der Tür ein Jude wohnt.
David Vater sagt, dass wir jetzt erst recht stolz sein müssen, dass wir
Juden sind.
Peter Lilienthal Ich muss nicht auftauchen. Ich bin denen verpflichtet, die nicht
dieses günstiges Schicksal hatten, das ich hatte, von denen ich
nicht weiß, was wollen sie von uns, die Frage bleibt
unbeantwortet.
Musik Guy Klucevsek: Perusal (CD: Flying vegetables of the
apocalypse)
Erzähler Grischa, das russische Wunderkind aus dem parallel zu diesem
Feature entstehendem Hörspiel, ist eine historische Figur.
Grischa ( Singt )
Otschi tschornyje, Otschi schgutschije
otschi strastnyje i prekrasnyje…
Stolpikov Sind wir hier in einem Kindergarten oder einem Bordell. Du
schadest dem Geschäft!
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Grischa ( AN DIE ZUHÖRER )
Da mich im Graben niemand sehen konnte bekam ich die Stelle
Zuhause rief ich: Ich darf die Musik für den Film aussuchen!!
Mutter, Du musst mitkommen. Ich kriege eine Uhr, Papier und
Bleistift, um den Zeitablauf festzuhalten... Wenn der Zug kommt,
spielen wir Tarararam-Tararam-Tarataram
Atmo Dampflock schnauft heran
Musik Comedian Harmonists: Mein kleiner grüner Kaktus
Peter Lilienthal Es gab ja zwei Familien, die von der Mutter meines Vaters, die
Lilienthals und die andere, das waren die Israels, das waren die
von meiner Mutter.
Die Israels waren reich und die Lilienthals waren arm. Beide in
Berlin.
Und das Bewusstsein, war nicht, dass ich eine jüdische
Großmutter hatte, sondern eine arme Großmutter und einen
reichen Großvater, der ziemlich präpotent war und seine
Bediensteten grob... also das war von Anfang an für mich, später
würde man sagen, ein Klassenbewusstsein.
Musik Guy Klucevsek: Perusal (CD: Flying vegetables of the
apocalypse)
Grischas Mutter: Als Grischa klein war, hörte er Dinge, die keinen Laut von sich
gaben, sagte, er höre den Himmel, er höre den Staub, der über
dem Boden weht. Er höre die Federn im Kissen wenn sie nachts
unter seinem Kopf flüsterten – aber was sie flüsterten, wollte er
nicht verraten.
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Peter Lilienthal Erwachsene waren mir suspekt, weil ich das Gefühl hatte von
einer großen Künstlichkeit. Das lag auch an meiner Mama, die
noch sehr jung war, als sie mich bekam. Die so eine Art hatte mit
ihren Freundinnen zu telefonieren, die mir irgendwie komisch
erschien. Mit elf oder zwölf wollte sie mich zum Kinderpsychiater
bringen, denn was immer sie tat oder erzählte, ich bekam einen
Lachkrampf.
Film „David“
Walter Traub (Singer) Beten hat man überhaupt nicht dürfen, das war strengstens
verboten. Während dieser stundenlangen Appelle, da haben sie
gesagt, man darf an nichts denken, nicht. Was hab ich gemacht.
Ich hab gebetet. Ich hab gebetet. - Nein, wir sind nicht verhungert.
Peter Lilienthal ...und in der Eisdiele hing zum ersten Mal ein Plakat HUNDE
UND JUDEN UNERWÜNSCHT. Dann sagte die Mama: Ab jetzt
machen Juden zuhause ihr Eis. Na ja, gut, das war meine
Vorstellung von Jüdischsein. Dass man zuhause sein Eis macht.
Film „Seraphine oder die wundersame Geschichte der Tante Flora“:
Dampflokomotivenpfiff – Lokomotive
Erzähler Ein Verwundeter im Zugabteil. Holzklasse. Zahnschmerzen und
Kopfverband, ein Bild wie von van Gogh. Daneben ein
verdruckstes Paar – der Mann niest, weint. Die Frau zischt auf
ihn ein. Die Bahn fährt aus dem Bild.
Film Seraphine oder die wundersame Geschichte der Tante Flora:
Also, was kostet das Zimmer, Frau Tiensmann?
Was haben Sie denn in der Kiste?
Ein riesengroßes Salzwasserungeheuer.
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Erzähler In diesem Fernsehfilm wird der deutschen Nachkriegsrepublik ein
Ungeheuer präsentiert. Das Monster in dem Leichenkarrenkasten
ist verfressen. Tante Flora ebenfalls. Sie hat in der Hotel Pension
Zur Nachtigall das Sagen.
Peter Lilienthal Ja, das war die Geschichte eines Seeungeheuers, das von einem
Zoowärter zuhause gehalten wird, in der Badewanne, aber dann
seine Frau wirklich zusammenbricht vor Ärger über dieses
Seeungeheuer in der Badewanne und den Mann überzeugt, dass
das Ungeheuer ins Meer gesetzt werden muss., Was sie dann
auch getan haben unter sehr verrückten Umständen.
Film „Seraphine oder die wundersame Geschichte der Tante Flora“:
Jazzgesang
Erzähler Am 16. März 1965 ist das Fernsehspiel Seraphine oder die
wundersame Geschichte der Tante Flora im Deutschen
Fernsehen unter der Regie von Peter Lilienthal zu sehen.
Film „Seraphine oder die wundersame Geschichte der Tante Flora“:
Dieses Geschöpf schickt uns der Himmel...
Aber es gehört uns doch gar nicht.
Noch nicht.
Michael Ballhaus Also beim Südwestfunk wurde gerade das Fernsehen erfunden.
Erzähler Michael Ballhaus
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Michael Ballhaus Ja, und ich habe mich dann beworben, und ich glaube mein Vater
kannte irgendjemand da am Südwestfunk. Und das hat ein
bisschen geholfen, und ich durfte also diese großen, dicken
Apparate schwenken und diese riesigen elektronischen Kameras.
Peter Lilienthal Er war Kameramann und ich war engagiert als Assistent erst mal.
Und das erste, als ich dann mal zuschaute im Studio, was mir
auffiel, waren diese monumentalen Kameras. Im Grunde
genommen sind Studiokameras immer noch sehr groß und sehr
schwer. Und lauter sympathische Typen, drei oder vier. Die
hingen dann an dieser Kamera wie kleine Äffchen. Aber im
Grunde genommen, war die Kamera diejenige, die sich
durchsetzte nicht der Kameramann.
Michael Ballhaus Und das war natürlich für mich ein Einstieg in diesen Beruf, der
natürlich sehr ungewöhnlich ist, weil normalerweise ist ein
Kameramann erst mal Assistent für zehn Jahre und lernt Schärfe
zu ziehen. Und ich habe nicht Schärfe ziehen gelernt sondern ich
habe mit dem Regisseur Projekte entwickelt, und das war
natürlich für mich ganz toll.
Musik Moondog: Symphonique #1 (CD: Moondog / Moondog 2)
Peter Lilienthal Baden Baden war vom ersten Moment an eine sehr gute
Erfahrung. Wir waren sozusagen die Avantgarde. Also, auch mit
Ballhaus zusammen, wir stellten alles auf den Kopf. Wir haben
gesagt, diese elektronischen Kameras wir stellen die auch ins
Freie. Das war total tabu, das Ganze, was wir da machten, aber
die Mehrzahl der technischen Angestellten kamen von den
Propagandakompanien, also der Nazis, die haben da mitgemacht
als Fotografen, als Kameraleute, als Tontechniker und so weiter
und die wollten vermeiden, dass wir sie nun als alte Nazis
beschimpfen, deswegen konnte wir alles durchsetzen. Die
Bedrohung lag sozusagen in der Luft.
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Michael Ballhaus Dann haben wir sehr viele Filme zusammen gesehen. Die ganze
Nouvelle Vague haben wir angeguckt und das oft mehrfach. Das
war eigentlich meine Filmschule und dann eben Peter als mein
Freund, mit dem ich dann anfing auch zu drehen.
Film „Das Martyrium des Peter O’Hey“ von Slawomir Mrozek
Schön haben Sie es hier. Ist Ihnen in Ihrem Badezimmer nichts
aufgefallen? Ein dumpfes Knurren. Haarbüschel in der Wanne?
– Nein, nur einmal schien mir…
Ja?
– Als ob das Wasser nicht so recht laufen wolle, als ob die
Leitung verstopft sei.
Was war weiter?
– Nun. Nichts.
Ich bin beauftragt Ihnen zu eröffnen, dass sich in Ihrem
Badezimmer ein schrecklicher, menschenfressender Tiger
eingenistet hat.
Michael Ballhaus Der Tiger… das war etwas Wunderbares. Also, alle haben
gesagt, da ist ein Tiger und wir sind auch immer vorsichtig
natürlich in das Zimmer reingegangen und natürlich gab es
keinen Tiger in der Badewanne. Aber er war sozusagen immer
präsent. Bis heute nenne ich ja den Peter Tiger. Wenn ich ihn
anrufe, sage ich „Hallo Tiger“, und dann weiß er, wer am anderen
Ende ist.
Film „Das Martyrium des Peter O’Hey“
Standuhr schlägt
Tigersteuer. Tiger sitzt in Ihrem Badezimmer. Und wenn Sie
Angst vor ihm haben, sind Sie gewissermaßen sein Nutznießer,
da er in Ihnen Gefühle erweckt, die sie sonst nicht hätten.
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Michael Ballhaus Was Peter wollte und was ich natürlich sehr, sehr unterstützt
habe und auch wollte, dass wir emotionale Geschichten erzählen,
die auch einen politischen Inhalt haben. Denn Peter ging es
immer ganz, ganz besonders um Politik. Dinge aufzuzeigen, die
falsch sind. Ja, um immer wieder darauf hinzuweisen, was nicht
funktioniert. Und manchmal haben die Leute das auch noch nicht
verstanden. Er war seiner Zeit voraus. Und manchmal haben sie
sich etwas gewundert über die Geschichten, die er erzählt hat.
Aber sie waren richtungweisend.
Musik Nino Rota: La poupée automate (CD: Il Casanova di Federico
Fellini)
Erzähler Das Martyrium des Peter O’Hey des jungen Slawomir Mrozek ist
eine bitterböse Parabel über das Obrigkeitsdenken, die Peter
Lilienthal 1964 genüsslich in Baden Baden inszeniert:
Das Bild vom Raubtier in der Badewanne, während die Familie
gerade ihre Suppe löffelt: eine prägnante Analyse der tiefbraunen
Adenauerrepublik mit einem ehemaligen SS Admiral im
Bundesnachrichtendienst und NS-Juristen im Bundeskanzleramt.
Michael Ballhaus Das ist wohl wahr und das hat er natürlich bekämpft, weil das
waren ja die Menschen zum Teil eben die Nazis, die seine
Familie ermordet haben und da hat er natürlich ziemlich drauf
gehauen, wenn das möglich war und mit seinen Geschichte hat er
das ja auch erzählt.
Musik Iwan der Schreckliche - Filmmusik op.116, Dance of the Oprichniki
Alter Ego „Szenen aus dem Leben des Cellisten Gregor Piatigorskiy“
bearbeitet für den Hörfunk von Peter Lilienthal
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Sprecher Die Zeit des erwachenden Zorns.
Die Revolution war ausgebrochen. Ein mächtiger Sturmwind
breitete sich aus wie ein Lauffeuer. Es begann eine Jagd auf
Weiße und auf Rote – ein Jagd auf Gespenster und auf Lebende.
Fürsten wurden in Palästen verbrannt. Großmütter, Söhne,
Töchter und Enkelkinder krochen unter den Louis-Quatorze
Betten hervor wie vergiftetes Ungeziefer. Klaviere wurden aus
dem Fenster geworfen und Diamanten gegen Brot eingetauscht.
Die Generäle ließen eine Fabrik voller Arbeiter bombardieren.
Man sah lauter Blut – Russland zitterte.
Atmo Dampfertuten, Meeresbrandung, Möwen
Peter Lilienthal Ich habe nicht das Gefühl gehabt, dass ich was verlasse, sondern
ich hab das Gefühl gehabt, das ist das Abenteuer meines Lebens.
Ein großes Schiff.
Erzähler Juden müssen erster Klasse reisen, wenn sie das Reich
verlassen wollen, verlangt das Deutschlandreferat der NSDAP.
Mit zehn Dollar in der Tasche gehen Peter Lilienthal und seine
Mama 1939 an Bord der Cap Arcona.
Peter Lilienthal Auf jeden Fall, wir waren auf dem Schiff. Ich hatte eine eigene
Kabine natürlich, erster Klasse. Ich bin also ganz früh
aufgestanden. Und auf dem Weg zum Schwimmbecken ging ich
vorbei an einem Herrn, der im Liegestuhl saß und der von
mindestens zwei oder drei Kellnern bedient wurde. Neben ihm
links und rechts feine Platten, also das war das Frühstück, und
schauten uns an und das war mein erster Regisseur und zwar
Gustav Gründgens, der von Hamburg nach Buenos Aires fuhr,
ohne jetzt von Deck zu gehen und wieder zurück. Das waren
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seine Ferien.
Wir waren dann noch nicht sehr weit entfernt vom Äquator. Es
gab eine Äquatortaufe, irgendwie hat er das geahnt, dass ich
jüdisch bin. Er sagte: „Na gut, was hältst Du davon, wenn wir
uns zusammen taufen lassen?“ Also, die Äquatortaufe, das
wusste ich, Juden haben keine Taufe, und dann sind wir wirklich
in einem Spezialbecken beide da reingegangen und man hat uns
ein Formular übergegeben, also den Taufschein. Und seitdem
war natürlich meine Vorstellung, dass ich Regisseur werden will,
weil die wunderbare Schiffsfahrten machen können und das
tollste Frühstück der Welt bekommen. Das war meine Vorstellung
von Regisseur.
Erzähler Später wird Peter Lilienthal am Ende eines langen Tages voller
Gespräche sagen
Peter Lilienthal Weißt Du, ich bin überrascht, dass wir auf diese Art und Weise im
Gesprächs auf etwas Essentielles kommen, was mit dem Wort
Mitleid zu tun hat, denn, was ist unsere ganze Kultur als eine
ständige Fortsetzung von Mitleid haben. Wir wissen von der
Geschichte her, dass das jüdische Volk, was es alles gelitten hat.
In seiner ganzen Bedeutung gefällt mir das, wenn ich sage, das
ist ein wichtiges Motiv für mich.
Erzähler Aber ich greife vor...
Peter Lilienthal Wenn etwas entsteht, dann entsteht es immer aus einem Gefühl
des Mitleids.
Musik Victor Jara: En el Rio Mapocho (CD: Victor Jara: Complete)
Erzähler Die Bar im Souterrain des Hotels Carrera gegenüber der Moneda
ist verwaist. Die meisten Korrespondenten sind nach der Wahl
von Präsident Allende abgereist. Es scheint ein schöner
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Frühlingstag zu werden, an diesem lauen Dienstag, dem 11.
September 1973 in Santiago de Chile.
Peter Lilienthal Wenn ich das richtig verstanden habe, geht es ja auch um
Antonio Skármeta, ein sehr, sehr guter Freund, den Du irgendwo
entdeckt hast.
Atmo Putsch
Antonio Skármeta Ich war Professor an der Universität de Chile und das ist genau,
wo ich war an dem Tag des Putsches. Am 11. September 73 war
ich in Santiago Chile. – Was passierte?
O – Ton Letzte Rede von Salvador Allende
Antonio Skármeta An dem Tag gegen sieben Uhr dreißig, ich habe Radio gehört und
alles war schon los. Die Militärs haben die Radios schon
genommen und es gab noch ein paar Radio, demokratische
Sender, die noch am Leben waren und Salvador Allende war an
einem von diesen Radios und hat eine Rede gehalten und dann,
nach dieser Rede, dieses Radio wurde bombardiert und das
waren die letzten Worte von Salvador Allende, die ich gehört
habe.
Salvador Allende Mitbürger, dies wird höchstwahrscheinlich die letzte Gelegenheit
sein, dass ich mich an Sie wenden kann. Die Luftwaffe hat die
Sendetürme von Radio Portales und Radio Coorporation
bombardiert. Meine Worte enthalten keine Bitterkeit, jedoch
Enttäuschung. Sie werden die moralische Strafe sein für
diejenigen, die ihren Schwur verraten haben.
Erzähler Peter Lilienthal tut etwas für ihn Selbstverständliches.
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Peter Lilienthal ... und ich hatte ja mit Antonio telefonisch Kontakt, ich wusste, er
lebt, er ist nicht aus dem Haus gegangen, er konnte telefonieren.
Antonio Skármeta Das war ein typisch faschistischer Coup.
Peter Lilienthal Wie viele Schriftsteller, sollte er verhaftet werden, aber sie haben
ihn wohl nicht gefunden oder es war ein Missverständnis. Also, er
ist nicht sofort in diese ganz schreckliche Schlächterei
gekommen, die da stattfand, wo viele, besonders Sänger, Poeten
usw. ins Nationalstadion gebracht wurden und verhaftet und so
weiter.
Erzähler Antonio Skármeta ist zur Zeit des Putsches 32 Jahre alt. Nach der
Rückkehr der Demokratie in Chile wird er der Botschafter seines
Landes werden. Beim ‚Stammtisch der Latinos’, dem
wöchentlichen Lagerfeuer Lilienthals in München, erfahre ich vier
Jahrzehnte später, was damals geschah. Nein, nicht von
Lilienthal, der Regisseur der leisen Töne spricht davon nie.
Musik Burnt Friedman + Robert Nacken: scene 06 (CD: Nonplace
Soundtracks scenes 01 – 25)
René Bendit Der 11. September 73 hat mich in einem Versteck erwischt.
Meine Frau war nach Deutschland mit ihrem Stipendium drei
Monate vorher gekommen.
Erzähler René Bendit, der Sozialpsychologe aus Buenos Aires,
kommt wie stets zu spät. Mir zu Ehren trifft sich der
‚Stammtisch der Latinos’ nicht in einem Steakhouse in der
Innenstadt sondern in Peter Lilienthals Stammrestaurant.
Ein Kreis ergrauter Exilanten, die längst in Bayern
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verheiratet, verschwistert und vielleicht verwurzelt sind, im
Herzen aber wissen, wie sich ein Flüchtling fühlt.
René Bendit An diesem Tag habe ich gesagt, ich werde nicht bei meinen
Eltern übernachten sondern ich werde bei Nachbarn, von denen
meine Eltern keine Ahnung hatten, dass ich bei ihnen war, dort
sein und da hat mich der Putsch erwischt.
Antonio Skármeta Es war sehr tragisch eigentlich. Ich hatte mich entschieden,
trotzdem in Chile zu bleiben und zu riskieren, als ich von
Deutschland ein Flugticket bekommen habe. Von einem
deutscher Regisseur, Peter Lilienthal, mit dem ich in Chile einen
Film gemacht habe. Er hat Regie geführt und ich habe das
Drehbuch zu diesem Film geschrieben. Der Film heißt „La
Victoria“.
Alter Ego „La Victoria“ erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die aus der
Provinz in die Hauptstadt Santiago kommt und Freunde findet, die
politisch engagiert sind. Marcela wird Sekretärin und Assistentin
einer Abgeordneten, die ihre Wahlkampagne macht, Carmen
Luzo. Dabei lernt sie ihr Land kennen, und das was auch der
Prozess, den ich durchgemacht habe. Jeden Tag habe ich etwas
dazu gelernt.
Antonio Skármeta Dieser Film wurde im Deutschen Fernsehen, ZDF, glaube ich am
gleichen Woche des Putsches in Chile ausgestrahlt. Dieser
Regisseur hat mir und andere Filmemacher Flugkarten und er hat
uns gebeten, das Land zu verlassen, da er als ein Deutscher aus
jüdischer Stamm, wusste, was ist los in solchen Situationen und
dann seine Empfehlung war, Chile alsbald als möglich zu
verlassen.
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René Bendit Unsere Treffpunkte waren meistens Kinos, wir haben uns früh um
Elf in irgendeinem Kino getroffen, haben uns hingesetzt und
während des Vorspanns oder des Films haben wir miteinander
ausgetauscht, wer wo was macht. Da ging es um Leute, die
gesucht wurden, zu verstecken. Da ging es um Leute, die verletzt
waren, weil, es gab ja auch Kämpfe um Santiago herum, zu
irgendeinem Arzt zu bringen. Es gab dort sozusagen illegale
Kliniken, die aufgebaut wurden. Ja und das Hauptproblem, das
wir hatten, war natürlich, dass, nachdem die Moneda
eingenommen wurde, unsere Freunde und Kollegen mit gefangen
genommen wurden.
Musik Burnt Friedman + Robert Nacken: scene 06 (CD: Nonplace
Soundtracks scenes 01 – 25)
Antonio Skármeta Und dann diese Filmregisseur und ich haben es versucht, legal
raus zu kommen. Wir haben es geschafft, wir sind mit unserer
Familie fünf Kilometer bis zum Flughafen zusammen gefahren.
Da mussten wir aussteigen und dann in einem Bus, einem
Militärbus zum Flughafen. Das war wirklich ein gefährliches Spiel.
René Bendit Ein oder zwei Kilometer vor dem Flughafen war eine Kontrolle, du
musstest aussteigen und musstest dich da verabschieden. Und
dann warst du am Flughafengebäude und dann erinnere ich mich,
dass ich da war, und sah zwei sehr nervöse Leute. Das war ein
Freund von ihm, Skármeta, der damals schon ein bekannter
Mensch war und der sicher weg musste, und der andere war
Ruiz.
Antonio Skármeta Wenn du im Flughafen bist, du weißt nicht, ob du dein Flugzeug
nehmen kannst, du bist hilflos, die Militär können mit dir machen,
was sie wollen.
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Erzähler Ich blicke in das ungläubige Staunen eines Freundes von Peter
Lilienthal, der wie die Protagonisten seiner Filme – nur eben im
realen Leben – mit offenem Mund zwischen die Walzen der
Weltgeschichte geraten ist.
René Bendit Und dann wurden wir aufgerufen, sind ins Flugzeug gegangen.
Und wir saßen alle drei zusammen, obwohl ich Skármeta kaum
kannte. Aber Ruiz kannte ich mehr. Dann geht das Flugzeug hoch
und wenn du die Anden überquerst, gibt es immer solche
Luftlöcher, das Flugzeug kann von viel Höhe plötzlich runter
kommen, das passierte da auch. Dann haben wir uns angeguckt
und uns gesagt, auch diese Scheiße jetzt noch. Als das vorbei
war, kam einer auf die Idee, ich meine es war Ruiz, eine Flasche
Whisky zu verlangen und dann haben wir von Mendoza bis
Buenos Aires diese Flasche ausgetrunken und sind relaxed
irgendwie runtergekommen.
Antonio Skármeta Es ist alles, alles geklappt und mit diesem Filmregisseur
zusammen sind wir mit einer Lufthansamaschine Chile verlassen.
Und das war der Anfang meines Exils.
Peter Lilienthal So kam dann Antonio raus und wir setzten unsere
Zusammenarbeit fort und versuchten dann noch was zusammen
zu machen und so weiter. Das ist eine ganz lange Geschichte, die
immer, bis heute natürlich eine Freundschaft geblieben ist,
manchmal unterbrochen von längeren Zeiten, wo wir uns nicht
schreiben. Ich wurde genannt el pajaro piloto. Ja, damit war
gemeint, ich habe der Familie immer die Richtung angegeben,
wie sie sich retten können, was ein bisschen pathetisch ist und
nicht stimmt. Aber auf jeden Fall in seinem Fall konnte ich mit
anderen Freunden dafür sorgen, dass er rauskommt.
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Musik Dino Saluzzi Group: Dele..., Don !! (CD: Responsorium)
Erzähler Auf der Cap Arcona strahlt ein Neunjähriger, pitschnass. Bei der
Äquatortaufe mit dem vergnügten Gustav Gründgens sieht sich
Peter Lilienthal als Kind im Glück. Berlin versinkt derweil im Hass
und Leni Riefenstahl lädt Adolf Hitler im Gartenhaus der
Wertheims zum Tee.
Film „David“
HALT! AUSWEISE.. MARSCH...
Peter Lilienthal Uruguay war nun überhaupt das Paradies für mich, erst mal weil
es am Meer liegt, und ich wollte immer am Meer leben oder sein.
Ich hatte es vorher kennengelernt durch zwei Reisen mit meinem
Großpapa in Deutschland. Ich konnte etwas oder schon sehr gut
Spanisch durch die Großmama.
Alter Ego Die „Hotel-Pension Brazil“ in Montevideo stand an der Avenida de
Brasil, drei Ecken vom Meer entfernt. Die Straßenbahn fuhr mit
unendlichem Krach vorbei.
Peter Lilienthal Die Strasse hieß Rio Branco und war eine Nebenstrasse von der
Hauptstrasse, 18 de Julio, also ne Pension.
Alter Ego Es war ein altes Haus, gebaut um 1890, ungefähr 25 bis 30
Zimmer, eine herrschaftliche Villa, wie man sie aus Nordspanien
kennt, mit starkem französischem Einfluss: hohe Fenster, große
Eingangshalle mit einer geschwungenen Treppe, die in die erste
Etage führte. In meiner Erinnerung ist das Haus besetzt mit
großen Liebesdramen und Abenteuern.
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Peter Lilienthal Ich war ein Tourist innerhalb des Hotels. Ich wohnte immer in
dem Zimmer, das gerade frei ist, das ist klar.
Erzähler Lilienthal zögert, als er von dieser Zeit erzählt. Doch seine Augen
strahlen.
Peter Lilienthal Mit dieser Geschichte sind sehr viele erotische Abenteuer auch
verbunden...
Erzähler Er riecht das Meer, hört die Barkassen aus Concordia auf dem
Weg zum Hafen und die Straßenbahn in der Calle Brasil.
Peter Lilienthal Ja, ich kann alles erzählen. Da gab es einen Tellerwäscher, der
so ein merkwürdiges Parfüm hatte und den habe ich eines Tages
in seinem Zimmer überfallen, was ihm sehr peinlich war, denn
der Sohn von der Besitzerin kommt und will unbedingt mit mir
schlafen oder so was. Und der ist dann, das erzähle ich
deswegen, weil das wirklich eine moralische Angelegenheit war,
der ich mir gar nicht bewusst wurde, denn natürlich für ihn war
das ganz peinlich, der ist am nächsten Tag verschwunden.
Und mir wurde klar, dass die Entfesselung meiner Abenteuer oder
Gelüste oder was weiß ich, dass das anderen schaden kann.
Alter Ego „Szenen aus dem Leben des Cellisten Gregor Piatigorskiy“
bearbeitet für den Hörfunk von Peter Lilienthal
Musik Guy Klucevsek: Perusal (CD: Flying vegetables of the
apocalypse)
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Grischa Ich war 14 Jahre alt und hätte mich gern am Jubel beteiligt doch
ich hielt mich zurück und horchte nur auf die Kanonenschüsse
und auf die Trompeten, die verkündeten, dass die Götter und die
gesamte Jahrhunderte alte Herrschaft der Romanovs gefallen sei.
Der große Aufstand der Massen war erschreckend und doch
gingen viele Menschen ihrem täglichen Leben nach.
Erzähler Grischa Piatigorsky ist ein untypischer Held im Skizzenbuch von
Peter Lilienthal, einer, der mit dem Viehwaggon vom Regen in die
Traufe gerät, aus den Armen der Bolschewikij in das turbulente
Ende der Weimarer Republik. Berliner Parkbänke und das
Russische Café bieten ihm zeitweise eine Bleibe für die Nacht. Im
Russischen Café aber verkehrt auch Wilhelm Furtwängler.
Piatigorsky kommt zu den Berliner Philharmonikern, als ihr erster
Cellist. Das Wunderkind aus Jekaterinoslaw bleibt bis 1929 in
Berlin.
Peter Lilienthal Was mich am meisten erschüttert hat, das Tagebuch von David
Rubinowitsch. Alle kennen wir das berühmte Tagebuch von dem
holländischen Mädchen.
Erzähler Immer neue Protagonisten ziehen durch unser Hörspielkonzept.
Das Hörspiel verwandelt sich in das Panoptikum der Hotel
Pension von Lilienthals Mama.
Peter Lilienthal Das Besondere an diesem Tagebuch ist, wie er beschreibt, das
alltägliche Leben eben aus der Sicht von einem Junge, der, ich
glaube, zwölf ist. Wie das immer komplizierter wird. Die Nazis
sind noch nicht so präsent, physisch präsent. Das Tagebuch hat
kein Ende, es bricht abrupt ab.
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Film „David“
Frau Singer Wie kann G’tt das nur alles zulassen. Wo bleibt seine
Gerechtigkeit. Dazu sind wir also auserwählt? Verflucht sind wir.
Wozu sind diese Kinder überhaupt auf die Welt gekommen? Für
dieses Hundeleben?
Peter Lilienthal Er schreibt: Zum Unglück fuhren die Deutschen von Rudik nach
Butschentin, um Kartoffeln zu holen. Und sind ihnen begegnet.
Als die beiden Frauen die Deutschen erblickten, da begannen sie
zu fliehen, wurden aber eingeholt und festgenommen. Sie wollten
sie gleich im Dorf erschießen. Aber der Dorfschulze ließ es nicht
zu. Da sind sie an den Waldrand gegangen und haben sie dort
erschossen. Die jüdische Polizei fuhr gleich hin, um sie auf dem
Friedhof zu begraben. Als das Fuhrwerk zurückkam, war es voll
Blut. Jetzt kommt noch ein Wort: Wer? Nichts weiter. „Wer?“ –
bleibt offen. Steht in Klammern: Hier brechen Davids
Tagebuchaufzeichnungen ab.
Erzähler Das Tagebuch des David Rubinowitsch wird Lilienthal zu „David“
führen, dem letzten Spielfilm, den er auf deutschem Boden
drehen wird. Und für den er 1979 den Goldenen Bären verliehen
bekommt.
Musik Juan José Mosalini: Milonga de la tierra (CD: WDR
Eigenproduktion)
Alter Ego In Montevideo habe ich den ersten Menschen kennengelernt, der
aus dem Konzentrationslager kam. Ein zwölf- oder
dreizehnjähriger Junge, der nicht sprach, mich nur anstierte, alles
anguckte, als ob er es nicht begreifen konnte, der mit beiden
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Händen aß und immer so hungrig war, dass ich es mir nicht
erklären konnte.
Peter Lilienthal Er tauchte eines Tages auf, hatte hinter sich die Odyssee einer
sehr langen Reise. Wo der Ausgangspunkt war, hab ich nie
erfahren. Auf jeden Fall war er ein Häftling in Bergen Belsen, der
über einen Hafen in Chile und über Argentinien nach Uruguay
kam.
Alter Ego Sein Onkel brachte ihn, er kam für zwei oder drei Wochen ins
Hotel. Er war so eingeschüchtert und verletzbar, dass er wirklich
nicht von dieser Welt war – heute würde man sagen: verstört.
Peter Lilienthal Er ist der Archetyp für den heutigen Flüchtling, der aus dem KZ
kommt und irgendeine eine Art von Unterkunft oder Möglichkeit,
sich das Leben zu verdienen, diese Reise macht und dabei nichts
gegessen hat. Brot und Wasser konnte er essen, also praktisch
das Leben eines Häftlings führte er weiter – in der Beziehung.
Und was er gesehen und erlebt hat in Bergen Belsen…
Alter Ego Dieser Junge hat dann einen Lotterieverkäufer überfallen, ist
verfolgt worden, hat ein Taxi genommen und ist am Meer
erschossen worden. Das war der erste Schock.
Musik Astor Piazzolla: Milonga del Angel (CD: Adios Nonino)
Peter Lilienthal Das waren die Auseinandersetzungen mit den Emigranten, mit
meiner Mama und gleichzeitig auch die Entdeckung von traurigen
Sachen wie z. B. ein junger Anwalt, der kam und der wollte nicht,
dass man das entdeckt, dass er sehr früh morgens für ein
Geschäft Milch vertrieb, also Milch auslieferte. Und das war ein
besonderer Liebling von mir unter den Kunden, so dass ich diese
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Geschichten der Emigranten nicht als Kind in Berlin kennenlernte,
sondern als Kind in Uruguay.
Musik Claire Waldoff: Lieber Leierkastenmann (CD: Verklungenes Berlin
- Lieder von der Spree der 20er und 30er Jahre)
Erzähler Dass der junge Emigrant Mitte der 1950er Jahre als Kunststudent
zurückkehrt in das zertrümmerte Nachkriegs-Berlin, ist vielen
Irrungen und Wirrungen zu verdanken. Dass er tatsächlich beim
Film landet, daran ist Locken-Erwin schuld, ein Leierkastenmann,
der durch die Hinterhöfe zog.
Film Im Handumdrehen – Der Locken-Erwin und sein Leierkasten
Musik
Erzähler Über 150 Jahre Doornkaat – Die Kamera folgt dem Werbebanner
auf der Straßenbahn hinter dem Bagger in Berlin. Ein D-Zug mit
einer Lokomotive wie aus dem Bilderbuch zieht Güterwaggons
und Personenwagen über die S-Bahn Brücke in den Bahnhof
Zoo. Die Rautenfassade des mondänen Kaufhauses an der
Joachimsthaler Straße und die schäbige Stube am Zoo unter der
Brücke sind zu sehen – zwei Jahre vor dem Bau der Berliner
Mauer.
Film Im Handumdrehen – Der Locken-Erwin und sein Leierkasten
Sprecher Ein Leierkasten am Kurfürstendamm. Das ist in unseren Tagen
schon eine kleine Sehenswürdigkeit. Mehr als vierhundert
Drehorgelspieler hatte Berlin vor zwei Jahrzehnten, ganze
zwanzig sind es heute – Locken-Erwin ist einer von ihnen.
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Erzähler Ein Journalist vom „Tagesspiegel“ hatte ihn entdeckt, wollte ein
Portrait machen von diesem ungewöhnlichen Menschen, der
gleichzeitig Filmvorführer war. In einem Vorstadtkino, im Wedding
oder in Kreuzberg, auf jeden Fall in einem kleinen Kino mit einer
sehr armseligen Projektionskabine.
Alter Ego Seine Wohnung war direkt im Kino. Locken-Erwin war ein Idealist.
Er hatte ganz, ganz wenig Geld – es reichte gerade zum Essen.
und der SFB suchte einen Regisseur. Da ich immer sehr
schamlos war, sagte ich mir: Was kann schon passieren.
Peter Lilienthal Also lernte ich den kennen, habe einen Leierkastenfilm gemacht,
den wiederum außerdem der Südwestfunk sah und das war dann
der auslösende Moment, wo ich von Berlin nach Baden Baden
ging.
Alter Ego Als ich zum Südwestfunk kam verstand man unter Fernsehspiel
eine Art bebildertes Hörspiel. Das Fernsehen bestand ja aus
Hörspielleuten. Die Dominanz der Texte, des Dialogs. Wir
adaptierten Theaterstücke. Gustav Rudolf Sellner hat „Die
Nashörner“ von Ionesco gemacht, Heinz Hilpert den
„Kirschgarten“ von Tschechow, ich war der Regieassistent. Hilpert
sagte immer: Lass uns was knipsen. Es war für ihn ein bisschen
so wie Fotografie. Man knipst jetzt. Er konnte das Medium nicht
ganz ernst nehmen.
Musik Miles Davis: All Blues (CD: Kind of blue)
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Erzähler Hubert von Bechtolsheim, der Leiter der Abteilung Fernsehspiel
des Südwestfunks war neuen Konzepten gegenüber offen. Er
unterstützte den jungen Regisseur Lilienthal. Einschaltquoten
zählten nicht so sehr, Kritiken im überregionalen Feuilleton dafür
umso mehr. Peter Lilienthals Experimente mit den Stücken des
Absurden Theaters von Fernando Arrabal, Slawomir Mrozek und
Eugene Ionesco ragten aus dem Gros der konventionellen
Fernsehproduktionen heraus.
Peter Lilienthal Für mich erschien das alles auch gar nicht besonders
revolutionär. Es waren einfach diese Möglichkeiten da, die
anderen davon zu überzeugen. Das ging so weit, dass man
beispielsweise für „Picknick im Felde“ und „Guernica“ ein
abgebranntes Haus in Baden Baden, das heißt die verkohlten
Teile, Elemente ins Studio schleppte. In dieses wunderbar fast
neu gebaute Studio, da tauchten plötzlich die Trümmer auf, nicht
irgendeine Kulisse, sondern echte Trümmer, die wir da aufbauten,
das war für die gesunden Geister ein Attentat.
Als ich wegging wurde gerade das Zweite Fernsehen zum ersten
Mal gesendet und ein Teil der Mannschaft vom Ersten, also der
Mannschaft vom Südwestfunk ging nach Mainz.
Autor: 1964
Und damit verschwanden wir dann auch von Baden Baden und
mit Ballhaus zum Beispiel kamen wir in Berlin an mit neuen
Plänen.
Film Inextinguishable Fire – Nicht löschbares Feuer. About napalm
Harun Farocki Wenn wir Ihnen ein Bild von Napalmverletzungen zeigen, werden
Sie die Augen verschließen.
Erzähler 1966 werden die beiden an die frisch gegründete Film- und
Fernsehakademie Berlin berufen, wo sie auf junge Rebellen
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treffen, auf Studenten wie Harun Farocki und Holger Meins, Helke
Sander, Hartmut Bitomsky und Wolfgang Petersen.
Peter Lilienthal Farocki war ein Dichter der Revolution. Der machte aus Papier
eine Taube, warf das in die Luft und sagte das ist mein Film. Na
ja, gut, dazu musst du nicht unbedingt in die Filmakademie
kommen, aber wenn das für Dich Dein Film ist. Ok.
Film Inextinguishable Fire – Nicht löschbares Feuer
Harun Farocki Eine Aussage vor einem Vietnam-Tribunal in Stockholm
Erzähler Inextinguishable Fire – Nicht löschbares Feier - About Napalm
Harun Farocki 1969:
Film Inextinguishable Fire – Nicht löschbares Feuer. About napalm
Harun Farocki Zuerst werden Sie die Augen vor den Bildern verschließen, dann
werden Sie die Augen vor der Erinnerung daran verschließen,
dann werden Sie die Augen vor den Tatsachen verschließen,
dann werden Sie die Augen vor den Zusammenhängen
verschließen.
Michael Ballhaus Die wollten überhaupt nichts bei mir lernen. Die haben eigentlich
sozusagen ihre Konzepte im Kopf gehabt und das war alles
politisch. Das musste alles politisch sein. Und wenn ich denen
erklärt habe, dass man vielleicht ein Close up von einer Frau oder
von einem Mann, den man mag, mit einer langen Brennweite
aufnimmt, dann haben sie gesagt, ja und was ist mit dem
Verbrecher, also was ist mit dem Kapitalisten, den muss man
dann doch mit einer kurzen Brennweite aufnehmen, damit er
richtig hässlich aussieht. Dann habe ich gesagt, ja, das kann man
unbedingt tun, man kann mit den Bildern natürlich auch Figuren
zeichnen.
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Peter Lilienthal Holger Meins hatte einen ganz armen Mann portraitiert und mit
dem sprach ich über die Notwendigkeit eines Regisseurs, gesund
zu bleiben. Weil er wirklich ein Skelett war, so dünn, er hatte
irgendwelche Probleme mit der Familie, das weiß ich nicht. Aber
besessen irgendwie. Da konnte man schon ein bisschen Angst
bekommen vor diesem inneren Fieber. Aber was ich nicht ahnte
natürlich, dass das dann mit Gewalt enden würde. Wobei ich
ihnen ausdrücklich gesagt habe, ich mach überall mit, denke mit,
was weiß ich, rede, aber wo Gewalt im Spiel ist, da hört ’s bei mir
auf. Das wussten sie ziemlich am Anfang. Und deswegen war ich
natürlich ein Bourgeois.
Michael Ballhaus Ich mochte einfach Experimente auch, und hab das auch mit
denen gemacht. Wir haben uns sehr viele Filme angesehen. Ich
habe viel mehr gelernt in der DFFB als die Studenten, weil, ich
hab so viele Filme ansehen können, die ich nicht kannte – in
Baden Baden gab es so was nicht.
Peter Lilienthal Der deutschrevolutionäre Geist, so wie er sich unter diesen
Kindern zeigte, es waren Kinder, das war für mich weder ein
Drama noch irgendwas, wo ich viel Zeit damit verlor, weil ich
sagte, na ja gut, das ist so eine Bande von Idealisten.
Musik Victor Jara: „Es hombre es un Creador“ (CD: La Población)
Erzähler Dass der Berliner Emigrant zurückkehren würde auf den
Kontinent, der ihn gerettet hat, war zu erwarten. La Victoria, Es
herrscht Ruhe im Lande, Der Aufstand – Die Spielfilme, die Peter
Lilienthal in den 1970er Jahren in Chile und Nicaragua gedreht
hat, sind heute Klassiker. Damals waren sie brandheiß –
poetische Fanale gegen die Diktatur und leise Introspektionen in
die Innenwelt der Revolution der armen Leute, wobei das Volk
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den Film als happening begriff, scharf schoss bei manchen
Szenen.
Peter Lilienthal Und so zog ich dann also mit einer Empfehlung der einen Familie
zur anderen. Sie sagten, der Lilienthal kommt und will mit euch
über die Situation sprechen, die sich da ergab und dann … gut.
Das habe ich also gemacht und hatte mit Antonio einen Plan, der
gewissermaßen dramaturgischen Effekt erzeugen konnte oder
wollte und der völlig atypisch war, und zwar wollten wir die
Geschichte schreiben eines Nica Soldaten, der der Armee von
Somoza diente und eines Vaters, der Rebell war, der
aufständisch war. Was natürlich überhaupt nicht stimmte mit der
Wirklichkeit, denn die war genau umgekehrt. Die Väter waren die
Konservativen, die also sozusagen Somoza unterstützten und die
Söhne waren die Rebellen.
Alter Ego ... überall waren die Türen offen. Nach ein, zwei Monaten in León
war ich ein Teil der Stadt – die Leute haben mit mir bei den
Dreharbeiten den Aufstand rekonstruiert, eigentlich nur
wiederholt, was sie wenige Monate tatsächlich erlebt haben. Über
die Atmosphäre während der Arbeit könnte ich ganze Romane
schreiben.
Michael Ballhaus Das Ganze war ein großes Abenteuer. Ich kam aus Mexiko City,
wo ich ein Seminar an der Universität hatte mit Studenten. Und
ich wusste von dem Projekt von Peter und er hat gesagt, du
musst, sobald du fertig bist mit deinem Seminar, musst du nach
Nicaragua kommen, nach León.
Erzähler Im Kugelhagel hielt Michael Ballhaus die Handkamera im Schein
brennender Reifen – sechs Wochen nach dem Sieg der
Revolution in Nicaragua.
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Peter Lilienthal Nun war es so, dass Aspekte der Wirklichkeit mit einbezogen
wurden, in eine Geschichte, die erst mal sozusagen aus einer
anderen Grundlage entstand. Gar nicht wie Dokumentaristen, die
wollen eine Wirklichkeit beschreiben und sind investigative
Journalisten, die ganz andere Interessen haben, während wir an
der Poesie, den Möglichkeiten der Poesie, der Fiktionalisierung
einer realen Geschichte interessiert waren und daher kam diese
Situation zu Stande eines Soldaten, der auf der Seite von
Somoza war, der aber durch die Familie dann überzeugt wird zu
desertieren, was ja dann wie du weißt später in anderen Filmen
von mir eine Rolle spielt, also die Figur des Deserteurs, der
Zivilcourage aufbringt, um überhaupt sich zu lösen von der
Armee.
Erzähler Für die Dreharbeiten – sechs Wochen nach dem Sieg – wurden
nun in León durch zwanzig Häuser Löcher in die Hauswände für
einen Schlauch geschlagen und alle machten mit. Auf diese
Weise entstanden versteckte Zugangswege – ein
Hinterhofsystem für die Rebellen von León – nun für den Film.
Film La Surreccion / Der Aufstand (Atmo)
Michael Ballhaus Dann gab es eine größere Nachtszene in dem Film und es war
natürlich unmöglich unter den Bedingungen Nacht einzuleuchten,
und dann haben wir gefragt, ja wie machen wir denn das jetzt und
dann haben die gesagt, das ist ganz einfach, das machen wir
immer so - wir tun ein paar Reifen aufräumen und dann gießen
wir da Benzin drüber und zünden das an und dann gibt es helles
Licht und alles. Dann haben wir also ein paar Reifen angezündet
an den Plätzen, wo wir sie brauchten, und dann hatten wir genug
Licht, um zu drehen. Das waren also die Bedingungen. Natürlich
war das nicht sehr umweltfreundlich und stank auch furchtbar,
aber es war die einzige Möglichkeit.
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Musik Guy Klucevsek: Altered Landscapes: Part one (CD: accordian
tribe)
Erzähler Für diesen Film trifft die Beschreibung der Regieatmosphäre, wie
sie der spätere Präsident der Deutschen Film- und
Fernsehakademie Berlin Reinhard Hauff erzählt, der gern für
Freunde kleine Rollen übernahm, wohl weniger zu. Hauff hatte
Peter Lilienthal 1971 bei den Dreharbeiten zu Robert Walsers
Jakob von Gunten im spanischen Segovia erlebt.
Reinhard Hauff Das müssen Sie sich so vorstellen, dass Peter es schafft, am
Drehort eine Atmosphäre zu schaffen, die derart ist, das alle nur
noch flüstern. Es hat so etwas Sakrales, seine Art die Leute in
einen atmosphärischen Rausch zu. Er kann das inszenieren,
dass alle eben wirklich ganz leise flüstern und er, der Große,
dann nur noch Tupfer setzt. Ich war das nicht gewohnt, dass am
Drehort so eine fast heilige Stimmung ist.
Musik Juan José Mosalini: Milonga de la tierra (CD: WDR
Eigenproduktion)
Erzähler Dabei sind die Lilienthals Spielfilme stets poetisch, ob er in Dear
Mr. Wonderful von dem Traum des verkrachten Barbesitzers in
New Jersey City erzählt oder in seinem David, der 1979 den
Deutschen Filmpreis und den Goldenen Bären der Berlinale
erhielt den aufziehenden Judenmord aus der Sicht des jungen
Rabbinersohnes zeigt.
Film „David“
Eva Matthes (Toni) David, wir können nicht länger hierbleiben. Der bringt uns noch
um mit seiner Habgier.
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David Was ist wenn die Eltern sich melden oder Leo oder Rivka?
Toni Wir müssen aber irgendetwas tun.
Manchmal beneide ich die Vögel um ihre Nester.
Erzähler Wim Wenders über den Freund.
Wim Wenders Er ist einer der lebhaftesten Denker und liebenswertesten Denker,
die ich kenne.
Musik Guy Klucevsek: Altered Landscapes: Part one (CD: accordian
tribe)
Erzähler Peter Lilienthal filmt aus dem Blickwinkel des Emigranten, der in
die Welt geworfen, verblüfft feststellt, dass alle wahnsinnig
geworden sind. Und dabei bleibt dieser poetische Nomade wider
Willen ein Suchender, der gern im Schatten steht und seine
Einsamkeit in Kreativität umsetzt.
Alter Ego Ich hätte gern mein Leben lang als Kleindarsteller in
Gangsterrollen gearbeitet. Es wäre schön, anzukommen mit
einem kleinen Köfferchen, sich schnell umzuziehen und dann
gesagt zu bekommen: Du spielst einen Teppichverkäufer, einen
Polizisten, einen alten Rabbiner. Du hast fünf Sekunden im Film –
dann bist du vergessen.
Peter Lilienthal Ich muss nicht auftauchen. ich bin denen verpflichtet, die nicht
dieses günstige Schicksal hatten, die ich hatte, von denen ich
nicht weiß, das ist ja auch die letzte Frage an Dich, welchen
Auftrag sie uns eigentlich erteilt hätten oder haben. Vom Himmel
oder wo auch immer sie waren oder sind: Was wollen sie von
uns, die Frage bleibt unbeantwortet.
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Film „David“
Fackelmarsch, Sprechchöre JUDEN RAUS... Trommeln
Frau Singer Hörst Du wie die brüllen Juden raus.
Rabbiner Singer Du irrst Dich. .sie singen JUGEND RAUS.
Peter Lilienthal Und ich meine jetzt nicht Millionen, sondern der Junge hier von
dem Büchlein, der in dem Dorf aufgewachsen ist und der sich um
seine Mitmenschen kümmert und der nur davon spricht, von
seinem Vater vor allen Dingen, der in die Stadt gegangen ist und
nicht wieder kommt und er sitzt und wartet auf den Vater und
seine Gedanken sind die von einem Erwachsenen, von einem
liebenden Erwachsenen, der nur an seinen Vater denkt und
besorgt ist, na ja und um ihn herum passiert das, was ja alle
wissen, inzwischen. Deswegen, dieses Leben von dem
Abenteuer Lilienthal, das hat ja mit diesen Personen überhaupt
nichts zu tun. Die haben gelitten, die sind getötet worden,
verschwunden. Und ich weiß noch nicht einmal, welche Erbschaft
sie uns hinterlassen haben, was wollen sie?
Film David
Eva Hier, steck dir das ins Portemonnaie. Aber verlier ’s nicht... die
geheimen Reserven.
Peter Lilienthal Ich kann irgendwas behaupten, dass ich Filme wie zum Beispiel
„David“ für sie gemacht habe. Aber das ist immer nur so eine
Konstruktion. Woher weiß ich das? Muss jeder sich selbst eine
Antwort geben.
Aber jetzt habe ich wirklich genug geredet.
Musik Guy Klucevsek: Altered Landscapes: Part one (CD:
accordian tribe)
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Absage
Aus dem Skizzenbuch eines Gestrandeten
Begegnungen mit dem Kinozauberer Peter Lilienthal
Ein Feature von Jochanan Shelliem
Es sprachen:
Ulrich Noethen und Rainer Homann
In weiteren Rollen:
Judith Jakob, Mark Zak, Svetlana Fourer und Dmitri Alexandrov
Technische Realisation: Jürgen Glosemeyer und Steffen Jahn
Regieassistenz: Pia Frede
Regie: Thomas Wolfertz
Redaktion: Annette Blaschke
Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks 2017