W i s s e n s c h a f t l i c h e Bachelorarbeit
Reinhold Schinwald9930878
MUSIKTHEORIEV 033 100
Analytische Studien zum späten Schaffen Luigi Nonos anhand Risonanze erranti
U N I V E R S I T Ä TF Ü R M U S I K U N D
D A R S T E L L E N D E K U N S T
G R A Z - A U S T R I A
Angefertigt in der Lehrveranstaltung Spezialkapitel ZKF-Musiktheorie
Vorgelegt am 17.11.2008
Beurteilt durch Dr. Christian Utz
Mein herzlicher Dank gilt Pierluigi Billone, Clemens Gadenstätter, Dieter Kleinrath, der Fondazione Archivio Luigi Nono, André Richard, Jürg Stenzl und Christian Utz.
Inhaltsverzeichnis
1 Kompositorische Strategien in Nonos Spätwerk...............................................................................7
2 Zum Geneseprozess von Risonanze erranti.....................................................................................10
2.1 Historisches Material als Ausgangspunkt................................................................................ 10
2.2 Umgang mit Textfragmentierung ............................................................................................12
3 Formgenerierende und formdestruierende Techniken.....................................................................18
3.1 Kontrastdramaturgie................................................................................................................ 18
3.2 Klangtopoi, Strukturbildung und Morphologie anhand Melville 1 ........................................ 18
3.2.1 Tenuto-Impuls-Geste (T-I-G)........................................................................................... 193.2.2 Melville 1a....................................................................................................................... 203.2.3 Klangband ....................................................................................................................... 233.2.4 Punktfeld.......................................................................................................................... 263.2.5 Abschluss und Zusammenfassung der ersten Fragmenthälfte.........................................273.2.6 Melville 1c+d................................................................................................................... 28
3.3 Funktionen von Symmetriebildungen .....................................................................................31
3.3.1 Symmetriebildungen in Gestik .......................................................................................313.3.2 Symmetriebildungen in Architektur und Tempi...............................................................35
3.4 Verbindung von Klang-, Form- und Zeitkonzeption...............................................................37
Literaturverzeichnis............................................................................................................................42
1 Kompositorische Strategien in Nonos Spätwerk
Der vielerorts diskutierte scheinbare Bruch Nonos mit seiner ästhetischen wie politischen Haltung
soll sich mit seinem 1980 uraufgeführten Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima (1979/80)
vollzogen haben. Wie bereits der Titel impliziert, wird in diesem Stück die geschlossene Form
zugunsten einer Konstellation von Fragmenten aufgegeben. Durch Fermaten und Pausen zersetzte
musikalische Strukturen finden sich jedoch bereits in früheren Stücken wie Compositione per
orchestra no.2: Diario polacco (1958) oder Con Luigi Dallapiccola (1979).1 So bilden diese Stücke
signifikante Wegmarken zu Nonos Spätwerk.2
Stefan Drees beschreibt die Beschaffenheit von Nonos Kompositionen der 1980er Jahre als
Zusammensetzung einer „Reihe einander kontrastierender Fragmente“, deren Zusammenhang sich
als zeitlich und „räumlich ausgerichtetes Beziehungsnetz“ zwischen den einzelnen
Klangbruchstücken darstellt.3 Diese Formulierung beinhaltet bereits einige wesentliche Merkmale
von Nonos Spätwerk. Kontrast von musikalischen Parametern und Elementen aller formalen
Größenordnungen als Mittel der Differenzierung ist bei Nono ebenfalls bereits in den 1960er Jahren
wesentliches Merkmal seiner Satztechnik. In einem Werkkommentar zur Arbeit an per Bastiana –
Tai Yang Cheng (1967) spricht Nono von einer Synthese dreier verschiedenartiger akustischer
Gruppen, deren Gegensätze durch Integration oder Gegenüberstellung Momente „höchster
Durchdringung und maximaler Differenzierung“ entstehen lassen.4
Kontrast und Konvergenz als Mittel der Formgenerierung lassen sich auch in Risonanze erranti
(1987) beobachten. Dabei spielen Symmetrien auf verschiedenen musikalischen Ebenen seit den
frühesten Stücken eine wichtige Rolle.5 Die Verbindung von Symmetrie- und Kontrastbildungen
dient Nono als Motor zur Genese formaler Strukturen. Durch weitere Überarbeitungsschritte wie
Überformung werden symmetrische Strukturen allerdings weitgehend verschleiert.6 Symmetrien
werden in Risonanze erranti anhand folgender musikalischer Ebenen sichtbar:
- Fragmentarchitektur - Klangtopoi - Tempi
- Semantik - Gestik - Dynamik
1 Letzteres geht allerdings dem Streichquartett praktisch unmittelbar voraus und wird oft auch als Einschnitt oder Schritt zum Spätwerk aufgefasst.
2 Vgl. Stefan Drees, Architektur und Fragment: Studien zu späten Kompositionen Luigi Nonos, Saarbrücken 1998, S. 11
3 Ebda, S. 124 Klaus Kropfinger, Kontrast und Klang zu Raum, in: Die Musik Luigi Nonos, hrsg. von Otto Kolleritsch, Wien/Graz
1991, S. 115-144, hier: 1175 Vgl. Stefan Drees, Architektur und Fragment, S. 1986 Nono hat in einem Interview mit Werner Linden auf die Wichtigkeit der Asymmetrie in seinem Denken
hingewiesen, und beruft sich dabei auf die venezianische Baukunst. Werner Linden, Protokoll des Gesprächs mit Luigi Nono am 8.4. 1984, Zeile 473-484
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Mittel Symmetrien zu verschleiern sind:
- Kontrastbildung - Überformung - Dehnung
Die Satztechnik kontrastierender Fragmente sperrt sich gegen einen linearen musikalischen Diskurs
sowie eine lineare Zeitauffassung. An dessen Stelle tritt das bereits zitierte „zeitlich und räumlich
ausgerichtete Beziehungsnetz“.7 Nono äußerte sich mehrmals über die Abneigung seine Musik einer
Logik des Diskurses (im Sinne einer kausal-logischen Entwicklung) auszusetzen. Diese Abneigung
findet in Fragment-Konstellationen sowie symmetrischen, palindromartigen Strukturen ihr formales
Korrelat. Kompositorischer Zusammenhang zwischen den disparaten Bruchstücken wird dennoch
auf unterschiedlichsten, mitunter subkutanen Ebenen hergestellt.8
Der Verzicht auf klangliche Expansion und organisch entwickelte Architektur9 geht einher mit
einer „radikalen Reduktion“10 kompositorischer und klanglicher Mittel. Solche Konzentration
zugunsten einer Potentialisierung von Ausdruck, Gehalt und inhaltlichen Bezügen steht laut Drees
in Wechselwirkung mit den formalen Konzepten von Nonos späten Werken.11 Damit beschreibt er
eine beinahe paradoxe Situation. Nono gibt dem Rezipienten Zeit um in das klangliche Geschehen
einzudringen, anstatt bloß „zuzuhören“. Damit einher geht eine Reduktion des musikalischen Satzes
die Nono vor allem in Risonanze erranti an die Grenzen musikalischer Zusammenhangsbildung
führt. Max Nyffeler ist zuzustimmen, wenn er bei Nono von einer gelungenen Form der Reduktion
spricht, von einer konzeptuellen Verdichtung geistiger Bezüge, deren verborgene Komplexität erst
nach und nach erkannt wird.12
Ein weiterer Aspekt der Reduktion zeigt sich in der Verlagerung des kompositorischen Interesses
auf das musikalische Einzelereignis. So spricht Klaus Huber vom „Durchbrechen der Oberfläche
musikalischer Erscheinungen“13 im Sinne eines Aufbrechens musikalischer Wahrnehmung. Gemeint
ist das Interesse an der Mikrostruktur der Klänge. Durch feinste Nuancierungen von Dynamik und
Klangfarbe baut Nono Klangbänder und Klangfelder, die den Eindruck einer Tiefenwirkung
vermitteln. Diese Art Klang räumlich zu denken steht in Verbindung mit Nonos vielschichtiger
Zeitkonzeption.
7 Vgl. Stefan Drees, Architektur und Fragment, S. 128 Spiegelsymmetrische Strukturen wie Palindrome implizieren eine zyklische Zeitauffassung durch ihre formale
Geschlossenheit. Sie weisen keine prozesshaft gerichteten Züge auf und sperren sich so gegen kausal-logische Entwicklungen, die Nono „als musikalischen Diskurs“ bezeichnet.
9 Ebda, S. 1510 Jürg Stenzl, Luigi Nono, der radikale Wanderer, in: Programmheft Donaueschinger Musiktage, 1989 S. 5811 Vgl. Stefan Drees, Architektur und Fragment, S. 1512 Vgl. Max Nyffeler, "...das beste steht nicht in den Noten..." Reduktion komplex, in: Positionen 16, S. 2-5, hier: 513 Klaus Huber, die umgepflügte Zeit, in: Die Musik Luigi Nonos, hrsg. von Otto Kolleritsch, Wien/Graz 1991, S. 302-
324, hier: 304
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Durch die Verwendung und Überformung14 von historischem Material und Textfragmenten
unterschiedlicher Autoren erstellt Nono mehrdimensionale geistige, inhaltliche und historische
Bezüge. Im Fall von Risonanze erranti bildet historisches musikalisches Material den
Ausgangspunkt des Stückes.
Zusammengefasst sind die in Risonanze erranti angewandten kompositorischen Strategien zur
Zusammenhangsbildung:
1 Fragmentierung und Bildung von Fragmentkonstellationen
2 Kontrast- und Symmetriebildung als Formgenerator
3 Mehrdimensionale Zeitkonzeption
4 Kompositorische Verarbeitung von historischem musikalischen Material
Der letzte Punkt wird in Kapitel 2 anhand der Werkgenese von Risonanze erranti
auseinandergesetzt. Die Punkte 1 bis 3 werden in Kapitel 3 behandelt. Die Unterkapitel 3.1 und 3.2
besprechen die in der Einleitung vorgestellten Kompositionstechniken Nonos sowie ihr
gegenseitiges Wechselwirken in Verbindung mit einer Art „Bottom to top“ - Analyse des ersten
Fragments. In den Unterkapiteln 3.3 und 3.4 werden Symmetriebildung und Zeitkonzeption sowie
deren Zusammenhänge zur Klangkonzeption vertieft.
14 Überformung bezeichnet eine spezielle Art der Bearbeitung von bereits vorhandenen musikalischem Materials. Eine allgemeine Beschreibung dieses Begriffs findet sich bei Ursula Steger. Nach ihr ist „jede Neuschöpfung auch eine Überformung von zuvor Gelebten, Wahrgenommenen und Erkannten. Auch wenn sie in sich selbst beginnt, so hat sie eine Vorgeschichte und ein Material, das gestaltet wird.“ Ursula Steger, Schöpferische Prozesse – Phänomenologisch-anthropologische Analysen zur Konstitution von Ich und Welt, 2002, S.150
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2 Zum Geneseprozess von Risonanze erranti
2.1 Historisches Material als Ausgangspunkt
Ausgangspunkt für den Entstehungsprozess von Risonanze erranti bildet historisches Material, mit
dem Nono komplexe Assoziationsnetze und Verweisungsstrukturen erstellt. Drees teilt Nonos
Zugriff auf Geschichte in zwei Kategorien ein: einerseits das Zitieren oder Paraphrasieren von
historischen Elementen, andererseits die Verwendung von historischem Material als konstruktive
Grundlage.15 Er hält darüber hinaus fest, dass sich diese beiden Zugriffsarten gegenseitig
durchdringen. Das kann bereits bei der Titelgebung anhand von Nonos Verweisen auf Gattungen der
Musikgeschichte beobachtet werden. Den Untertitel Liederzyklus assoziiert Nono mit einer
Gattungsbezeichnung der musikalischen Romantik, und weist zugleich auf die formale Anlage des
Stückes hin.16 Diese besteht im wesentlichen aus textbasierenden musikalischen Fragmenten, die als
mehr oder weniger für sich stehende „Lieder“ betrachtetet werden können. Das Prinzip des
Zyklischen manifestiert sich auf vielerlei Ebenen. Nonos kompositorische Arbeit besteht im
Verweben musikimmanenter und außermusikalischer Inhalte innerhalb der Fragmenttypen. Er selbst
vermerkt die geistigen Bezüge zu Schuberts Winterreise im Programmhefttext der Turiner
Uraufführung der zweiten Fassung. 17 Topoi der frühromantischen Ästhetik wie die „Zerrissenheit
des Subjekts“, „der Wanderer“, und „Tod“, die in den ausgewählten Textfragmenten im Zentrum
stehen, berühren einige wesentliche inhaltliche Zentren in Nonos Spätwerk.
Das von 1985 bis 1987 entstandene Werk Risonanze erranti (vaganti?) basiert auf Bruchstücken der
Renaissance-Lieder Le Lay de Plour von Guillaume de Machaut, Adieu mes amours von Josquin
Desprez sowie Malor me bat von Johannes Ockeghem. Letzteres zitierte Nono bereits am Ende von
Fragmente – Stille, an Diotima. Die Topoi „Leid“, „Schmerz“ und „Abschied“ bilden eine
inhaltliche Klammer innerhalb der drei Stücke.
15 Vgl. Stefan Drees, Die Integration des Historischen in Luigi Nonos Komponieren, in: Luigi Nono – Aufbruch in Grenzbereiche, hrsg. von Thomas Schäfer, Saarbrücken 1999, S. 77-95, hier: 78f.
16 Vgl. Jürg Stenzl, Luigi Nono, rowohlts monographien, Reinbek, Hamburg 1998, S. 11917 Insgesamt liegen von Risonanze erranti neben dem frühesten Fragment Risonanze erranti (vaganti?) fünf
unterschiedliche Aufführungsfassungen vor (Köln, März 1986; Turin, Juni 1986; Ost-Berlin, Mai 1987; Paris, Oktober 1987; Freiburg, Mai 1988). Die Uraufführung der endgültigen Fassung fand nach Nonos Tod am 6. Februar 1991 in Berlin statt. Vgl. Pierangelo Conte,“Risonanze erranti“ di Luigi Nono, sei esecuzioni verso la definizione del testo. Erst seit kurzem ist das Aufführungsmaterial in einer überarbeiteten Version bei Ricordi erhältlich.
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Abb. 1 – Risonanze erranti ( vaganti?)
Nono extrahierte aus den drei Chansons Melodiefragmente, die er zu einem 127-taktigen Particell
zusammensetzte. In einem nächsten Arbeitsschritt ersetzte Nono einzelne Notenwerte durch Pausen
und fügte Instrumentationsangaben hinzu.18 Die Aufteilung auf vier unterschiedliche Instrumente
bildet bereits den letzten Schritt zur Partitur von Risonanze erranti (vaganti?), dessen Besetzung
(Mezzosopran, Flöte, Klarinette und Tuba) mit der des zur selben Zeit entstandenen Stückes
Ommagio à Kurtag (1983/86) übereinstimmt (vgl. Abb.1).
Interessant ist Drees’ Beobachtung, dass Nono die Herkunft der Materialien schrittweise
verschleiert und so weit auflöst bis größtenteils nur mehr einzelne intervallische Charakteristika
übrigbleiben. Ferner gebe Nono die Verbindung zu seinem ursprünglichen Material zugunsten eines
assoziativen Zugriffs auf, der lediglich auf intervallabhängigen Kennzeichen beruhe.19 Drees bezieht
sich damit auf die Tatsache, dass von den Liedzitaten oft nur ein Einzelintervall isoliert wird, das
auf der musikalischen Oberfläche für den Rezipienten nicht mehr in Bezug zu seinem
Ausgangsmaterial gebracht werden kann. Offensichtlich ist das auch nicht Nonos Intention, sondern
vielmehr das Erzeugen eines vielschichtigen Beziehungsgeflechtes auf semantischer und
klanglicher Ebene. Durch Überarbeitung mittels Überformung und Fragmentierung bestimmt Nono
seine Ausgangsmaterialien neu. Zusammengefasst ist die wesentliche Technik im Umgang mit
historischem Material die musikalische Ausdeutung eines durch Überformung verschleierten
Inhalts.
2.2 Umgang mit Textfragmentierung
Ein weiterer inhaltlicher und formaler Ausgangspunkt von Risonanze erranti bildet die Collage von
unterschiedlichen Textfragmenten (Abb. 2). Neben Textresten der überarbeiteten Chansons-
Melodien stellen das Gedicht Keine Delikatessen von Ingeborg Bachmann und Textpassagen
Hermann Melvilles diese Materialebene dar. Nonos Umgang mit den literarischen Textzitaten ist
ähnlich der Verarbeitung der Renaissance-Chansons. Er begreift die Originaltexte als Quellen, aus
denen assoziativ einzelne Elemente herausgelöst werden (Abb. 3). Ziel ist ein Beziehungsnetz von
Zitatschichten aus unterschiedlichen historischen Kontexten, die neue musikalische und
geschichtliche (Sinn-) Zusammenhänge bilden. Martin Zenck sieht im Untertitel Liederzyklus auch
einen ästhetischen Bezug zur Textvertonung in Schuberts Winterreise. Ähnlich wie in Schuberts
Komposition wird bei Risonanze erranti ebenso nicht diskursiv am Text entlang komponiert,
18 Genaueres über den Kompositionsprozess von Risonanze erranti (vaganti?) sowie Transkriptionen der Skizzen-Materialien findet sich in: Stefan Drees, Die Integration des Historischen in Luigi Nonos Komponieren, in: Luigi Nono – Aufbruch in Grenzbereiche, hrsg. von Thomas Schäfer, Saarbrücken 1999, S. 85ff.
19 Vgl. ebda, S. 86
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Abb. 2 – Textcollage (Partitur)
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Abb. 3 – Fragmentierung des Bachmann-Gedichts
vielmehr werden einzelne, meist semantisch stark geladene Wörter in Musik aufgelöst. Dabei sind
phonetische, expressive, gestische und biographische Qualitäten des Textmaterials Ausgangspunkt
der musikalischen Strukturen.20 Zenck benennt treffend das Prinzip von Nonos Vokalkompositionen
als das Festhalten an der unverbrüchlichen Einheit von Phonetik und Semantik. Dabei gelte Klang
und Gestus der Sprache nie nur der Repräsentation der Semantik. Die Voraussetzung von Sprache
sei das Schweigen, der Atem, das Vorartikulatorische und Gestische und werde zum entscheidenden
Ansatz in Nonos Werken für Stimme.21
Der Untertitel Liederzyklus bietet weitere Hinweise auf kompositorische Strategien der
Formbildung sowie den Umgang mit historischem Material. Nono scheint die mehr oder weniger
abgeschlossenen Fragmente als „Lieder“ zu betrachten, die auf unterschiedlichen Ebenen
miteinander verwoben werden. Studiert man die Skizze zur Abfolge der Textfragmente (Abb. 5), die
wahrscheinlich aus einer frühen Phase des Arbeitsprozesses stammt, so ist zu erkennen, dass Nono
zunächst vorhatte, die Melville- und Bachmann- Zitate alternieren zu lassen. Die Texte der
Chansons sind hier noch nicht ersichtlich. In der Endfassung wechseln sich hingegen hauptsächlich
Melville- mit Chanson-Zitate ab. Eine Ausnahme bildet Bachmann 1°, das ein Melville-Fragment
ersetzt. Die Fragmente Bachmann 2° und Bachmann 3° sind in diese alternierende Folge
eingeschoben (Abb. 4).22
20 In einer Notiz zu Risonanze erranti hält Nono seine persönliche Erschütterung durch die Stimme Ingeborg Bachmanns fest, deren Verzweiflung er aus ihrem letzten Gedicht heraushört. Der Klang ihrer Stimme bildet laut Zenck neben dem „allgemeinen Inhalt“ Nonos Kriterien für die Auswahl der Textfragmente. Vgl. Martin Zenck, ...la sua voce disperata..., Echos der Stimme Ingeborg Bachmanns in Luigi Nonos „Risonanze erranti“ , in: Neue Zeitschrift für Musik, Mai-Juni 2004, S.26-33, hier: 27
21 Vgl. ebda, S. 2822 Nono weist in der Partitur nur die Bachmann- und die Chanson-Fragmente aus. Alle anderen durch einen
Doppelstrich getrennten Abschnitte sind Melville-Fragmente. Die Bachmann-Fragmente sind fortlaufend von 1° bis 4° nummeriert. Die verwendeten Chanson-Fragmente stellen eine Auswahl aus Risonanze erranti (vaganti?) dar. Nono nummeriert auch diese fortlaufend von 1° bis 13° und stellt den jeweiligen Komponistennamen davor (z.B. Machaut 4°). Um die Auswahlkriterien der Zitate nachzuvollziehen, müssten eingehende Untersuchungen am Skizzenmaterial vorgenommen werden, die den Rahmen dieser Arbeit gesprengt hätten.
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Takt Fragment Takt Fragment Takt Fragment35 1 - 35 Melville 1 19 195 – 213 Melville 6 22 335 – 356 Bachmann 5a°5 36 – 40 Ockeghem 1° 5 214 – 218 Machaut 7° 10 357 – 366 Machaut 12°9 51 – 59 Bachmann 1° 25 219 – 244 Melville 7 2 367 – 368 Bachmann 5b°6 60 – 65 Josquin 2° 3 245 – 247 Machaut 8° 3 369 – 371 Ockeghem 13°
17 66 – 82 Melville 2 8 248 – 255 Melville 8 8 372 – 379 Bachmann 5c°3 83 – 85 Ockeghem 3° 10 256 - 265 Josquin 9°
17 86 – 102 Melville 3 14 266 – 279 Melville 99 103 – 111 Machaut 4° 8 280 – 287 Bachmann 3°
21 112 – 132 Melville 4 6 288 – 293 Josquin 10°6 133 – 138 Machaut 5° 25 294 – 318 Melville 10
22 139 – 160 Bachmann 2° 2 319 – 320 Josquin 11°27 161 – 187 Melville 5 11 321 – 331 Melville 117 188 – 194 Josquin 6° 3 332 – 334 Bachmann 4°
Aufführungsdauer: ca. 40 Minuten
Abb. 4- Ablauf der Fragmente
Der Untertitel Liederzyklus verweist auf dieses Alternieren im Sinne eines zyklischen
Wiederkehrens der drei historischen Zeitschichten. Wie sich innerhalb des Kapitels 3 zeigen wird,
schafft Nono eine für jeden Fragmenttyp23 spezifische musikalische Zeitkonzeption. Vereinfacht
könnte man sagen, dass Nono versucht, durch Beschleunigen und Verlangsamen von
Temposchichten den Eindruck eines In-sich-Kreisens von (musikalischer) Zeit zu evozieren.
Nono bringt daneben unterschiedliche geschichtliche Ereignisse in von ihm intendierte
„Konstellationen“24. In diesen „Konstellationen“, so Martin Zenck, können Ereignisse, die innerhalb
linearer Entwicklungen weit voneinander entfernt sind, nahe beieinander liegen.25 Diese Ereignisse,
die gleich einem „Metaphern-Gestöbers des sozialen Unheils“26 in die Musik Eingang finden, stellt
Nono in ein neues Verhältnis. So sind bereits zwei zentrale Auffassungen von Zeit in Nonos spätem
künstlerischen Schaffen festgemacht. Auf der einen Seite Kontinuität von Zeit und Geschichte,
manifest in Form einer zyklischen Wiederkehr, auf der anderen Seite die Simultaneität
unterschiedlicher zeitlicher und inhaltlicher Ebenen.
23 Mit „Fragmenttyp ist die Unterscheidung zwischen Bachmann-, Melville- und Chanson-Fragmenten gemeint.24 Der Begriff „Konstellation“ bezieht sich hier auf eine Definition Walter Benjamins aus Illuminationen, S. 289, vgl.
Martin Zenck, Luigi Nono – Alban Berg: Die musikalische Dramaturgie der konzertanten Fassungen der Opern Al gran sole carico d'amore, Wozzeck und Lulu, in: Luigi Nono – Aufbruch in Grenzbereiche, hrsg. von Thomas Schäfer, Saarbrücken 1999, S. 44-52, hier: 47
25 Vgl. ebda, S. 5126 Frank Schneider, Luigi Nono, Risonanze erranti – für Mezzosopran, Instrumente und Live-Elektronik, hrsg.: Theater
im Palast, Freiburg, 12. Spielzeit 1987.
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Abb. 5 – Skizze zur Textfragmentierung (Archivio Luigi Nono)
3 Formgenerierende und formdestruierende Techniken
3.1 Kontrastdramaturgie
Für die Anordnung und Abfolge der Textfragmente verwendet Nono eine Technik, die man als
Kontrastdramaturgie bezeichnen könnte. Es ist anzunehmen, dass in einem vorkompositorischen
Arbeitsprozess die Auswahl und Anordnung der Textfragmente Kriterien der Kontrastbildung
unterliegen. Expressive, semantische und klangliche Qualitäten des Textmaterials werden in
kontrastierende Klangtopoi musikalisch aufgelöst, (vgl. Abb. 6).
Die Reibungsenergie kontrastierender Topoi bildet den Ausgangsmoment formaler Prozesse und
klanglicher Differenzierung. Wie sich anhand der Analyse des Beginns und einiger ausgewählter
Stellen zeigen wird, lässt sich eine Logik bezüglich der Kriterien musikalischer
Zusammenhangsbildung und der Vermittlung dieser gegensätzlichen Topoi ausfindig machen.
Anstelle einer mehr oder weniger linear prozesshaften Entwicklung tritt ein Netz von Beziehungen,
das sich sukzessive innerhalb des Stückes ausbreitet. Die Technik der Kontrastbildung wirkt auf alle
formalen Ebenen, musikalischen Parametern und programmatischen Inhalten.
Abschnitt 1a 1b 1c 1d
Text tempest, bursting waste time behind we feel my countrys ills hope fairest sweep storming
Klangtopoi T-I-G KB T-I-G KB Transformation T-I-G → KB
Gleichzeitigkeit T-I-G + KB
T-I-G
Abbildung 6 – Textanordnung bei Melville 1
3.2 Klangtopoi, Strukturbildung und Morphologie anhand Melville 1
Bei ersten Versuchen, die richtigen Analysewerkzeuge für diese netzartige Musik zu entwickeln,
stieß ich immer wieder auf die Schwierigkeit passende Kategorien zu finden, die abstrakt genug
waren, um möglichst alle auftretenden Klangverbindungen beschreibbar zu machen, und dabei
spezifisch genug sind, um dem Differenzierungsgrad dieser Musik gerecht zu werden. Aus der
Analyse des Stückbeginns habe ich schließlich drei kontrastierende Klangtopoi Tenuto-Impuls-
Geste (T-I-G), Klangband (KB) und Punktfeld (PF) herausgefiltert. Anzumerken ist, dass sich das
Klangband vom Tenuto, und das Punktfeld vom Impuls ableitet.
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3.2.1 Tenuto-Impuls-Geste (T-I-G)
Nono bildet aus seiner Lesart des Wortes "tempest" einen stark gestisch bestimmten Topos der in
unterschiedlichsten klanglichen, expressiven und semantischen Kontexten innerhalb des Stücks in
Erscheinung tritt. Ausgehend von der Singstimme verkörpert diese energetische, extrovertierte
Geste unterschiedliche Bereiche wie rein kreatürlichen Ausdruck von Schmerz oder aggressive
Anklage (vgl. Abb.8). In seiner allgemeinsten Form besteht dieser Topos aus einem Tenuto und
einem Impuls, und wird daher als Tenuto-Impuls-Geste bezeichnet. Die Geste wird durch einen
Impuls unterbrochen. Das häufig crecendierende Tenuto verleiht der T-I-G einen prozesshaften und
akkumulativen Charakter (vgl. Abb.7).
Die Grundelemente dieses Klangtopos werden im Laufe des Stückes auf vielerlei Weise
transformiert. Das heißt, dass Die T-I-G auch mit einem Impuls beginnen kann, auf den ein Tenuto
folgt, das crecendiert (vgl. Abb. 8, Takt 33).
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Abb.8 - Tenuto-Impuls-Gesten bei Melville 1d (Takt 33-35)
Abb.9 - Tenuto-Impuls-Geste bei Melville 1c (Takt 20-22)
TE - MPEST
Abb.7 - Tenuto-Impuls-Geste (Takt 1-2)
3.2.2 Melville 1a
Im folgenden Teil dieser Arbeit zeige ich, wie Nono aus drei Grundelementen mittels genannter
Kontrastbildung immer größere formale Einheiten bis zur 36-taktigen Gesamtform des ersten
Melville-Fragments bildet. Alle im Stück auftretenden Fragmenttypen lassen sich mittels der
genannten drei Topoi beschreiben und in Beziehung setzen. Verbindungen zwischen und
Entwicklungen innerhalb der Fragmenttypen werden in unterschiedlichen Kontexten wie
Symmetriebildung und Tempokonzeption gezeigt.
Die oberste Zeile der folgenden Tabelle (Abb. 10) zeigt das gesamte Textmaterial des ersten
Melville-Fragments. Die einzelnen Textfragmente werden in die zueinander kontrastierenden
Klangtopoi T-I-G und KB aufgelöst. Im Abschnitt 1c werden sie in Form eines
Transformationsprozesses vermittelt. Am Beginn von 1d sind die beiden Topoi bereits miteinander
verschmolzen. Gegen Ende des Abschnitts 1d wird die T-I-G wieder aufgegriffen und das Fragment
kadenzartig abgeschlossen.27
1a 1b 1c 1d
tempest, bursting waste time behind we feel my countrys ills hope fairest sweep storming
T-I-G KB T-I-G KB Transformation T-I-G → KB
Gleichzeitigkeit T-I-G + KB
T-I-G
Abb.10 : Textanordnung der ersten Melville-Fragments
Die ersten vier Takte
Die ersten beiden Klangmomente sind mit der bereits bekannten Ausformulierung der T-I-G gebaut
(vgl. Abb. 11). Ausgehend von der Altstimme mündet das Tenuto in einem durch Piccoloflöte und
Tuba verstärkten Impuls. Unmittelbar anschließend wird das crecendierende Tenuto durch die
beiden Instrumente wiederholt und die Geste dadurch weitergeführt. Der "melodischen Kontur" des
Alts (Sprung nach oben) entspricht der Tritonussprung der Piccoloflöte. Die Bongos übernehmen
den Impuls am Beginn von Takt 2. Die ersten drei Bongo-Impulse zeichnen durch ihre zunehmende
Dynamik und Anzahl der Stimmen die Gestik des crecendierenden Tenutos nach. Der vierte Bongo-
Impuls folgt auf das Ende des zweiten Tenutos und beschließt damit den zweitaktigen
Klangmoment. Die Kontur der gesamten Bongo-Gestalt entspricht also der der T-I-G. Der Impuls
27 Die Tabelle bezieht sich auf die textragenden Topoi T-I-G und KB. Insofern kommt das Punktfeld nicht vor.
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unterbricht zwar das Tenuto, wird jedoch gleichzeitig wieder Ausgangspunkt derselben Grundgeste.
Die Einzelschläge und die Schlagfolgen der Bongos haben somit mehrere formbildende Funktionen.
Es entsteht die ambivalente Situation, dass die Bongo-Schläge das musikalische Geschehen
unterbrechen, es dabei aber gleichzeitig weiterentwickeln, um es sogleich erneut zu unterbrechen.
Der Charakter dieses ersten Klangmoments zeigt also die zugleich formbildenden und
formdestruierenden Tendenzen der kontrastierenden Elemente Tenuto – Impuls. Das Atemzeichen
am Ende des Taktes dient vorerst nur der Segmentierung des Momentes auf binnenstruktureller
Ebene.
Der zweite Klangmoment konstituiert sich aus demselben topischen Material wie sein Vorgänger,
jedoch ohne interne Entwicklung und Dynamik. Die Altstimme unterscheidet sich durch konstante
Dynamik und melodische Bewegung um eine große Sekunde nach unten von Takt 1. Mit dem
Impuls auf dem Wortteil „-rsting“ (T. 4) wird der Gesang ins tiefe Register geführt. Diese
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Abb. 11 – Notenbeispiel Takt 1-4
melodische Abwärtstendenz steht in Kontrast zur aufwärtsgerichteten Gestik der Stimme innerhalb
des ersten Klangmomentes. Ohne Vermittlung durch Piccoloflöte und Tuba folgt auf den Impuls des
Alts nun ein aus Bongos und nachklingenden Crotales gebildeter Einzelschlag, der die beiden
Einzelmomente zu einer größeren formalen Einheit zusammenfasst. Ein erstes Echo des
vorangegangenen Moments?
Die Crotales-Schläge sind (mit Ausnahme von Takt 15) mit der Spielanweisung „lasciar vibrare
sempre“ versehen. Dadurch fügt Nono den trockenen und extrem kurzen Bongos-Schlägen
künstlichen Nachhall hinzu. So kommt es zu einer Überlappung mit den angrenzenden, durch
Fermaten getrennten Klangmomenten. Durch den Nachhall könnte man dieses Klangobjekt als
gespiegelte T-I-G interpretieren (siehe Abbildung 12). Durch das Nachklingen des Schlages fällt die
Doppelfunktion „Unterbrechen und Weiterführen“ des musikalischen Flusses in eins zusammen.
Emanzipierung der Wahrnehmung einer nichtlinearen Zeitvorstellung
Das beschriebene Unterbrechen des musikalischen Flusses durch Fermaten wird als Mittel zur
Emanzipierung der Wahrnehmung einer nichtlinearen Zeitvorstellung eingesetzt. Die dadurch
entstehenden Bruchstellen fungieren als Bindeglieder zwischen unterschiedlichen musikalischen
und historischen Zeitschichten. Fermaten treten beinahe immer zwischen den Fragmenttypen auf,
deren Textmaterial drei unterschiedliche „geschichtliche Zeiten“ mit sich führen, die Nono auf diese
Weise miteinander verbindet. So bilden diese Bruchstellen und Abschnittsgrenzen auf allen
formalen Ebenen Punkte an denen sich klangliche Prozesse entfalten und überlappen.
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Abb. 12 – Tenuto-Impuls-Geste als Palindrom
3.2.3 Klangband
Der unmittelbar auf die Fermate in Takt 4 folgende Klangmoment ist aus dem kontrastierenden
zweiten Topos gebildet (Abb. 14). Das Satzfragment „waste time“ wird auf Kosten der
Textverständlichkeit in ein „quasi instrumentales“ Klangband aufgelöst. Der Begriff „Klangband“
zur Beschreibung von Tonschichtungen auf engen Intervallräumen wurde von unterschiedlichen
Autoren bereits auf frühe Werke Nonos, wie La terra e la campagna (1957) oder Il canto sospeso
(1956) angewendet.28
28 Vgl. Friedrich Spangemacher, Luigi Nono: Die elektronische Musik, hrsg. Gustav Bosse, Regensburg 1983, S. 90.
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Abb.14 – Notenbeispiel Takt 4-8
Zeit wird hier im wahrsten Sinne des Wortes „verschwendet“ oder, technisch ausgedrückt, gedehnt.
Bassflöte und Tuba umspielen die Singstimme im Bereich von gis-h. Durch die zeitlich
verschobenen Dynamikgabeln entsteht eine Klangfarbenmelodie, die den Eindruck räumlicher Tiefe
evoziert. Der Gesamtcharakter ist der einer Klangtextur.29 Sie hat jedoch durch die nach oben
gerichtete Gesamttendenz des Tonhöhenverlaufs auch prozesshaften Charakter. Dem
Tonhöhenschritt a-h des Alts folgen ihre beiden „Trabanten“ verzögert in chromatischen Auf- und
Abwärtsschritten.
Alt a-h
Bassflöte b-h-c'-h-b-h-c'
Tuba gis-a-b-h-c'-h-b-h
Betrachtet man die beiden Impulse am Beginn von Takt 4 als Achsen, so kann man rechts davon in
der Altstimme die Tonhöhen a-h als spiegelsymmetrische Entsprechung des großen Sekundschrittes
g'-f' auf der linken Seite der Achse auffassen (siehe Abbildung 13). Die Symmetrie ist jedoch in
zweierlei Hinsicht verzerrt. Erstens ist die Tonhöhenachse um eine kleine Sexte verschobenen (g’-
f’ / h-a). Zweitens weichen die Dauernwerte so stark voneinander ab (1-2 zu 4-6 Viertelwerten),
dass die Symmetrie nur auf einer sehr allgemeinen gestaltpsychologischen Ebene wirkt. Nonos
Mittel der Überformung könnte hier angewendet worden sein, um aus dem Tenuto der T-I-G etwas
Entgegengesetztes strukturell zu vermitteln.
Diese Sichtweise deckt sich mit der Vermutung, dass Nono die Tenuto-Impuls-Geste als invertierten
Impuls denkt. So kann das gesamte Klangband als Nachhall der ersten vier Takte gelesen werden.
Diese These wird durch den Bongos-Crotales-Schlag vor der Zäsur in Takt 5 und die Crotales-
Bongo-Schlagfolge in Takt 8 einerseits unterstrichen und andererseits unterminiert.
29 Mit dem Begriff „Klangtextur“ beziehe ich mich auf die Definition von Helmut Lachenmann. Vgl. Helmut Lachenmann, Klangtypen der neuen Musik, in: Musik als existentielle Erfahrung, Wiesbaden, 2004, S. 1-20, hier: 15ff.
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Abb. 13 - Symmetrie der Textphrase (Takt 3-8)
Interessant ist der Zusammenhang zwischen Zeit- und Klangstruktur in den beiden vorgestellten
Klangtopoi. Betrachtet man den Verlauf des Tempos der gesamten auskomponierten T-I-G (Takt 1-
4) so bemerkt man eine stufenweise Reduktion auf die Hälfte des Ausgangswertes zu Beginn des
Klangbandes. Das Ausgangstempo q = 60 wird über einen Zwischenwert von q = 50 (Takt 3) bis zur
Fermate in Takt 4 stufenweise auf q = 30 verlangsamt. Dadurch wird die wiederholte Geste gedehnt.
Aufgrund dieser Dehnung, konstanten Dynamik und dem Intervallschritt kommt es zu einer
Annäherung an das Klangband.
Für den hier beginnenden kontrastierenden zweiten Klangmoment wurde Zeit also gedehnt. Das
Tempo des folgenden Klangbandes bleibt konstant. Der erste Klangmoment wirkt jedoch durch den
Bongos-Crotales-Schlag vor der Zäsur in Takt 5 weiter, und schließt den Fragmentteil 1a mit einer
weiteren Schlagfolge in Takt 8 kadenzartig ab. Für diesen Halbtakt wird das Ausgangstempo von
q = 60, das der T-I-G zugeordnet ist, wieder aufgenommen.
Diese Zeitkonzeption lässt zwei Vermutungen zu: Entweder denkt Nono die beiden Topoi als
zwei parallellaufende Klang- und Zeitschichten, oder als kontrastierende Momente, die vermittelt
werden. Für letzteres spricht der zyklische Verlauf des Tempos innerhalb des gesamten Abschnittes
1a. Lässt man beide Vermutungen gelten, bedeutet das, dass die Schläge einerseits eine eigene
Zeitschicht bilden, und dabei die T-I-G prozessual weiterführen, und andererseits das Klangband
strukturieren. Bezieht man sich auf letzteres, so ist der Schlag in Takt 5 nicht verirrt, sonder bildet
eine strukturelle Achse. Wie im ersten Moment markieren die Schläge ab Takt 4 die
Abschnittsgrenzen der Wörter und den damit verbundenen Klangeinheiten. Das Klangband wird
von den Schlägen der Takte 4 und 8 um die Achse in Takt 5 symmetrisch umklammert. In dieser
Symmetrie ist die kausale Logik von Impuls-Nachhall aufgehoben. Die finale Wirkung der
Schlagfolge verweist jedoch gleichzeitig auf den Beginn des Stückes. Dieser symmetrische Aufbau
des Klangbandes und das Rückverweisen auf den Beginn vermittelt den Eindruck einer zyklischen,
in sich geschlossenen Form.
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3.2.4 Punktfeld
Auf die Fermate in Takt 9 folgt im Abschnitt 1b ein Punktfeld (PF), das einen dritten Klangtopos
einführt. Dessen erstes Auftreten in den Bongos kann bereits in ein komplexes Beziehungsfeld zu
den vorangegangenen Topoi gebracht werden (vgl. Abb. 15).
Nono kehrt den Ausdruck der Bongo-Schlagfolge mittels kontrastierender Dynamik um. Die
differenzierten Einzelschläge werden zu Grundelementen eines Feldes bestehend aus in sich nicht
weiter differenzierten Punkten im fünffachen piano. Die anfänglich asynchrone, unregelmäßige
Punktefolge mündet in Takt 11 sowie in Takt 12 in einem synchronisierten Tuttischlag. Die
Beschleunigung des Tempos von q = 30 auf q = 72 verleiht dem Feld einen gestischen
prozesshaften Charakter und kann auf die Anfangsgeste bezogen werden (vgl. Takt 2). Dadurch
steht das Feld in direkter Beziehung zur T-I-G. Erinnert man sich an die Möglichkeit, das KB als
Nachhall eines Impulses oder als auskomponiertes Tenuto zu lesen, so wäre in diesem Sinne das PF
eine Art kontrastierendes Echo der Impulsfolge in Takt 2 bzw. Takt 8.
Die verzögert einsetzende Live-Elektronik fügt dem Bonogs-Feld mittels Pitchshifting30 in etwa
zwei Oktaven tiefer einen Schatten hinzu. Durch das in Takt 12 einsetzende Feedback31 wird das
modulierte Punktfeld bis zum Ende des Abschnitts 1b weitergeführt.
30 Pitchshifting ist ein elektronisches Verfahren zur stufenlosen Modulation der Tonhöhe. 31 In diesem Werk tritt das Feedback immer in Kombination mit dem Pitch-Shifting auf. Rein technisch ist es nichts
anderes als das Rück-koppeln (Feed-back) eines Ausgangssignals auf den Eingang eines Signalweges. Dadurch entsteht eine Schleife, die ihren Inhalt akkumuliert und behält, auch wenn am Eingang kein Signal mehr anliegt. So wird in diesem Fall das Punktfeld (mittels Pitch-Shifter) moduliert und durch das Feedback über mehrere Takte weitergeführt.
26/42
Abb.15 - Takt 9-12
3.2.5 Abschluss und Zusammenfassung der ersten Fragmenthälfte
Die Takte 12 bis 16 bilden eine weitere Ausformulierung der T-I-G. Zwischen den Texteinheiten
„behind“ und „we feel“ befindet sich die formale und expressive Achse des Abschnittes 1b. Das
Punktfeld leitet zwar die Altgeste ein, steht aber auch in ihrer von Nono mit „intimo“ (T. 13)
chiffrierten Expressivität der Ausformulierung von „we feel“ nahe. Innerhalb dieses quasi
eingeschobenen Takts springt das Tempo von q = 72 auf q = 44 und wieder zurück. Für einen
Moment wird eine dritte Zeit- oder Ereignisschicht geöffnet, die den prozesshaften Charakter der
"behind"-Geste für einen Moment unterbricht. Aufgrund der Statik des Tenutos und des langsamen
Tempos mit q = 44 steht dieser Takt im Bezug zum Topos Klangband.
Denkt man das Punktfeld etwas abstrakter, so vermitteln sich T-I-G und KB folgendermaßen: Ein
Punkt oder Einzelimpuls bildet die Grundlage des Punktfeldes. Bei genügend hoher Punktdichte
nimmt man auf makrozeitlicher Ebene ein Klangband war, das im Sonderfall ein Tenuto sein kann.
Insofern bildet das Punktfeld einen weiteren Gegensatz zur T-I-G: Während bei der Geste die
Elemente Tenuto und Impuls aufeinander folgen und so tendenziell prozesshaften Charakter
implizieren, so bedingt sich das Tenuto beim PF durch die Impulse. Insofern kann beim dichten PF
von einer Gleichzeitigkeit der kontrastierenden musikalischen Phänomene Impuls und Tenuto
gesprochen werden. Welches der beiden Phänomene in den Vordergrund musikalischer
Wahrnehmung tritt, hängt von der Dichte der Impulse und der zeitlichen Rasterung ab. Letztere
kann vom Komponisten und vom Rezipienten gleichermaßen beeinflusst werden. Unter dieser
Sichtweise nimmt das PF einerseits eine Vermittlerrolle innerhalb der Elemente der T-I-G und
andererseits eine Mittelstellung im Verhältnis von T-I-G zu KB ein.
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Abb.16 – Strukturschema von Melville 1a+b
Abbildung 16 soll das Verhältnis von Tempo, Symmetrie und Klangtopoi veranschaulichen. Die
Texturen beziehen sich auf die Topoi. Pfeile oberhalb der Taktzahlen zeigen Symmetrien in der
Tempokonzeption. Pfeile direkt bei den Tempoangaben bedeuten ein Beschleunigen oder
Verlangsamen des Tempos zum nachfolgenden Tempowert.
Die Abbildung zeigt auch Nonos Technik der Segmentierung von musikalischen Einheiten bis zur
Ebene von Phrasen durch Fermaten und Pausen. Deren Länge steht im direkten Verhältnis zur
Größe des zu strukturierenden formalen Abschnitts
3.2.6 Melville 1c+d
In den komplementären Abschnitten 1c+d werden die Topoi T-I-G und KB noch stärker miteinander
verschmolzen (vgl. Abb. 17). Das erstmalige Erklingen der sardischen Glocken vermittelt zwar
einen neuen Höreindruck, strukturell gleicht diese Stelle jedoch dem Bongos-Punktfeld aus
Abschnitt 1b. Die sfff-Crotales-Schläge ab Takt 18 sowie die einen Takt später einsetzenden
Piccolo-Flötentöne vermitteln den Kontext zur T-I-G in einer neuen Variante. Die gestische und
dynamische Hüllkurve der Vokalgestalt wird invertiert. Insofern kann hier von einer Impuls-Tenuto-
Geste gesprochen werden. Der Tenuto-Aspekt wird mittels Piccoloflöte und Tuba in ein KB
überführt.
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Abb.17 – Strukturschema von Melville 1c+1d
Der Abschnitt 1d stellt eine weitere Verbindung zwischen T-I-G und KB dar. In Melville 1a+b hatte
das KB immer den Charakter eines statischen Klangmomentes (vgl. Abb. 18). Ab nun gewinnen
gestalthafte Aspekte zunehmend an Bedeutung. Die aufwärtsgerichtete Intervallik der Vokalgestalt
steht in Verbindung zum prozesshaften Charakter der T-I-G, jedoch in stark gedehnter form. Die
letzten drei Töne der insgesamt 4-tönigen Vokalgestalt werden wie in Melville 1c durch Piccoloflöte
und Tuba zu einem differenziertem Klangband mit einem gerichteten Parameter weitergeführt. Der
Zielton d'' der Klanggestalt wird von den Crotales noch vier Takte lang weitergeführt. Dieses
zärtliche Aufrichten steht offensichtlich in Beziehung zur Semantik des zugrundeliegenden Textes
„hope fairest“. Gleich wie in Abschnitt 1b übernimmt ein Bongos-Punktfeld die Vermittlerrolle
zwischen KB und T-I-G. Auch hier findet eine Beschleunigung des Tempos von q = 30 auf q = 72
statt. Der fff-Bongosschlag schneidet bei gleichzeitigem Erreichen des Zieltempos in Takt 33 das
KB abrupt ab, und stellt den Kontext zur T-I-G her, die diesen Abschnitt sowie das gesamte erste
Fragment abschließt. Weitere Beispiele zur Morphologie der Topoi T-I-G und KB werden in
Melville 3 und 4 behandelt (vgl. Kapitel 3.4.2).
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Abb.18 – Melville 1d (Takt 27-35)
3.3 Funktionen von Symmetriebildungen
Symmetrien nehmen auf verschiedenen musikalischen Ebenen eine wichtige Rolle in Risonanze
erranti ein, und wirken im Bereich von Architektur, Tempo, Gestik, Dynamik der Fragmente.
Anhand von Beispielen anderer Fragmenttypen soll auch deutlich werden, wie die unterschiedlichen
Arten und Ebenen von Symmetriebildungen miteinander in Beziehung stehen.
3.3.1 Symmetriebildungen in Gestik
Palindromhafte Gestik ist konstitutiv für das Fragment Josquin 2°. Betrachtet man die Anordnung
der Klangelemente dieses Fragments, so zeigt sich eine symmetrische Architektonik, deren Achse
das Textzitat „Adieu“ bildet (vgl. Abb. 19 und 20). Davor und danach befinden sich zuständliche
Klangfelder bestehend aus sardischen Glocken in dynamischen Grenzbereichen. Der Eindruck des
„Öffnens und Schließens“ beziehungsweise des „Näherkommens und sich wieder Entfernens“
dieser Vokalgeste steht in Verbindung zur T-I-G in der Lesart als Folge von „Crescendo - Impuls -
Nachhall“. Sie tritt hier jedoch in einem völlig anderen Ausdruck und Kontext auf (vgl. Abb. 20).
Abb. 19- Vergleich von Tenuto-Impuls-Geste mit Adieu-Geste
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Abb. 20 - Josquin 2° (Takt 61-64)
Den beschriebenen Eigenschaften der Geste werden durch semantischen Gehalt und die
Einbeziehung des Raumes weitere Dimensionen hinzugefügt. Infolge der Anwendung des
Halaphons32 auf die Singstimme wird der latent räumliche Aspekt von Nähe und Distanz mittels
dynamischer Bewegung der Klanggesten durch den Raum verdeutlicht. Während ihres Crescendos
wird die Singstimme dynamisch vom Zentrum des Raumes nach außen bewegt (vgl. Abb. 21).
Durch gleichzeitige Erhöhung der Nachhallzeit von 4 auf 10 Sekunden entsteht zusätzlich der
Eindruck einer raschen Entfernung des Klanges auf der zweiten Silbe. Die Hüllkurve der Dynamik
entspricht der Gestik des Ein-Ausatmens 33. Der Atemvorgang ist zyklisch und verweist so auf eine
ebensolche Zeitauffassung.
Die symmetrische Struktur der Geste wird durch die Projektion in den Raum verzerrt und dadurch
um einen gerichteten Parameter ergänzt. An diesem Beispiel zeigt sich, wie Nono semantische
Inhalte (des Textes) unmittelbar in eine Klanggeste überführt. Durch einen weiteren
Überformungsschritt werden sowohl die Semantik des Zitatrests als auch dessen Klanggestik in den
Raum projiziert. Der Raum selbst wird zur semantisch geladenen Klanggeste. Wie bereits anhand
32 Vereinfacht gesagt ist das Halaphon ein elektronisches Instrument, das es ermöglicht Klang in Echtzeit mittels mehrerer Lautsprecher im Raum zu bewegen. Es wurde von Hans Peter Haller im Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung entwickelt. Nono setzte das Halaphon seit den frühen 1980er Jahren in vielen Stücken ein (z.B. Io, frammento dal Prometeo, (1981) Quando stanno morendo (1982), Ommagio a Kurtag (1983), Prometeo (1985)). In Risonanze erranti wendet Nono diese Möglichkeit der Raumtransformation ausschließlich in den Chanson-Fragmenten an.
33 Die Vokalgeste in Machaut 5° besteht ausschließlich aus diesem Aspekt. Dem Ein-Ausatmen des Alts in Takt 137 folgt dessen räumliche Projektion.
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Abb. 21 - Raumbewegung von Josquin 2°
der ersten Takte des Stückes gezeigt wurde, manifestiert sich auch bei diesem Klangmoment eine
Geschlossenheit durch palindromartige Architektur bei gleichzeitiger Prozesshaftigkeit durch
gestische Raumbewegung.
Nono verwendet unterschiedliche live-elektronische Werkzeuge zur Klangmanipulation, um die
drei Fragmenttypen in sich und untereinander zu differenzieren. Das bedeutet, dass jedem
Fragmenttyp spezifische elektronische Klangbearbeitungen zukommen. Klangbewegungen durch
den Raum mittels Halaphon, wie anhand von Josquin 2° gezeigt wurde, finden bei Risonanze
erranti ausschließlich innerhalb der Chanson-Fragmente statt. Das Halaphon wird einzig auf
Stimme, Flöte und Tuba in unterschiedlichen Instrumentationsvarianten angewandt.34 Generell kann
von zwei Arten der Bewegung gesprochen werden. Diese sind schnelle gestische Bewegung des
Klanges vom Zentrum des Raumes nach außen einerseits, und langsame Drehbewegungen des
Klanges andererseits. Letztere treten in drei unterschiedlichen Formen auf. In Abbildung 22 sind
alle Varianten der Verbindung von Textfragment, Raumbewegung sowie Instrumentation abzulesen.
34 Eine Ausnahme bildet Josquin 11°. Hier befindet sich das Zitat (ähnlich wie bei Ockeghem 1°) in den Crotales und wird auf den Intervallschritt reduziert. Nono wendet das Halaphon erst auf dem nachfolgenden f''' an. Ob der Sekundschritt ausreicht, um das Zitat zu erkennen ist fraglich. Erst durch die Raumbewegung wird der Kontext zu den vorigen Adieu-Zitaten hergestellt.
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Chanson-Fragment Text Raumbewegung Instrumentation
Ockeghem 1° Malheur me bat (Instr.) - Crotales
Josquin 2° Adieu Alt
Ockeghem 3° Malheur me - Alt
Machaut 4° Aimé 360° Alt
Machaut 5° „Ein-Ausatmen“ Alt
Josquin 6° Pleure 360° Alt/Tuba
Machaut 7° Aimé - Alt/Piccolo/Tuba/Crot
Machaut 8° Ah Alt / Piccolo / Tuba
Josquin 9° Adieu Alt / Bassflöte
Josquin 10° Adieu mes amours 3x360° Alt / Piccolo / Tuba
Josquin 11° Adieu (Instrumental) Crotales
Machaut 12° Pleure Alt
Ockeghem 13° Malheur - Alt / Piccolo / Tuba
Schnelle Bewegung vom Raumzentrum nach AussenLangsame Drehung von links nach rechts
360° Langsame 360°- Drehung nach rechts3x360° Langsame verschachtelte 360°- Drehungen n. rechts
Z → A
Z → A
Li → Re
Z → A
Z → ALi → Re
Z → A Li → Re
Abb. 22 – Raumbewegung der Chanson-Fragmente
3.3.2 Symmetriebildungen in Architektur und Tempi
Das Fragment Bachmann 1° bietet ein anschauliches Beispiel dafür, wie ineinander verschachtelte
Symmetrien zur Bildung von Binnenstrukturen sowie der Gesamtform architektonisch
abgeschlossener Einzelfragmente dienen. Die Symmetrieachsen sind in der Skizze strichliert
eingezeichnet (vgl. Abb. 23). Die erste Achse befindet sich in Takt 46 und wird durch einen Impuls
von Crotales und sardischer Glocke (B) markiert. Links und rechts davon sind zwei weitere Klänge
angeordnet: Das Tenuto der Stimme mit anschließendem Einzelimpuls der Crotales (A) auf der
einen Seite und deren spiegelsymmetrisches Pendant in Takt 48-49 (Ā) jedoch ohne vierteltönige
Einfärbung durch die Elektronik auf der anderen Seite. Diese Klangmomente stehen im Bezug zum
Topos T-I-G und bilden, der Gestik und Gestalthaftigkeit enthoben, Tenuto–Impuls (A) sowie
Impuls-Tenuto-Verbindungen (Ā).
Die zweite Symmetrieachse bildet die Mitte des Punktfeldes und ist aus demselben Material
gebildet wie der Klang der ersten Achse (B). Um diesen Klangmoment reiht sich das Material A und
Ā ähnlich wie im ersten Teil, nur in invertierter Form (vgl. Abb. 24).
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Abb. 24 - Symmetrieachsen in der Architektur von Bachmann 1°
Abb. 23- Architektur von Bachmann 1°
Betrachtet man die Tempoveränderungen innerhalb des Fragments, so bemerkt man ein
Beschleunigen von q = 44 zu q = 88 bis zu Takt 53, der die zweite Symmetrieachse bildet. Leicht
überlappend mit dem Ausblenden des Punktfeldes durch die Elektronik wird in Takt 56 das
Anfangstempo wieder aufgenommen. Das Fragment endet mit demselben Klangmoment und im
selben Tempo, wie es begonnen hat. Dieses zyklische Grundprinzip wurde bereits anhand von
Melville 1 gezeigt, und findet sich in beinahe allen Fragmenten.
Nono interessiert sich mehr für schief-symmetrische als für ungebrochen symmetrische Strukturen.
Auf architektonischer Ebene ist dies an ungleichen Dauern symmetrisch angeordneter
Klangmomente zu sehen. Oft zeigen sich die Symmetrien nur auf konstruktiver Ebene. Betrachtet
man den Klangmoment B', so fällt es leicht eine symmetrische Anordnung von jeweils zwei
ähnlichen Klangmomenten um eine gemeinsame Achse in Takt 53 zu konstatieren. Nimmt man
jedoch die Elektronik hinzu, die bereits aus den beiden ersten Klängen mittels Verzögerer und
Feedback ein Punktfeld erzeugt, so ist klar, dass die beiden strukturell symmetrischen Klänge in
Takt 54 und 55 auf das Gesamtergebnis keinen gravierenden Einfluss mehr haben werden. Dabei
wird deutlich, wie Nono durch Überformung Ausgangsmaterial, wie einfache Strukturen oder
direkte Zitate zu verschleiern versucht. Ein weiteres Mittel symmetrische Strukturen zu unterlaufen
ist die Ausdifferenzierung der Klangmomente durch Varianzbildung der Parameter Dynamik,
Spieltechnik, Tonhöhe, Klangfarbe und Registrierung.
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3.4 Verbindung von Klang-, Form- und Zeitkonzeption
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Melville 1a+btempest bursting waste time behind we feel
Melville 1c+d My countrys ills hope fairest sweep storming
Ockeghem 130 Malheur
Bachmann 1nicht mehr mir
Josquin 230 Adieu
Melville 2ah<, ah>, wails long recall deep abyss on starry heights
Ockeghem 330malheur me
Melville 3 o-mi-nous si -le-nce return return o eager hope
Machaut 430 f5 aimé aimé
Melville 4and waits.. the cloiste- -re -d doubt cold heaven
Machaut 530 u
Bachmann 272, 88, f, 144, f 44
Melville 5olden times past slave ol- d - en times
Josquin 630 pleure
Melville 6 88 f7 f3 f5 f9 f 44 ah pain crime pain crime crime pain a pain pain crime
Machaut 730aimé eh uh aimé
Melville 7 72 60 72,60 –––> 88 f2 60pain crime pain past slave slave, past pain crime
Machaut 830ah
Melville 8 72––––––––––>54 ––––> (30)sto -nes of ages rear
Josquin 930 f4 f14 a -- dieu adieu
Melville 9 88 f7 92 ––––––––––> 104 ––>60 wind in purpose against the way it drives, against…..it drives
Bachmann 3 44einsehn gelernt hunger tränen finsternis
60, 50, f, 30, 60 f3 30 → 72, 44, 72, f5
30, 54, 30, 72, 44 f5 30 →72
44 → 56, 60 →88, 44
72, 44 →72, f, 44 72 30
30, 44 → 72 → 30, 72, f3, 88→30, 72 →60→ 40
44, 30 , f, 72, 88, 72 54 → 44
72 → 64, f, 44 f → 88, 54,88,92
f......Fermate Die Pfeile bedeuten kontinuierliche Tempowechsel
fx....Fermate mit einer Dauer von x Sekunden
Abb. 25 - Architektur, Text und Tempi
Beobachtet man die Behandlung der Tempi über das gesamte Stück, so ist festzustellen, dass Nono
für jeden Fragmenttyp eine spezifische Zeitkonzeption erzeugt. Ein konstantes Tempo von q = 30
schafft eine einheitliche Zeitvorstellung in allen Chanson-Fragmenten. Kontrastierend dazu
verhalten sich die Melville- und Bachmann-Fragmente. Diese zeichnen sich durch kontinuierliches
oder sprunghaftes Zirkulieren unterschiedlicher Tempi aus. Nono verwendet für die beiden
Fragmenttypen drei Grundtempi, die in Bezug zu den drei Klangtopoi und deren Morphologie
stehen. Die häufig auftretenden Tempowerte 30, 44 und 72 lassen sich als Grundtempi
interpretieren, von denen weitere abgeleitet werden.35
Die T-I-G in ihrer anfangs intensiven Ausformulierung erscheint nahezu immer in Verbindung
mit den schnellsten Tempi q = 60, 72, 88, 144 (vgl. Abb. 25). Gleiches gilt für Klangband und
Punktfeld. Diese haben entweder konstante langsamere Tempi (30, 44), oder vermitteln zwischen
langsamen und schnellen Tempi durch Beschleunigung und Verlangsamung. Tempomodulationen
stehen im Bezug zur Morphologie der Klangtopoi sowie zum semantischen und expressiven Gehalt
der Texte. Dies wurde bereits in der Analyse von Melville 1 angedeutet und soll nun in
nachfolgenden Beispielen vertieft werden.
Kontinuierliches oder sprunghaftes Modulieren unterschiedlicher Zeit- und Klangebenen
manifestiert sich in allen formalen Größenordnungen der Gesamtarchitektur der Fragmente bis zur
Bildung musikalischer Momente und Einzelgestalten. Hinsichtlich der Morphologie von
(musikalischen und geschichtlichen) Zeit- und Klangschichten arbeitet Nono auf großformaler
Ebene analog zu den Binnenstrukturen der Melville- und Bachmann-Fragmente. Der übergeordnete
Tempoverlauf ist meistens zyklisch, wie anhand von Melville 3 und Melville 4 zu sehen ist. Das
konstante Tempo von q = 30 der Chanson-Fragmente wird an den Abschnittsgrenzen kontinuierlich
erreicht. So entsteht auch auf großformaler Ebene ein zyklisches In-Sich-Kreisen zwischen q = 30
und q = 88 (vgl. Abb. 26).
Fragm. Ockeghem 3 Melville 3 Machaut 4 Melville 4 Machaut 5
Takte 83-85 86-102 103-111 112-132 133-138
Tempo 30 30, 44 → 72 → 30, 72, 88 → 30, 72 → 60 → 40 30 44, 30, 72, 88, 72 → 54 → 44 30
Anmerkung: Fermaten wurden nicht eingezeichnet
Abb. 26 – zyklische Tempokonzeption / kontinuierlich
35 Die Ableitungen sich meistens Tempoverdopplungen. Nono verwendet dieselben Zahlenwerte für Tempi auch im zwei Jahre später entstandenen Stück "hay que caminar" sognando (1989) sowie in Io, frammento dal Prometeo (1981).
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An anderen Stellen werden die Tempi hart geschnitten, wie an den Übergängen von Josquin 6°,
Melville 6 und Machaut 7° zu sehen ist (vgl. Abb. 27).
Fragment Bachmann 2 Melville 5 Josquin 6 Melville 6 Machaut 7
Takte 139-160 161-187 188-194 195-213 214-218
Tempo 72 → 88, f, 144, f, 44 88 f7 f3 f5 f9 f 44 30 72 → 64, f, 44 f → 88, 54,88,92 30
Abb. 27 – zyklische Tempokonzeption / gebrochen
Verbindung von Klang-, Form- und Zeitkonzeption anhand von Melville 3
Abbildung 28 zeigt deutlich die spiegelsymmetrische Bauweise von Melville 3, dessen Zentrum die
T-I-G bildet. Links und rechts davon sind Kombinationen von Geräuschfeld und Tenuto angeordnet.
Die Symmetrie bezieht sich hauptsächlich auf Klangtopoi und Tempi. Bezogen auf den Verlauf
letzterer besteht das Fragment aus zwei ineinander verschachtelter Symmetrien, deren Achsen durch
strichlierte Linien markiert sind.
Hauptachse bildet Takt 96, an der das Tempo und die T-I-G gespiegelt werden. Die Pfeile zwischen
den Tempoangaben bedeuten ein Beschleunigen oder Verlangsamen des Tempos. Der übergeordnete
Tempoverlauf beschreibt eine Beschleunigung von q = 30 auf q = 88 und wieder zurück. (In der
Skizze ist dies durch die beiden gegenläufigen Pfeile oberhalb der Taktzahlen angedeutet).
Eine zweite Achse bildet Takt 90. Das Fragment beginnt mit einem Geräuschfeld, das aus col legno
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Abb. 28 – Klang-, Tempo- und Formkonzeption von Melville 3
gespielten sardischen Glocken besteht.36 Mit dem Einsatz des Tenutos im Alt in Takt 87 springt das
Tempo von q = 30 auf q = 44. Da das Tenuto auch in anderen Kontexten mit q = 44 auftritt, kann
von einem klang- oder klangschichtbezogenen Temposprung gesprochen werden. Danach
beschleunigt das Tempo bis zu Takt 90 auf q = 72. In Takt 91 verlangsamt sich das Tempo wieder
auf den Ausgangswert von q = 30, und bildet so einen kontinuierlichen Tempoübergang zum
nachfolgenden Fragment Machaut 4°.
Ähnlich wie in Melville 1c+d, werden auch hier die Topoi T-I-G und KB durch Auskomponieren
des Tenutos vermittelt (vgl. Kapitel 3.2.6). Der mittlere Klangmoment (Takt 95–97) besteht aus
einer T-I-G, die um die Hauptachse gespiegelt wird. Interessant ist, dass Nono in zweifacher Weise
den Textinhalt des wiederholten Textfragments „return“ auskomponiert. Nach der aggressiv
appellierenden ersten T-I-G in Takt 95 wird neben dem Tempo auch deren Ausdruck mittels
kontrastierender Dynamik und zeitlicher Dehnung umgekehrt.
Im anschließenden bezüglich Tempo rückläufigen Klangmoment treten dieselben Topoi auf, wie
im vorangegangenen, jedoch nicht gleichzeitig, sondern nacheinander kontrastierend. Das
Reduzieren des Tempos von q = 88 auf q = 30 hat zwei Funktionen. Auf der einen Seite wird
dadurch die T-I-G gedehnt. Auf der anderen Seite wird der halbtaktige Einschub des Geräuschfeldes
(q = 30) sozusagen mit dem Anfang des Fragmentes zeitlich kurzgeschlossen. Diese Zeit- und
Klangschicht wird unmittelbar danach in Takt 98 mit dem Einsatz des Tenutos sprunghaft verlassen.
Das Tempo q = 72 wird wieder aufgenommen und verläuft nun kontinuierlich rückwärts.37
Wie in Takt 87 tritt das Tempo q = 44 häufig im Zusammenhang mit einem Klangband oder
einem Tenuto auf. Dies gilt auch für die Klangtopoi T-I-G (q = 72) und PF (q =30). Insofern kann
angenommen werden, dass Nono einzelne Klangschichten und Zeitschichten als
zusammengehörend denkt, die untereinander sprunghaft wechseln oder kontinuierlich modulieren.
Die Fermate auf der Hauptachse in Takt 96 dient neben der formalen Strukturierung auch der
Verzerrung der Symmetrie durch das Unterbrechen des musikalischen Flusses. Die quasi paradoxe
Doppelfunktion der Bongos-Schläge in Melville1 (Unterbrechen und gleichzeitig Weiterführen des
musikalischen Flusses) kann auch an dieser Fermate festgemacht werden. Der durch die Fermate
erzeugte Nachhall steht im Bezug zum Tenuto-Aspekt der T-I-G und bildet so eine Verbindung zum
nachfolgenden gedehnten Klangmoment, dessen Ausdruck sich vollständig geändert hat. Neben der
Symmetrie der Architektur wird auch die musikalische Gestalt verzerrt bzw. der Aspekt des
Gestisch-Gestalthaften aufgelöst. So ist die Fermate hier strukturelles Bindeglied und Vermittler 36 Dieser Klangtypus wurde von den vorangegangenen Chanson-Fragmenten Ockeghem 1° und Josquin 2° eingeführt.
Wie bereits erwähnt haben alle Chanson-Fragmente ein konstantes Tempo von q = 30. So erklärt sich dieses klangtopos-spezifische Tempo am Beginn.
37 Die Differenz von q = 44 zu q = 40 in Takt 101 erklärt sich anhand Nonos Bestreben, ungebrochene Symmetrien zu vermeiden.
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innerhalb der Morphologie der Klangtopoi T-I-G und KB. Bei den beiden Varianten Josquin 9° und
Josquin 10°, der in Josquin 2° auskomponierten „Adieu“-Geste erreicht Nono eine ähnliche
Wirkung. Er setzt Fermaten direkt auf gesungene Silben, um die Tondauer mitunter extrem zu
verlängern.
Verbindung von Klang-, Form- und Zeitkonzeption anhand von Melville 4
Zur weiteren Vertiefung der Zusammenhänge von Symmetrien in Architektur mit der
Tempokonzeption bietet sich Melville 4 an. (Vgl. Ab. 29). Dieses Fragment ist bezüglich
Tempokonzeption und Anordnung der Klangtopoi ähnlich gebaut wie Melville 3. Klar sichtbar sind
hier dieselben klangtopos-spezifischen Grundtempi. Das eingeschobene Geräuschfeld mit q = 30
steht im Bezug zu Klangtopos und Tempo des vorangegangenen Fragments Machaut 4° (sowie
Ockeghem 1° und Josquin 2°).
Melville 4 stellt auch ein weiteres Beispiel der Vermittlung von T-I-G und KB dar. Vergleichbar mit
Melville 1d wird hier das Textmaterial „and waits but look hark“ in eine extrem gedehnte Gestalt
mit aufwärtsgerichteter Tendenz der melodischen Kontur gesetzt. Eingebettet ist diese Monodie in
ein pulsierendes c# von Bassflöte und Tuba, deren Einsätze Crotales und sardische Glocken
markieren. Diese Akzente stehen in Zusammenhang zum Impuls-Aspekt der T-I-G. Auf der
Wahrnehmungsoberfläche erscheint dieser Moment als Klangband, das in subtiler Form alle
Eigenschaften der T-I-G implizit mit sich führt. Hier zeigt sich Nonos dialektischer Umgang mit
extremen Gegensätzen und seine Fähigkeit sie zu integrieren.
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Abb. 29 - Klang- Tempo- und Formkonzeption bei Melville 4
Literaturverzeichnis
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