DIPLOMARBEIT
Titel der Diplomarbeit
„Kindheitsliteratur und Vergangenheitsbewältigung bei Ilse Aichinger, Danilo Kiš und Peter Härtling“
Verfasserin
Sanja Selak-Ostojić
angestrebter akademischer Grad
Magistra der Philosophie (Mag.phil.)
Wien, 2013
Studienkennzahl lt. Studienblatt: A 332
Studienrichtung lt. Studienblatt: Deutsche Philologie
Betreuer: Univ.-Doz. Mag. Dr. Ernst Seibert
In Liebe und Dankbarkeit meinen Eltern gewidmet.
5
Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG .......................................................................................................... 9
2. CHRONOLOGIE DER WERKE ............................................................................ 13
2.1 Ilse Aichinger ................................................................................................................13
2.2 Danilo Kiš ......................................................................................................................14
2.3 Peter Härtling ................................................................................................................15
3. JUDENTUM ALS HISTORISCHES PARADIGMA ............................................... 18
3.1 Danilo Kiš und sein Bezug zum Judentum .................................................................24
3.2 Ilse Aichinger, die Halbjüdin ........................................................................................30
4 DIE ROLLE DES ERZÄHLERS IN DER KINDHEITSLITERATUR ....................... 33
4.1. Der Erzähler im „Familienzirkus“ ...............................................................................34
4.2. Über die Erzählsituation im Roman Die größere Hoffnung ......................................37
4.3 Der Kinderblick bei Peter Härtling ...............................................................................42
5 KINDHEIT – DAS EWIGE SCHANDMAL ............................................................. 44
5.1. Erinnerungen und der Umgang mit der Vergangenheit ............................................47
5.2. Die Problematik des autobiographischen Erzählens ................................................54
5.2.1 Die heimtückische Auswirkung der Biographie bei Danilo Kiš 56
5.2.2 Autobiographisches Erzählen im Werk Ilse Aichingers 58
5.2.3 Autobiographie als phantastische Lüge – Peter Härtling 60
6. LITERARISCHE ELEMENTE ............................................................................... 63
6.1 Ironie .............................................................................................................................63
6.1.1 Der ironische Lyrismus bei Danilo Kiš 64
6.2 Poetisierung der Sprache bei Ilse Aichinger ..............................................................66
6.3 Dialogische Form und Überbrückung der Distanzen – Peter Härtling ......................68
6.4 Die Metapher .................................................................................................................71
6
6.4.1 Und wenn wir bei der Metapher angelangt sind, befinden wir uns in der Literatur – Danilo Kiš
72
6.4.2 Chiffren und das metaphysische Kommunikationssystem bei Ilse Aichinger 75
6.4.3 Zwischen Spiel und Wirklichkeit – Ilse Aichinger 75
6.4.4 Der Stern 78
6.4.5 Das Dokument als Illusion der Wahrhaftigkeit - Danilo Kiš 80
6.4.6 Das Dokument und die Zuverlässigkeit der Erinnerung – Peter Härtling 84
7. DER TOD – DAS OBSESSIVE THEMA ............................................................... 86
7.1. Der Tod als Erlösung – Ilse Aichinger .......................................................................86
7.2 Ewigkeit und Tod, das Geheimnis der Zeit – Danilo Kiš ............................................88
8. DIE (UN)ANGREIFBARE ROLLE DES VATERS ................................................ 91
8.1 Die Figur des Eduard Sam – Danilo Kiš ......................................................................91
8.2 Das vaterlose Mädchen ................................................................................................94
8.3 Die Suche nach dem Vater – Peter Härtling ................................................................95
9. ZUSAMMENFASSUNG ....................................................................................... 98
10. LITERATUR ..................................................................................................... 102
10.1 Primärliteratur ........................................................................................................... 102
10.2 Sekundärliteratur ...................................................................................................... 102
11. ANHANG .......................................................................................................... 112
11.1 Abstract (Deutsch) ................................................................................................... 112
11.2 Abstract (English) ..................................................................................................... 112
11.3 Curriculum Vitae ....................................................................................................... 114
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1. Einleitung
Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Überlieferungen werden von der
Menge gewoben. Die Schriftsteller phantasieren. Gewiß ist nur der Tod.1
Danilo Kiš gehört zu den anerkanntesten Schriftstellern des ehemaligen
Jugoslawien. Bekannt war er unter anderem durch seine Abneigung gegen jede Art
von Nationalismus. Sich selbst sah er als den „letzten jugoslawischen Schriftsteller“,
der den Zerfall des Landes erahnte und für unvermeidbar hielt.
Wenn wir aber sein Werk in den Vordergrund stellen, haben wir es mit einem der
bedeutendsten Schriftsteller Jugoslawiens zu tun. Fast spielerisch geht er in seinen
Büchern mit der Geschichte und der Phantasie um, die auf dem Holocaust, dem
Hass sowie der damaligen Ideologie des Nationalismus beruhen.
Danilo Kiš wehrte sich gegen jede Art von Totalitarismus der Gegenwart und suchte
seinen Platz außerhalt dieses Rahmens. Er war einer der schärfsten Kritiker des
Nationalismus bzw. Chauvinismus auch noch bevor die Unruhen in den Ländern des
ehemaligen Jugoslawien begonnen haben. Kiš wollte niemals als Vertreter der
Nation betrachtet werden. Zu seinen Lebzeiten schaffte er leider nicht, die
jugoslawischen Völker vor der fatalen Krankheit des Chauvinismus zu bewahren.
Seinen Kampf setzte er aber auch nach seinem Tod im Jahre 1989 fort – seine
Bücher gehörten zu Zeiten des Balkankriegs in den 90er Jahren zu den wenigsten,
die in allen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens auf dem Markt zugänglich waren.
Die Popularität erzielte Kiš primär durch seine autobiographischen Romane, in
welchen er die schwierigen Kriegserlebnisse thematisiert, insbesondere die drei
Bücher über das Schicksal der (halb)jüdischen Familie Sam – Frühe Leiden, Garten,
Asche und Sanduhr – die Familientrilogie, auf die ein besonderes Augenmerk in der
vorliegenden Diplomarbeit gelegt wird.
Es ist nicht leicht, über sich selbst zu reden, es ist so, als würde man in den Spiegel
schauen; man macht dann nicht das richtige Gesicht. Aber wenn das Spiegelbild auch
irreführend ist, so haben wir doch kein anderes und müssen uns darin durchschauen
und müssen den Spiegel zum Fenster machen.2
1 Kiš, Danilo: Enzyklopädie der Toten. München, Wien: Carl Hanser Verlag 1986. S. 140. 2 Aichinger, Ilse: Die Vögel beginnen zu singen. In : Ilse Aichinger. Leben und Werk. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage.
Hg. v. Samuel Moser. Frankfurt/Main: Fischer 1995. S. 29.
10
Ein weiterer Schwerpunkt dieser Arbeit wird auf das Werk Die größere Hoffnung
gelegt, den ersten und einzigen Roman von Ilse Aichinger. Der zum Teil
autobiographische Roman machte die österreichische Schriftstellerin zu einer der
bekanntesten Autorinnen und Autoren im deutschsprachigen Raum. Das Kindsein im
Dritten Reich, Terror und Angst, Jüdischsein, Lügen und Verdrängung, Verfolgung
und Aufarbeitung der Hitler-Diktatur sind das Thema des Romans, in dem die stets
verschwommene Linie zwischen Traum und Wirklichkeit in sich zusammenfällt und
die Realität dabei eine ganz andere Dimension bekommt.
Ilse Aichinger gilt als „die große Außenseiterin der Deutschen Literatur“3. Auf die
Frage Heinz F. Schafroths wie man Aichingers Literatur lesen soll, antwortete sie:
Ich weiß nicht, wie man meine Texte lesen soll, ich kann sagen, wie ich selbst Texte
lese, die mich zugleich anziehen und mir Schwierigkeiten machen. Ich lese sie so, wie
ich etwas suche, das verlorengegangen ist, in dem ich zuerst das Suchen suche, die
Form zu suchen und wenn ich es gefunden habe, merke ich, daß ich eigentlich die
Form zu finden gefunden habe, im Fall des Textes, die Form zu lesen, und daß Lesen
und Schreiben wie Suchen und Finden sich in einander bis zur Identität nähern
können.4
Ilse Aichinger verarbeitete die Erinnerungen aus der Kindheit im Krieg und ihr
eigenes Schicksal als Halbjüdin im Dritten Reich auf ihre Art und Weise – durch das
Schreiben.
Im Gespräch mit Brita Steinwendtner sagt sie, dass das Schreiben ihr ermöglicht hat
„(…) auf der Welt zu bleiben.
Ich glaube, daß ich es nötig gehabt habe, sonst hätt’ ich es nicht getan. Im Roman Die
größere Hoffnung zum Beispiel dachte ich zuerst, ich schreib einen Bericht, damit
man weiß, was geschehen ist. Das war’s nicht.5
Ilse Aichinger und ihr Roman Die Größere Hoffnung gelten seit dem Erscheinen im
Jahre 1948 als wichtiges Merkmal der österreichischen Nachkriegsliteratur. Neue
3 Moser, Samuel (Hg.): Ilse Aichinger. Materialien zu Leben und Werk. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage. Frankfurt/Main:
Fischer 1995. S. 11. 4 Schafroth, Heinz F.: Gespräche mit Ilse Aichinger. Meine Sprache und ich. In: Ilse Aichinger. Leben und Werk. Aktualisierte
und erweiterte Neuauflage. Hg. v. Samuel Moser. Frankfurt/Main: Fischer 1995. S. 34. 5 Bartsch, Kurt und Gerhard Melzer (Hg.): Ilse Aichinger. Dossier. Die Buchreihe über österreichische Autoren. Bd. 5. Graz,
Wien: Droschl 1993. S. 7.
11
österreichische Literatur war mit ihr geboren und ein neuer Zugang zur Sprache und
Struktur wurde geschaffen - „Es begann mit Ilse Aichinger“6.
Die größere Hoffnung ist aber nicht nur Nachkriegsliteratur, der Roman stellt vielmehr
einen Denkanstoß dar, eine Aufforderung zum Nachdenken.
Es ist einerseits ein pazifistisches Manifest, andererseits eine kompromisslose
Aufforderung an die Menschheit, Verantwortung für die eigene Vergangenheit zu
übernehmen.7
Ungeachtet dessen, in welche Schublade man sie auch immer schieben möchte, die
Vielfalt ihres Schaffens, von Erzählungen über Gedichte und Hörspiele bis hin zu
Dialogen, ist und bleibt Ilse Aichinger mit ihrer einzigartigen Schreibweise eine der
wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen und Autoren der Gegenwart. 8
Mit Büchern bin ich aus der Wirklichkeit geflohen; mit Büchern bin ich in sie
zurückgekehrt.9
Peter Härtling, „der Lyriker und Republikaner, der Erzähler und Demokrat, der Kritiker
und Publizist, der Intellektuelle und der Literat“10, ist der dritte Autor, dessen
autobiographisches Werk in die Analyse der vorliegenden Arbeit einbezogen wird.
Mit der Erinnerungsliteratur von Peter Härtling wird ein weiterer Teil der
Auseinandersetzung mit dem Thema der Arbeit aufgegriffen. Ein besonderes
Augenmerk wird dabei auf zwei Werke gelegt – Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung
und Nachgetragene Liebe. Die unruhige Kindheit zur Zeit des Nationalsozialismus
und die Vertreibung der Familie stellt der deutsche Schriftsteller in diesen beiden
Büchern in den Mittelpunkt des Geschehens und nimmt somit eine
Vergegenwärtigung seiner Erinnerungen aus der Zeit zwischen Mai 1945 und April
1946 vor, die er mit seiner Familie in der niederösterreichischen Stadt Zwettl
verbracht hat.
6 Weigel, Hans: „Es begann mit Ilse Aichinger“. In: Aufforderung zum Misstrauen. Hg. Otto Breicha. Salzburg: Residenz 1967. 7 Hussong, Marion: Der Nationalsozialismus im österreichischen Roman 1945 – 1969. Bd. 52. Tübingen: Stauffenburg 2000. S.
28. 8 Vgl. Haase Horst (Hrsg.): Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts. Einzeldarstellungen/Von einem Autorenkollektiv
unter Leitung von Horst Haase und Antal Mádl. Berlin: Volk und Wissen Verlag 1988. S. 540-562. 9 Härtling, Peter: Zwischen Untergang und Aufbruch. Aufsätze, Reden, Gespräche. Berlin: Aufbau-Verlag 1990. S. 235. 10 Lüdke, Martin: Finden und Erfinden. Einführende Bemerkungen. In: Peter Härtling: Auskunft für Leser. Hg. v. Martin Lüdke.
Darmstadt: Luchterhand 1988. S. 15.
12
Auch abgesehen von diesen beiden Werken ist eine Auseinandersetzung mit den
Themen aus der Gegenwart in Härtlings Werk kaum zu finden.
Ihm geht es nicht darum, die ideologischen Sprachhülsen zu entmystifizieren, mit
denen sich das Alltagsbewußtsein umgibt. Er möchte vielmehr durch die erzählerische
Vergegenwärtigung individueller Erfahrungen den Leser emotional beteiligen.11
Im Rahmen der vorliegenden Diplomarbeit mit dem Titel „Kindheitsliteratur und
Vergangenheitsbewältigung bei Ilse Aichinger, Danilo Kiš und Peter Härtling“ soll
zunächst der Begriff Kindheitsliteratur definiert sowie die Kinderperspektive als
Erzählform erläutert werden.
Darauf aufbauend wird die Erzählstruktur in den ausgewählten Werken untersucht
und verglichen. Des Weiteren wird versucht, die Werke auf mögliche
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu analysieren. Darüber hinaus wird das
autobiographische Erzählen ein Schwerpunkt dieser Untersuchung sein sowie die
Analyse von einigen literarischen Elementen wie z.B. Verwendung von indirekten
Sprechweisen und Metaphern oder der literarische Umgang mit obsessiven Themen.
Abschließend soll der literarischen Aufarbeitung der Suche nach dem
verschwundenen Vater und seiner Rolle in den ausgewählten Texten näher
nachgegangen werden.
11 Krull, Wilhelm: Das Vergangene im Gegenwärtigen. Politik und Moral im Werk von Peter Härtling. In: Peter Härtling: Auskunft
für Leser. Hg. v. Martin Lüdke. Darmstadt: Luchterhand 1988. S. 51.
13
2. Chronologie der Werke
2.1 Ilse Aichinger Ilse Aichinger wurde am 1. November 1921 in Wien zusammen mit ihrer
Zwillingsschwester Helga geboren. Ihr Medizinstudium brach sie nach fünf
Semestern ab, um ihren ersten (und einzigen) Roman Die größere Hoffnung zu
schreiben (1948). 1951 wurde sie zur „Gruppe 47“ eingeladen. Im Jahr 1952 gewinnt
sie mit der Spiegelgeschichte den Preis der „Gruppe 47“. Es folgen zahlreiche
Auszeichnungen. Nach ihren Aufenthalten in Deutschland und Portugal lebt Ilse
Aichinger seit 1988 wieder in Wien.
Werke:
- Die größere Hoffnung – Roman, 1948
- Rede unter dem Galgen – Erzählungen, 1952
- Der Gefesselte – Erzählungen, 1953
- Knöpfe – Hörspiel, 1953
- Zu keiner Stunde – Hörspiel, 1957
- Französische Botschaft – Hörspiel, 1960
- Weiße Chrysanthemen – Hörspiel, 1961
- Besuch im Pfarrhaus. Ein Hörspiel. Drei Dialoge – Hörspiel, 1961
- Wo ich wohne. Erzählungen, Gedichte, Dialoge - 1963
- Eliza, Eliza – Erzählungen, 1965
- Nachmittag in Ostende – Hörspiel, 1968
- Die Schwestern Jouet – Hörspiel, 1969
- Auckland - Vier Hörspiele, 1969
- Nachricht vom Tag – Erzählungen, 1970
- Gare Maritime – Hörspiel, 1976
- Schlechte Wörter – Sammelband, 1976
- Meine Sprache und ich – Erzählungen, 1978
- Verschenkter Rat – Lyrik, 1978
- Spiegelgeschichte – Erzählungen und Dialoge, 1979
- Zu keiner Stunde. Szenen und Dialoge – Hörspiel, 1980
- Kleist, Moos, Fasane - Erzählungen, Gedichten, Essays, 1987
14
- Eiskristalle, Humphrey Bogart und die Titanic – 1997
- Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben – 2001
- Kurzschlüsse – Lyrik, 2001
- Der Wolf und die sieben jungen Geißlein – 2004
- Unglaubwürdige Reisen – 2005
- Subtexte – 2006
2.2 Danilo Kiš
Danilo Kiš (geboren am 22. Februar 1935 in Subotica, Königreich Jugoslawien,
gestorben in Paris am 15. Oktober 1989), war ein Romancier, Erzähler, Essayist,
Dramatiker, Übersetzer der französischen, russischen und ungarischen Sprache.
Heute zählt er zu den wichtigsten Schriftstellern in der Geschichte des ehemaligen
Jugoslawien. Seine Karriere hat er angefangen als Dichter, später widmete er sich
vor allem der Prosa und leistete somit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
einen beträchtlichen Beitrag der poetischen Wende in der serbokroatischen Literatur.
Seine ersten Texte veröffentlicht Danilo Kiš im Jahr 1953 – Abschied von der Mutter,
Morgen. – Gedicht über eine Jüdin: Motiv aus dem Jahr 1941, Echo aus der Kindheit,
Die Begegnung mit der Mutter im Herbst – „dem Ende meiner Kindheit“ –
Aufzeichnungen, Der rote Bulle.
Danach folgen die Werke:
- Die Dachkammer [Mansarda] und Psalm 44 – Romane, veröffentlicht als
Sammlung in einem Buch, 1962
- Garten, Asche [Bašta, pepeo] - Roman, 1965
- Frühe Leiden [Rani jadi] - Erzählungen, 1970
- Sanduhr [Peščanik] - Roman, 1972
- Po-etika - Essays, 1972
- Po-etika, Buch II - Interviews, 1974
- Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch [Grobnica za Borisa Davidoviča: sedam
poglavlja jedne zajedničke povesti] - Erzählungen, 1976
- Anatomiestunde [Čas anatomije] – Polemiken, 1978
- Die mechanischen Löwen [Noć i magla] - Dramen, 1983
15
- Homo poeticus (Essays und Interviews), 1983
- Enzyklopädie der Toten [Enciklopedija mrtvih] - Erzählungen, 1983
- Der bittere Bodensatz der Erfahrung [Gorki talog iskustva] - Interviews,
posthume Veröffentlichung 1990
- Leben, Literatur [Život, literatura] - Essays, posthume Veröffentlichung 1990
- Gedichte und Nachdichtung [Pesme i prepevi] - Poesie, 1992
- Der Heimatlose [Lauta i ožiljci] - Erzählungen, 1994
- Das Lager [Skladište] - Essays und Erzählungen, 1995
- Varia - Essays und Erzählungen, 1995
- Gedichte, Elektra [Pesme, Elektra] - Poesie und Umarbeitung des Dramas
„Elektra“, 1995
Werke des autobiographischen Zyklus von Danilo Kiš wurden im Jahr 1993 in der
Sammlung Familienzyklus in chronologischer Reihenfolge - Frühe Leiden, Garten,
Asche und Sanduhr - veröffentlicht.
2.3 Peter Härtling Der deutsche Schriftsteller und Journalist Peter Härtling wurde am 13. November
1933 in Chemnitz geboren. Seine berufliche Laufbahn begann er bei einer regionalen
Zeitung, um später als Lektor für mehrere Zeitungen, Redaktionen und Verlage tätig
zu sein. Viele seiner Werke sind durch autobiographische Elemente geprägt. Sein
Werk widmete er aber auch den Kindern und schrieb zahlreiche Bücher für die
jüngsten Leserinnen und Leser. Bekannt wurde er aber vor allem durch seine
Romanbiographien über bekannte deutsche Schriftsteller aus dem 18. und 19.
Jahrhundert.
Zu Romanen, Erzählungen und autobiographischen Texten Peter Härtlings zählen:
- Im Schein des Kometen. Die Geschichte einer Opposition – Roman, 1959
- Niembsch oder Der Stillstand – eine Suite, 1964
- Janek. Porträt einer Erinnerung – Erzählung, 1966
- Das Familienfest oder Das Ende der Geschichte – Roman, 1969
- Ein Abend eine Nacht ein Morgen. Eine Geschichte – Erzählung, 1971
16
- Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung – Erinnerungsroman, 1973
- Eine Frau – Roman, 1974
- Hölderlin – Roman, 1976
- Hubert oder Die Rückkehr nach Casablanca – Roman, 1978
- Nachgetragene Liebe – Roman, 1980
- Der wiederholte Unfall – Erzählungen, 1980
- Die dreifache Maria – Erzählung, 1982
- Das Windrad – Roman, 1983
- Felix Guttmann – Roman, 1985
- Brief an meine Kinder – 1991
- Schubert – Roman, 1992
- Božena – Roman, 1996
- Schuhmanns Schatten – Roman, 1996
- Große, kleine Schwester – Roman, 1998
- Hoffmann oder Die vielfältige Liebe – Roman, 2001
- Leben lernen: Erinnerungen – Memoiren, 2003
- Die Lebenslinie. Eine Erfahrung – Roman, 2005
- O´Bär an Enkel Samuel. Eine Erzählung mit fünf Briefen – Erzählung, 2008
- Liebste Fenchel! Das Leben der Fanny Hensel-Mendelssohn in Etüden und
Intermezzi – Roman, 2011
Des Weiteren veröffentlichte Peter Härtling zwei Theaterstücke:
- Gilles. Ein Kostümstück aus der Revolution – 1970
- Melchinger Winterreise. Stationen für die Erinnerung – 1998
Härtling veröffentlichte zahlreiche Kinderbücher (Auswahl):
- Oma, 1977
- Theo haut ab, 1977
- Ben liebt Anna, 1979
- Sofie macht Geschichten, 1980
- Krücke, 1987 (verfilmt)
- Fränze, 1989
- Mit Clara sind wir sechs. Von den Scheurers, die sich alle Mühe geben, eine
Familie zu sein, 1991
17
- Lena auf dem Dach, 1993
- Tante Tilli macht Theater, 1997
- Reise gegen den Wind, 2000
- Romane für Kinder in drei Bänden, 2003
- Paul das Hauskind, 2010
18
3. Judentum als historisches Paradigma
Wie viele Juden es auf der Welt gibt, ist eine nicht so leicht zu beantwortende Frage.
Geschätzt wird die Zahl zwischen dreizehn und siebzehn Millionen. Mit der
Komplexität der Frage nach der Zahl der Juden hat unter anderem auch die
Unklarheit der Definition des Juden zu tun.
Die Situation des Juden besteht einfach darin, der Mensch zu sein, den die anderen
Menschen als Juden bezeichnen.12
Nach den Glaubensgeboten, der Halacha13, ist Jude nur ein Mensch, der von einer
Jüdin geboren wurde. In Israel wird die Angehörigkeit ausschließlich mütterlicherseits
bestimmt. Im 1986 erschienenen Interview mit Leda Tenorio da Motta14 mit dem Titel
Das Gewissen eines unbekannten Europa auf die Frage, ob eine fundamentale
Unterscheidung zwischen Proust, der mütterlicherseits jüdisch war, und ihm,
jüdischer Abstammung väterlicherseits, besteht, äußert Danilo Kiš seine Haltung
dazu:
Hier betreten wir schon die philosophische, religiöse, ethnographische Domäne.
Jedoch, in meinem Fall, was mich mehr gekennzeichnet hat, war die Tatsache, dass
ich mehr, oder ausschließlich aufgrund meiner jüdischen Herkunft gelitten habe. Das
als eine scholastische Frage zu verstehen, wenn Tatsache ist, dass es die Realität des
Krieges war, die mich verletzt hat, und zwar in der Zeit, wenn das alles für ein Kind,
was ich damals war, unverständlich war…könnte ich wirklich nicht. Ich wusste nicht,
warum alles so passiert, und die Welt erklärte mir, es sei so, weil ich Jude bin.15
Heutzutage kann man sich in den meisten Ländern die religiöse Angehörigkeit mehr
oder weniger aussuchen, oder wird väterlicherseits bestimmt, wie es jahrelang in
vielen Ländern üblich war und teilweise immer noch der Fall ist. Dies gilt aber nicht 12 Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage. Bd. 2. Reinbek: Rowohlt 1994. S. 132. 13 Halacha (Mehrzahl Halachot, neuhebr., "Gang, Wandel"), im weiteren Sinn ein Gesetz, nach welchem sich der Lebenswandel
des Israeliten zu richten hat, und deshalb die Bezeichnung für sämtliche Satzungen des schriftlichen und mündlichen jüdischen Gesetzes, wie sie in dem Schrifttum der Mischna, der Mechilta, des Sifra und Sifre, der Tossefta und den beiden Talmuden ihre Darstellung gefunden haben. http://www.retrobibliothek.de/retrobib/seite.html?id=107527 (05.11.2010)
14 Leda Tenório da Motta ist Professorin im Rahmen des Programms des Aufbaustudiums „Kommunikation und Semiotik“ am Institut PUC/SP (Pós Graduação stricto sensu) in São Paulo, Brasilien. Zu ihren Tätigkeiten zählen außerdem Übersetzungen, sowie Literatur- und Kulturkritik. http://www4.pucsp.br/pos/cos/docentes/leda_motta.html (05.11.2010)
15 „Savest jedne nepoznate Evrope“ [A consciência de una Europa oculta, Das Bewusstsein eines unbekannten Europas]. Gespräch mit Leda Tenorio da Motta (1986). In: Danilo Kiš. Gorki talog iskustva [Der bittere Bodensatz der Erfahrung]. Hg. v. Frano Cetinić-Petris, Predrag Lucić u.a. Split: Feral Tribune, 1997.S. 180. (Übers. d. Verf.)
19
für die Juden in Israel und einigen immer noch geschlossenen jüdischen
Gesellschaften in anderen Ländern. Allein dadurch lässt sich die tatsächliche Zahl
der Juden schwer bestimmen.
Überlegungen zu diesem Thema gibt es ausreichend, wie z.B. warum es so
kompliziert ist, einen Gijur16, den Übertritt zum Judentum, zu machen. Ist „jüdisch
sein“ eine nationale oder religiöse Angehörigkeit? Denn unter Juden findet man
Menschen unterschiedlicher ethnischen Gruppen, unterschiedlicher Hautfarbe,
offensichtlich mit unterschiedlichem genetischem Ursprung.
Die Identitätsfrage ist auch sonst eine Frage der Existenz, der Persönlichkeit und der
Verschiedenheit jedes Individuums.
Predrag Finci17, Schriftsteller und Gastforscher an der London’s global university
(UCL), hat sich im Rahmen seines Lebenswerks intensiv mit der „Judenfrage“
befasst. In einem seiner zahlreichen Beiträge zu diesem Thema, Die Judenfrage
oder über die Identität18, beschreibt er das „Jüdischsein“ als Andersartigkeit, die aus
dem Sozialstatus hervorgeht und in Metaphern über die Auserwähltheit und die
Verdammung vorleuchtet. Diese zwei Bestimmungen setzen einander voraus,
ergänzen sich gegenseitig und durchdringen einander. Ganz egal, ob die
Auserwähltheit aus der Verdammung hervorgeht oder die Verdammung aus der
Auserwähltheit resultiert, in beiden Fällen wird die jüdische Andersartigkeit bestätigt,
die gleichzeitig ihre Vorteile und Nachteile aufzeigt.
Gegen den Willen oder freiwillig, so Finci, werden Juden oft mit der gesamten
jüdischen Population gleichgestellt. Dabei wird man auf Grund allgemeiner Vorurteile
charakterisiert und beginnt mit der Zeit das Schicksal des gesamten Volkes zu
tragen. Das Gefühl der Verantwortung für die Gesamtheit könnte zum großen Teil
16 Der Prozess des Gijur bezeichnet den Beitritt eines Nicht-Juden zum Judentum. Das Judentum betrachtet Kinder einer
jüdischen Mutter als jüdisch, oder Menschen, die den Prozess des Gijur mit der Anerkennung eines Rabbinatsgerichtes, dem Bet Din, abgeschlossen haben, d. h. dem jüdischen Volk beigetreten sind. http://www.calsky.com/lexikon/de/txt/k/ko/konversion__religion_.php (05.11.2010)
17 Predrag Finci arbeitete bis 1993 an der Philosophischen Fakultät in Sarajevo als Professor der Ästhetik. Seit 1993 bis heute lebt und arbeitet er in London als freischaffender Autor und Gastforscher an der London’s global university (UCL).
18 Der Beitrag von Predrag Finci, Jevrejsko pitanje ili o identitetu (Die Judenfrage oder über die Identität, übers. d. aut.), entstand 1992 und wurde zum ersten Mal im Rahmen der wissenschaftlichen Tagung im September des gleichen Jahres der Öffentlichkeit präsentiert. Er erschien 1995 in Sarajevo im Sammelband Sefarad 92, in Zusammenarbeit des Instituts für Geschichte und der Jüdischen Gemeinschaft Bosnien-Herzegowinas.
20
seitens der Kirche und des Staates entstanden sein und geht tief in die Geschichte
zurück.
Zum Teil wurde man als Jude verachtet, weil man als eigenartiger Ankömmling galt,
der sich streng und stur an seine seltsame Bräuche und Sitten hält. Man scheute die
gesellschaftliche Eindringlichkeit, beschuldigte für den Gottesmord.19
Sie sind das Urbild des „anderen“, des Fremden, der unverständlicherweise auf seiner
Religion, seinen Verhaltensweisen und seinem Lebensstil beharrt, die so ganz anders
sind als die der Gesellschaft, die ihn beherbergt.20
In seinem Werk Angst im Abendland stellt Jean Delumeau zwei große
Anschuldigungen gegen den in der Religion verwurzelten „Fremdling“ fest, zum einen
waren sie „böse Wucherer, Blutsauger der Armen und Brunnenvergifter“ und zum
anderen das „gottesmörderische Volk“ seitens der Kirchenkreise, womit dem
wirtschaftlichen Antisemitismus eine gewisse theoretische Rechtfertigung gewährt
wurde. „Von daher tritt die Unzulänglichkeit der Geschichtsschreibung zutage, die in
der Judenfeindlichkeit nur wirtschaftlich begründeten Neid und in der Verfolgung der
Juden nur ein bequemes Mittel zu Aneignung ihrer Güter gesehen hat“.21
Als verfluchtes Volk – das seine Verfluchung im Moment der Verurteilung Jesu gewollt
hatte – war es der Strafe geweiht.[…] Als gottesmörderisches Volk wollen die Juden
Jesus noch immer töten. Daher durchbohren sie Hostien und gießen das kostbare
Naß des Kelchs auf den Boden.22
Eine bedingt plausiblere Behauptung legt Hannah Arendt in Elemente und Ursprünge
totaler Herrschaft dar, welche besagt, dass Juden wegen ihrer Vertrautheit mit der
Staatsregierung in der Regel mit der Macht identifiziert und gleichzeitig wegen der
Abtrennung von der Gesellschaft und der Orientierung auf den geschlossenen
Familienkreis im Sinne der Zerstörung aller Sozialstrukturen verurteilt wurden. In der Erhaltung des jüdischen Volkes hat in der Tat die Familie eine beispiellose
Rolle gespielt, und Familienbande sollten auch noch in der Zeit der Assimilation und
19 Vgl. Finci, Predrag: Jevrejsko pitanje ili o identitetu. In: Sefarad 92. Zbornik radova (sa znanstvenog skupa), Sarajevo 11. -
14. septembar 1992. Sarajevo: Institut za istoriju; Jevrejska zajednica Bosne i Hercegovine 1995. S. 221-231. 20 Delumeau, Jean: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts (Bd. 2).
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978. S. 413. 21 Ebd. 419. 22 Ebd. 432.
21
Emanzipation sich als die konservierendsten Volkskräfte erweisen. […] Je weniger die
Fortexistenz des jüdischen Volkes durch die halb religiösen und halb nationalen
Gebräuche innerhalb der Gemeinde und ihrer Autonomie gesichert war, desto stärker
versteifte sich das Volksbewußtsein in ein Familienbewußtsein, desto mehr erschien
dem einzelnen Juden ein anderer Jude als das Glied der gleichen großen Familie.“23
„[…] die Juden wurden im Laufe des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts zu
der einzigen Gruppe in den europäischen Staaten, deren Stellung und Funktion sich
aus dem Verhältnis zu dem politischen Körper […] ergab, da dieser politische Körper
außer den Juden keine gesellschaftliche Gruppe hatte, auf die er sich stützen konnte
oder mit der der Machtapparat hätte identifiziert werden können. Sie waren zweifellos
den anderen nicht gleich […], aber diese Ungleichheit hatte einen ganz anderen
Charakter. […] Darin gerade, worin alle anderen trotz aller sozialen Differenzierungen
gleich waren, in ihrem Verhältnis zum Staat, also als Staatsbürger, unterschieden sich
die Juden. Sie hatten ein anderes, spezielles Verhältnis zum Staat und konnten nicht
ohne weiteres Staatsbürger sein, sie waren die einzigen, die man erst einbürgern
mußte und deren Einbürgerung von Leistungen an den Staat, von bestimmten
Verdiensten abhängig gemacht war.24
Die Regierung, die sie durch einen besonderen Schutz hütet, beraubt sie zur
gleichen Zeit bestimmter Rechte und Möglichkeiten, um somit ihre Assimilation zu
ermöglichen. Dies schafft als Ergebnis einen allgemeinen Hass gegenüber
jüdischem, der Macht beraubtem Reichtum, der sich mit einem vernünftigen Instinkt
erklärt, dass Macht eine bestimmte Funktion und eine allgemeine Anwendbarkeit
aufweist, denn Macht ohne ersichtliche Funktion soll nicht toleriert werden.
Beide, Delumeau und Arendt verankern ihre Argumentation des jüdischen
Phänomens im gesellschaftlichen Status der Juden. Jedoch soll festgehalten
werden, dass nicht alle Juden reich, berühmt, einflussreich oder religiös sind. Nicht
alle sind „auserwählt“.
Eine der erprobten Weisen, einen Menschen in die Gesellschaft aufzunehmen, ist
seine Assimilierung. Sogar Karl Marx war von einer solchen Idee angetan. In seinem
berühmten 1844 veröffentlichten Aufsatz Zur Judenfrage widmet er sich der
politischen und menschlichen Emanzipation, als Antwort auf zwei 1843 erschienene
Texte von Bruno Bauer, Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu
23 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. (Bd. 1: Antisemitismus). Frankfurt/M: Ullstein 1975. S. 59. 24 Ebd. S. 38.
22
werden und Die Judenfrage, wobei er sich dem Ansatz der „Emanzipation von der
Religion“ und der Gleichstellung der politischen und menschlichen Emanzipation von
Bauer entgegenstellt, und erklärt, dass „volle politische Emanzipation durchaus mit
der fortwährenden Existenz und Praxis von Religion möglich sei“.
Allerdings war und blieb der Widerstand gegen die Emanzipation vielfältig. Er kam
sowohl seitens des orthodoxen Judentums, der sekulären und der Kirchenregierung
als auch seitens der öffentlichen Meinung. Die einen haben vor der doppelten
Loyalität, der neuen Angehörigkeit und der alten Herkunft gewarnt, die anderen vor
der Möglichkeit der Adaptierung.
So wurde weiterhin nach anderen Lösungen gesucht. Eine solche Lösung spiegelte
sich in der Vermeidung jeglicher unnötiger Hervorhebung, im Sinne der
Aufrechterhaltung der Neutralität und Unbestimmbarkeit, wie sie Finci beschreibt,
falls klassenbedingte, ideologische oder nationale Auseinandersetzungen zustande
kommen sollten. Jedoch wurde das jüdische Volk dadurch weder weniger ausgesetzt
noch weniger verletzlich. Manche orientierten sich sogar nach dem Anationalismus,
was möglicherweise auch den erheblichen Anteil der Juden in der Internationalen
Kommunistischen Bewegung erklärt.25
Auch in dieser Hinsicht ist die Idee von Karl Marx zu erwähnen, die besagt, dass je
mehr Gedanken man sich über seine Herkunft macht, desto weniger kann man ein
kompletter Mensch sein.
Diejenigen, die trotzdem auf eine vollständige Sesshaftwerdung in einer
gleichberechtigten Gesellschaft gehofft haben, machten die Erfahrung der Nichtigkeit
der deklarativen Demokratie, insbesondere im Fall der sogenannten nationalen
Demokratie, wo ein Angehöriger einer Minderheit doppelt so gut sein muss, um
überhaupt gleichberechtigt zu sein.
Intellektuelle waren diejenigen, die eine Enträtselung widersprüchlicher Fragen über
die Existenz und jüdische Identität angeboten haben, erklärt Finci. Hierbei haben sie
durchschaut, dass das jüdische Volk keine Ausgliederung, sondern
Gleichberechtigung braucht. Sie brauchen weder die Vergötterung noch die
Satanisierung, sondern als normale Menschen akzeptiert zu werden. Anstelle von 25 Vgl. Finci, Predrag: Jevrejsko pitanje ili o identitetu. In: Sefarad 92. Zbornik radova (sa znanstvenog skupa), Sarajevo 11. -
14. septembar 1992. Sarajevo: Institut za istoriju; Jevrejska zajednica Bosne i Hercegovine 1995. S. 221-231.
23
der Idee über die bereits erwähnte Emanzipation, die am wenigsten effizient
erscheint, wird das Verständnis mit den „Anderen“ und die Kommunikation mit den
„Verschiedenen“ als Lösung angeboten.26
Im Rahmen solcher Bestrebungen stellt Finci die Frage nach dem Unterschied, wie
man ihn bei einem „jüdischen Philosoph“ und einem „Philosoph jüdischer Herkunft“
findet, denn auch hier tritt der Unterschied hervor zwischen denen, die nach ihrer
national-religiösen Herkunft fahnden, und solchen, die durch die Assimilation ihre
Identität durch die Eigenständigkeit und das eigene Selbstgefühl beweisen. Der
jüdische Philosoph verneint die Bedeutung der Eigenständigkeit, da sie nach der
jüdischen Tradition nicht im Einklang mit der geringen Bedeutung der Einzelperson
steht. Der Philosoph jüdischer Herkunft weist auf, dass mit der Lösung des
Identitätsproblems nicht nur die Frage der eigenen Legitimation aufgeklärt wird, auch
das Seelenleben findet innere Ruhe und Ordnung. Der erste glaubt Jude zu sein,
weil er auserwählt wurde, dem jüdischen Schicksal anzugehören, während der
andere weiß, dass er jüdisch sein kann, ohne unbedingt religiös sein zu müssen.
Trotzdem haben beide die gleiche Aufgabe – die „Anderen“ und das „Andersartige“
zu verstehen. Anderenfalls könnte sich die gegenseitige Verleugnung ins Unendliche
strecken.
Durch das Merkmal des Andersseins ohne Schuld oder Verdienst im Fall des
jüdischen Volkes führt oft zur Verfolgung eines unerwiesenen Verantwortungsgefühls
für die Allgemeinheit, sowie zur Angst vor der Vereinsamung, sogar zum Gefühl der
Kollektivschuld.
Man spricht nur die Sprache, die einem die Mutter beigebracht hat, fühlt sich zu
Hause da, wo man geboren ist, mag die einheimische traditionelle Küche, schätzt
und liebt Sitten und Bräuche dieser Heimat und liebt Menschen mit welchen man
aufgewachsen ist. Trotzdem vergessen die „Anderen“ nicht, einen daran zu erinnern,
wer man eigentlich ist. Nichts kann einen davon erlösen oder beschützen.
Das Leiden der Opfer beschreibt Finci als unauslöschbar, denn es bleibt auch dann,
wenn das Opfer entschwindet. Es hört nicht auf, es bedrängt durch die Erinnerungen.
26 Vgl. Ebd.
24
Und die Erinnerungen sind das Fundament für die Identitätsbildung, in welcher alle
Dimensionen der Zeit zusammen kommen, sogar jene die wir nicht erlebt haben.
Der Bezug zum Judentum und zum Krieg, als einem für sehr lange Zeit privilegierten
Thema und als einem der wichtigsten Ereignisse des Jahrhunderts, hat sich deutlich
geändert im Vergleich mit früheren Generationen der Schriftsteller. Es schreiben
nicht mehr die Krieger und die Sieger, sondern die Zeugen und jene, die gelitten
haben, was den Blickwinkel auf das historische Ereignis wesentlich verändert hat.
Der Krieg ist zu einer Metapher oder Kulisse geworden. Das historische Ereignis an
sich ist daher nicht mehr der wichtigste Bezug für den Autor, es kann sich auch in
eine Metapher oder Kulisse umwandeln.
3.1 Danilo Kiš und sein Bezug zum Judentum
Um den Bezug Danilo Kišs zum Judentum näher zu erläutern, ist erforderlich, seine
Biographie in wenigen Worten wiederzugeben.
Danilo Kiš wurde am 22. Februar 1935 in Subotica (Serbien, Vojvodina) geboren.
Sein Vater, Eduard Kiš (bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr Eduard Kohn) war ein
ungarischer Jude und seine Mutter, Milica, eine Montenegrinerin. Seine Schwester
Danica kam vor ihm, 1932 zur Welt.
In Subotica lernten sich sein Vater Eduard Kiš, ehemaliger Oberinspektor der
Staatsbahnen und Schreiber des Fahrplanes des Eisenbahn-, Bus-, Schiff- und
Flugverkehrs, und seine Mutter, Milica Dragičević, eine montenegrinische Schönheit,
kennen die zum ersten Mal weit entfernt von ihrem Heimatortes Cetinje, zu Besuch
bei ihrer Schwester war, kennen.
Ich habe keine Kinder und diese eigenartige Rasse wird mit mir zusammen erlöschen.
Mit diesen zwei Religionen hat sich im bestimmten Augenblick eine dritte
zusammengetan, nämlich Katholizismus, über welchen ich in der Schule, in Ungarn,
belehrt wurde. Das Aufeinandertreffen der zwei ähnlichen und wegen vielen Dingen
unterschiedlichen Welten, das Bewusstwerden der zweifachen Zugehörigkeit war wie
ein Schock, insbesondere nach dem Krieg. Einerseits die epische Tradition der
serbischen Heldenlieder, welche meine Mutter zusammen mit der strengen Realität
25
des Balkans auf mich übertragen hat, und andererseits die mitteleuropäische Literatur
und die ungarische Poesie der Barockzeit. Dieser Mischung, zusammengesetzt aus
Zusammenstößen und Kontradiktionen, schließt sich mein jüdisches Wesen an, und
zwar nicht im religiösen Sinne, sondern in einer wesentlich kulturellen Optik, als
Erforscher.27
Im Jahr 1937 zieht die Familie Kiš aus Subotica nach Novi Sad. 1939. Zur Zeit der
Verabschiedung der antijüdischen Gesetze, wird Danilo Kiš nach orthodoxen
Bräuchen getauft.
1941 fängt der Krieg an. „[…] im Schuljahr 1940/41 begann ich in Novi Sad die
serbische Volksschule zu besuchen, und am 27. März 1941 schwenkte ich ein
jugoslawisches Fähnchen und skandierte mit der Klasse ‚Lieber Krieg als Pakt!’
(einen rätselhaften Satz mit assonierendem Reim, dessen Bedeutung ich freilich
nicht verstand), während in der Auslage des Friseurladens das Porträt des jungen
Königs zu sehen war – im Halbprofil, wie auf den Marke.“28
Kurz darauf führen ungarische Soldaten Kišs Vater ab. Er bleibt am Leben, „einem
Wunder zu danken“. „Das Wunder war, daß die Löcher, die man in das Eis auf der
Donau geschlagen hatte, um die Leichen zu versenken, überfüllt waren.“29
Zusammen mit der Familie zieht Kiš 1943 nach Westungarn, in das Heimatort seines
Vaters. 1944 wird Eduard Kiš gemeinsam mit der Mehrheit seiner Verwandten nach
Zalaegerseg, und weiterhin nach Auschwitz gebracht, von wo er nie mehr
zurückkehrt.
Ich sehe bis heute, wie er in Wagen, Fiaker, Züge, Straßenbahnen steigt. Wir
erwarten ihn oder geben ihm das Geleit. […] Oder bei unserm letzten Besuch, 1944 in
Zalaegerseg, in einem improvisierten Ghetto, von hier aus sollte er weggehen, für
immer verschwinden.30
1947 flüchtet Danilo zusammen mit seiner Mutter und der Schwester über das Rote
Kreuz nach Cetinje, zu seinem Onkel, der ein bekannter Historiker war. Seine Mutter
Milica stirbt 1951.
27 „Ironičan lirizam“ [Der ironische Lyrismus]. Gespräch mit Karen Rosenberg (1986). In: Danilo Kiš. Gorki talog iskustva [Der
bittere Bodensatz der Erfahrung]. Hg. v. Frano Cetinić-Petris, Predrag Lucić u.a. Split: Feral Tribune, 1997. S. 255. (Übers. d. Verf.)
28 Rakusa, Ilma (Hg.): DaniloKiš. Homo poeticus. Gespräche und Essays. München, Wien: Carl Hanser 1994. S. 19. 29 Ebd. S. 229. 30 Ebd. S. 20.
26
1954 fängt er sein Studium an der Philosophischen Fakultät in Belgrad an und
schließt es 1958 ab als erster Student der erst eingeführten Studienrichtung
Literaturgeschichte und Literaturtheorie.
1976 fängt die große Hetze um Danilo Kiš und sein Buch Ein Grabmal für Boris
Dawidowitsch.
Dem Autor wurde ein Plagiat, unkorrektes Handhaben historischer Urkunden und
sogar wortwörtliches Abschreiben vorgeworfen. Die gesamte Diskussion bekam
einen ethischen Rahmen, mit der Beleidigung, Kiš wäre eine unmoralische Person.
Diese Folge der Geschehnisse deutet auf die Darstellungsstrategien hin, welche
Autors Gegner befürwortet haben, bevor sie gezwungen wurden, ihre wahren
Vorhaben zu offenbaren. Änderungen und liberalisierte Strömungen in der Kultur
Jugoslawiens in den 70-er Jahren haben eine direkte Attacke auf Kiš wegen seiner
„ideologischen Verfremdungen“ nicht erlaubt, die Hüter des Totalitärregimes aber zu
einer anderen Taktik gezwungen. Auf die Hetzkampagne, die gegen das Buch Ein
Grabmal für Boris Dawidowitsch Kiš betrieben wurde, wird im weiteren Teil dieser
Arbeit näher eingegangen.
Das Judentum in Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch hat eine zweifache (literarische)
Bedeutung: Einerseits stellt es im Zusammenhang mit meinen früheren Büchern eine
notwendige Verbindung her und erweitert die Mythologeme, die ich verarbeite (und
auf diese Weise verschafft es mir, über das Problem des Judentums, die
Zugangsberechtigung zu einem Thema, sofern man dafür eine Zugangsberechtigung
braucht), und andererseits ist das Judentum hier, wie auch in meinen früheren
Büchern, nur ein Verfremdungseffekt. Wer das nicht versteht, versteht nichts von den
Mechanismen der literarischen Transposition.31
Im Oktober 1979 zieht er nach Paris, wo er in einer „freiwilligen Verbannung“ lebt,
und Serbokroatisch bis 1983 unterrichtet.
1981 trennt sich Kiš von seiner Frau, Mirjana Miočinović, die er 1962 geheiratet hat,
und verbringt den Rest seines Lebens mit Pascale Delpech.
Am 15. Oktober 1989 stirbt Danilo Kiš an Lungenkrebs. Begraben wurde er in
Belgrad nach orthodoxen Bräuchen und Ritualen.
Das Thema des Judentums in Werken Danilo Kišs hat ebenfalls eine historische
Bedeutung, weil die Juden, wie er zu sagen pflegte, „historisches Paradigma unseres
31 Kiš, Danilo: Anatomiestunde. München: Carl Hanser 1998. S. 53f.
27
Jahrhunderts“ sind. Paradigma des Volkes, der Opfer und die Metapher für die
zahlreichen Judenmorde in Konzentrationslagern, aber ebenso für die intellektuelle
und kämperische Teilnahme an kommunistischen Revolutionen.
Nun gerade ist es auffällig, dass Kiš in seiner berühmten Familientrilogie das
Konzentrationslager Ausschwitz, in welchem sein Vater verschwand, nicht erwähnt,
was durchaus merkwürdig ist für einen Autor, der zur Präzision, Wahrheit und
Dokumentation neigt32.
Während er ablehnt, als ein „Autor der Minderheit“ oder als „jüdischer Autor“
abgestempelt zu werden, lehnt er die Angehörigkeit dem jüdischen Volk und seine
kreative Beziehung zur jüdischen Tradition nicht ab. Das Judentum nimmt er als
„Schande des Kosmopolitismus“, als einen Aspekt der Verneinung der
„Minderheitenangehörigkeit“ und des „Sektierertums“ an.
Ob wir es wollen oder nicht, das Judentum ist eine ganz außergewöhnliche „condition
humaine“, die für das von ihr betroffene Individuum – ohne Rücksicht auf Zeit, Raum
oder Gesellschaftssystem – negative Folgen hat.33
Die Tatsache, dass das Judentum ein historisches Paradigma ist, lässt er nicht
bestreiten, denn das hat ihn auch, abgesehen von persönlicher und übler Erfahrung,
der jüdischen Thematik hingezogen. An dieses Thema ist er, wie er selbst zugesteht,
äußerst vorsichtig herangegangen.
Als positives Beispiel im Bezug auf das Judentum führt er Franz Kafka an, der aus
der Sicht von Danilo Kiš eine bezeichnender mitteleuropäischer Autor war.
Außerdem erwähnt er Isaac Bashevis Singer, der die Welt der polnischen Juden in
Amerika wieder zum Leben erweckt hat und somit der Inbegriff des Schicksals eines
mitteleuropäischen Juden ist.
Was das Judentum angeht, so sind Kafka oder Singer positive Exempel; auch bei
ihnen geht es erstrangig um Literatur, und das Problem des Judentums erscheint auf
ganz unterschiedliche Weise als tragische Sicht der Welt und des Lebens.34
32 Näheres dazu im Kapitel 6.4.5. 33 Rakusa, Ilma (Hg.): Danilo Kiš. Homo poeticus. Gespräche und Essays. München, Wien: Carl Hanser 1994. S. 194. 34 Ebd. S. 191.
28
Für Kiš stellt das Judentum die dominierende Quelle des tragischen Lebensgefühls35
dar. Das tragische Lebensgefühl bringt die Gefahr der pathetischen Rede mit sich,
welche durch die Ironie gebremst wird.
An einer anderen Stelle spricht Kiš über das Judentum als verschwundene Welt im
Mitteleuropa und erwähnt dabei seine zwei Hauptrollen, Eduard Sam als Vater aus
der Familientrilogie und Boris Dawidowitsch, als Synekdochen der verschwundenen
Welt.
Diese drei Bücher bilden ein Triptychon. Drei Sichtweisen, drei Annäherungen an
dieselbe Realität, in deren Mittelpunkt Eduard Sam, E.S., der Verschwundene, steht,
die Zentralfigur einer ebenfalls verschwundenen Welt. Der jüdischen Welt
Mitteleuropas.36
Jovan Delić spricht in seinem Buch Literaturansichten Danilo Kišs37 darüber, wie
Juden die Kultur des Mitteleuropas entscheidend gekennzeichnet haben, und obwohl
das Kiš nicht besonders hervorhebt, zweifellos seine hervorragenden Reichweiten
darstellen. Es ist paradox und tragisch, dass gerade Mitteleuropa die
Antisemitismuswelle ergriffen hat, die sich in eine „Festlandsintflut“ verwandelt hat,
wie Kiš oft sagte. Das Judentum gab der mitteleuropäischen Landschaft die
bestimmte Farbe und Ton. Es stellte einen integrativen Faktor zwischen den Kulturen
dar, und ermöglichte gleichzeitig den schnellen Ideenfluss durch seinen
Kosmopolitismus. Es diente zur gleichen Zeit auch als „dynamische Macht“, weil
gegen und in Bezug auf das Judentum „nationalistische Verbände und
demokratische internationalistische Phänomene“ formiert wurden.
Kiš bezeichnete sich auch selbst nach seiner Herkunft, insbesondere literarischer
Herkunft, als mitteleuropäischer Schriftsteller. In seinem Fall spielten mindestens drei
Komponenten eine Rolle – die Tatsache, dass er (Halb)Jude war, dass er sowohl in
Ungarn als auch in damaligem Jugoslawien mit zwei Sprachen und zwei Literaturen
gelebt hat sowie dass er die westliche, die russische und die jüdische Literatur
gerade zwischen Wien, Budapest, Zagreb und Belgrad kennen gelernt hat.
Sofern ich mich durch Stil und Sensibilität von der serbischen oder jugoslawischen
Literatur unterscheide, könnte man das den mitteleuropäischen Komplex nennen. Ich
35 Kiš verknüpft den Begriff bewusst mit dem 1913 erschienenen Essay Das tragische Lebensgefühl von Miguel de Unamuno. 36 Rakusa, Ilma (Hg.): Danilo Kiš. Homo poeticus. Gespräche und Essays. München, Wien: Carl Hanser 1994. S. 234. 37 Vgl. Delić, Jovan: Književni pogledi Danila Kiša. Sarajevo: Zavod za udžbenike i nastavna sredstva 2004.
29
betrachte mich als mitteleuropäischen Schriftsteller bis ins Mark, aber jenseits des
eben Gesagten ist es schwer zu definieren, was das für mich bedeutet und woher es
kommt.38
Sprache war sein Schicksal und seine Kultur. Sie war seine einzige Heimat, pflegte
Kiš zu sagen.
Über Juden zu schreiben, Juden als Helden seiner Texte zu haben, das betrachtet
man bei uns als eine Art rassisch-religiös-nationale Bestimmung, und manche Kritiker
würden mich, wenn sie könnten, am liebsten in die hebräische Literatur einordnen und
mich drängen, wenn schon nicht hebräisch, dann wenigstens jiddisch zu schreiben.39
Kiš träumte in Serbokroatisch und schrieb seine Werke in Serbokroatisch. Er war der
Meinung, der Mensch kann nur eine Sprache wahrhaftig kennen – die Sprache in
welcher er schreibt. In einem seiner Essays beschreibt er deutlich die Problematik
der Herkunftsdefinition eines Schriftstellers.
[…] im Augenblick, da die nationalistischen Posaunen ertönen, muß man sich für ein
Volk, für eine Provinz und für eine Region entscheiden, muß man laut und deutlich
erklären, ob du zu uns gehörst oder zu ihnen, denn zu jemand mußt du ja gehören.
[…] Und ihnen zu sagen, du gehörst mit deiner Sprache, in der du träumst und in der
du schreibst, du gehörst also dieser unserer Literatur an […], ihnen also dann zu
sagen, du bist, aus diesem Blickwinkel betrachtet (im Sinne der Tradition), ein
jugoslawischer Schriftsteller, dann hält man das für eine Art literarische Lüge oder
Heimatlosigkeit, für Heimlichkeit, die Mitleid oder Wut auslöst, denn mit dieser
Bestimmung hast du deine innere Zugehörigkeit zu verdecken, zu verheimlichen
versucht, […] ein ewiger Jude.40
Auf eine Art fing das Leben von Danilo Kiš mit zwölf Jahren neu an. Nachdem er mit
seiner Mutter aus Ungarn wieder nach Serbien zog, musste er die Muttersprache von
neu an lernen und um Anerkennung und Akzeptanz der Schulfreunde kämpfen, was
er seinen Heldentaten dank auch geschafft hat. Er hat sich mit den stärksten Jungs
aus der Klasse geprügelt und wurde somit die lange angelagerte und unterdrückte
Wut los.
38 Rakusa, Ilma (Hg.): Danilo Kiš. Homo poeticus. Gespräche und Essays. München, Wien: Carl Hanser 1994. S. 221f. 39 Kiš, Danilo: Anatomiestunde. München: Carl Hanser 1998. S. 51. 40 Ebd. S. 52.
30
Ein jüdisches Kind im Kriegsungarn mußte sich von den Schwächsten vermöbeln
lassen.41
Im Interview mit dem schwedischen Essayisten und Kritiker Gabi Gleichman,
erschienen im Globe 1986, auf die Frage ob er durch den neuen Anfang sein
Judentum verloren hat, antwortet Kiš:
Ich habe es versucht. Und meine Mutter wollte mir dabei helfen. Ein Jahr vor ihrem
Tod, ich war fünfzehn, zwang sie mich unter dem Vorwand, daß Jude sein nur Unglück
bringe, meine in der Synagoge von Subotica registrierte Geburtsurkunde zu zerreißen.
Obwohl ich ihre Meinung teilte, wollte ich mit meinem Leben nicht moglen und die
Leiden einer ganzen Welt leugnen. Einer verschwundenen Welt.42
3.2 Ilse Aichinger, die Halbjüdin Die 1921 in Wien geborene Schriftstellerin Ilse Aichinger, eine der wichtigsten
deutschsprachigen Autoren der Gegenwart43, Tochter eines arischen Vaters und
einer jüdischen Ärztin, verarbeitete die Kriegsgeschehnisse und ihren eigenen
Schicksal als „Halbjüdin“44 in Österreich auch auf ihre Art und Weise – durch das
Schreiben.
Im Gespräch mit der Literaturjournalistin und Autorin Brita Steinwendtner sagt
Aichinger, dass das Schreiben ihr ermöglicht habe „[…] auf der Welt zu bleiben“. Ich glaube, daß ich es nötig gehabt habe, sonst hätt’ ich es nicht getan. Im Roman Die
größere Hoffnung zum Beispiel dachte ich zuerst, ich schreib einen Bericht, damit
man weiß, was geschehen ist. Das war’s nicht.“45
Seit dem Erscheinen des Romans Die größere Hoffnung im Jahre 1948 gehört Ilse
Aichinger zu den wichtigsten Autoren der österreichischen Nachkriegsliteratur. Neue
41 Rakusa, Ilma (Hg.): Danilo Kiš. Homo poeticus. Gespräche und Essays. München, Wien: Carl Hanser 1994. S. 231. 42 Ebd. S. 231. 43 Vgl. Haase Horst (Hg.): Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts. Einzeldarstellungen/Von einem Autorenkollektiv unter
Leitung von Horst Haase und Antal Mádl. Berlin: Volk und Wissen Verlag 1988. S. 540-562. 44 Ilse Aichinger bezeichnet sich selbst als „Halbjüdin“ als Antwort auf den von den Nationalsozialisten eingeführten Begriff. Vgl.
Vinke, Hermann: Das kurze Leben der Sophie Scholl: Interview von Ilse Aichinger. Ravensburg: Maier 1980. S. 180. 45 Bartsch, Kurt und Gerhard Melzer (Hg.): Ilse Aichinger. Dossier. Die Buchreihe über österreichische Autoren. Band 5. Graz:
Literaturverlag Droschl 1993. .S. 7.
31
österreichische Literatur war mit ihr geboren, ein neuer Zugang zur Sprache und
Struktur wurde eröffnet, oder einfach gesagt - „es begann mit Ilse Aichinger“46.
Im Roman Die größere Hoffnung ist die Konfrontation der kleinen Ellen, der
Hauptprotagonistin des Romans, mit Judentum und der Bedeutung des Jüdischseins
mit einer durchaus negativen Assoziation verbunden.
In Die größere Hoffnung schildert die damals sechsundzwanzigjährige Schriftstellerin
Kriegsereignisse aus der Sicht eines halbjüdischen Mädchens. In 10 Kapiteln wird
die Leidensgeschichte der kleinen Ellen während der Zeit des Nationalsozialismus in
Österreich erzählt.
Ellen, ein kleines Mädchen mit zwei „richtigen“ und zwei „falschen“ Großeltern, ein
Kind mit welchem „irgendetwas nicht in Ordnung ist“. Sie möchte ihrer, von
Nürnberger „Rassegesetzen“47 zur Volljüdin erklärten Mutter und der
Zwillingsschwester, welche nach Amerika emigriert sind, folgen, sie bekommt jedoch
kein Visum.
Auch in diesem Werk wird die schon erwähnte komplexe Frage zur Definition des
Jüdischseins aufgeworfen. Ellen ,zusammen mit den sieben jüdischen Kindern, um
deren Freundschaft sie sich bemüht, verstehen weder was es bedeutet, „jüdisch“ zu
sein, noch den Grund, warum sie verfolgt werden. Die „Nürnberger Gesetze“ stellen
für sie die einzige Orientierung dar, indem sie ihnen anhand der Anzahl der
„volljüdischen“ Großeltern die Identitätsrichtlinie vorgeben. Am Anfang wird Ellen
abgewiesen.
Mit zwei falschen Großeltern! Das ist zu wenig.48
Unsere Großeltern haben versagt: Unsere Großeltern bürgen nicht für uns. Unsere
Großeltern sind uns zur Schuld geworden. Schuld ist, daß wir da sind, Schuld ist, daß
wir wachsen von Nacht zu Nacht. Vergebt uns diese Schuld. Vergebt uns die roten
46 Weigel, Hans: „Es begann mit Ilse Aichinger“. In: Aufforderung zum Misstrauen. Hg. Otto Breicha. Salzburg: Residenz 1967. 47 Seit 24. Mai 1938 galten die sogenannten „Nürnberger Gesetze“ auch in Österreich. Sie belegten: „Auf Grund der Nürnberger
Gesetze ist Jude, wer von vier, mindestens aber drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt. Als Jude gilt auch der von zwei volljüdischen Großeltern abstammende staatsangehörige Mischling, wenn er am Tage des Erlasses des Gesetzes, am 15.9.1935, der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörte oder mit einem Juden verheiratet war. Ein jüdischer Mischling, der von zwei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammte, jedoch am 15. September 1935 nicht der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörte, war Halbjude und wurde als Mischling ersten Grades bezeichnet. Wer nur einen jüdischen Großelternteil hatte, war Vierteljude oder Mischling zweiten Grades.“ Vgl. Studia Judaica Austriaca. Bd. V. Der gelbe Stern in Österreich. Katalog und Einführung zu einer Dokumentation. Eisenstadt: Rötzer 1977. S. 114.
48 Aichinger, Ilse: Die größere Hoffnung. München: Süddeutsche Zeitung 2007. S. 30.
32
Wangen und die weißen Stirnen, vergebt uns uns selbst. […] Schuld sind die Alten an
uns, die Älteren an den Alten und die Ältesten an den Älteren.49
Cornelia Blasberg, Universitätsprofessorin an der Westfälischen Wilhelms-Universität
in Münster, spricht in ihrem Beitrag Ein unentschiedenes Spiel von elternlosen
Kindern, die aus unverstandenen Gesetzen die Schuld der Großeltern ableiten. Die
Definition des Jüdischseins interpretiert sie folgenderweise:
Kein Protagonist kennt sie oder macht sie durch sein Verhalten kenntlich, weder Opfer
noch Täter können sie geben. Das Jüdischsein, um das es dem Text geht, ist die
Negativprojektion eines programmatisch ungesagt bleibenden Positivums, Zitat aus
dem Mund der Antisemiten, Produkt der nationalsozialistischen Ideologie und deshalb
zwar nicht ohne Belang, aber doch ohne Aussagekraft für das Judentum.50
In weiterer Folge bezieht sich Blasberg auf Jean Paul Sartres Essay Betrachtungen
zur Judenfrage und das Phänomen der jüdischen „Assimilation“. Das Mischlingskind
Ellen will sich ebenfalls an „jüdische“ Kinder „assimilieren“, während sie von ihnen
abgewiesen und als nicht zugehörig betrachtet wird, obwohl sie auch selbst nicht
wirklich verstehen, warum sie Juden sind und was sie dazu macht.
Im Gespräch mit Manuel Esser erzählt Ilse Aichinger von der Bedeutung der
Friedhöfe, wo sie sich manchmal wohler gefühlt hat als in den „lebendigen Reichen“,
und von einigen der vielen Einschränkungen des Jüdischseins:
Es war offiziell den Juden und jüdisch Versippten, wie das so schön geheißen hat,
verboten, sich auf Bänke und in Parks zu setzen, in den Wiener Wald zu gehen, das
engere Stadtzentrum zu verlassen. Mein Großvater liegt auf dem jüdischen Friedhof.
Da sind wir oft hingegangen zu seinem Grab. Das war so ein merkwürdiger Picknick-
ort, aber doch ein sehr überzeugender. Und so viel Hoffnung, wie ich dort gehabt
habe, habe ich in meinem Leben sonst selten gehabt.51
49 Ebd. S. 43. 50 Blasberg, Cornelia: „Ein unentschiedenes Spiel“? Über Juden und Judentum in Ilse Aichingers Die größere Hoffnung. In:
„Was wir einsetzen können, ist Nüchternheit“. Zum Werk Ilse Aichingers. Hg. v. Britta Herrmann u. Barbara Thums. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001. S. 44.
51 Esser, Manuel: „Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist“. In: Ilse Aichinger. Leben und Werk. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage. Hg. v. Samuel Moser. Frankfurt/Main: Fischer 1995. S. 52.
33
4 Die Rolle des Erzählers in der Kindheitsliteratur Die Kindheitsliteratur ist an den erwachsenen Leser und nicht an die Kinder
adressiert, so wie die Kinderliteratur. Und da haben wir schon eine Definition, die den
Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen macht.
Mit Kindheitsliteratur wurde hingegen – sich mit der Kinderliteratur allenfalls marginal
überschneidend – jene die Kindheit problematisierende und reflektierende Literatur
von Autorinnen und Autoren bezeichnet, die relativ deutlich unterscheidbar eben nicht
dem Metier der Kinder- und Jugendbuch-Autorenschaft angehören.52
Es wird hier von Texten gesprochen, wo sich der Erzähler eindeutig auf jene Art und
Weise offenbart, so dass wir das Subjekt des Erzählens klar als ein Kind
determinieren können. Bedeutend ist, dass hier die Stimme und der Blick des
Erzählens einander entsprechen, was sich eben durch ein Überlappen der
Erzählerstimme mit dem Blick des Kindes, der dieser Stimme gehört, manifestiert.
Die Kinderperspektive als Erzählform in der Literatur anzuwenden, bedeutet, in
gewisser Weise die Wirklichkeit der Geschehnisse, welche gegebenenfalls in der
Kindheit des Erzählers stattfinden, wiederzugeben. Anders ausgedrückt, der Erzähler
setzt sich in die Figur des Kindes hinein, indem er aus der Kinderperspektive
schreibt.
Jedoch, der literarische Entschluss zu einer solchen Darstellung, so Seibert, sei nicht
nur ein inhaltlicher, sondern auch ein formaler Entschluss.
Kindheitsliteratur ist […] die kausale Ergänzung der erzählten Zeit durch die ihr als
frühestmögliche vorangehende Zeit. Im Sinne analytischer Technik greift die
Kindheitsliteratur auf jene Zeit- und Erlebnisraum zurück, der nach Rückwerts nicht
mehr zu überschreiten ist und in der Interpretation oft als Autobiographie
missverstanden oder tabuisiert wird.53
52 Seibert, Ernst: Kindheitsmuster in der österreichischen Gegenwartsliteratur. Zur Genealogie von Kindheit. Ein
mentalitätsgeschichtlicher Diskurs im Umfeld von Kindheits- und Kinderliteratur. Bd. 38. Frankfurt/Main: Peter Lang 2005. S.31.
53 Ebd. S.65.
34
Die Wahl der Kinderperspektive ist eine nicht selten getroffene, wenn sie in
Verbindung mit Nachkriegs- und Erinnerungsliteratur steht. Die Wahl einer solchen
Erzählperspektive kann für den Autor vieles bedeuten.
Der Begriff verweist einerseits auf die Ereignisse jener Zeit, der durch dieses
Schreibverfahren (re)konstruiert wird, und andererseits auf die historische Realität einer
Kindheit unter dem Nationalsozialismus.54
Welchen Hintergrund auch immer diese Wahl haben soll, bleibt der Kinderblick nach
wie vor sehr beliebt in der Literatur, nach 1945 genießt er sogar das höchste
Prestige.55
4.1. Der Erzähler im „Familienzirkus“ Der Roman Garten, Asche erschien 1965 als mittlerer Teil eines dreiteiligen
Familienzyklus. Kiš nannte es ironisch auch „Familienzirkus“ od. „Bildungsroman
einer literarischen Biographie“. Die Hauptfigur in der Trilogie ist der Vater, allerdings
sind der Blickwinkel und die Erzählstruktur unterschiedlich.
Der erste Teil des Familienzyklus ist das Buch Frühe Leiden, das den Untertitel Für
Kinder und empfindliche trägt. Es ist ein lyrisches Werk. Die beinhalteten
Geschichten sind aus der Kindheit zusammengesetzte Erinnerungen. Der Vater und
die Geschehnisse erscheinen aus dem Blickwinkel des Buben, wobei der Zugang
zum Thema etwas infantil ist. Es sind Bilder, die keinen Platz im Roman Garten,
Asche finden konnten, so Kiš. Jede Geschichte ist ein Prosagedicht. Gleichzeitig
kommen in diesem Buch Motive aus allen drei Teilen vor. Diesen Teil der Trilogie
schrieb er als ersten, er wurde aber nicht als erster veröffentlicht.56
Garten, Asche ist der zweite Teil der Familientrilogie. Es besteht aus 12 nicht
chronologisch gereihten Kapiteln ohne Überschriften. Der narrative Blickwinkel und
die Zeiten werden stets gewechselt.
54 Hetzer, Tanja: Kinderblich auf die Shoah: Formen der Erinnerung bei Ilse Aichinger, Hubert Fichte und Danilo Kiš. Würzburg:
Könighausen & Neumann, 1999. S. 10. 55 Vgl. Briegleb, Klaus: Vergangenheit in der Gegenwart. In: Gegenwartsliteratur seit 1968. Hg. v. Klaus Briegleb und Sigrid
Weigel. München: Carl Hanser 1992. S. 97. 56 Das Buch Frühe Leiden wurde 1969 veröffentlicht, also vier Jahre nach Garten, Asche, das 1965 veröffentlicht wurde.
35
Innerhalb seines Triptychons hat Kiš den zuerst veröffentlichten ‚Basta, pepeo’
[Garten, Asche] bekanntlich als Mittelteil lokalisiert und zwar unter dem bereits
genannten Gesichtspunkt der Verkomplizierung der Form. Das ist hier auch als
Bewegung vom Lyrischen zum Epischen zu verstehen […].57
Die Erzählform in diesem Roman wird oft mit der Erzählform von Proust verglichen.58
Auch in diesem Teil ist der Erzähler ein Kind, Andreas Sam. Sein Blickwinkel wird
hier mit dem des Autors, der sich mit dem Buben identifiziert, vermischt.
In ‚Bašta, pepeo’ [Garten, Asche] arbeitet D. Kiš mit jener ‚fatalen ersten Person
Singularis’, die unter dem Namen Andreas (Andi) Sam als Ich-Erzähler und als
erzählte Figur aus ‚Rani jadi’ [Frühe Leiden] bekannt ist. Der Name selbst kann –
neben dem semantischen Aspekt, der auf ein Auf-sich-gestellt-Sein verweist[‚sam’
bedeutet ‚allein’], aber auch mit der von Kiš thematisierten Beziehung des Besonderen
zum Allgemeinen korreliert – als Ausdruck des fiktionalisierenden
Verfremdungsansatzes gegenüber dem (Auto-)Biographischen gesehen werden.
Gleichfalls trägt auch ein auffallender Verzicht auf chronikalische
Verifizierungshinweise im Erzählen selbst zu dieser Fiktionalisierung möglicher
authentischer Faktizität bei.59
Bei Kiš ist die Erzählperspektive vor allem eine bewusst getroffene Wahl. Diese
Ereignisse spielen sich in seiner Kindheit ab, und die Kinderperspektive ist für ihn die
perfekte Wahl, diese so wahrhaftig wie möglich wiederzugeben.
Der fiktive Ich-Erzähler begegnet in ‚Bašta, pepeo’ [Garten, Asche] mit retrospektiv,
als Erinnerung an die Kindheit konturierten Eindrücken: Die kindliche Welt mit ihrem
sich mehrfach verändernden, instabilen Radius wird rekonstruiert, die
Bezugspersonen der Kindheit werden mit ihrem Kommen und Gehen oder in ihrer
konstanten Gegenwärtigkeit modelliert, die kindlichen Anstrengungen, Erlebtes zu
57 Beyer, Barbara: Die Epische Dimension der Subjektivität: Zur Erzählerfigur in „Basta, pepeo“. In : Richter, Angela (Hg.):
Entgrenzte Repräsentationen. Gebrochene Realitäten. Danilo Kiš im Spannungsfeld von Ethik, Literatur und Politik. Materialien der interantionalen Konferenz vom 4. bis 6. Juli 1999 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. München: Verlag Otto Sagner 2001. S. 128.
58 Die gleiche panische Angst einzuschlafen ohne von der Mutter davor geküsst zu werden, der gleiche imperative Bedarf an Anwesenheit der Mutter, Nerven, Besessenheit usw.
59 Beyer, Barbara: Die Epische Dimension der Subjektivität: Zur Erzählerfigur in „Basta, pepeo“. In : Richter, Angela (Hg.): Entgrenzte Repräsentationen. Gebrochene Realitäten. Danilo Kiš im Spannungsfeld von Ethik, Literatur und Politik. Materialien der interantionalen Konferenz vom 4. bis 6. Juli 1999 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. München: Verlag Otto Sagner 2001. S. 129.
36
verstehen, zu verarbeiten und gegenüber der Welt eine eigene aktive Haltung zu
finden, werden aufgezeigt.60
Die Erzählerfigur in Garten, Asche hat eine sehr komplizierte Struktur und
Funktionsweise.
Die erinnernd-identifizierende, zugleich aber auch wissend-verfremdende Rückkehr in
das einst greift die naiv-spontane, gegensteuernde demiurgische Anstrengung der
Kindheit auf und nimmt sie als einen kontinuierlichen, jedoch nunmehr auch auf
Entäußerung gerichteten Vorgang des gedächtnisformenden Bewahrens und
Sicherns, was neben dem Dokumentieren eben auch Interpretieren und Bewerten
meint.61
Im dritten Teil der Trilogie, der Sanduhr (Peščanik, dt. Übersetzung Sanduhr wird oft
missverstanden62), verschwindet der Erzähler. Die Erzählung ist objektiv bzw. die
Gegebenheiten werden so objektiv wie möglich wiedergegeben. Der Kern der
Geschehnisse in diesem Buch ist ein Brief, den der Vater geschrieben hat. Der Leser
ist Zeuge der Entstehung des Briefes, und zum Schluss entschlüsselt der Brief allein
die Geschehnisse im Roman, sowohl für den Vater als auch für den Leser und den
Autor selbst.
Abschließend zur Erzählperspektive in der Familientrilogie soll festhalten werden:
Der „Familienzyklus“ macht einen durchaus besonderen Aufbau aus. Frühe Leiden
sind kurze Geschichten, eine Welt aus dem Blickwinkel eines Kindes, wobei der Blick
bewusst naiv ist. Darauf folgt der Teil Garten, Asche, wo der Vater zum Held wird,
während er in Frühe Leiden nur schwer zu erblicken ist. Dabei kommt es wieder zu
einem Perspektivenwechsel im zweiten Buch (Garten, Asche), wo die kindliche
Naivität noch präsent ist, aber auch eine andere Perspektive dazukommt, nämlich
von jemandem der dreißig Jahre später schreibt. Im dritten Teil, der Sanduhr ist der
60 Beyer, Barbara: Die Epische Dimension der Subjektivität: Zur Erzählerfigur in „Basta, pepeo“. In : Richter, Angela (Hg.):
Entgrenzte Repräsentationen. Gebrochene Realitäten. Danilo Kiš im Spannungsfeld von Ethik, Literatur und Politik. Materialien der interantionalen Konferenz vom 4. bis 6. Juli 1999 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. München: Verlag Otto Sagner 2001. S. 129.
61 Ebd. S. 130f. 62 Peščanik bedeutet pannonisches Sandgestein, das durch geologische Erschütterungen entstanden ist, für archäologische
Ausgrabungen. Spurensuche auf dem Grund des Pannonischen Meeres, geographische Verortung in Form einer Metapher. Vgl. Richter, Angela (Hg.): Entgrenzte Repräsentationen. Gebrochene Realitäten. Danilo Kiš im Spannungsfeld von Ethik, Literatur und Politik. Materialien der interantionalen Konferenz vom 4. bis 6. Juli 1999 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. München: Verlag Otto Sagner 2001. S. 13. Weiteres zur Sanduhr als Metapher im Kapitel 6.4.1.
37
Erzähler kein Kind mehr und das Thema ist eher intellektueller Natur. So kann man in
diesen drei Teilen der Trilogie die Entwicklung des Autors erkennen. Ebenso sind
drei Sichten zum gleichen Thema zum Vorschein gekommen, nämlich das
Aussterben der ungarischen Juden.
Die Integration der Erwachsenenperspektive artikuliert sich in „Garten, Asche“ in
selbstreflexiven, metapoetischen und ironischen Kommentaren. Jedoch ist die Relation
des Ich-Erzählers gegenüber dem erlebenden kindlichen Ich nicht durch distanzierte
Überlegenheit gekennzeichnet. Viel mehr erscheint der Ich-Erzähler gleichermaßen
gewandt durch die Abwesenheit des Vaters wie das kindliche Ich. Zu dem stellt sich die
Schreibweise des Romans als Produkt der im Roman beschriebenen Entwicklung der
kindlichen Phantasie und Erlebensweise dar. Insofern als der autobiographische
Roman zugleich eine poetologische Autoreflexion liefert, besteht ein Kontinuum
zwischen dem erinnernden Ich-Erzähler und dem erinnerten kindlichen Ich.63
4.2. Über die Erzählsituation im Roman Die größere Hoffnung
Die absichtliche Wahl der Kinderperspektive ist im Werk Aichingers eine Lenkung
des Lesers auf gesellschaftliche Gegebenheiten.
Zugleich ermöglicht die Kinderperspektive eine Darstellung, die Traum, Phantasie und
Wirklichkeit nicht zu trennen vermag. Dies zeigt sich zum einen darin, dass Ellen noch
nicht in der Lage ist, zwischen Traum und Realität zu unterscheiden […].64
Aus diesem Grund verschiebt sich die Rolle dieser Perspektive. Nämlich nicht um die
Realität geht es hier, sondern vielmehr um die kriegsbetroffene Kinder dieser Zeit.
Nicht ihre Geschichte steht im Vordergrund, sondern ihre Kindheit.
Eine große Schwierigkeit in der Analyse stellt aber auch der Erzähler im Roman dar.
Es entsteht eine Verwirrung, in der man als Leser den Erzähler orten möchte, dieses
aber in bestimmten Situationen als sehr schwierig oder gar als unmöglich erscheint,
da es zu permanenten Vermischungen und Überlappungen kommt, so Rosenberger.
63 Düwell, Susanne: „Fiktion aus dem Wirklichen“. Strategien autobiographischen Erzählens im Kontext der Shoah. Bielefeld:
Aisthesis Verlag 2004. S. 49. 64 Seidler, Miriam: „Sind wir denn noch Kinder?“. Untersuchungen zur Kinderperspektive in Ilse Aichinger Roman Die Größere
Hoffnung unter Einbeziehung eines Fassungsvergleichs. In: Europäische Hochschulschriften. Deutsche Sprache und Literatur (Reihe 1). Band 1893. Frankfurt/Main: Peter Lang 2004. S.92.
38
Erzählerrede und Figurenrede [lassen sich] teilweise kaum voneinander
unterscheiden und die Sprecher damit nicht immer eindeutig identifizieren, sondern
die Überlagerung von Erzählung und figuraler Redesituation manifestiert sich auch in
einem ungewöhnlichen, dialogisch angelegten Verhältnis zwischen beidem.65
Rosenberger spricht hier von einer Stimmenvielfalt, sowie einer Vermischung und
Überlappung verschiedener Redepositionen. Die vom Erzähler vorab geäußerten
Begriffe und Gedanken werden von den Protagonisten übernommen und umgekehrt.
Der Erzähler kann im Roman nicht einfach definiert werden, da auch keiner in der
Handlung tatsächlich präsent ist. Der Blickpunkt des Lesers wird parallel mit der
Erzählperspektive laufend gewechselt. Auf der einen Seite findet der Leser Stellen im
Roman, wie beispielsweise Dialoge, wo man davon ausgehen könnte, dass ein
außenstehender Erzähler das Wort hat, dessen Präsenz jedoch fragwürdig ist, da
keinerlei Erklärungen, Kommentare, Vorausdeutungen gegeben oder eine andere
Nähe zum Geschehen gezeigt werden.
An einigen Stellen im Roman findet der Leser sowohl Textabschnitte, die am ehesten
der direkten Rede zuzuordnen wären, jene, wo eine Person als Erzähler durch den
inneren Monolog66 deutlich erkennbar ist, meistens Ellen, als auch solche, wo der
Leser einen ständigen Perspektivenwechsel durch verschiedene Erzähltechniken
hat. Der Perspektivenwechsel findet ohne einen besonderen Übergang statt, wobei
der Wechsel und die Erzählperspektive dem Leser oft erst anschließend bewusst
werden.67
Den Wechsel der Erzählperspektive und der Position des Erzählers bearbeitet
Rosenberger genau und spricht vom „differierenden Sprachgestus“ und der
„Vielstimmigkeit“. Ein dreifacher Wechsel des Redegestus ist, beispielsweise, im
siebten Kapitel zu finden, als Ellen versucht, den Lebenswunsch Großmutters
aufzurütteln.68 Die Erzählerposition ist dreimalig zersplittert, und zwar in „die epische
Rede“, „das mythische Reden“ und „das kindliche Sprechen“.
65 Rosenberger, Nicole: Poetik des Ungefügten. Zur Darstellung von Krieg und Verfolgung in Ilse Aichingers Roman „Die
größere Hoffnung“. Hg. v. Wendelin Schmidt-Dengler. Wien: Braumüller, 1998. S. 96. 66 Rosenberger weist aber auf einen nicht einstimmigen Monolog, da Erzählposition und Figurenrede nicht identisch werden. 67 Vgl. Natter, Gudrun: Zur Erzählproblematik im Roman ‚Die grössere Hoffnung’ von Ilse Aichinger. Wien: Diplomarbeit, 1988. 68 Vgl. Aichinger, Ilse: Die größere Hoffnung. München: Süddeutsche Zeitung 2007. S. 138ff.
39
Ellen, ein kleines Mädchen mit zwei „richtigen“ und zwei „falschen“ Großeltern, ein
Kind mit welchem „irgendetwas nicht in Ordnung ist“. Sie möchte ihrer jüdischen
Mutter und der Zwillingsschwester, welche nach Amerika emigriert sind, folgen,
jedoch, sie bekommt kein Visum, ihre einleitende „große Hoffnung“69, und bleibt bei
der Großmutter.
Eigentlich darf Ellen weder bleiben, da sie nur zwei richtige Großeltern hat, noch darf
sie gehen. Sie befindet sich in einer aussichtslosen Situation, welche nur durch die
„Hoffnung“ zu überwinden ist. Und da sind noch die jüdischen Kinder, ihre
ausgewählten Freunde. Sie wird aber anfangs weder von den jüdischen Kindern
akzeptiert, noch fühlt sie sich der „anderen Seite“ zugehörig. Von den jüdischen
Kindern, zu welchen sie größere Zugehörigkeit empfindet, mit welchen ihr aber ihre
Großmutter verboten hat zu spielen, wird sie ausgeschlossen, findet aber doch
Anerkennung und teilt deren Schicksal mit.
Die darauf folgenden neun Kapitel umschreiben die innere Entwicklung Ellens und
führen zu einer „größeren Hoffnung“, dem zehnten und abschließenden Kapitel des
Romans. Die „größere Hoffnung“ Ellens ist eine Hoffnung auf den Frieden, auf eine
bessere Welt,
eine neue, wieder menschenleere Welt, in der alles noch einmal von vorn zu beginnen
wäre, lautlos, wie der Morgenstern über den umkämpften Brücken steht, und lautlos,
wie die Wörter nun wieder werden müssen.70
Zwei wichtige Darstellungsmethoden verwendet auch Aichinger charakterisierend für
die Kinderperspektive – Spiel und Traum. Spiel und Kind bedeuten für Aichinger die
„Höhepunkte der Existenz“, „weil das Spielen und die Kindheit die Welt erträglich
machen und sie überhaupt begründen“.71 Hedi Kaiser beschreibt die
Weltanschauung der Kinder zwar als „nicht realistisch, dennoch eröffnet ihnen ihr
spielerischer und traumhafter Umgang mit der Welt Einsichten, die den Erwachsenen
verloren gehen“72. Eine Vergleichbare Rolle spielt der Traum bzw. der Kindertraum,
dem wir in Aichingers Die größere Hoffnung mehrmals begegnen. Wenn Aichinger
69 Das erste von insgesamt zehn Kapiteln des Romans Die größere Hoffnung trägt den Titel „Die große Hoffnung“. 70 Lindemann, Gisela: Ilse Aichinger. München: Beck 1988. S. 69. 71 Esser, Manuel: „Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist“. In: Ilse Aichinger. Leben und Werk. Aktualisierte und
erweiterte Neuauflage. Hg. v. Samuel Moser. Frankfurt/M: Fischer 1995. S. 55. 72 Vgl. Kaiser, Hedi: Ilse Aichinger, Die größere Hoffnung. In: Erzählen, Erinnern: Deutsche Prosa der Gegenwart.
Interpretationen. Hg. v. Herbert Kaiser und Gerhard Köpf. Frankfurt/Main: Diesterweg 1992. S. 29f.
40
von Träumen spricht, spricht sie von der „Genauigkeit, die sich nichts vormachen
läßt. […] Ein Stück viel größerer Wirklichkeit, als die Wirklichkeit damals und heute
zu geben imstande ist.“73
Die beschriebenen Erzählmethoden sowie die schon angesprochene Problematik der
Erzählsituation in diesem Roman zeigen sich bereits im ersten Kapitel, in dem man
sich nicht sofort orientieren kann. Am Anfang des Kapitels beschreibt Ellen die Sicht
auf die Erde:
Rund um das Kap der Guten Hoffnung wurde das Meer dunkel. Die Schiffahrtslinien
leuchteten noch einmal auf und erloschen. Die Fluglinien sanken wie eine
Vermessenheit. Ängstlich sammelten sich die Inselgruppen. Das Meer überflutete alle
Längen- und Breitengrade. Es verlachte das Wissen der Welt, schmiegte sich wie
schwere Seide gegen das helle Land und ließ die Südspitze von Afrika nur wie eine
Ahnung im Dämmern.74
Einige Zeilen darunter, nachdem „eine Fliege von Dover nach Calais flog“, wird dem
Leser bewusst, dass nicht der Planet Erde betrachtet wird, sondern dass die kleine
Ellen vor einer Landkarte im Vorzimmer des Konsuls steht und den Ausbruch nach
Amerika, zu ihrer geflohenen Mutter vorspielt.
Im nächsten Moment, als Ellen die Landkarte von der Wand reißt und sie auf dem
Boden ausbreitet, merkt der Leser, dass es eigentlich um ein Spiel handelt.
Und sie faltete aus ihrem Fahrschein ein weißes Papierschiff mit einem breiten Segel
in der Mitte. Das Schiff ging von Hamburg aus in See. Das Schiff trug Kinder. Kinder,
mit denen irgend etwas nicht in Ordnung war.75
Das Schiff mit Kindern, „für die niemand mehr bürgen konnte“, endet in einem Sturm.
„Groß und licht und unerreichbar tauchte die Freiheitsstatue aus dem Schrecken.
Zum ersten und zu letzten Male.“76
Plötzlich schreit Ellen aus dem Schlaf, und das Spiel wird zu einem Traum. Gisela
Lindemann spricht hier von einer Erzähltechnik, wo das Spiel, der Traum und die
73 Ilse Aichinger spricht über den Traum in Bezug auf den letzten Traum von Sophie Scholl. Vgl. Ilse Aichinger. Leben und
Werk. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage. Hg. v. Samuel Moser. Frankfurt/M: Fischer 1995. S. 38. 74 Aichinger, Ilse: Die größere Hoffnung. München: Süddeutsche Zeitung 2007. S. 7. 75 Ebd. S. 7. 76 Ebd. S. 8.
41
grauenvolle Außenwelt gegeneinander geschnitten werden, gleichzeitig aber alle
wirklich und real erscheinen.
Dagmar Lorenz spricht von einem „System von Chiffren“ im Roman,
die als Teil eines metaphysischen Kommunikationssystems, den Blick in eine weitere,
hinter der Wirklichkeit der Objekte und Umstände liegende Realität eröffnet, die erst
durch ständige Verweise erkennbar wird. Der Roman setzt sich aus zwei
verschiedenen Schichten zusammen, der äußeren Handlung, die zu Ellens Tod, und
einer Weiteren, die simultan damit zu ihrer Vollendung führt.77
Eine solche Chiffre wäre das Visum, das mit der „großen Hoffnung“, nach Amerika zu
flüchten, eng verknüpft ist. Die äußere Schicht spiegelt sich in dem Fall in der
Außenwelt, die das Hintergrundgeschehen des Romans wiedergibt, den jüdischen
Freunden, in der Judenverfolgung und dem zweiten Weltkrieg. Diese Außenwelt
bleibt lückenhaft und wird im Roman nie konkretisiert. Auf der anderen Seite
entwickelt Ilse Aichinger die Handlung des Bewusstseins zur Gänze, die man an
dieser Stelle mit der von Lorenz angesprochenen zweiten Handlungsschicht
gleichsetzen kann.
Die Struktur des Romans ist ebenfalls auf eine besondere Art und Weise gestaltet,
unterscheidet sich wesentlich von der traditionellen Struktur und zeigt keinerlei
Kausalität in der Entwicklung. Jedes der zehn Kapitel des Romans bildet jeweils eine
relative Vollendung der Handlung und muss nicht unbedingt fortgesetzt werden.
Ähnlich sind auch die Abschnitte innerhalb der Kapiteln (un)strukturiert, sie sind also
nicht immer direkt miteinander verknüpft.78 Wenn man aber die Struktur von der
Seite der erwähnten zweiten Handlungsschicht, also aus dem Bewusstseinzustandes
Ellens, betrachtet, findet man genau diese Verbindung der Kapitel und die
Gesamtheit des Romans, die auf den ersten Blick nicht existieren.
Mit einer solchen Romanstruktur erkennt Paul Kruntorad den Anfang der Avantgarde
in der österreichischen Nachkriegsliteratur.
In einem gewissen Sinne beginnt mit diesem Roman die Geschichte der Avantgarde
in der österreichischen Nachkriegsliteratur. Der Roman als eine Abfolge von
77 Lorenz, Dagmar C.G.: Ilse Aichinger. Königstein, Taunus: Athenäum 1981. S. 68. 78 Vgl. Natter, Gudrun: Zur Erzählproblematik im Roman ‚Die grössere Hoffnung’ von Ilse Aichinger. Wien: Diplomarbeit 1988.
42
Ereignissen, die in dramatischer Zuspitzung die Interaktionen einer Anzahl von
Figuren darstellen und dem interessierten Leser den Zugang zu einem bestimmten,
mit der Außenwelt korrespondierenden Wirklichkeitsbild vermitteln, wird abgelöst
durch eine andere Struktur.79
4.3 Der Kinderblick bei Peter Härtling
Viele Werke von Peter Härtling beruhen auf Erinnerungen. Diese werden in einigen
dieser Werke über literarische und erfundene Personen übermittelt. Im Roman
Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung ist der zwölfjährige Peter der Erzähler, der
zusammen mit seiner Familie auf dem Weg von Böhmen nach Deutschland gegen
Kriegsende ein Jahr in Zwettl, einem Ort in Niederösterreich, verbracht hat.
Sie waren anfangs zu sechst: der Vater (Rudolf H.), die Mutter (Erika H.), die
Schwester (Lore H.), die Großmutter (Elisabeth H.), die Tante (Käthe H.) und er,
dessen Gedächtnis ich nur noch in Bruchstücken habe.80
Während dieser Zeit füllen er und die Mutter Entlassungsscheine für Soldaten aus
und wohnen zuerst im Haus eines Gauleiters, übersiedeln danach aber in die
ehemalige Schreibstube. Im Laufe der Zeit schaffen sie es, nach Deutschland zu
kommen, wo sie vom Tod des Vaters erfahren, der freiwillig in die russische
Gefangenschaft gegangen war. Anfangs werden die Geschehnisse aus der
Retrospektive des kleinen Peters erzählt, aber auch auf der Ebene der Gegenwart,
die sich ebenso mit einer überprüfenden Rolle auf die Vergangenheitsbilder bezieht.
Hier beginnt die Suche nach dem Grab des Vaters. Die Vergangenheitsperspektive
wechselt so ständig mit der Gegenwartsebene ab.
Wichtige Stationen der Kindheit kommen auch im Roman Nachgetragene Liebe vor
und der Erzähler berichtet auch hier aus Zwettl sowie aus Hartmannsdorf bei
Dresden, Brünn und Olmütz. Geschildert werden Geschehnisse vor dem Aufenthalt
in Zwettl, und zwar wieder auf zwei Ebenen – mal auf der Gegenwartsebene, mal
aus der Vergangenheitsperspektive des fünfjährigen Peter. Der Kinderblick kommt 79 Kruntorad, Paul: Prosa in Österreich seit 1945. In: Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Die zeitgenössische Literatur
Österreichs. Hg. v. Hilde Spiel. Zürich: Kinler 1976. S. 162. 80 Härtling, Peter: Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2008. S. 11.
43
besonders an bestimmten Stellen zum Ausdruck, wenn spezifische Situationen
geschildert werden, wie z.B. beim Einkaufen in der Bäckerei, beim Vaters Erzählen
der Gutenachtgeschichten oder beim direkten Schildern aus der Kindheitszeit.
Ich bin fünf. Ich bin mit meinem Dreirad unterwegs zwischen Hartmannsdorf und
Burgstädt, doch meine Phantasie traut sich die Ferne nicht mehr zu. Ich will
gestreichelt und umarmt werden.81
Die kindliche Perspektive wird an manchen Stellen durch den homodiegetischen
Erzähler unterstützt, indem sie durch die Beobachtersicht kommentiert und beurteilt
wird. Nachdem Peter von der Affäre seiner Mutter und dem Liebesverhältnis seines
Vaters mit der tschechischen Verwandten erfährt, und feststellt, dass er von seinen
Eltern keine Unterstützung erwarten kann, sucht er nach Geborgenheit und Zuflucht
bei der Hitlerjugend.
Ich floh in ihre soldatische Welt, in der Tränen nicht unerklärt fließen durften, niemand
den großen Aufbruch hilflos erlitt, wie die Eltern, die eng umschlungen neben dem
Radio saßen, den Siegesmeldungen mit Seufzern antworteten, in ihrem Schrecken
allein waren, sich ohnedies anders verhielten als alle anderen […].82
81 Härtling, Peter: Nachgetragene Liebe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 101993. S. 9. 82 Ebd. S. 29f.
44
5 Kindheit – das ewige Schandmal
Zweifelsohne ist die Kindheit eine der intensivsten Lebensphasen eines Menschen.
In dieser Lebensperiode geht man durch wichtige Entwicklungsphasen, von der
Entwicklung des Selbstbewusstseins, über die Welterforschung, Entfaltung der
eigenen Wertvorstellungen bis zur Selbstständigkeit und Identitätsbildung. Obwohl
Ilse Aichingers Kindheit geschichtlich nicht in glücklichste Zeiten eingeordnet werden
kann, bezeichnet sie sie trotzdem als die glücklichste Zeit in ihrem Leben.
Ich habe unter keinem Verlust so gelitten wie unter dem Verlust der Kindheit. Er ist
das Gemeinste an der Entwicklung der Menschen. Dagegen ist Altern gar nichts. Man
verliert nicht mehr soviel.83
In ihrem Roman Die größere Hoffnung erhält ein Kind die Hauptrolle – das kleine
halbjüdische Mädchen Ellen, ein Mädchen, das seine Kindheit im Krieg verbringt. Die
Grausamkeit des Krieges erscheint durch den Kinderblick noch grauenvoller und
herzerschütternder. Nicole Rosenberger meint dazu:
Denn abgesehen davon, daß die Thematisierung der nazistischen Verfolgung am
Beispiel eines Kinds die begangenen Verbrechen ganz allgemein sehr viel
dramatischer erscheinen läßt und die Lesenden ungleich betroffener macht, dominiert
hier der kindliche Kosmos das Geschehen in einem Ausmaß, das den Rahmen des
literarisch Gewohnten sprengt.84
Überdies handelt Rosenbergers Analyse der Kindheit in diesem Roman von der
betonten kindlichen Unabhängigkeit, die Ellen, aber auch andere Kinder in ihrer
Umgebung, ausstrahlen. Ellens Mutter erscheint in dieser Konstellation fast völlig
hilfsbedürftig und vom der Tochter abhängig. Andererseits sind auch die Eltern von
anderen jüdischen Kindern, Ellens Freunden, nicht wirklich präsent, obwohl sie
existieren. Somit leben die Kinder in einer abgeschirmten Umgebung. Und obwohl
das Gefühl einer entwickelten Unabhängigkeit vermittelt wird, bleibt die kindliche Art
bestehen und wird betont durch Formen wie Spiel, Traum, Hoffnung auf Erfüllung
83 Stettler, Luzia: „Stummheit immer wieder in Schweigen zu übersetzen, das ist die Aufgabe des Schreibens“. In: Ilse Aichinger.
Leben und Werk. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage. Hg. v. Samuel Moser. Frankfurt/Main: Fischer 1995. S. 45. 84 Rosenberger, Nicole: Poetik des Ungefügten. Zur Darstellung von Krieg und Verfolgung in Ilse Aichingers Roman „Die
größere Hoffnung“. Hg. v. Wendelin Schmidt-Dengler. Wien: Braumüller 1998. S. 3.
45
unglaublicher Wünsche sowie Sehnsucht nach Freundschaften bzw. Angst vor
Verlust dieser. Angedeutet wird auf die Untersuchung von Debórah Dwork, in
welcher Überlebende der Shoah befragt wurden. Es hat sich herausgestellt, dass
jüdische Kinder ein vollkommen anderes Verhalten gegenüber dem Holocaust als
ihre Eltern gezeigt haben. Der einfache Grund liegt darin, dass Kinder auch in allen
anderen Situationen eine andere Reaktion als Erwachsene zeigen, daher ist es auch
in Bezug auf den Nationalsozialismus nicht anders.85
Die charakteristische, bereits angesprochene Passage im ersten Kapitel des Romans
Die größere Hoffnung hebt deutlich hervor, dass neben der Bedeutung des Spiels
und des Traums vor allem die Kindheit eine gravierende Rolle spielt. Während die
Landkarte, die Ellen zuerst betrachtet und dann auf dem Boden ausbreitet, für den
Erwachsenen nur „ein Stück Papier“86 bedeutet, stellt sie für das kleine Mädchen die
ganze Welt dar. Die Landkarte reflektiert auf die kindliche Weise ihre Hoffnung auf
eine bessere Welt, jedoch ist das „Kindliche“ nicht „unwissend, sondern hellsichtig,
nicht verträumt, sondern traumhaft-visionär, nicht idyllisch verbrämt, sondern wahr“87
präsentiert.
Der Meinung, dass die Kindheit der zentrale Baustein in Ilse Aichingers Werk ist, ist
auch Samuel Moser, der Herausgeber des Sammelbandes zu Leben und Werk Ilse
Aichingers:
Die Kindheit ist in Ilse Aichingers Werk seit der „Größeren Hoffnung“ mehr als ein
Stück Erinnerung. Das Zurückbleiben wird zum Blick nach vorn, wird Erinnerung an
den Tod. Es führt zur Erkenntnis, daß Anfang und Ende zusammengehören. […] Der
biblische Imperativ »Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder« erfordert auch das
Erwachsensein. Ilse Aichinger nimmt das Spiel der Kinder in die Pflicht.88
Seine Besessenheit von der Kindheit, oder von einem bestimmten Teil dieser, zeigt
Danilo Kiš am bemerkbarsten in seinem autobiographischen Triptychon (Frühe
Leiden, Garten, Asche, Sanduhr), den der schwedische Essayist und Kritiker Gabi
85 Vgl. ebd. S. 8. 86 Aichinger, Ilse: Die größere Hoffnung. München: Süddeutsche Zeitung 2007. S. 140. 87 Friedrichs, Antje: Untersuchungen zur Prosa Ilse Aichingers. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der
Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Münster: Doktorarbeit 1971. S. 18. 88 Moser, Samuel (Hg.): Ilse Aichinger. Leben und Werk. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage. Frankfurt/Main: Fischer 1995.
S. 16.
46
Gleichman89 als ein Werk bezeichnet, das die „erstrangige Bedeutung der Kindheit
bei der Herausbildung [Kišs] literarischen Profils belegt“90. Demgegenüber erklärt Kiš,
diese Lebensphase durch den Triptychon verarbeitet und überwunden zu haben.
Über seine Kindheit sagt er:
Ich war gefesselt von dieser Welt. Ich habe sie vermisst. Viel Brutalität aber auch viel
Schönes gab es. Vom literarischen Standpunkt betrachtend war es der perfekte
Aufbau.91
Das Thema, das in Frühe Leiden bearbeitet wurde, hat Danilo Kiš auch in einigen
anderen Büchern bearbeitet. Gleichman wirft im selben Gespräch die Frage auf,
inwieweit die geschilderte Kindheit der Wirklichkeit bzw. der Fiktion entspricht. Kiš
unterscheidet zwischen der „Wirklichkeit des Lebens und derjenigen der Literatur“92
und betont, dass es für ihn fast unmöglich sei, diese beiden Wirklichkeiten zu
trennen.
Meine ganze Kindheit ist eine Illusion, eine Illusion, von der sich meine
Vorstellungskraft nährt. […] Das Leben, das weiß ich, läßt sich nicht auf Bücher
zurückführen. Da ich meine Kindheit in einer lyrischen, einmaligen und definitiven
Form wiedergegeben habe, ist diese Form zum integrierenden Bestandteil meiner
Kindheit geworden, zu meiner einzigen Kindheit.93
Dass die Kindheit für seine Entwicklung sehr wichtig war, erklärt Kiš auch, indem er
diese Lebensperiode als einen gemeinsamen Nenner für alle Menschen bezeichnet,
unabhängig von der Herkunft, der Rasse oder der Epoche. Die Unterschiede
zwischen den Menschen entwickeln sich erst später und die Besonderheiten der
Individuen gewinnen erst dann an Bedeutung.
Auch für Peter Härtling hat dieser Lebensabschnitt eine große Bedeutung. Auch er
hatte durch die Kriegserfahrungen eine schwierige Kindheit, die er in seinen Werken 89 Gabi Gleichman, geb. 1954 in Budapest, studierte Philosophie und Literaturwissenschaften auf der Universität in Stockholm.
Danach arbeitete er als freischaffender Literaturkritiker bei Expressen, einer der wichtigsten skandinavischen Tageszeitungen. 1984 wurde er Chefredakteur der Jüdischen Chroniken in Stockholm, 1990 Feuilletonredakteur der Tageszeitung Expressen und Vorsitzender des schwedischen PEN Schriftstellervereinigung.
90 Kiš, Danilo: Homo poeticus. Gespräche und Essays. Hg. v. Ilma Rakusa. München, Wien: Carl Hanser 1994. S. 11. 91 „Normalna osoba ne piše knjige“. [Eine normale Person schreibt keine Bücher]. Gespräch mit Brendan Lemon (1984). In:
Danilo Kiš. Gorki talog iskustva [Der bittere Bodensatz der Erfahrung]. Hg.v. Frano Cetinić-Petris, Predrag Lucić u.a. Split: Feral Tribune 1997. S. 134. (Übers. d. Verf.)
92 Kiš, Danilo: Homo poeticus. Gespräche und Essays. Hg. v. Ilma Rakusa. München, Wien: Carl Hanser 1994. S. 11. 93 Ebd. S. 11.
47
thematisiert. Die Ereignisse aus der Flüchtlingszeit, von der Gefangenschaft des
Vaters über die Vergewaltigung der Mutter bis hin zur schweren Erkrankung der
Großmutter, haben seine Kindheit stark geprägt. Nachdem der Vater in russischer
Gefangenschaft stirbt, nimmt sich auch die Mutter das Leben. Die Traumata der
Kindheit thematisiert Härtling vor allem in den Erinnerungstexten Zwettl.
Nachprüfung einer Erinnerung, Nachgetragene Liebe sowie im Roman Herzwand,
aber auch in früheren Werken wie Janek.
5.1. Erinnerungen und der Umgang mit der Vergangenheit
Oft ist mit der Kinderperspektive auch ein anderer literarischer Aspekt bzw. Form
geknüpft. Wenn wir vom Erzähler, der zu dem Zeitpunkt des Schreibens ein
Erwachsener ist, von Einzelheiten erfahren, die er mit bestimmten Geschehnissen
verbindet, dann sprechen wir von einer häufig angewendeten Form, nämlich von
Erinnerungen.
Erinnerungen sind ein bedeutender Bestandteil der Kindheitsliteratur in dieser Form,
wobei sie der Autor in seine Erzählung bewusst aus dem Grund einsetzt, um
beispielsweise autobiographische Geschehnisse als solche wiederzugeben oder sie
auch anders erscheinen zu lassen. Es kann aber auch andere oder zusätzliche
Gründe haben, warum sich ein Autor für solche Erzählform entscheidet, wie z. B.
„kindliche Unschuld“ oder Wiedergabe der Vergangenheit.
Susanne Düwell unterscheidet
innerhalb der Erinnerungsliteratur, die das Zeugniskonzept im engeren Sinne ablöst,
wie auch im Erinnerungsdiskurs selbst […] zwei Konzeptionen von Erinnerung[…]“,
welche „im Wesentlichen mit der Mediendifferenz von Bild und Sprache korreliert sind.
Einerseits ist ein Erinnerungskonzept auszumachen, das an dem Nexus zwischen
Erinnerung als Rekonstruktion der Vergangenheit und einem Subjekt, das deren
Authentizität verbürgt, festhält. Dem steht andererseits ein Entwurf von Erinnerung
gegenüber, der die sprachliche Konstruktion aller Versionen vergangener Ereignisse
hervorhebt.94
94 Düwell, Susanne: „Fiktion aus dem Wirklichen“. Strategien autobiographischen Erzählens im Kontext der Shoah. Bielefeld:
Aisthesis Verlag 2004. S. 11.
48
Nach Düwell ist die erste „Erinnerungskonzeption“ eine Verbindung zwischen der
bildlichen Vorstellung bzw. „Visualität“ und dem „spezifischen Konzept des Traumas“.
Anders ausgedrückt, das im Gedächtnis aufbewahrte Bild wird so exakt wie möglich
umgewandelt, um zurückliegende Erlebnisse und authentische Erinnerungsbilder
wiederzugeben.
Unterschieden wird ebenso, nach Proust, die „willkürliche“ von der „unwillkürlichen“
Erinnerung, „welche durch sinnliche Eindrücke unmittelbar ausgelöst und authentisch
betrachtet wird“. Dabei werden das Konzept des Traumas, der Körpererinnerung und
das Visuelle in Betracht gezogen, wobei die sprachlich verfasste Erinnerung mit der
Aufwertung unwillkürlicher, körperlicher Erinnerungen eine Verbindung herstellt.95
Als „Akt ästhetischer Konstruktion“ in der Gegenwart bezeichnet Düwell den Prozess
der sprachlichen Umwandlung bzw. Übersetzung der Erinnerungen. Die Imagination
übernimmt die elementare Rolle im Prozess der Wiedergabe vergangener
Geschehnisse, während die „Erinnerung innerhalb dieser Konzeption als eine
kreative Leistung, als nachträglicher konstruktiver Akt und damit zwangsläufig als
Bruch mit der Vergangenheit“ erscheint96.
Allerdings wird die Wiedergabe vergangener, durch Erinnerungen rekonstruierter
Geschehnisse im Kontext autobiographischer Projekte in Frage gestellt. Gedeutet
wird auf eine Literatur, die zwar auf der Erinnerung beruht, jedoch nicht auf die
Erinnerung, indessen aber auf den Erinnerungsprozess als Niederschrift anstrebt und
diesen wiedergibt.
Die Unabschließbarkeit der autobiographischen Erinnerung wird als permanenter
Aufschub und als Verweigerung der Repräsentation von Vergangenheit prozessiert.
Vorgeführt wird ein permanentes Changieren zwischen dem Erinnerungspostulat und
der Vermitteltheit des sprachlichen Materials, die die Unverfügbarkeit von
Vergangenheit demonstriert.97
Ausführlicher über die Problematik des autobiographischen Erzählens wird später
noch die Rede sein.
95 Vgl. Ebd. S. 16. 96 Vgl. Ebd. S. 19. 97 Ebd. S. 221.
49
Aleida Assmann, Professorin für Anglistische und Allgemeine Literaturwissenschaft
an der Universität Konstanz, befasst sich intensiv mit der kulturwissenschaftlichen
Gedächtnisforschung und der Gedächtnistheorie. Das Gedächtnis, so Assmann,
spielt, gerade in Bezug auf die Judenverfolgung, eine von verschiedenen
Ausgangspunkten ausgehende Rolle, einerseits als „Erfahrungsgedächtnis der
Überlebenden“ und andererseits als „Erinnerungsgebot für die Menschheit“.98 Dabei
geht sie auf die Theorie von Saul Friedländer ein, die besagt, dass erst die
Bedeutungszunahme der Erinnerungen von Überlebenden zu einem ansteigenden
Interesse der Geschichtsforscher am Holocaust geführt hat. Somit hat der Anschluss
der persönlichen Erinnerungen bzw. des Gedächtnisses an den Aspekt der
Judenverfolgung wesentliche Folgen für die Geschichtsschreibung.
Durch Einlassung individueller Erfahrungen und Erinnerungen wird die Illusion einer
kohärenten Geschichtskonstruktion unterlaufen und auf die irreduzible Vielstimmigkeit
und Widersprüchlichkeit der Erfahrungen aufmerksam gemacht. […] Die Bedeutung
persönlicher Zeugnisse ist in der Geschichtswissenschaft inzwischen allgemein
anerkannt, weil sie nicht nur ergänzende Quellen für die vergangenen Ereignisse,
sondern auch Monumente für die Perspektive der Opfer selber sind.99
Auch Assmann spricht von einer „Übersetzung der Erinnerung“, wenn von
Wiedergabe vergangener Ereignisse die Rede ist. Die Umwandlung des Visuellen ins
Sprachliche bzw. Schriftliche soll auch ihrer Meinung nach gewisse Schwierigkeiten
in der Rekonstruktion der Vergangenheit darstellen. In dieser Hinsicht unterscheidet
sie zwei Gedächtnissysteme: Das „Ich-Gedächtnis“, welches auf der „bewussten Re-
Konstruktionsarbeit“ beruht, und das „nicht organisierte vorbewusste Mich-
Gedächtnis“. Das erste ist verbal und bestimmend orientiert und stellt eine Identität
durch die Erzählung her. Mit anderen Worten, Erinnerungen werden bewusst
aufgerüttelt und in eine Erzählung umgewandelt bzw. übersetzt. Die Hauptauslöser
des Mich-Gedächtnisses sind Orte, verschiedene lautlose Objekte oder Abstraktion
wie z.B. Fotos, Gebäude, Gerüche u.a.100
Wir können die darin gespeicherten Erinnerungen nicht einfach aufrufen, sonder
müssen warten, bis sie sich (durch entsprechende Berührungen und Passworte)
98 Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H.Beck
2006. S. 48f. 99 Ebd. S. 49. 100 Ebd. S. 119-124.
50
selbst melden. Die Erinnerungen schlummern im Mich-Gedächtnis in der Form
impliziter und versteckter Dispositionen, sie bilden ein diffuses und latentes
Bereitschaftssystem, das unerwartet auf bestimmte äußere Reize antwortet.101
Erlebnisse aus der Kindheit schildert Aichinger in ihrem 1996 erschienenen
Sammelband Kleist, Moos, Fasane wie durch das beschriebene vorbewusste „Mich-
Gedächtnis“.
Daß Kleist mit Fasanen zusammenhing, mit Moos und mit der Bahn, wer hätte es sich
träumen lassen, wenn nicht er selber und die Kinder dieser Gegend, die in der
Moosgasse wohnten, in der Fasangasse, in der rechten und linken Bahngasse.102
Urs Bugmann betrachtet die von Aichinger geschilderten Erinnerungen nicht als
Idyllen aus versunkenen Kindertagen, sondern als „Erlebnisse, Stimmungen“ und
„Gestimmtheiten“, die eher mit „Gerüchen“ oder „Farben“ in Verbindung stehen, “und
die noch als Erinnerungen das bewahren, was sie dem Kind über die Sensation des
Augenblicks hinaus waren“.103
Des Weiteren macht Assmann auf weitere Formen der Erinnerung aufmerksam und
verweist dabei auf den Historiker Reinhart Koselleck und die Frage der Authentizität
der Erinnerungen. Koselleck formuliert den Begriff der sinnlichen Wahrheitspräsenz,
welche eben durch Erinnerungen entwickelt wird. Dabei wird von der sprachlichen
die unmittelbare körperliche Erinnerung unterschieden, die er mit der glühenden
Lavamasse im Leib vergleicht. Diese Form der Erinnerung soll, so Koselleck,
jederzeit unverändert abrufbar sein. So soll auch jede Sinneswahrnehmung, wie
Geschmack, Geräusch, Geruch, wieder aufgerüttelt werden können, ohne die
Wahrhaftigkeit in Frage zu stellen. Die Wahrheitspräsenz einer solchen Erinnerung
bleibt zeitlich uneingeschränkt erhalten. Im Gedächtnis bleibt sie durch das Leiden,
Trauma, Angst oder eine andere Gefühlserregung verankert.
Von der körperlichen wird das sprachlich vermittelte Gedächtnismodell
unterschieden. Diese Form der Erinnerung wird durch die ständig wiederholte
sprachliche Umsetzung gestützt. Durch die Kommunikation mit anderen Personen
werden Erinnerungen abgerufen, deren Existenz und Intensität durch die Häufigkeit 101 Ebd. S. 122. 102 Aichinger, Ilse: Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/Main: Fischer 1987. S. 8. 103 Bugmann, Urs: Schreibendes Wiederbeleben der Kindertage. In: Ilse Aichinger. Leben und Werk. Aktualisierte und erweiterte
Neuauflage. Hg. v. Samuel Moser. Frankfurt/Main: Fischer 1995. S. 332.
51
ihrer sprachlichen Übermittlung bedingt ist. Mit anderen Worten ausgedrückt, je öfter
von einem Ereignis oder einem Gefühl gesprochen wird, desto mehr Erinnerungen
werden aufgerüttelt. Auf der anderen Seite wird behauptet, dass die Erinnerung an
die gemachte Erfahrung durch die häufige sprachliche Übermittlung schwächer, und
die Erinnerung an sprachliche Übermittlung, sprich die verwendeten Worte, stärker
wird.104
Assmann verbindet die Gedächtnisformen Kosellecks mit den bereits erwähnten
Mich- Gedächtnis und Ich-Gedächtnis als einer passiven bzw. aktiven
Gedächtnisform. Außerdem werden die Kosellecks Erinnerungsformen als Spur und
Bahn bezeichnet und mit den Begriffen Retention und (Re-)Konstruktion bzw.
Festhalten und Erneuern in Verbindung gebracht.
Retention steht für die Vorstellung einer körperlichen Dauerspur der Erinnerung, die
wie Kosellecks glühende Lava über lange Zeitintervalle unverändert konserviert wird;
Rekonstruktion dagegen bezieht sich auf die Vorstellung, dass Erinnerungen nur
dadurch befestigt werden können, dass sie in immer neuen Akten wieder hergestellt
und dabei immer neu und immer etwas anders vergegenwärtigt werden.105
Das Gedächtnis und Erinnerungen spielen in den Werken der in dieser Arbeit
behandelten Autoren eine maßgebliche Rolle. Sie sind die wichtigste Stütze und die
Ausgangsposition für die weitere Entwicklung des auf der Erinnerungsarbeit
basierendes Werkes als auch mehr oder weniger einer inneren Entwicklung des
Schriftstellers zu diesem Zeitpunkt. Insofern ist damit eine innere Verarbeitung eines
schmerzhaften und tief eingeritzten Erlebnisses verbunden. Daraus entsteht die
Notwendigkeit, diese niederzuschreiben. Andererseits befinden sich im
Unterbewusstsein Erinnerungen, die erst verarbeitet, deren Hintergründe und
Verhältnisse analysiert und in einen sinngebenden Kontext gebracht werden sollen.
Persönliche Erinnerungen als auch kollektive Erlebnisse stellen dabei eine der
Voraussetzungen für die Rekonstruktion der Vergangenheit.106
Auch Tamás Lichtmann setzt sich mit dem Prozess des Erinnerns, aber auch des
Vergessens, und definiert das Erinnern als „eine Rekonstruktion oder eine
104 Vgl. Ebd. S. 126ff. 105 Ebd. S. 129. 106 Vgl. Malina, Peter: Geschichte ist die Vergangenheit, die uns angeht. In: Schulheft. Vergangenheitsbewältigung. Nr. 43.
Wien: Jugend & Volk 1986. S. 14.
52
Heraufbeschwörung oder eine Veränderung oder die Erschaffung oder die
Herstellung oder die Neuinterpretation der Vergangenheit oder die Konstituierung
einer neuen Wirklichkeit oder Nostalgie oder Widerstand oder
Vergangenheitsbewältigung oder eine psychoanalytische Therapie oder aber alles
Aufgezählte gleichzeitig“. Jeder Mensch hat Erinnerungen, und wer keine hat, der
lebt nicht, so Lichtmann. Eine der wesentlichen Charakteristika eines Menschen ist
die Fähigkeit zum Denken, und zu diesem Prozess gehört auch die
Erinnerungsarbeit.107
Die Erinnerungen spielen auch in den Werken von Peter Härtling eine zentrale Rolle,
dar, er definiert sie sogar als die Grundbewegung des Erzählens. 108
Wer erzählt, erinnert sich. Selbst wenn er vorgibt – und ich sage nachdrücklich:
vorgibt – ganz und gar von der Zukunft zu handeln. Keiner kann von der Zukunft ohne
die Erfahrungen und Kenntnisse reden, die er in der Vergangenheit sammelt. Was wir
in dem Augenblick, in dem wir einen Satz denken, schreiben, ist auch schon
vergangen, sobald der Satz geschrieben ist. Die Zeit reißt ihn mit, ohne dass es uns
bewusst wird.109
Monika Hernik-Młodzianowska beschreibt Härtlings Wahrnehmung der Erinnerungen
als ein unvermeidbares Medium der Erzählung. Die Leistung von Literatur als
Medium des kollektiven Gedächtnisses bestehe für Härtling darin, dass sie vom
Einzelfall ausgehen, jedoch einen Ausblick über die allgemeine Geschichte liefern.
Die individuelle Erinnerung sei der Anfang des kollektiven Gedächtnisses, der
Übergang von einem Alltagsgedächtnisses des Einzelnen zu dem
Allgemeingedächtnis einer Gemeinschaft.110
Die Wahrheit, erst einmal nichts als meine individuelle Erinnerung, verwandelt sich
Satz für Satz in eine Wirklichkeit, die der Ausgangspunkt einer ganzen Epoche ist.111
107 Vgl. Lichtmann, Tamás: Vergessen als Flucht – Erinnern als Erschaffung und/oder Veränderung der Wirklichkeit in Soyfers
Dramen. In: Erinnern und Vergessen als Denkprinzipien. Hg. v. Herbert Arlt. St. Ingbert: Röhrig 2002. S. 71ff. 108 Vgl. Hernik-Młodzianowska, Monika: Zur Inszenierung von Erinnerung im Werk von Peter Härtling. Inaugural-Dissertation zur
Erlangung des Doktorgrades der Philosophie des Fachbereichs Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Gießen: Doktorarbeit 2008.
109 Härtling, Peter: Erinnerte Wirklichkeit – erzählte Wahrheit. Die Städte meiner Kindheit. Dresden: Thelem 2007. S. 17. 110 Vgl. Hernik-Młodzianowska, Monika: Zur Inszenierung von Erinnerung im Werk von Peter Härtling. Inaugural-Dissertation zur
Erlangung des Doktorgrades der Philosophie des Fachbereichs Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Gießen: Doktorarbeit 2008. S. 52.
111 Härtling, Peter: Erinnerte Wirklichkeit – erzählte Wahrheit. Die Städte meiner Kindheit. Dresden: Thelem 2007. S. 70.
53
Die Erinnerungen im Werk Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung sind zwar Härtlings
wichtigste Stütze, dennoch stellt der Erzähler selbst ihre Zuverlässigkeit in Frage
bzw. die Unsicherheit der eigenen Erinnerungen kommt stark zum Ausdruck.
[…] deine Phantasie, sagt Tante K., weil Rudi mit den Russen den Totten oben in der
Wohnung gefunden hat, denkst du dir das weiter, hast es als Bub schon getan, und
jetzt glaubst du, es sei so gewesen, es ist so gewesen, sagte ich, gut, sagt sie, ich will
es dir nicht ausreden, meine Erinnerung einschüchtern will und ich nicht mehr merke,
ob es ihre Erzählung ist, ob meine, ob ich es weiß.112
Des Weiteren lassen sich die „unzuverlässigen“ Erinnerungen zum bereits erwähnten
nicht organisierten, vorbewussten Mich-Gedächtnis einordnen, was an einer Stelle
ganz eindeutig erkennbar ist, als der Erzähler seine Erinnerungen schildert:
Ganz bestimmte stereotype Szenen prägen sich ein: jemandem nachwinken, mit
jemandem in einer Schlange stehen, zwischen Leuten auf Decken liegen,
Menschengruppen in Wartesäulen, Soldaten und Zivilisten – Gruppen beginnen sich
in Andeutungen zu ordnen, das Bild schlägt durch die Erinnerung, es vermittelt einen
Zustand, der gewesen war, wenige Gesichter, doch eine ganz intensive Erinnerung an
die Stimmung […].113
Der Eindruck der Unzuverlässigkeit des Erinnerns entsteht aber auch in anderen
Erinnerungstexten wie Nachgetragene Liebe, Herzwand sowie Janek. Es wird
versucht, durch mehrstimmige Erinnerungstexte und selbstkritische Erzähler, eine
möglichst realistische Erinnerung wiederzugeben. Der Autor will damit
„demonstrieren […], wie sprunghaft die erzählende Erinnerung auf Themen kommt.
Sie findet nicht nur vor. Sie sucht ständig, beunruhigt Verdrängtes und Vergessenes,
und oft genug sträubt sich das endlich Gefundene gegen den erzählten
Zusammenhang. Es will wieder vergessen werden“114.
Im Jahr 1970 veröffentlichte Peter Härtling einen kurzen Text über die in Zwettl
verbrachte Zeit, der einige Erinnerungen über die Geschehnisse zu diesem Zeitpunkt
sowie den Einmarsch der russischen Armee schilderte. Darauf folgend fand die
Kontaktaufnahme mit den Bewohnern Zwettls und den Verwandten Härtlings, die ihn
beim Vervollständigen und Korrigieren der Erinnerungen unterstützt haben. 1971 fuhr
112 Härtling, Peter: Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2008. S. 36. 113 Härtling, Peter: Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2008. S. 22. 114 Härtling, Peter: Erinnerte Wirklichkeit – erzählte Wahrheit. Die Städte meiner Kindheit. Dresden: Thelem 2007. S. 45.
54
Härtling wieder nach Zwettl, um mit noch einigen Bekannten aus der damaligen
Flüchtlingszeit zu sprechen. Helmut Scheffel schreibt über Härtlings Erlebniswelt,
dass sie „nur noch bruchstückhaft im Gedächtnis des Erwachsenen lebt [und] nur
teilweise rekonstruierbar [sei]“115.
Auch sonst muß er viel erfinden. Allzu viele Leerstellen im Gedächtnis sind
auszufüllen, wenn die Bilder und diversen Geschichten anschaulich werden sollen,
wenn er sich und uns ein Bild von dem Jungen vermitteln will, der er damals war und
der so weit in Vergangenheit und Vergessen entrückt ist.116
Des Weiteren erklärt Scheffel, Härtling spreche wegen der großen Ferne und der
rückblickend offenbarenden Fremdheit von ihm in der dritten Person. Das Verhalten
des erwachsenen Peter ist schon zu sehr präsent.
5.2. Die Problematik des autobiographischen Erzählens
Bevor auf den individuellen Zugang und die Art der Wiedergabe einzelner Ereignisse
in den ausgewählten Werken näher eingegangen wird, soll versucht werden, diese
auf einen gemeinsamen Nenner hinsichtlich der Merkmale und der Romangattung zu
bringen. Die Antwort auf die Frage, was eine Autobiographie ist bzw. was einen
autobiographischen Roman ausmacht, könnte anhand vieler bereits existierender
Definitionen beantwortet werden. So definiert Philippe Lejeune die Autobiographie
als „rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene
Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf
die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt“117. Allerdings soll eine Autobiographie nicht
mit einem autobiographischen Roman verwechselt werden. Hier handelt es sich nicht
um eine vollständige Rekonstruktion des Autorenlebens, vielmehr wird das
Augenmerk auf einen bestimmten Lebensabschnitt gelegt. Dennoch wird auch hier
erwartet, dass die geschilderten Ereignisse einen direkten Bezug zur realen Welt
haben und das Erzählte nachvollziehbar und glaubwürdig ist. Inwieweit es dann doch
115 Vgl. Scheffel, Helmut: Report vom vergangenen Ich. In. Peter Härtling: Auskunft für Leser. Hg. v. Martin Lüdke. Darmstadt:
Luchterhand 1988. S. 146. 116 Ebd. S. 147. 117 Vgl. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Hg. v. Karl Heinz Bohrer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. S. 14.
55
Fiktion und subjektive Interpretation und Erinnerung bleibt, ist eine andere Frage.
Autobiographien bestehen ja auch zum größten Teil aus Erinnerungen, und
Erinnerungen sind immer subjektiv. Des Weiteren wird eine Autobiographie durch
die Namensgleichheit zwischen Autor, Erzähler und Protagonist gekennzeichnet.
Wenn diese nicht gegeben ist, handelt es sich um einen autobiographischen
Roman.118 Susanne Düwell geht hier auf stark auf die Theorie von Lejeune zurück,
der in seiner Definition der Autobiographie konsequent bleibt.
Wenn man also bei der Unterscheidung zwischen Fiktion und Autobiographie zu
bestimmen sucht, worauf das ‚Ichʻ der persönlichen Erzählung verweist, so besteht
keinerlei Notwendigkeit, auf eine unmögliche Außertextualität zurückzugreifen: der
Text selbst bietet an seinem äußersten Rand jenes letzte Element, den zugleich
textuellen und unzweifelhaft referentiellen Eigennamen des Autors.119
Darüber hinaus kann hier festgestellt werden, dass die in dieser Arbeit ausgewählten
Texte von Ilse Aichinger, Danilo Kiš und Peter Härtling einen offensichtlichen
autobiographischen Charakter haben. Abgesehen davon, dass sich die Werke auf
biographische Ereignisse konzentrieren, sind sie durch ein wichtiges Merkmal
geprägt – Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus. Besonders in Bezug auf die
Judenverfolgung beschreibt Düwell die geschilderten Erfahrungen vor allem als
kollektive:
Die in ihnen beschriebenen oder verweigerten Erinnerungen stehen in Relation zu
einer Welt, die vernichtet wurde, die autobiographischen Texte beziehen sich auf
kollektive Erfahrungen und weniger ausschließlich auf die persönliche Geschichte
[…].120
Darauf aufbauend stellt Düwell fest, dass die Referenzebene der
Kindheitsautobiographien entzogen ist, zumal das Wissen über die eigene Kindheit
unzuverlässig und sich auf eine ausgelöschte Welt bezieht. Vor allem soll der
autobiographische Roman vor dem Hintergrund der historischen
Rahmenbedingungen der Shoah problematisch sein. Hier knüpft sie an die
Erzählperspektive der Minderheit und betont besonders den „Konnex von historischer 118 Vgl. Düwell, Susanne: „Fiktion aus dem Wirklichen“. Strategien autobiographischen Erzählens im Kontext der Shoah.
Bielefeld: Aisthesis Verlag 2004. S. 33. 119 Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Hg. v. Karl Heinz Bohrer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. S. 38. 120 Düwell, Susanne: „Fiktion aus dem Wirklichen“. Strategien autobiographischen Erzählens im Kontext der Shoah. Bielefeld:
Aisthesis Verlag 2004. S. 37, 40.
56
Katastrophe und persönlicher Erfahrung und seine formalen Konsequenzen für den
als subjektiv konnotierten autobiographischen Roman […], [denn] nur im historischen
Kontext vieler ähnlicher Lebensgeschichten erscheint es sinnvoll, die eigene zu
erzählen“121.
5.2.1 Die heimtückische Auswirkung der Biographie bei Danilo Kiš
Jede Biographie, insbesondere die Biographie eines Schriftstellers, ist eine
einzigartige Lebensgeschichte eines einmaligen Menschen in einer einzigartigen
Zeit. In allen Werken von Danilo Kiš ist ein beträchtlicher Anteil an
Autobiographischem zu erkennen. Er selbst erklärt das dadurch, dass er sich nie
getraut hat, über etwas zu schreiben, was er nicht persönlich erlebt, gesehen oder
gehört hat. Im Gespräch mit Vidan Arsenijević sagt er, er sieht das nicht unbedingt
als einen Vorteil, sondern vielmehr als lyrischen Realismus, der üblicherweise einen
Schriftsteller am Anfang seiner Karriere begleitet. Manche basieren darauf ihr ganzes
Lebenswerk, wie z.B. Proust, während es für manche Autoren nur die
Einführungsphase darstellt. Den Schriftsteller Danilo Kiš hätte eine gar zu große
Auswahl an Themen sowie zahllose Wiederholungen von imaginären Protagonisten
eingeschüchtert. Er sei nicht in der Lage, Dinge, Personen, Situationen
auszudenken, auch wenn er wollen würde. Die einzige Realität, die für ihn angreifbar
ist, ist jene, die er „aushusten, aus sich herauswürgen“ muss. 122
Im Gespräch mit Leo Gillet wird Kiš auf den dokumentarischen, fast
entpersonalisierten Stil angesprochen. Auf die Frage inwieweit ein guter Schriftsteller
sein eigenes Ich auszustreichen vermag, erklärt der Autor, dass ein guter Text doch
nicht bloß biographisch oder autobiographisch sein muss. Vielmehr unterstreicht er
die Notwendigkeit zu schreiben.
Man schreibt wenig, denn man schreibt nur über jene außergewöhnlichen
Augenblicke, die man des Notierens für wert befindet. Und diese Augenblicke sind
selten. Außerdem muß man den Widerwillen gegen das Schreiben überwinden. Die
Biographien einiger moderner Schriftsteller verweisen vielleicht auch deshalb auf den
121 Vgl. Ebd. S. 39. 122 „Ne usuĎujem se da izmišljam“ [Ich wage es nicht zu erfinden]. Gespräch mit Vidan Arsenijević (1973). In: Danilo Kiš. Gorki
talog iskustva [Der bittere Bodensatz der Erfahrung]. Hg. v. Frano Cetinić-Petris, Predrag Lucić u.a. Split: Feral Tribune, 1997. S. 24. (Übers. d. Verf.)
57
Unterschied zwischen denen, die aus Notwendigkeit schreiben, und denen, die das
nicht tun. Vielschreiberei ist nicht meine Sache.123
Darüber hinaus betont Danilo Kiš die Wichtigkeit und den Einfluss
autobiographischer Texte. Die Geschichte soll durch die Literatur korrigiert werden,
weil die Geschichte zu verallgemeinert ist, während die Literatur konkrete Züge hat.
Die Geschichte ist eine Vielfalt, Literatur – das Individuelle. Die Geschichte strahlt
keine Leidenschaft aus, ohne Verbrechen und unerachtet der Zahlen: was bedeuten
schon sechs Millionen Tote (!) wenn wir einen einzigen Menschen und sein Gesicht,
seinen Körper, seine Jahre und seine eigene Geschichte nicht sehen können.124
Für Kiš sind Bücher nichts anderes als Schriftstellers persönliches bzw.
Familienarchiv. Er unterscheidet nicht zwischen der Wirklichkeit des Lebens und
derjenigen der Literatur. Es besteht also kein Unterschied zwischen Literatur und
realem Leben, so sind auch Personen aus seinem unmittelbaren Umfeld gleichzeitig
literarische Personen.125 Am besten ersichtlich ist diese Einstellung am Beispiel der
Werke, die Kiš als autobiographisches Triptychon bezeichnet – Frühe Leiden,
Garten, Asche und Sanduhr, in deren Mittelpunkt die Figur des Eduard Sam (E.S.),
der verschwundene Vater, steht. In diesen drei Büchern wird die Kindheit Kišs aus
„drei [unterschiedlichen] Sichtweisen, drei Annäherungen an dieselbe Realität“
wiedergegeben – aus der Sicht des jungen Adreas Sam im Werk Frühe Leiden,
zusätzlich aus der Sicht des Erzählers im Buch Garten, Asche sowie aus einer
Erwachsenenperspektive, einer „fast göttlichen Objektivität“ in Sanduhr.126
123 „Ständiges Schuldgefühl“. Gespräch mit Leo Gillet. In: Danilo Kiš. Homo poeticus. Gespräche und Essays. Hg. v. Ilma
Rakusa. München, Wien: Carl Hanser 1994. S. 242. 124 „Imenovati znači stvoriti [Hommer c’est créer. Benennen heißt Schaffen]. Gespräch mit Norbert Czarny (1985). In: Danilo Kiš.
Gorki talog iskustva [Der bittere Bodensatz der Erfahrung]. Hg. v. Frano Cetinić-Petris, Predrag Lucić u.a. Split: Feral Tribune, 1997. S. 154. (Übers. d. Verf.)
125 Vgl. Düwell, Susanne: „Fiktion aus dem Wirklichen“. Strategien autobiographischen Erzählens im Kontext der Shoah. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2004. S. 50.
126 Vgl. „Zwischen Politik und Poetik“. Gespräch mit Gabi Gleichmann. In: Danilo Kiš. Homo poeticus. Gespräche und Essays. Hg. v. Ilma Rakusa. München, Wien: Carl Hanser 1994. S. 242.
58
5.2.2 Autobiographisches Erzählen im Werk Ilse Aichingers
Erfahrungen aus der Kriegszeit, Verlust und Verfolgung haben auch Ilse Aichingers
Leben geprägt. Nicht nur im Roman Die größere Hoffnung, sondern auch in anderen
Texten setzt sie sich mit diesen Motiven auseinander, in welchen sie die
Erinnerungen auf die Erlebnisse aus der Kindheit schildert127. Die
autobiographischen Züge sind aber im Roman Die größere Hoffnung am deutlichsten
erkennbar, zumal dieses Werk ursprünglich ein autobiographischer Erfahrungsbericht
werden sollte.
Ich wollte zuerst nur einen Bericht schreiben darüber, wie es wirklich war. Das ist
dabei herausgekommen, aber doch auf eine ganz andere Weise, als ich es mir
vorgestellt habe. Und wie ich damit fertig war, war ich ins Schreiben geraten.128
Die Erlebnisse aus der Kindheit schildert Aichinger im Roman durch die Stimme der
fünfzehnjährigen Halbjüdin Ellen. Ilse Aichinger wurde 1921 in Wien als eine der
Zwillingstöchter einer jüdisch stammenden, zum Katholizismus konvertierten Ärztin
und eines Lehrers christlicher Herkunft geboren. Im Jahr 1927, sechs Jahre nach der
Geburt der Zwillingsschwestern lassen sich die Eltern scheiden. Ilse und ihre
Schwester Helga wachsen bei der jüdischen Großmutter auf. Mit dem Anschluss
Österreichs und den damals geltenden Nürnberger Rassegesetzen wird die Mutter
zu einer „Volljüdin“, verliert ihre Praxis und die Anstellung als Ärztin. Nur als Mutter
unmündiger Kinder wird sie vor einer Deportation bewahrt. Ilses Schwester Helga
flieht 1939 nach England. Die Mutter Berta und Ilse bleiben und schaffen es, den
Krieg zu überleben, während die Großmutter, die Tante und der Onkel im Jahr 1942
deportiert und ermordet werden.
Ähnlich wie Danilo Kiš, fühlt sich auch Aichinger verpflichtet, ihr Schicksal zu
veschriftlichen und erklärt, warum sie diesen Roman unbedingt schreiben musste:
So können alle, die in irgendeiner Form die Erfahrung des Todes gemacht haben,
diese Erfahrung nicht wegdenken, sie können, wenn sie ehrlich sein wollen, sich und
die anderen nicht freundlich darüber hinwegtrösten. Aber sie können ihre Erfahrung
127 Vgl. Aichingers autobiographische Texte: Essay Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist, Erinnerungstext
Kleist, Moos, Fasane, Nach der weißen Rose, Vor der langen Zeit etc. 128 Esser, Manuel: „Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist“. In: Ilse Aichinger. Leben und Werk. Hg. v. Samuel
Moser. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage. Frankfurt/Main: Fischer 1995. S. 50.
59
zum Ausgangspunkt nehmen, um das Leben für sich und anderen neu zu
entdecken.129
Anette Ratmann untersucht das Autobiographische im Roman Die größere Hoffnung,
indem sie auf die Unterschiede zu dem geplanten Bericht näher eingeht. Die
Vergegenwärtigung des Vergangenen wird durch die intensive Auseinandersetzung
mit der Sprache als einem Medium ermöglicht. Im Roman gelingt es Aichinger, die
Sprachreflexion mit der Autobiographie zu verbinden, das Vergangene wird
vergegenwärtigt und erneuert. Aichinger erklärt den Zusammenhang zwischen dem
Roman und der ihrer Autobiographie:
Man wird, so oft man ein erstes Buch geschrieben hat, oft gefragt, wieviel daran
autobiographisch wäre, aber das ist vielleicht gar nicht wichtig, wichtig ist nur, wieviel
von dem Erlebten, das sicher darinnen ist, sich mit dem Gültigen deckt.130
Dagmar C. G. Lorenz deutet zwar auf kleinere Unterschiede zwischen den
tatsächlichen Ereignissen und Kriegserfahrungen Aichingers, betont aber auch
zahlreiche Elemente, die sich aus der Biographie der Autorin ableiten lassen. Den
Roman historisch oder biographisch zu bezeichnen hält sie aber für problematisch,
da die historischen und personalen Elemente nur eine Grundlage zu weiteren
Blickpunkten bilden. Den Roman Die größere Hoffnung bezeichnet sie als einen
„umfassenden Bewältigungsversuch von persönlicher und zeitgeschichtlicher
Dimension“ 131.
Obwohl die Autorin sich nicht direkt darstellt, haben die Interessensbereiche, die ihr
Werk immer wieder berührt, ihren Ausgangspunkt in ihrer Biographie, die durch die
Situation Österreichs und Deutschlands vor und nach 1945 geprägt wurde. Das
Identitätsproblem, mit dem Ellen kämpft, ist Aichingers eigenes.132
Lorenz spricht von einer geistigen Bewältigung von Lebensprozessen - ein Aspekt,
der bereits bei der Erläuterung von autobiographischem Anteil in Kišs Werken
angesprochen wurde. Aichinger strebt nach der „Transzendierung des
Einzelbewusstseins durch die Darstellung kollektiver geistiger Prozesse und 129 Aichinger, Ilse: Vorrede. In: Rede unter dem Galgen. Hg. v. Hans Weigel. Wien: Jungbrunnen 1951. S. 7. 130 Aichinger, Ilse: Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist. In: Ilse Aichinger. Leben und Werk. Hg. v. Samuel
Moser. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage. Frankfurt/Main: Fischer 1995. S. 29. 131 Vgl. Lorenz, Dagmar C.G.: Ilse Aichinger. Königstein/Ts.: Athenäum 1981. S. 68. 132 Ebd. S. 1f.
60
Meditation“. Trotz des Altersunterschieds zwischen Ellen und Ilse als individueller
Einzelwesen wird die Heldin des Romans als „Ausgangspunkt zur poetischen
Analyse der deutsch-jüdischen Situation“133 dargestellt.
Einige wichtige Aspekte im Werk Aichingers, wie z.B. der Verlust der Eltern, lassen
sich ohne Zweifel auf die Biographie der Autorin zurückführen. Die Relevanz der
geschilderten Ereignisse wird erst durch die eigene Erfahrung, durch das Einbringen
des eigenen Schicksals für den Leser verständlicher.
5.2.3 Autobiographie als phantastische Lüge – Peter Härtling
Bevor auf die Lebensgeschichte Peter Härtlings in seinen Werken näher
eingegangen wird, eine kurze Wiedergabe der in diesen Werken behandelten
Lebensphase:
Kurz vor Ende des Krieges floh die sechsköpfige Familie Härtling – neben den Eltern:
Großmutter, Tante und Schwester – aus dem tschechischen Olmütz nach Zwettl im
österreichischen Waldviertel, hundert Kilometer nordwestlich von Wien. Dort wohnte
sie in verschiedenen Flüchtlingsquartieren von Mai 1945 bis April 1946. Dort meldete
sich der Vater – bis 1942 Anwalt, dann Soldat, und zwar Kompanieschreiber – bei der
sowjetischen Besatzungsmacht als ehemaliger Angehöriger der Wehrmacht, kam in
ein Gefangenenlager und starb einige Wochen später, [Juni 1945].134
Von Vaters Tod erfährt Härtling erst ein Jahr später. Im Oktober 1946 nimmt sich
Härtlings Mutter das Leben.
Die Werke von Härtling sind geprägt von autobiografischen Elementen und
verarbeiten die schwierige Kindheit sowie die Vertreibung der Familie. In seinen
Erzählungen in den Romanen Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung und
Nachgetragene Liebe aus der Kindheit versucht Peter Härtling sich selbst zu nähern.
Er rekonstruiert die Beziehung zu seinem Vater und holt die „liegengebliebenen,
übriggebliebenen Bilder oder Erfahrungen oder Relikte von Erfahrungen“135 zurück.
133 Vgl. Ebd. S. 3. 134 Scheffel, Helmut: Report vom vergangenen Ich. In. Peter Härtling: Auskunft für Leser. Hg. v. Martin Lüdke. Darmstadt:
Luchterhand 1988. S. 146. 135 Vgl. Siblewski, Klaus (Hg.): Peter Härtling im Gespräch. Frankfurt/Main: Luchterland 1990. S. 71.
61
Auch in diesen beiden und einigen anderen Werken Härtlings ist hauptsächlich
Erlebtes zu finden. Die Erinnerungen sind seine wichtigste Stütze dabei. Das
Erzählte hat einen feste Bezug zur Realität und zur erlebten Vergangenheit,
allerdings um im Erzählen einen Zusammenhang herzustellen, setzt Härtling die
Fiktion ein. Im Gespräch mit Sjaak Onderdelinden erläutert er seine Auffassung von
Erinnerungen und Fiktionalisierung:
Wer erinnert, ohne erzählen zu wollen, wer dasitzt und an etwas denkt, was gewesen
ist, denkt sehr fragmentarisch. Der Erzähler wird immer versuchen, obwohl ihn das
Fragment interessiert, in dieser Zusammenhanglosigkeit einen Sinnzusammenhang
zu finden. Und dieser Zusammenhang wird immer fiktiv sein müssen.136
Seine autobiographischen Werke setzen sich also aus Erfinden im Erinnern, so
Onderdelinden.
Wenn von der Lebensgeschichte in literarischen Werken Härtlings die Rede ist, dann
ist vor allem die in der niederösterreichischen Stadt Zwettl verbrachte Zeit gemeint
sowie die Vergegenwärtigung dieser Lebensphase. Und „Zwettl sollte kein Buch der
Fiktion werden.“137 Das Verlangen nach der Aufklärung der schwierigen Beziehung
zum Vater ist das Hauptmotiv für Härtlings literarische Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit. „Durch einen direkten Bericht von selbst Erlebtem [wollte der Autor]
der Realität genauer, besser, sicherer habhaft […] werden.“138 Während der junge
Peter zum „Jungvolk“ beitritt, geht der Vater freiwillig in russische Gefangenschaft,
wo er auch sein Leben verliert, wodurch die Konfrontation und die „Versöhnung“ mit
dem Vater insofern schwieriger werden. Diese werden vom erwachsenen Peter
Härtling „nachgetragen“ bzw. im Roman Nachgetragene Liebe literarisch
aufgearbeitet und nachgeholt.
Malgorzata Kalisz spricht von 70er Jahren als einer Zeit, in welcher die Autoren
durch die Neuentdeckung der Geschichte den Weg zu eigenem Ich suchen. Die
Motive für die Auseinandersetzung mit dem historischen Roman und der Biographie
sieht sie im Bedürfnis nach der Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit.
Die Wurzeln der Romane Peter Härtlings ordnet sie ebenfalls in die Gattung der
136 Ebd. S. 72. 137 Scheffel, Helmut: Report vom vergangenen Ich. In. Peter Härtling: Auskunft für Leser. Hg. v. Martin Lüdke. Darmstadt:
Luchterhand 1988. S. 144. 138 Vgl. Ebd. S. 144.
62
literarischen Geschichtsschreibung der 70er Jahre. Härtling, jedoch, weist seine
Werke keiner expliziten Gattung. Es geht im vielmehr „um eine einfühlsame
Annäherung an die Dichterfiguren und um eine sensible Vermittlung der spezifischen
Konstellationen einer vergangenen Epoche“139. Die Gattung Härtlings Werke hängt
vielmehr vom Schwerpunkt und dem Ziel, die er für seine Texte auswählt, ab. Dabei
konzentriert er sich weniger auf den geschichtlichen Hintergrund, sondern stellt vor
allem die „psychische Situation seiner Figuren [dar, und] analysiert sie aus der Sicht
des Allwissenden, der schon über biographische Vorkenntnisse von ihren Gestalten
verfügt und sie der eigenen Auffassung eingliedert“140.
139 Vgl. Kalisz, Malgorzata: Die Wirklichkeit des Fiktiven: Peter Härtlings Dichterromane. Hg. v. Ulrich Müller und Franz
Hundsnurscher u.a. Stuttgart: Heinz 2000. S. 56. 140 Vgl. Ebd. S. 58f.
63
6. Literarische Elemente 6.1 Ironie
Indirekte Sprechweisen werden nicht nur in der alltäglichen Kommunikation
verwendet, oft sind sie auch in der Literatur zu finden. Ironie ist ein Beispiel einer
solchen indirekten Sprechweise, die gerade in der Literatur als Verstellung, die als
solche entschlüsselt werden will, nicht selten vorkommt. Vor allem etablierte sich die
Ironie als wichtiges Merkmal in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Aber was
ist eigentlich Ironie, und warum wird sie in der Literatur verwendet? Mit einfachen
Worten ausgedrückt könnte gesagt werden, Ironie sei eine rhetorisch geäußerte
Verstellung, die das Gegenteil des Gemeinten ausdrückt, jedoch als solche vom
Leser bzw. Hörer durchschaut werden soll. Definitionen von Ironie können aber auch
in Enzyklopädien und Nachschlagewerken gesucht werden. In der Brockhaus
Enzyklopädie ist folgende Definition der Ironie zu finden:
„Als rhet. Mittel kann sich von iron. Anspielung, spieler. Spott über Polemik bis zum
Sarkasmus steigern; literarisch konstituiert sie damit die Gattungen Parodie, Satire,
Travestie. […] Die romantische Ironie als literaturwiss. Terminus und typisches poet.
Mittel der (Früh-) Romantik bezeichnet das Gefühl vom unauflösl. Widerstreit des
Unbedingten und Bedingten, des Unendlichen und Endlichen und gleichzeitig den
Schlüssel zur Überwindung der Beschränkungen und Annäherung an das Absolute und
den »ursprünglichen« Sinn“.141
Mittermayer definiert Ironie als „verspottendes doppeldeutiges Sprechen unter dem
Schein der Ernsthaftigkeit (oft das Gegenteil meinend)“. In Bezug auf die Epoche
beschreibt er sie als einen „Versuch einer spielerischen Distanzierung von der
eigenen Kunst“, weist dabei auf Friedrich Schlegels Auffassung und Definitionen der
(romantischen) Ironie.142 Wahrig gibt schließlich die Definition, die uns bei der
Definition, von welcher wir ausgegangen sind, bestätigt und beschreibt Ironie als
„hinter Ernst versteckte[n] Spott, mit dem man das Gegenteil von dem ausdrückt,
141 Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden. 21., völlig neu bearbeitete Auflage. Band 13. Leipzig: F. A. Brockhaus 2006. S. 523. 142 Vgl. Mittermayer, Manfred, Fritz Popp u.a.: Abriss der deutschsprachigen Literatur von ihren Anfängen bis zur Gegenwart.
Lehr- und Arbeitsbuch. Wien: Braumüller 31999. S. 393.
64
was man meint, seine wirkliche Meinung aber durchblicken lässt“143. Ausgehend von
der Be(Deutung) des griechischen Wortes εἰρωνεία bzw. eironeía, ist Ironie eine als
Verstellung, Vortäuschung zu verstehen. Edgar Lapp weist jedoch auf die negative
Konnotation im klassischen Altertum hin, als der Ironiker mit „Lügnern, Rabulisten,
Rechtsverdrehern, durchtriebenen, abgefeimten glatten Gesellen“144 im
Zusammenhang stand.
Die Verwendung der Ironie als literarischer Figur änderte und entwickelte sich durch
die Literaturgeschichte. So beschrieb sie Aristoteles als „die feine Art der Verstellung
[…] und Kleintun aus Höflichkeit und Rücksichtsnahme“145, womit die Ironie ihre
negative Konnotation verliert.
Inwieweit Ironie als literarische Form Einfluss auf die Entstehung der Werke von Ilse
Aichinger, Danilo Kiš und Peter Härtling hatte, soll in den nächsten Schritten
untersucht werden.
6.1.1 Der ironische Lyrismus bei Danilo Kiš
Der Schriftsteller Kiš war immer schon ein Gegner von direktem Gefühlsausdruck
und direkter Sprechweise. Die literarische Form der Ironie übernimmt hier eine
wesentliche Rolle - sie verhindert, dass die Emotionen „zu direkt eindringen“ und
macht sie „unspürbar“. Obwohl ein zweifelloser Lyriker, hatte Kiš eine besondere
Einstellung zum Lyrismus, den er ihn für „gefährlich in der Prosa“ bezeichnete. Aus
diesem Grund verkürzt und „bereinigt“ er seine Texte, aus diesem Grund ist er
sarkastisch. Das Ziel ist, zu verhindern, dass der Lyrismus über die Gesamtheit
dominiert.146 Für Kiš ist Literatur kein Geständnis, nicht einmal wenn sie diesen
Eindruck hinterlässt, und schon gar nicht, wenn er mit der Distanz und der Ironie
spielt. Der Lyrismus ist hier demnach als eine Gefahr vor dem direkten, pathetischen
Emotionsausbruch, vor der Sentimentalität zu verstehen. Daher auch das Streben
143 Vgl. Wahrig, Gerhard (Hg.): Wörterbuch der deutschen Sprache. Neu hrsg. v. Renate Wahrig-Burfeind. München: Dt.
Taschenbuch Verlag 42000. S505f. 144 Vgl. Lapp, Edgar: Linguistik der Ironie. Tübingen: Narr 1992. S. 47. 145 Ebd. S. 48. 146 Vgl. „Savest jedne nepoznate Evrope“ [A consciência de una Europa oculta, Das Bewusstsein eines unbekannten Europas].
Gespräch mit Leda Tenorio da Motta (1986). In: Danilo Kiš. Gorki talog iskustva [Der bittere Bodensatz der Erfahrung]. Hg.v. Frano Cetinić-Petris, Predrag Lucić u.a. Split: Feral Tribune, 1997. S. 176-187. (Übers. d. Verf.)
65
nach dem „ironischen Lyrismus“. Seinen poetischen Prosastil im Roman Garten,
Asche bezeichnet Kiš als intellektualisierten Lyrismus.
Damit Lyrismus in der Prosa nicht lyrisch im banalen Sinne – süßlich – wird, muß er
intellektuell sein. Ich habe in meiner Prosa oft versucht, die Gefühle, die mich zum
Schreiben veranlaßten, also meist lyrische Gefühle, auf »philosophische« Art
auszudrücken. Und das ist die Definition von Prosa: Ironie gegen Gefühl.147
Die Problematik, mit der Kiš in diesem Roman zu kämpfen hatte, war, das Lyrische
und das Sentimentale über allgemeingültige Erfahrungen aus der Kindheit
darzustellen, ohne sie zu sehr mit Pathos zu erfüllen. Dabei bediente er sich der
Ironie. Er versuchte „in dieser Mischung Salz, Pfeffer und Zucker wohl dosieren, [...]
„den lyrischen Zauber zu zerstören, indem [er] große Stücke Metallschrott wie die
Nähmaschine im Garten plazierte. Oder die lange Liste von Stichworten aus einem
Lexikon, die den Duft der Pflanzen in einem Kapitel des Buches ersticken sollte“148.
Die zweite Schwierigkeit war, über die Vernichtung Mitteleuropas durch den
Nazionalsozialismus und antisemitische Vertreibungen zu schreiben. Kiš geht hier
auf die These „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ zurück, die
Theodor W. Adorno unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem Exil geschrieben und
1951 veröffentlicht hat. Damals schockierte diese Aussage und sorgte für heftige
Kritik unter den zeitgenössischen Autoren. Nach Kiš war diese Frage hinsichtlich der
dargestellten Problematik richtig gestellt, jedoch rein aus literarischem, stilistischem
Blickwinkel und weniger bezogen auf die Moralfrage. Diese bestätigt die bereits
angesprochene Problematik – wie soll darüber gesprochen werden, ohne dabei trivial
und oberflächlich zu sein. Das war auch Kišs größte Herausforderung – seine
Lieblingswaffe zu verwenden, ohne die Konzentrationslager die Verbannung außer
Sicht zu lassen - den Sarkasmus und die Ironie in ein dermaßen schwieriges und
tragisches Thema einzubringen. Danilo Kiš ist an diese Problematik unmittelbar
eingegangen, indem er die Vaterfigur als idealen, lustigen und sogar etwas
verdrehten Protagonisten, in den Mittelpunkt gestellt hat. Durch die Darstellung des
Bildes der Realität hat er diese Problematik gelöst.
147 Rakusa, Ilma (Hg.): DaniloKiš. Homo poeticus. Gespräche und Essays. München, Wien: Carl Hanser 1994. S. 216. 148 Ebd. S. 216.
66
Wissen Sie, in der Literatur ist es sehr schwierig, auf die Kosten der Mutter ironisch zu
sein... Die Mutter hat meinstens ausschließlich positive Züge, sie ist schön und
gutmütig... [...] Mit dem Vater, im Gegenteil, ist es schon leichter...149
Als er begann zu schreiben, machte Kiš eine Liste mit Erlebnissen. Da alle sehr
belastend und schmerzhaft waren, verschriftlichte er nur einige von der Liste – jene,
auf die er die Ironie anwenden konnte. Im Roman Frühe Leiden kommen einige
dieser qualvollen Erinnerungen vor, wie z.B. die Angst, die ein fester Bestandteil
seiner Kindheit war. Der Hunger war ebenfalls eines dieser Erlebnisse. Kiš erinnert
sich, immer hunger gehabt zu haben. Hunger und Angst sind zwei sehr dominante
Kindheitserinnerungen, deren Form er in Frühe Leiden mit vielen Details verändert
hat. Eine Reihe anderer Gefühle sind präsent, über die der Autor nicht schreiben
kann, weil er die Ironie nicht anwenden kann, und ein anderer Weg kommt für ihn
nicht in Frage.
Die Ironie ist das einzige Mittel gegen die Schrecken der Existenz. In der Und in der
Literatur ist sie die notwendige Zutat. Sonst ist das was wir schreiben entweder
sentimental oder weinerlich. In meinen Büchern verwende ich die Ironie und
verändere die Perspektive; einmal betrachte ich die Ereignisse objektiv, als
alwissender Romantikerzähler, dann zerstöre ich absichtlich wieder die Illusion, indem
ich mich an den Leser als Autor wende und ihm sage: wir haben es hier mit der
Literatur zu tun und sie ist nur die Spiegelung der Realität.150
6.2 Poetisierung der Sprache bei Ilse Aichinger
Aichingers Roman Die größere Hoffnung wird nicht selten als „politisch
verharmlosend“, „relativierend“ oder als „verklärend“ deklariert, was der poetischen
Sprache zugeschreiben werden könnte. Des Weiteren spricht Herrmann von
149 „Barok i istinotost“ [Baroque et vérité, Barock und die Wahrheit]. Gespräch mit Guy Scarpetta (1988). In: Danilo Kiš. Gorki
talog iskustva [Der bittere Bodensatz der Erfahrung]. Hg. v. Frano Cetinić-Petris, Predrag Lucić u.a. Split: Feral Tribune, 1997. S. 248. (Übers. d. Verf.)
150 „Ironijom protiv užasa egzistencije“ [Ironisch gegen die Schreken der Existenz]. Gespräch mit Burkhard Mšller-Ullrich (1989). In: Danilo Kiš. Gorki talog iskustva [Der bittere Bodensatz der Erfahrung]. Hg.v. Frano Cetinić-Petris, Predrag Lucić u.a. Split: Feral Tribune, 1997. S. 284. (Übers. d. Verf.)
67
semantischen Umbesetzungen und sprachlichen Verschiebungen im Roman Die
größere Hoffnung. 151
Zu den poetologischen Verfahren des Romans gehört es, […] historisch fixierte Begriffe
umzuschreiben, aufzubrechen und neu zu besetzen – die Verkehrung der Sinngebung
also zu wiederholen und durch diese Praktiken der Resignifikation Widerstand in der
Sprache zu leisten.152
Bei der Analyse von Dagmar C. G. Lorenz stoßen wir auf eine Diskussion hinsichtlich
der poetologischen Position Aichingers. Sie bezieht sich auf Aichingers Kritik gegen
die „Banalisierung des Nicht-Banalen, der sie mit sprachlichen Mitteln und der
Darstellung einer »totalen« Realität entgegenwirkt“. Die Rede ist von einer
Ablehnung des oberflächlichen, normierten Wissens, einem Verkennen der wahren
Dimensionen, einer verkannten Welt. Die Rolle des Autors soll sein, auf diese
Verkennung aufmerksam zu machen. In Bezug auf den Roman Die größere
Hoffnung erklärt sie die dargestellte Realität als eine aus zumindest zwei Schichten
bestehende Wirklichkeit, von welchen eine greifbar offenbart wird. Diese ist
gleichzeitig die oberflächliche Schicht der Wirklichkeit, die auch „von der Sprache
berührt wird“.153
Trotz ihrer physischen Anwesenheit ist diese Wirklichkeit jedoch eine Scheinrealität, in
die von Zeit zu Zeit Chiffren aus der anderen, transzendentalen, eingreifen.154
Ein anderer Wichtiger Punkt in dieser Analyse „ist, dass Aichinger die Welt als
Sprache gesehen hat. Damit ist gemeint, dass „die Welt Ausdruck für Bedeutungen
ist, daß sie als solche für etwas anderes steht, also selbst Kommunikation ist“. Als
„Kommunikationsmittel über ein Kommunikationsmittel“ ist die menschliche Sprache
nur „sekundäre Sprache, die versucht, die Ursprache der Welt und ihrer Prozesse in
einen vom Menschen verständlichen Verständigungsprozeß zu übersetzen“.155
Des Weiteren klassifiziert Lorenz viele Texte von Ilse Aichinger als „poetologische
Texte“. Der Text Die geöffnete Order156 bezeichnet sie als eine der Grundlagen für
151 Vgl. Herrmann, Britta: „Was wir einsetzen können, ist Nüchternheit“. Zum Werk Ilse Aichingers. Hg. v. Britta Herrmann u.
Barbara Thums. Würzburg: Königshausen 2001. S. 62. 152 Ebd. S. 63. 153 Vgl. Lorenz, Dagmar C.G.: Ilse Aichinger. Königstein/Ts.: Athenäum 1981. S. 32f. 154 Ebd. S. 33. 155 Ebd. S. 34. 156 Die Erzählung Die geöffnete Order erschien 1951 in den Frankfurter Heften, später im Band "Meine Sprache und ich", 1978.
68
ihre weiteren Werke, bei dem es um zwei Verständnisebenen geht, die
Verständnisebenen des Offiziers und des Kommandos auf der einen und jene des
Boten, der eine verschlüsselte Order trägt, auf der anderen Seite. Es entsteht eine
chaotische Situation, nachdem der Bote die Order öffnet und den Befehl auf die
Erschießung des Überbringers liest, ohne zu wissen, dass dies eigentlich ein Signal
zum Angriff ist, gerichtet an den Offiziersstab. Lorenz deutet hier auf eine Verwirrung
hin, die durch den Konflikt der Alltagssprache mit der Chiffre ausgelöst wurde.
Das gewöhnliche Verständnis versagt, wenn es gilt, spezifisch gerichtete
Informationen zu interpretieren. Obwohl sich eine spontane Deutung ergibt, führt sie
den nur durchschnittlich Informierten in die Irre.157
Die Chiffre ist daher ein spezifisches Kommunikationsmittel, das nicht für jeden
bestimmt ist, sondern an bestimmten Empfänger gerichtet, der die verschlüsselte
Botschaft dechiffrieren und verstehen kann.158
6.3 Dialogische Form und Überbrückung der Distanzen – Peter
Härtling
Nachgetragene Liebe und Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung sind zweifellos die
besten Beispiele von Härtlings Werken, die ein klares Bild seiner Lebensgeschichte
wiedergeben. Darin wiederspiegeln sich klar der Versuch sowie das Bedürfnis nach
der Aufhellung eines Lebensabschnittes des Autors. Dennoch steht das Leben
Härtlings nicht im Mittelpunkt des Geschehens, vielmehr geht es dem Autor um den
Umgang mit der Vergangenheit. Edgar Platen zieht das Werk Zwettl. Nachprüfung
einer Erinnerung näher in Betracht und sieht darin den Versuch des Autors, eine
sprachliche Verständigung zwischen Geschichte und Gegenwart zu schaffen,
ungeachtet der zeitlichen Distanz. Im Vordergrund steht das Gespräch zwischen der
Vergangenheit und dem gegenwärtigen Ich, das die zeitliche Distanz überwindet.
Das Ziel ist, die zeitliche Distanz zu überbrücken. Nicht nur die Distanz zwischen der
Vergangenheit und der Gegenwart soll überwunden werden, sondern auch die
157 Lorenz, Dagmar C.G.: Ilse Aichinger. Königstein/Ts.: Athenäum 1981. S. 34. 158 Vgl. Ebd. S. 35.
69
Distanz zu den Eltern sowie die persönliche Distanz bzw. jene zwischen dem
gegenwärtigen und dem vergangenen ich. Platen spricht von einer „innerpersonalen
Differenz“, die aus der „lebensgeschichtliche[n] Diskontinuität von erzählendem und
erzähltem Ich“ deutlich wird. So bezeichnet der Autor das erzählende Ich in der
Gegenwart als „Ich“. Das erzählte Ich wiederum hat in der erinnerten, erzählten
Vergangenheit unterschiedliche Formen – „Ich“, aber auch „der Junge“ oder „Er“,
wodurch die zeitliche Distanz betont wird.159
Tante K. erzählt: Einmal, als wir mit O. und dem Milchauto unterwegs gewesen waren,
wurden wir von der Militärpolizei angehalten. Es war in der Nähe vom Stift Zwettl, wir
kamen aus Wien. Sie kontrollierten unsere Papiere, sagten uns, wir könnten nicht
nach Zwettl, dort sei Typhus ausgebrochen.160
An einer anderen Stelle distanziert sich der Autor wieder und das erinnerte Ich
übernimmt eine andere Form:
Sie sind, erzählt Mimi N., manchmal ins Kino gegangen, gleich zu Beginn, die Russen
zeigten Märchenfilme. […] Er sah einen Film, in dem ein tatarischer Prinz in
unglaublicher Pracht um eine schöne Prinzessin warb. […] Da er die Dialoge nicht
verstand, redete er eine Geschichte mit, die ihm glaubhaft schien.161
Das erzählende Ich greift die zeitliche Distanz und den Widerspruch auf, die aus dem
vergangenen Ich in Form von „Er“ und dem gegenwärtigen Ich entstehen.
Beide sind identitätslogisch weder gleich noch grundlegend voneinander getrennt,
vielmehr sind beide metaphorisch-gegenläufig aufeinander bezogen.162
Was der Autor eigentlich mit der beschriebenen innerpersonalen Differenz anstrebt,
ist eine Annäherung an die Geschichte sowie die Überbrückung der Distanzen, die
die Ausgangssituation des Erzählens in Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung bilden.
Darin liegt der Versuch der Verständigung zwischen der Vergangenheit und der
159 Vgl. Platen, Edgar: Perspektiven literarischer Ethik. Erinnern und Erfinden in der Literatur der Bundesrepublik. Tübingen:
Francke 2001. S. 256f. 160 Härtling Peter: Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2008. S. 117. 161 Ebd. S. 125f. 162 Platen, Edgar: Perspektiven literarischer Ethik. Erinnern und Erfinden in der Literatur der Bundesrepublik. Tübingen: Francke
2001. S. 259.
70
Gegenwart, zwischen dem gegenwärtigen und dem vergangenen Ich, die sprachliche
Annäherung Härtlings an die Vergangenheit.
Des Weiteren betont Platen die epische Erinnerung des Ich als erzählerisches
Grundmotiv und, die den Roman als eine poetologische Metaebene durchzieht.
Dabei sei der Versuch einer „metapoetologischen Reflexion über das Erinnern
innerhalb des Erzählvorgangs“ die markante, hervorstechende Form dieses
Werkes.163 Dabei werden Erinnerungen ständig einem Prüfverfahren entweder durch
andere Erinnerungen, Erinnerungen anderer Personen, Dokumente,
Zeugenaussagen etc. unterzogen.
Für die Verständigung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, die
Annäherung an die Geschichte und die Überbrückung der Distanzen setzt Härtling
eine verständigende Sprache und geschichtliches Bewusstsein sowie bestimmte
Erfahrung voraus. Um dieses zu erreichen, ohne dabei die Erfahrungen, die
Geschichte und die Sprache selbst zu verlieren, setzt er das Dialogische als Form
der poetischen Sprache ein. Platen bezieht sich hier auf Härtlings Auffassung vom
Frieden als ethische Dimension, die die Vergangenheit und die Gegenwart auf die
gleiche Sprachebene zusammenbringt und stellt somit einen wesentlichen Aspekt
von Härtlings Poetik und seinem Geschichts- und Sprachverständnis in den
Vordergrund – die „Sprachlichkeit des Dialogs“.164
Gesucht ist bei Härtling nicht ein gesetzter Nullpunkt, aus dem nur Geschichts-
,Sprach- und Erfahrungsverluste resultieren können, sondern eine verbindende
Sprache, die Raum für ein gemeinsames dialogisches Gespräch schaffen kann. Eine
solche dialogische Sprache, die Gegenwart als geschichtlichen Raum zulassen kann,
wäre nicht nur Voraussetzung für ein Gespräch zwischen den Generationen, sondern
zugleich auch für den Frieden.165
Darüber hinaus wird die Bedeutung des Dialogischen auch seitens des Autors
besonders hervorgehoben, indem er die Sprache als eine „besondere Möglichkeit,
Menschen menschlicher zu machen“ bezeichnet. Platen deutet hier ausdrücklich auf
Härtlings Bezeichnung des „Menschen als dialogisches Wesen“ und Sprache des
163 Vgl. Ebd. S. 253. 164 Vgl. Ebd. S. 242. 165 Ebd. S 243f.
71
Dialogs hin, die nicht lediglich ein „Informationsaustausch zwischen einem abstrakten
Sender und einem abstrakten Empfänger“ ist.166
Peter Härtling erläutert in einem Gespräch mit Jürgen Krätzer seine Auffassung von
Lyrik und Prosa und weist auf die Unterscheidung zwischen dem lyrischen und dem
erzählenden Schreiben. Für ihn liegt der Unterschied zwischen Prosa und Lyrik
vielmehr in unterschiedlichen Haltungen des Autors. Nicht der Erzählraum und nicht
die lyrischen Bewegungen sind ausschlaggebend, vielmehr sind es zwei
unterschiedliche Haltungen der Schreibweise und des Umgangs mit Wörtern. Auf die
Frage, ob auf seine Schreibweise am ehesten die Romanform zusammentrifft, und
gleichzeitig zurückgreifend auf Härtlings frühere Aussage, dass ihn die strenge
Romanform nicht mehr interessiere (Herzwand), antwortet Härtling:
Was heißt Roman… Woran ich festhalte und was ich, glaube ich, von meiner inneren
Redestruktur her gar nicht anders kann, ist das epische Erzählen.167
6.4 Die Metapher
In diesem Kapitel soll weder ein umfassender Überblick über die historische
Entwicklung der Metapher in der Literatur gegeben werden, noch eine Erläuterung
der gegenwärtigen Analysen und Theorien. Es wird lediglich versucht, die
Verwendung und Bedeutung der metaphorischen Sprache im Zusammenhang mit
den Werken von Ilse Aichinger, Danilo Kiš und Peter Härtling zu untersuchen. Dabei
wird der Schwerpunkt auf poetologische Metaphern gesetzt, die sprachlich vermittelt
werden. Solche Metaphern können zwar völlig unabhängig und spontan als eigene
Struktur vorkommen, hier wird aber vielmehr ihre Bedeutung und Funktion in Bezug
zum Kontext in den bestimmten Werken erläutert.
Laut Platen ist das Metaphorische, neben dem Dialogischen und dem Fiktiven, die
elementare Form menschlicher Sprachlichkeit. In der Literatur strebt es nach
„Ähnlichkeiten, die Vergleiche und Verbindungen ermöglichen“, beschränkt sich aber
auf das geschichtlich Mögliche und verbindet die Fiktion mit der Wirklichkeit.
166 Vgl. Ebd. 245f. 167 Härtling, Peter: Das andere Ich. Ein Gespräch mit Jürgen Krätzer. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998. S. 162f.
72
Die Metapher drückt nicht den Status zwischen Dingen aus, sondern beschreibt einen
Prozeß: Die Bedeutung des einen wird auf das andere übertragen und umgekehrt,
und dazwischen entsteht ein Drittes, nämlich sinnhafte Welt.168
Die Metapher drückt also keine begriffliche Identität aus, sondern vielmehr die
Ähnlichkeit, indem sie die „Möglichkeit von Beziehungen und Verbindungen“
ermöglicht.169 Sie verhüllt das Existierende, damit neue Ähnlichkeiten entstehen
können.
6.4.1 Und wenn wir bei der Metapher angelangt sind, befinden wir uns in der Literatur – Danilo Kiš
Wenn von der poetologischen Sprache in den Werken von Danilo Kiš die Rede ist,
findet man sich sofort in einer Welt, die geradezu von Metaphern überfüllt ist. Durch
seine Werke zieht sich ein ständiger Faden des Bösen, eine ununterbrochene Tragik
und Pathetik sowie die autobiographischen Tatsachen, die der Autor durch die Ironie
und die Metapher zu beschatten und abzumildern versucht.
Die umfassende und unerschöpfliche Diskussion und insbesondere die vielen
Aussagen und Erläuterungen des Autors zum Titel des Buchs Sanduhr, des dritten
Teils der Familientrilogie, führt zu einer eigenen Analyse des Metaphorischen, ohne
dabei die Frage nach der Bedeutung des Buches als Teil der Trilogie aufzuwerfen.
Das Wort „Sanduhr“ (serbokroatisch Peščanik) hat in bosnischer/kroatischer/
serbischer Sprache eine mehrfache Bedeutung. Als Titel des gleichnamigen Buches
bildet es eine ausdruckstarke Metapher, die durch die Übersetzungen in andere
Sprachen schwer zu erhalten ist. Deswegen wird die Sanduhr selten in diesem
Kontext analysiert. Lexikographisch betrachtet, hat das Wort „peščanik“ vier
unterschiedliche Bedeutungen: 1) Sandstein (Steinart), 2) Sandgrube (Abbau von
Sand), 3) Ort, wo der Sand abgebaut wird, 4) Sanduhr (Stundenglas). In den meisten
Analysen wird ausschließlich die letzte Bedeutung in Betracht gezogen, wodurch die
Interpretation wesentlich spärlicher bleibt.
168 Platen, Edgar: Perspektiven literarischer Ethik. Erinnern und Erfinden in der Literatur der Bundesrepublik. Tübingen: Francke
2001. S. 141. 169 Vgl. Ebd. S. 141.
73
In einem Gespräch mit Zoran Sekulić wird Kiš gefragt, ob er im Roman Sanduhr
einen erkennbaren Riss feststellen kann. In seiner Antwort gibt deutet er die
„Sanduhr“ als einen Sandstein.
Sanduhr ist, glaube ich, im Sinne der techné vollkommen, es gibt keine Risse;
„Sanduhr ist als Ganzes ein Riß, und dieser Riß ist die »schmale Tür«, durch die man
in das Buch tritt, dieser Riß ist sein »Vollkommenheit«, seine Verschlossenheit, seine
Nichtaktualität, seine Hybridität. Und schon das Wort peščanik mit all seinen
Bedeutungen ist im Grunde eine Metapher für den Riß; peščanik als Sandstein, als
Wand aus Sand, ist ein Resultat geologischer Erschütterungen und Zerklüftungen,
peščanik als Sanduhr ist ein Riß, durch den der Sand fließt, die Zeit; Sanduhr ist das
Bild einer zerrissenen Zeit, zerrissener Menschen und ihres zerrissenen Schöpfers.
»Sanduhr« ist der vollkommene Riß!170
Auf der Suche nach der Entschlüsselung der vielen Antworten von Danilo Kiš
hinsichtlich der (Be)Deutung der „Sanduhr“ stellt sich heraus, dass jede Deutung auf
ihre Weise richtig ist und ihren festen Platz im Buch einnimmt. Einmal ist die
„Sanduhr“ eine perfekte Gesamtheit ohne „Risse“, dann ist sie wieder in ihrer
metaphorischen Bedeutung ein Riss, sowohl als Stundenglas als auch als Sandstein
– die Sanduhr ist die Metapher für einen Riss. Immerhin ist ein Sandstein das
Ergebnis von Steinbrüchen, die im Zusammenhang der (geologischen) Forschungen
auch zu neuen Erkenntnissen hinsichtlich der „Risse“ und der Opfer aus der
Geschichte führen könnten. Mit dieser Deutung weist Kiš auf die vergangene Zeit, die
gefallenen Opfer, die zerrissene Zeit und die zerrissenen Menschen hin, aber vor
allem stellt er die eigene Sicht der Welt, so wie er sie erlebt hat, samt seiner
Emotionen und dem Leid in den Vordergrund.
Jede einzelne Metapher der Familientrilogie zu untersuchen, würde den Rahmen
dieser Arbeit sprengen. Dennoch sollen an dieser Stelle ein paar weitere Metaphern
erwähnt werden, die wesentlich für die Interpretation des Gesamtwerkes sind.
Ohne näher auf die Rolle der Gegenstände bei Kiš einzugehen, soll die Sensibilität
für Details und die Metapher in diesem Zusammenhang als wesentlicher Aspekt
erwähnt werden. Vaters Koffer und sein Inhalt sind ein gutes Beispiel, wo dies
besonders zum Ausdruck kommt.
170 Rakusa, Ilma (Hg.): Danilo Kiš. Homo poeticus. Gespräche und Essays. München, Wien: Carl Hanser 1994. S. 154.
74
Wir besteigen den Zug mit lächerlichem Gepäck, ziehen das Zigeunerzelt unserer
Irrfahrten hinter uns her, das traurige Erbe meiner Kindheit. Unser historischer Koffer,
mit jetzt schon zerkratzten Schlössern, die ständig nachgeben und dazu verrostet
krachen, wie alte Vorderladepistolen, tauchte aus der Sintflut auf, alleine und wüst,
wie ein Sarg. In ihm liegt jetzt die traurige Hinterlassenschaft meines Vaters […].171
So begegnen wir dem Vater im ersten Buch der Trilogie Frühe Leiden als einer
dünnen Mondsichel, die mitten am Tag beobachtet werden kann, im zweiten Buch
Garten, Asche erscheint er als Vollmond, und im dritten Buch Sanduhr ist er nur noch
ein blasser, durch Wolken bedeckter Mond.
Sogar dem Problem des Judentums nähert sich Kiš als einer Metapher, um „das
Thema in literarischem Sinne zu verhüllen, die ihm immanente Tragik und Pathetik
abzumildern“.172
Der Tod des Vaters ist ein Thema, das sich durch das gesamte Werk von Danilo Kiš
zieht. Den Unterschied zwischen der Darstellung des Todes in Garten, Asche und
dem darauf folgenden Buch Sanduhr erklärt Kiš im Gespräch mit Brendan Lemon im
Jahr 1984:
Im Roman Garten, Asche geht es um eine Metapher, um die Ehrfurcht eines Kindes
gegenüber seinem Vater. Der Vater stellt immer eine Größe, eine Autorität dar. Es ist
fast eine Freud’sche Problematik: während einer gewissen Zeitraums stellt der Vater
einen König in der Beziehung zu seinem Kind dar, er ist allmächtig. Im Roman Garten,
Asche wollte ich diese Metapher weiterentwickeln, mit dem Ziel, eines Tages noch
etwas über den Vater zu schreiben. Im Roman Sanduhr wollte ich zum Gott werden,
Vaters Position einnehmen. […] Ich hoffe, dass die Leser in der Sanduhr dennoch die
Gefühle des Autors erkennen können, trotz meinen Bemühungen, sie zu verbergen.173
Letztendlich handelt es sich bei der Familientrilogie um autobiographische Werke,
deren Tatsachen bei Kiš stets eine „»verkomplizierte Form«, Metaphern und Ironie“
erfordern.174 Und wenn wir bei der Metapher angelangt sind, befinden wir uns in der Literatur.175
171 Kiš, Danilo: Frühe Leiden. München: Carl Hanser Verlag 1989. S. 121f. 172 Vgl. Rakusa, Ilma (Hg.): Danilo Kiš. Homo poeticus. Gespräche und Essays. München, Wien: Carl Hanser 1994. S. 191. 173 „Normalna osoba ne piše knjige“ [Eine normale Person schreibt keine Bücher]. Gespräch mit Brendan Lemon (1984). In:
Danilo Kiš. Gorki talog iskustva [Der bittere Bodensatz der Erfahrung]. Hg. v. Frano Cetinić-Petris, Predrag Lucić u.a. Split: Feral Tribune, 1997. S. 128. (Übers. d. Verf.)
174 Vgl. Rakusa, Ilma (Hg.): Danilo Kiš. Homo poeticus. Gespräche und Essays. München, Wien: Carl Hanser 1994. S. 191. 175 Ebd. S. 191.
75
6.4.2 Chiffren und das metaphysische Kommunikationssystem bei Ilse Aichinger
Wenn wir den Roman Die größere Hoffnung von Ilse Aichinger näher unter die Lupe
nehmen und auf Metapher untersuchen, kommen wir wieder auf das bereits
erwähnte System von Chiffren als Teil eines metaphysischen
Kommunikationssystems zurück. Die Chiffren eröffnen eine zweite Realität, die hinter
der Wirklichkeit versteckt ist und erst durch bestimmte Andeutungen erkennbar
wird.176 Als erste Chiffre im Roman sieht Lorenz in der Gestalt des Visums, das
gleichzeitig eine Metapher für Hoffnung auf Flucht darstellt. Die Bedeutung des
Visums steigt und wird zu einem „Verweis auf den innerlichen Weg in die Freiheit“.
Darüber hinaus wird die „kindliche Phantasie und Originalität im Gegensatz zu den
einfallslosen bürokratischen Formularen“ durch die Zeichnungen und das optische
Bild des Visums in den Vordergrund gestellt. 177
Sie hielt ihm den Zeichenblock dicht unter das Gesicht. Ein weißes Blatt war
eingespannt, darauf stand mit großen, ungeschickten Buchstaben »Visum«.
Rundherum waren bunte Blumen gezeichnet, Blumen und Vögel, und darunter lief ein
Strich für die Unterschrift.178
Besonders auffallend sind die ausgewählten Bilder, die „Zeichen der Freiheit und des
organischen Lebens, der Hoffnung, kurz alles dessen, was durch den Krieg bedroht
ist und durch das Nazirégime verleugnet wird“.179
6.4.3 Zwischen Spiel und Wirklichkeit – Ilse Aichinger
Die kindliche Phantasie im Werk Aichingers ermöglicht einen großen Spielraum für
metaphorische Sprache. Der Spielraum kann gleich buchstäblich interpretiert
werden, denn bei dieser Form der Metapher geht es um durch die Kindheit
verschafften Spielraum. Das Spiel wird zum Instrument, um
176 Vgl. Kapitel 4.2. Über die Erzählsituation im Roman Die größere Hoffnung. 177 Vgl. Lorenz, Dagmar C.G.: Ilse Aichinger. Königstein, Taunus: Athenäum 1981. S. 69. 178 Aichinger, Ilse: Die größere Hoffnung. München: Süddt. Zeitung GmbH 2007. S. 14. 179 Vgl. Lorenz, Dagmar C.G.: Ilse Aichinger. Königstein, Taunus: Athenäum 1981. S. 69.
76
Hintergrundinformationen über die Protagonistin Ellen zu liefern, ohne konkrete
Angaben bekannt zu geben.
An dieser Stelle einer konkreten Altersangabe tritt ihre Vorliebe zu malen und zu
spielen, statt des Wohnorts werden die Spielplätze beschrieben, ja ihre Spiele und
Tagträume sind die einzigen Angaben, die Rückschlüsse auf die Person zulassen.180
Das erste Spiel, das im Roman beschrieben wird, ist Ellens Versteckspiel mit der
Mutter, die in der Wirklichkeit abgereist und von Ellen nicht mehr zu finden ist.
Rosenberger macht hier auf das komplexe Verhältnis zwischen Spiel und Wirklichkeit
aufmerksam, indem sie dem Spiel eine „aktive, die Wirklichkeit beeinflussende
Funktion“ zuschreibt. Hierbei versucht Ellen, die erschreckende Realität durch ihre
spielerische Interpretation verändern zu können. Im Roman findet auch ein zweites
Versteckspiel statt, nämlich jenes auf dem jüdischen Friedhof, das seitens Ellen „von
Anfang an als Mittel gegen die Verzweiflung“ veranlasst wird.181
Eins, zwei, drei, abgepaßt, wir spielen Verstecken. Wer sich gefunden hat, ist
freigesprochen. Dort, der weiße Stein! Da wird der Raum zur Zuflucht. […] »Nein, ich
lasse euch nicht nachdenken, ich will spielen, ich weiß den besten Platz! Soll ich ihn
euch verraten? Dort drüben – wo die ältesten Gräber sind! Wo die Steine schon schief
stehen und die Hügel einsinken, als wären sie nie gewesen!«182
Neben dem Versteckspiel183 mit der Mutter und dem mit den jüdischen Kindern auf
dem Friedhof hebt Rosenberger weitere zwei Spiele hervor: das erfundene
Rettungsspiel, bei welchem ein Kind ins Wasser fällt, um gerettet zu werden und das
Friedensspiel, das durch die Deportation der Kinder unterbrochen wird. In jedem von
den dargestellten Spielen steht die Verfolgungserfahrung im Vordergrund.
Hier soll aber näher das Ringelspiel untersucht werden, das Rosenberger als
Wahrnehmungsmetapher bezeichnet. In diesem Spiel dürfen die jüdischen Kinder
einmal auf dem verbotenen Ringelspiel fliegen, was Ellen jederzeit erlaubt ist. In
diesem Spiel findet also ein Rollentausch statt – während die jüdischen Kinder für
einen Augenblick in Ellens Rolle schlüpfen dürfen, nimmt Ellen die Rolle der 180 Rosenberger, Nicole: Poetik des Ungefügten. Zur Darstellung von Krieg und Verfolgung in Ilse Aichingers Roman „Die
größere Hoffnung“. Hg. v. Wendelin Schmidt-Dengler. Wien: Braumüller, 1998. S. 16. 181 Vgl. Ebd. S. 18. 182 Aichinger, Ilse: Die größere Hoffnung. München: Süddt. Zeitung GmbH 2007. S. 45. 183 Ein Versteckspiel kommt auch in der Familientrilogie von Danilo vor. Das Verschwinden des Vaters (nach der Bekanntgabe
seines Todes) wird nicht als Tod, sondern als ein Versteckspiel dargestellt.
77
Zuschauerin an. Die Verortung der jüdischen Kinder wird in dieser Zeit aufgehoben,
welche sie gewöhnlich an der „spielerischen Annäherung an die Realität, wie sie für
Ellen typisch ist“ verhindert.184
Das Karussell ist für die jüdischen Kinder verboten. Jetzt „fliegen“ sie auf einmal auf
dem Ringelspiel. Sie werden von den „schweren Schuhen“, die auf einen
„unbeweglichen und erstarrten Zustand“ hindeuten, erlöst.
Die Kinder flogen. Sie flogen gegen das Gesetz ihrer schweren Schuhe und gegen
das Gesetz der geheimen Polizei.185
Das Fliegen ist das eigentliche Ziel des Spiels und für die jüdischen Kinder stellt es
die „Erfahrung der entfremdeten Wahrnehmung“ dar. Da es sich aber um ein Spiel
handelt, das einen Rollentausch nur für eine bestimmte Zeit vorsieht, ist auch diese
Erfahrung für die jüdischen Kinder nur temporär. Die Metapher des Fliegens
wiederholt sich als Ellen die Amtsträger, die sie festhalten, in einem Lied auffordert,
die Stiefel gegen die Flügel auszuwechseln.
[…] Denn morgen ist Nikolaus,
Stellt die Stiefel ins Fenster, der Teufel wird sie holen,
Denn morgen ist Nikolaus,
Er bringt euch Flügel dafür,
Flügel, schöne Flügel, […]186
Auf dem Ringelspiel befindet sich Ellen auch noch ein letztes Mal am Ende des
Buches, kurz bevor sie von einer Granate in Stücke zerrissen wird.
Es war ihr, als flöge sie zum letztenmal auf dem alten Ringelspiel. Die eisernen Ketten
krachten. Sie waren bereit, Ellen fliegen zu lassen. Sie waren bereit, zu zerreißen.187
184 Rosenberger, Nicole: Poetik des Ungefügten. Zur Darstellung von Krieg und Verfolgung in Ilse Aichingers Roman „Die
größere Hoffnung“. Hg. v. Wendelin Schmidt-Dengler. Wien: Braumüller, 1998. S. 60. 185 Aichinger, Ilse: Die größere Hoffnung. München: Süddt. Zeitung GmbH 2007. S. 35 186 Ebd. S. 176. 187 Ebd. S. 221.
78
6.4.4 Der Stern
Obwohl auch ebenfalls ein „Halbjude“, Danilo Kiš hat nie den Davidsstern getragen.
Da aber das Gesetz vorgeschrieben hatte, dass männliche Kinder aus Mischehen die
Religion des Vaters und die weiblichen Kinder die Religion der Mutter annehmen,
hatte Danilos Mutter zwei gelbe Davidssterne, einen kleinen und einen größeren, auf
ihrer Nähmaschine genäht. Wir standen vor ihr, mein Vater und ich, steif wie bei einer Kleideranprobe, und sie, mi
Stecknadeln zwichen den Lippen, schieb die Sterne auf unseren Mantelaufschlägen
hinauf und hinunter.188
Kiš erzählt weiter, dass er sich nicht sicher ist, ob sein Vater mutig genug war, in
seinem Fall gegen das Gesetz zu handeln oder ob er eine Gesetzeslücke fand, die
er mit seiner Taufe in Verbindung bringen konnte. „Bis auf den Tag der
Generalprobe“ hat er den Stern nie wieder getragen.189
In der Literatur von Danilo Kiš wird der Davidsstern fast nie erwähnt, dennoch ist er
sehr oft präsent. Es war eine große Herausforderung für ihn als Schriftsteller, eine
bestimmte Zeit und eine versickerte Welt darzustellen, ohne dabei auf die zu oft
verwendeten Merkmale und Symbole zurückzukommen. Die Herausforderung hieß,
wie soll das geschildert werden, ohne den Davidsstern zu enttarnen.
Der Davidsstern wird zu einer Sonnenblume auf dem Gehrock von Eduard Sam, so wie
im Roman Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch Stalin zu einem Porträtbild auf der
Wand in der Kanzlei wird […].190
Anders als bei Kiš ist der Davidsstern im Roman Die größere Hoffnung ein stets
präsentes Begleitbild des Geschehens. Peter Härtling meint dazu, das Symbol des
Sterns hätte „in seiner Vielfalt einen Rand von Urteilen und Vorurteilen bekommen.191
Unbestritten bleibt aber die Tatsache, dass dem Stern in diesem Roman eine
188 Rakusa, Ilma (Hg.): Danilo Kiš. Homo poeticus. Gespräche und Essays. München, Wien: Carl Hanser 1994. S. 18. 189 Vgl. Ebd. 18. 190 „Imenovati znači stvoriti [Hommer c’est créer. Benennen heißt Schaffen]. Gespräch mit Norbert Czarny (1985). In: Danilo Kiš.
Gorki talog iskustva [Der bittere Bodensatz der Erfahrung]. Hg.v. Frano Cetinić-Petris, Predrag Lucić u.a. Split: Feral Tribune, 1997. S. 156. (Übers. d. Verf.)
191 Härtling, Peter: „Ein Buch, das geduldig auf uns wartet“. In: Ilse Aichinger. Leben und Werk. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage. Hg. v. Samuel Moser. Frankfurt/M: Fischer 1995. S. 177.
79
wesentliche Bedeutung zugeschrieben wird – eine Metapher mit der „Macht, die Zeit
aufzulösen in das andere und die Angst durchzustoßen“.192 Für Ellen stellt der Stern
gleichzeitig ein „wundervolles Geheimnis“ und andererseits sieht sie ihn als
„grausames Stigma“.193 Ellen wählt den Stern freiwillig und entscheidet sich damit für
ein Leben voller Leid und Demütigung. Sie bringt eine Art Opfer für ihr Volk und zeigt,
dass sie gegen die Diktatur und die Vorschriften des Nationalsozialismus und für das
Gute und die Gerechtigkeit ist. Der Stern wird zum begehrten Symbol der „Freiheit,
Unabhängigkeit, Harmonie mit dem Kosmos, Transzendenz “. Des Weiteren führt
Fields die Verbindung des Sterns mit den Vögeln, dem Himmel und Hoffnung, der
Nacht und dem Tod, mit dem Glanz, im Gegensatz zu der Finsternis“ an.194 Britta
Hermann bestätigt ebenso die vielfältige Deutung und behauptet, dass der Stern
„alles!“ bedeuten kann, „Todessymbol ebenso wie Davidsstern, Stern von Bethlehem,
Seitstern und Lichtsymbol.“195
Auch das bereits erwähnte Visum als Chiffre steht in Verbindung mit dem Stern196.
Das Visum wird im weiteren Verlauf durch den Stern ersetzt und übernimmt die
Bedeutung der Freiheit.
So sieht auch Lorenz die vielfältigen Assoziationen, die mit dem Stern in Verbindung
gebracht werden, und bezeichnet den Stern als die komplexeste Chiffre des Romans
Die größere Hoffnung.
Einmal ist der Stern in der Bedeutung des Schicksals, weiterhin der Stern Davids, der
Stern von Bethlehem, und, in der historisch gebundenen Form, der Judenstern,
Abzeichen der Verfolgten.197
In erster Linie aber vermittelt der Stern den Verbot, die Einschränkung, die
Verfolgung. Er ist das Zeichen für all das, was die jüdischen Kinder nicht machen
dürfen.
192 Vgl. Müller, Heidy Margrit: Verschwiegenes Wortspiel. Kommentare zu den Werken Ilse Aichingers. In: Akten des
Internationalen Colloquiums vom 27. bis 28. April 1998 an der Vrije Universiteit Brussel. Bielefeld: Aisthesis 1999. S. 161. 193 Vgl. Rosenberger, Nicole: Poetik des Ungefügten. Zur Darstellung von Krieg und Verfolgung in Ilse Aichingers Roman „Die
größere Hoffnung“. Hg. v. Wendelin Schmidt-Dengler. Wien: Braumüller, 1998. S. 60. 194 Fields, Hanna Schuster: Mythologie und Dialektik in Ilse Aichingers „Die größere Hoffnung“. Dissertation. Presented to the
Faculty of the Graduate School of The University of Texas at Austin. Austin, Texas: 1991. S. 106. 195 Vgl. Britta Herrmann: „Gegenworte, Sprachwiderstände. Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung. In: „Was wir einsetzen
können, ist Nüchternheit“. Zum Werk Ilse Aichingers. Hg. v. Britta Herrmann u. Barbara Thums. Würzburg: Königshausen&Neumann 2001. S. 64.
196 Auf dem Visum sind Sterne abgebildet. 197 Lorenz, Dagmar C.G.: Ilse Aichinger. Königstein, Taunus: Athenäum 1981. S. 71.
80
Dem Stern begegnen wir auch in Bezug auf König David, der den Anführer des
verfolgten Volkes repräsentiert, das gleiche Schicksal und vor allem den gleichen
Stern teilt
Der Stern als Himmelkörper kommt nur an einigen Stellen vor, wo der Stern für das
Ende steht – das Kriegsende und das Ende Ellens. Während der Stern im
übertragenen Sinne vorwiegend als Metapher für die Zerstörung eine negative
Konnotation hat, begegnet der Leser am Ende dem Morgenstern. Durch diese
Wandlung wird der Stern zum Schluss zur Metapher für die „größere Hoffnung“.
Lorenz versteht den Morgenstern hier als Verkörperung und Zeichen der Macht
Christi, das ausschließlich eine Erlösung für Ellen bedeutet.198
Über den umkämpften Brücken stand der Morgenstern.199
6.4.5 Das Dokument als Illusion der Wahrhaftigkeit - Danilo Kiš
Die Metapher und die Ironie sind zwei wichtigste Hilfsmittel, der sich Danilo Kiš
bedient, um seine autobiographischen Texte abzumildern und eine gewisse
Objektivität zu erreichen. Laut Kiš geht die Objektivität in der Literatur aus der
künstlerischen Erfahrung hervor.200 Sie entsteht durch die Schreibform des
Schriftstellers und ist gleichzeitig ein Bestandteil dieser Form, der sich der Pathetik
und der Sentimentalität widersetzt.
Als ein weiteres wesentliches Instrument auf dem Weg zur Objektivität setzt Kiš des
Öfteren das Dokument als Methaper ein. Abgesehen von der Objektivität strebt Kiš
ein weiteres Ziel an, nämlich die Authentizität. Die Literatur soll den Leser von der
Wahrhaftigkeit des Geschilderten überzeugen und das Dokument ist „die sicherste
Methode, um überzeugend und wahrhaftig zu wirken“.201 Der Autor möchte den
Leser von der Wahrhaftigkeit überzeugen, sodass jede willkürliche Aussage und jede
Art von Phantasie mit Details begründet werden muss.
198 Vgl. Rosenberger, Nicole: Poetik des Ungefügten. Zur Darstellung von Krieg und Verfolgung in Ilse Aichingers Roman „Die
größere Hoffnung“. Hg. v. Wendelin Schmidt-Dengler. Wien: Braumüller, 1998. S. 108. 199 Aichinger, Ilse: Die größere Hoffnung. München: Süddeutsche Zeitung 2007. S. 221. 200 Vgl. Rakusa, Ilma (Hg.): Danilo Kiš. Homo poeticus. Gespräche und Essays. München, Wien: Carl Hanser 1994. S. 192. 201 Vgl. Ebd. S. 201.
81
Denn ohne all das [Vaters Archiv Dokumenten] ohne diese Manuskripte und
Pthotografien, wäre ich heute ganz bestimmt überzeugt, daß es das alles gar nicht
gab, daß alles nur eine nachträgliche, erträumte Geschichte ist, die ich mir zum Trost
ausgedacht habe. Die Gestalt meines Vaters wäre aus meiner Erinnerung gestrichen,
wie so viele andere, und wenn ich die Hand ausstrecken würde, faßte ich ins Leere.
Ich würde meinen, ich träumte.202
Kišs Texte basieren zwar auf authentischen Daten, dennoch behauptet er, dass
gerade jene Texte, die „am ehesten dokumentarisch wirken, den größten Anteil an
Erdachtem [sowie an Phantasie] enthalten“.203 Das Ziel ist jedoch, den Leser zu
überzeugen, dass das Erzählte, oder das meiste davon, tatsächlich passiert ist. Und um diesen Effekt zu erreichen, sind alle Mittel gut, wenn sie zweckentsprechend
sind. Die dokumentarische Methode dient also vorrangig dazu, den Leser nicht nur
von der Authentizität der Geschichte zu überzeugen, sondern auch von der Echtheit
des ihm präsentierten »Dokuments«.204
Ob das Dokument echt oder falsch ist, bleibt nebensächlich. Wichtig bleibt nur das
vorrangige Ziel – „die Illusion der Wahrhaftigkeit zu erzeugen.“ Die Funktion des
Dokumentes, des echten sowie des falschen, ist, den Text in Form zu bringen und
das unnötige Interpretieren zu verhindern.
Kišs Auffassung von der Rolle der Literatur hinsichtlich ihres korrigierenden
Einflusses auf die Geschichte wurde bereits in einem der vorherigen Kapitel erwähnt.
Auch in Bezug auf die dokumentarische Methode erscheint dieser Aspekt
erwähnenswert, zumal sie die Geschichte durch die authentischen Dokumente,
Briefe und Gegenstände wahrhaftig erscheinen lässt.
Die Literatur ist die Konkretisierung des Abstrakten der Geschichte. Wenn wir uns
ausschließlich auf die Phantasie verlassen, setzen wir uns der Gefahr aus, im
Abstrakten zu versinken: daher die Notwendigkeit des Dokuments.205
202 Kiš, Danilo: Frühe Leiden. München: Carl Hanser Verlag 1989. S. 122f. 203 Vgl. Ebd. S. 208. 204 Ebd. S 208. 205 Imenovati znači stvoriti [Hommer c’est créer. Benennen heißt Schaffen]. Gespräch mit Norbert Czarny (1985). In: Danilo Kiš.
Gorki talog iskustva [Der bittere Bodensatz der Erfahrung]. Hg. v. Frano Cetinić-Petris, Predrag Lucić u.a. Split: Feral Tribune, 1997. S. 155. (Übers. d. Verf.)
82
Unter dem Abstrakten der Geschichte könnte die unpersönliche und die
unleidenschaftliche Seite sein, während die Literatur Konkretes bietet, die
Darstellung der Zerstörung in der Geschichte.
Die dokumentarische Methode ist kennzeichnend für das gesamte Werk von Danilo
Kiš, so ist auch die Familientrilogie sehr vom dokumentarischen Stil, der
Zeugenaussagen und den eigenen Erfahrungen sehr geprägt, wobei das
Dokumentarische am meisten im dritten Teil, der Sanduhr, vorkommt. In dieser
Hinsicht kann auch gesagt werden, dass die Sanduhr eine sehr strikte künstlerische
Struktur hat, die sich in erster Linie auf das Dokument stützt.
Das wesentliche Dokument dieses Romans ist der Brief des Vaters an seine jüngste
Schwester Olga, indem die Handlung und Form der Erzählung bestimmt wird.
Liebe Olga! Deinen kurzen Brief, den Du mir durch Babika hast überbringen lassen,
beantworte ich etwas ausführlicher, da Ihr mich Gott sei Dank mit Themen reichlich
versorgt: meine lieben Verwandten liefern mir ausgiebig Material für einen
bürgerlichen Grusel- und Schauerroman [...].206
Anlässlich des zehnten Todestages von Danilo Kiš veröffentlichte im Jahr 1999 die
serbische Zeitschrift Politika eines der bedeutendsten Interviews mit diesem
Schriftsteller, welches Boro Krivokapić im Jahr 1979 geführt hat.
In diesem Gespräch spricht Kiš auch über die Sanduhr und die Bedeutung der
Dokumente in diesem Roman. Als erstes Beispiel nennt er ein medizinisches
Gutachten seines Vaters, der unter Hunderten von Menschen der einzige ist, der den
Beweis über seine Geisteskrankheit schwarz auf weiß hat. Dabei erwähnt er auch,
dass manche Kritiker darin den Einfluss des modernen Romans erkannt haben, in
welchem die Protagonisten in der Regel geisteskrank oder psychisch gestört sind.
Mit dem Hinweis, dass die Kritiker nichteinmal einem Dokument trauen stellt er seine
Behauptung unter Beweis:
Ich gebe es [das Dokument] im Ganzen wieder, also wieder schwarz auf weiß, dieses
einmalige Dokument, das seitens des Gerichts in Kovin am 25. März 1940 ausgestellt
wurde, aufgrund dessen das erwähnte Gericht (Paragraph 194, Absatz 2 und 10) die
Entlassung aus der Klinik für seelische Erkrankungen für den genesenen Patienten
E.S. genehmigt, unter bestimmte Voraussetzungen, die im Dokument ebenfalls
angeführt sind. Also, wie sie sehen, es handelt sich um einen genesenen Patienten
206 Kiš, Danilo: Sanduhr. München: Carl Hanser Verlag 1988. S. 273.
83
und die Tatsachen sprechen demnach gegen die Aussagen der Kritiker und des
modernen Romans und zugunsten des genesenen E.S.207
Auf die Frage, ob der Roman Sanduhr eine Rekonstruktion, die Abbildung einer Zeit
und eines Zustands ist, erklärt der Autor, dass die Sanduhr in erster Linie ein
Dokument ist. Wie jedes andere Buch ist auch die Sanduhr eine Welt und Struktur für
sich, aber das Dokument und die Rekonstruktion sind dafür da, um die Sicht auf
diese Welt frei zu machen, sie sind der Schlüssel für diese Tür.
Die dokumentarische Methode ermöglicht eine Sicht auf die Protagonisten und das
Geschehen aus unterschiedlichen Blickwinkeln und schließt unterschiedliche
Zeugenaussagen ein.208
Dennoch soll betont werden, dass die dokumentarische Methode in den Werken von
Danilo Kiš eine Mischung aus Dokumenten und Phantasie ist, eine Kombination, die
er anwendet, um die Dokumente vor einem rein geschichtlichen Licht zu bewahren
und die Erzählung nicht als geschichtlichen Essay erscheinen zu lassen.
Und diese Grenze zwischen Dokument und Phantasie erscheint mir so sichtbar, so
dass ich mich nur darauf konzentriere, den Übergang zu schaffen, diese beiden zu
verbinden. Ich fange immer mit einem Dokument an und setze es dem Prozess aus,
den die Russen ostranenije nennen, dem Prinzip der Verfremdung, um es „merkwürdig“
wirken zu lassen. Anderenfalls wäre das nur ein geschichtlicher Essay. [...] Die andere
Gefahr wäre, nur die Dokumente und Erinnerungen darzustellen, nur ein
Memoirenschreiber oder Historiker zu werden. Ich spiele zwischen den beiden
Risiken.209
Die dokumentarische Methode begründet Kiš außerdem mit der Behauptung, dass
der moderne Leser eher dem Dokument als dem Autor sein Glauben schenken wird,
wozu ihn die Skepsis treibt. Einen solcher Leser muss durch ein Dokument
überzeugt werden, auch wenn dieses Dokument zum Teil die Phantasie des Autors
207 Krivokapić, Boro: Sećanje: Danilo Kiš (1935-1989). Naši putevi se razilaze. Interview mit Danilo Kiš (1979). Politika, 1999.
http://www.knjizara.com/index.php?gde=http://www.knjizara.com/pkch/data99/Secanje_Danilo.html (27.12.2008) 208 Zwei Kapitel im Roman Sanduhr sind den Zeugenaussagen gewidmet: Zeugenvernehmung (I) und Zeugenvernehmung (II). 209 „Barok i istinotost“ [Baroque et vérité, Barock und die Wahrheit]. Gespräch mit Guy Scarpetta (1988). In: Danilo Kiš. Gorki
talog iskustva [Der bittere Bodensatz der Erfahrung]. Hg. v. Frano Cetinić-Petris, Predrag Lucić u.a. Split: Feral Tribune, 1997. S. 250. (Übers. d. Verf.)
84
wiederspiegelt. Es soll nur eine „Illusion des Dokumentarischen, der Glaubwürdigkeit“
geschaffen werden.210
6.4.6 Das Dokument und die Zuverlässigkeit der Erinnerung – Peter Härtling
Im Roman Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung begegnen wir ebenfalls der
dokumentarischen Methode. Während Kiš die Dokumente einsetzt, um den Leser
von der Glaubwürdigkeit des Erzählten zu überzeugen, geht es Härtling vielmehr
darum, einerseits sich selbst zu überzeugen bzw. die Unsicherheit der eigenen
Erinnerungen zu überprüfen und andererseits das Erinnerte zu relativieren. Die
Zuverlässigkeit der Erinnerungen wird in Frage gestellt, um sie dann durch andere
Erinnerungen, mehrstimmige Erinnerungstexte sowie selbstkritischen Erzähler
zurückzuholen. Die Zuverlässigkeit wird dann wieder durch Zeugenaussagen und
Dokumente in Frage gestellt, die Erinnerungen werden relativiert. Platen nennt
diesen Prozess im Roman eine „konstruierende und rekonstruierende Annäherung
an die Vergangenheit“. Die Vergangenheit entwickelt sich zu einer „befragbaren
Geschichte“, wobei das Erinnerte nicht fixiert sondern eher relativiert wird.211 Dies
lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass sogar die Zuverlässigkeit der
Dokumente in Frage gestellt wird. Als Beispiel im Roman Zwettl. Nachprüfung einer
Erinnerung werden die Dokumente der Stadtgemeinde Zwettl angeführt, die die
Nachkriegsumstände sehr unübersichtlich darstellen und daher die Zuverlässigkeit
nicht sicher können. Darüber hinaus stimmt das Erinnerte teilweise nicht mit den
Informationen, die aus den Dokumenten zu entnehmen sind, überein.
Es sei, berichtigt Tante K. mit Erbitterung, alles falsch. So habe es sich nicht
zugetragen. Ich muß es besser wissen. Ich habe da mitgemacht. Wie kannst du dich
daran noch erinnern. Ich weiß es ganz genau. Ich habe die Unterschriften geleistet,
deine Mutter war nicht dabeigewesen, ich habe unterschrieben, ich ganz allein, ich
habe »Leutnant Stolz« geschrieben, es ist auch meine Idee gewesen. Und wer hat die
Entlassungsscheine ausgeschrieben? Das kann ich nicht sagen. Ob es Vater
210 Vgl. „Dobro nameštene zamke“ [Gut ausgelegte Fallen]. Gespräch mit Dragan R. Marković. (erschienen 1989). In: Danilo
Kiš. Gorki talog iskustva [Der bittere Bodensatz der Erfahrung]. Hg. v. Frano Cetinić-Petris, Predrag Lucić u.a. Split: Feral Tribune, 1997. S. 276. (Übers. d. Verf.)
211 Platen, Edgar: Perspektiven literarischer Ethik. Erinnern und Erfinden in der Literatur der Bundesrepublik. Tübingen: Francke 2001. S. 253.
85
gewesen ist? [...] Ein anderer hat behauptet, es sei Mutter gewesen, die
unterschrieben habe. [...] In meiner Erinnerung ist sie es gewesen. Das ist falsch, ich
war der Leutnant Stolz, du kannst sicher sein, ich bin, ich bin es gewesen, ich allein,
ich sehe das noch vor mir. Und wo war Mutter? Das weiß ich nicht. Sie war nicht da.
Sie war nicht dabei.212
Die Dokumente, in diesem Fall die Entlassungsbescheinigungen, wurden von
Soldaten selbst ausgestellt und unterschrieben und darauf folgend von der
Stadtgemeinde genehmigt. Die Zuverlässigkeit der amtlichen Dokumente wird durch
unterschiedliche Erinnerungen, Annahmen der Fälschung, Unsicherheit und
Zeugenaussagen, wer sie tatsächlich unterschrieben hat, relativiert. Die Dokumente
sind also, anders als bei Kiš, alles andere als Beweismaterial der vergangenen
Geschehnisse.213
212 Härtling, Peter: Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2008. S. 25f. 213 Vgl. Platen, Edgar: Perspektiven literarischer Ethik. Erinnern und Erfinden in der Literatur der Bundesrepublik. Tübingen:
Francke 2001. S. 262.
86
7. Der Tod – das obsessive Thema 7.1. Der Tod als Erlösung – Ilse Aichinger
Mit ihrer Aussage, dass sie sich nach dem Tod, aber ohne Sterben, sehnt, macht Ilse
Aichingers Vorstellung und Darstellung dieses Motivs sehr interessant. Den Tod
trennt sie klar vom Sterben, denn der Tod ist ein „Zustand“ und das Sterben ein
„Prozess“. Im Gespräch mit Julia Kospach beschreibt sie ihren Bezug zum Tod:
Mein einziger Kummer ist, dass man ihn nicht erfährt, den Zustand »Tod«. […]Ich
möchte, während ich tot bin, denken »Ich bin jetzt tot!«. Ich finde es erbitternd, dass
ich den Triumph, weg zu sein, dann nicht auskosten kann. Das ist natürlich ein
Widerspruch, denn wenn ich dann tot bin, hoffe ich, wirklich vollkommen weg zu sein,
wie ich es eigentlich immer sein wollte.214
Der Tod macht Ilse Aichinger keine Angst, ganz im Gegenteil. Anders sieht es mit
dem Sterben aus, den sie als einen körperlichen Vorgang betrachtet, den sie bereits
als kleines Mädchen, dadurch dass ihre Mutter Ärztin von Beruf war, miterleben
konnte. Aichinger verbindet das Schreiben mit dem Tod, indem sie gute Literatur mit
dem Tod gleichstellt. Eine gute Literatur identifiziert sie ebenfalls mit einem Adel, der
„in dem Will zur Nicht-Existenz“ besteht. Dennoch versucht sie, nicht sehr viel über
den Tod nachzudenken, um nicht ihr Gefühl, dass ihre Existenz ein Nonsens war, zu
bestätigen.215
Neben Flucht, Krieg und Verfolgung ist auch der Tod im Roman Die größere
Hoffnung ein sehr wichtiges Motiv, anwesend vom Anfang bis zum Ende des Buches.
Es in den Spielen, den Abschieden und eigentlich in allen Situationen, welche die
kleine Ellen umgeben. Der Tod nimmt im Roman verschiedene Gestalten an, welche
mit der Angst, Hoffnung und letztendlich auch mit dem Jüdischsein in Verbindung
stehen. Er gehört zu Ellens Alltag. Sie wird ständig mit dem Sterben und den
Sterbenden konfrontiert. Der Spielplatz der Kinder ist der Friedhof, da dieses der
einzige Platz ist, wo sie ungestört spielen dürfen. Hier sind die Kinder sogar mit der
Toten-Welt verbunden, der Welt, in welcher sie sich wieder finden, denn der Tod ist
214 Kospach, Julia: Ich halte meine Existenz für völlig unnötig. In: Aichinger, Ilse: Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952-
2005. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien: Ed. Korrespondenzen 2011. S. 203. 215 Vgl. Ebd. S. 205-209.
87
deren Schicksal. Nicht nur den Tod der Freunde, sondern auch den Tod bzw. den
Selbstmord der geliebten Großmutter, muss die kleine Ellen miterleben. Mit der
Angst der Großmutter vor der Gestapo, versucht Ellen zuerst spielerisch umzugehen.
Während sie darauf warten, dass die Großmutter abgeholt wird, versucht die
Großmutter krampfhaft das vorbereitete Gift zu finden, das jedoch Ellen davor
versteckt hat. Ellen wiederum versucht verzweifelt, die Großmutter davon
abzuhalten, das Gift zu nehmen und bittet sie, ihr eine Geschichte zu erzählen.
»Ich werde es dir geben, Großmutter. Aber nicht, bevor du mir die Geschichte erzählt
hast.«
»Versprichst du mir, daß du mir dann alles gibst?«
»Ich verspreche es dir«, sagte Ellen.216
Die Großmutter schafft es jedoch nicht, sie findet keinen Anfang und keine Worte für
die Geschichte, die Ellen unbedingt noch hören will. Schließlich erzählt Ellen die
Geschichte. Sie fängt mit dem Rotkäppchen an, erzählt dann aber die Geschichte
vom eigenen Leben. Mit dem Ende der Geschichte vom Rotkäppchen stirbt auch
Ellens Großmutter.
Die Verbindung des Todes mit dem Stern, welchen sich Ellen als ein
Hoffnungssymbol ausgesucht hat, deutet auf die Beziehung des Todes mit dem des
(Weiter)lebens, kann aber auch als eine Art der Erlösung gedeutet werden, welches
wieder mit dem Tod in Verbindung steht.
Der Stern bedeutet den Tod. [sagte Bibi, welches aus einem Gespräch ihrer Eltern
gehört hat] »Vielleicht hast du falsch verstanden«, murmelte Ellen. »vielleicht haben
sie gemeint, daß der Tod den Stern bedeutet?«217
Dass der Tod durch den Stern auch letztendlich die Erlösung ist, wird im letzten Satz
des Romans deutlich- „Über den umkämpften Brücken stand der Morgenstern.“218 Der Tod erscheint dabei als messianisches Versprechen und als Durchgangstor in ein
ersehntes Jenseits, der Stern als Wegweiser in das in Roman immer wieder genannte
216 Aichinger, Ilse: Die größere Hoffnung. München: Süddeutsche Zeitung 2007. S. 138. 217 Ebd. S. 101. 218 Ebd. S. 221.
88
»heilige Land«, das hier wohl weniger zionistisch denn als ein ˝utopos˝ transzendenter
Vorstellungen zu deuten sein dürfte.219
7.2 Ewigkeit und Tod, das Geheimnis der Zeit – Danilo Kiš
Die schmerzhaften Kindheitserfahrungen waren für die Literatur Danilo Kišs
ausschlaggebend. Verfolgung, Vaters Verschwinden, Holocaust und der Tod bilden
die Grundlage seiner Werke, sie sind zu seinen Obsessionen geworden. Gerade
wegen dieser Obsessionen war er nie in der Lage „auf Bestellung“ zu schreiben. Um
etwas schreiben zu können, sollten zwei Voraussetzungen erfüllt werden: eine
Problematik oder eine Thema finden, welches ihn begeistert und zu seiner
Obsession wird sowie eine passende Form, die er noch nicht verwendet hat.220 Diese
Auffassung von Inspiration und Obsessionen entspricht dem gesamten
Entstehungsprozess von Kišs Werken. Hinter jedem Buch dieses Schriftstellers steht
ein privates, vergangenes oder geschichtliches Ereignis, das einen starken Eindruck
auf ihn hinterlassen hat und zu seinem „obsessiven Thema“ geworden ist.
Alles, was ich schreibe, bedeutet für mich weitgehend psychologische Befreiung.
Danach habe ich absolut keine Lust mehr, auf das Thema zurückzukommen, weder in
meinen Büchern noch im Gespräch mit anderen Menschen. Ich hatte immer Probleme
mit dem Schreiben: einmal von einer Obsession befreit, muß ich eine neue finden, um
wieder beginnen zu können. Darum liegt oft ein Abstand von vier, fünf Jahren zwischen
meinen Büchern.221
Der Tod ist mit Sicherheit das markanteste Motiv von den obsessiven Themen, die in
der Literatur von Danilo Kiš vorkommen. Es ist ein Thema, das immer wieder zurück
kommt. Kiš bestätigt das auch in einem Interview mit Maurizio Ciampa, bei welchem
er noch hinzufügt, dass der Tod als Thema den Mittelpunkt jeder philosophischen
Forschung und religiöser Fragestellung darstellt. Diese jedoch entwickeln weder eine
diesbezügliche Reflexion noch bieten sie eine Lösung an.
219 Herrmann, Britta u. Barbara Thums (Hg.): „Was wir einsetzten können ist Nüchternheit“ Zum Werk Ilse Aichinger. Würzburg:
Verlag Könighausen & Neumann 2001. S. 63. 220 Vgl. „Barok i istinotost“ [Baroque et vérité, Barock und die Wahrheit]. Gespräch mit Guy Scarpetta (1988). In: Danilo Kiš.
Gorki talog iskustva [Der bittere Bodensatz der Erfahrung]. Hg. v. Frano Cetinić-Petris, Predrag Lucić u.a. Split: Feral Tribune, 1997. S. 252. (Übers. d. Verf.)
221 Rakusa, Ilma (Hg.): Danilo Kiš. Homo poeticus. Gespräche und Essays. München, Wien: Carl Hanser 1994. S. 243f.
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Die Literatur macht das schon seit immer, denn das Bewusstsein über den eigenen
Tod macht den Menschen aus und unterscheidet ihn vom Tier. Demnach kann die
Literatur dem Tod gar ausweichen.222
Dem obsessiven Thema des Todes begegnen wir so auch in der Familientrilogie.
Andreas Sam, der Erzähler in Garten, Asche, dem mittleren Teil der Trilogie, fürchtet
sich vor dem Tod. Die Angst vor dem Tod ist für ihn ein Alptraum, der ihn während
seiner ganzen Kindheit begleitet.
Gleichzeitig wurde ich mir auch der Tatsache bewußt, daß ich bei meinem eigenen
Tod eigentlich auch gar nicht anwesend sein werde, wie ich ja auch meinen Schlaf
nicht bewußt erlebe, und das beruhigte mich ein wenig. Darüber hinaus begann ich an
meine Unsterblichkeit zu glauben. Ich dachte, wenn ich schon einmal das Geheimnis
des Todes kennte, das heißt die Tatsache der Existenz des Todes an sich (dies
nannte ich bei mir »das Geheimnis des Todes«), so hätte ich damit auch das
Geheimnis der Unsterblichkeit entdeckt.223
Mit der Vorstellung der eigenen Unsterblichkeit kann er sich noch irgendwie
beruhigen, doch dann überkommt ihn der Gedanke vom Tod seiner Mutter. Auch
wenn er die Unsterblichkeit für sich erreicht, kann er die Mutter nicht retten.
In dieser Nacht konnte ich nicht einschlafen. Dies war der Beginn eines Alptraums,
der mich während meiner ganzen Kindheit quälte. Da mich der Gedanke an den Tod
besonders abends, bevor ich zu Bett ging, überfiel, begann ich mich davor zu
fürchten: ich hatte Angst allein im Zimmer zu bleiben.224
Gegen Ende des Romans sagt er: „Ewigkeit und Tod, das Geheimnis der Zeit – sie
standen vor mir, unerreichbar und unbesiegt.“225
Kiš war der Meinung, dass die Kindheit mit dem Eintreten des Bewusstwerdens über
den eigenen Tod endet und damit auch die Suche nach den Wegen und
222 „Ta prošlost koja se ne briše“ [Quel passato che non si cancella, Die unauslöschliche Vergangenheit]. Gespräch mit Maurizio
Ciampa (1988). In: Danilo Kiš. Gorki talog iskustva [Der bittere Bodensatz der Erfahrung]. Hg. v. Frano Cetinić-Petris, Predrag Lucić u.a. Split: Feral Tribune, 1997. S. 257. (Übers. d. Verf.)
223 Kiš, Danilo: Garten, Asche. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. S. 18. 224 Ebd. 18f. 225 Ebd. S. 209.
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Möglichkeiten im Leben ihren Anfang findet.226 Andreas Sam glaubt, durch die
Erkenntnis, das Leben nicht umsonst vergeudet zu haben, dem Tod entkommen zu
können. Die Angst vor dem Tod begleitete auch den Autor, und zwar nicht nur in
seiner Kindheit. In einem Interview im Jahre 1989, kurz vor seinem Tod, verrät er,
dass er schon während der Entstehung seines ersten Romans von einem seltsamen
Gefühl besessen war – er dachte, er müsste sterben, sobald der Roman fertig
geschrieben ist.227
226 „Ta prošlost koja se ne briše“ [Quel passato che non si cancella, Die unauslöschliche Vergangenheit]. Gespräch mit Maurizio
Ciampa (1988). In: Danilo Kiš. Gorki talog iskustva [Der bittere Bodensatz der Erfahrung]. Hg. v. Frano Cetinić-Petris, Predrag Lucić u.a. Split: Feral Tribune, 1997. S. 258. (Übers. d. Verf.)
227 „Pišem da bih spojio udaljene svetove“ [Scrivo per unire mondi lontani, Ich schreibe, um die verlorenen Welten zu vereinen]. Gespräch mit Sandro Scabello (1989). In: Danilo Kiš. Gorki talog iskustva [Der bittere Bodensatz der Erfahrung]. Hg. v. Frano Cetinić-Petris, Predrag Lucić u.a. Split: Feral Tribune, 1997. S. 256. (Übers. d. Verf.)
91
8. Die (un)angreifbare Rolle des Vaters
8.1 Die Figur des Eduard Sam – Danilo Kiš
Ich idealisiere ihn, weil ich ihn zu wenig gekannt habe, er war oft abwesend. Mein
Vater starb in Auschwitz im Jahre 1944. Für mich wurde er zu einer mythischen
Persönlichkeit als ich begriffen habe, dass er ein außerordentliches Schicksal hatte,
als ob mein Schicksal mit seinem Judentum gekennzeichnet wäre. Ich bewahrte
Vaters Dokumente während des Krieges mit der Idee, jetzt würde ich sagen, einer
sehr reinen Idee, einige dieser Dokumente und Briefe zu einem Teil meiner Literatur
zu machen. Der lange Brief, der am Ende des Buches Sanduhr reproduziert wurde,
machte mir klar, dass mein Vater etwas wie ein gescheiterter Schriftsteller gewesen
ist. Ich kannte meinen Vater nicht ganz gut, so nahm ich mir die Freiheit, bestimmte
Tatsachen einzusetzen und einen gewöhnlichen mitteleuropäischen Menschen in eine
mythische Persönlichkeit umzuwandeln. Ich habe ihm einige meiner Ideen
überlassen.228
Die Figur des Vaters steht im Mittelpunkt der Familientrilogie von Danilo Kiš. Er ist
zwar abwesend, dennoch präsenter als jede andere Figur. Im Roman Garten, Asche
wird er auch in gewisser Weise metaphorisch dargestellt. In der Beziehung zu
seinem Sohn, Andreas Sam, wirkt der Vater, Eduard Sam, omnipotent. Aber wer ist
eigentlich Eduard Sam? Um ein die Figur des Vaters von Andreas Sam darstellen zu
können, sollen zuerst einige Fakten zum Vater von Danilo Kiš vorgestellt werden.
Aufgrund seines Nachnamens Kohn […] muß einer meiner Urgroßväter Rabbiner
gewesen sein. Wie ich aus Anspielungen in Briefen meines Vaters entnehmen kann,
waren seine Vorfahren als Gänsefederhändler nach Ungarn gekommen, vermutlich
aus dem Elsaß, von wo sie vertrieben wurden. Ich nehme an, daß es sich dabei um
seine Vorfahren mütterlicherseits handelt. […] Mein Vater wurde im Westen von
Ungarn geboren, das damals zur Doppelmonarchie gehörte. Wohl aus einem
Anpassungsbedürfnis heraus magyarisierte er seinen Namen, als er dreizehn war
[hieß davor Eduard Kohn]. Die Handelsakademie absolvierte er in Zalaegerszeg […].
Nach mehreren erfolglosen Handelsunternehmungen nahm mein Vater eine Stelle
beim Eisenbahnministerium an, wo er schließlich den Rang eines Oberinspektors
bekleidete. Dank diesem Umstand konnten wir bis 1942 unentgeltlich in Erste-Klasse-
228 „Normalna osoba ne piše knjige“. [Eine normale Person schreibt keine Bücher]. Gespräch mit Brendan Lemon (1984). In:
Danilo Kiš. Gorki talog iskustva [Der bittere Bodensatz der Erfahrung]. Hg. v. Frano Cetinić-Petris, Predrag Lucić u.a. Split: Feral Tribune, 1997. S. 125. (Übers. d. Verf.)
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Abteilen reisen, und die Schaffner salutierten ihm wie einem General. Sein »Fahrplan
der Zug-, Autobus-, Schiff- und Flugverbindungen« ist durch meine Bücher bekannt
geworden.229
Sein Vater litt unter einer Geisteserkrankung, die sich hauptsächlich durch
Angstzustände manifestiert hat. Danilo Kiš war sich aber dessen als Kind noch nicht
bewusst. Erst als er als Schriftsteller anfing, Daten über seinen verstorbenen Vater
zu sammeln und zu erforschen, erfuhr er davon. Außerdem machte er die
Feststellung, dass die Erkrankung seines Vaters, die Angstneurose, sehr lange als
„endemische Krankheit der mitteleuropäischen jüdischen Intelligenz galt“.230
[…]daß Patienten mit dieser Diagnose meist in den Alkohol flüchten, um ihre latente
Angst zu betäuben; und drittens, daß sich diese Krankheit vererbt, nach einigen
Autoren in 10 bis 20% aller Fälle, nach anden sogar in 70 bis 90% aller Fälle. Auf
diese Weise konnte ich endlich auch einige meiner eigenen traumatischen Ängste
deuten, die mich zwei, drei Mal in meiner Jugend erschüttert hatten, die jedoch
glücklicherweise nur wenige Tage dauerten.231
Die Figur des Vater im der Familientrilogie, Eduard Sam, unterscheidet sich nicht
wesentlich von seiner Spiegelfigur in der Wirklichkeit. Eduard Sam ist eine
„idealisierte Projektion, die durch keine solide, homogene Masse von Wirklichkeit
und Erinnerungen behindert wurde“, eine doppelt negative Figur, die perfekte
Grundlage für Kišs Literatur. Er ist ein „Kranker, eine Alkoholiker, ein
Neurastheniker, ein Jude.“232 Eduard Sam ist ein Mystiker und Schlafwandler. Er ist
die Mittelfigur in allen drei Teilen der Familientrilogie, jedoch aus etwas
unterschiedlichen Perspektiven und Akzentsetzungen. In den ersten beiden Teilen,
Frühe Leiden und Garten, Asche werden des Öfteren gleiche Erlebnisse und
Erinnerungen geschildert aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Die intellektuelle Seite
des Vaters wird eher in Garten, Asche thematisiert, während er in Frühe Leiden
vorwiegend in Verbindung mit Gegenständen vorkommt, wodurch die rein kindliche
Perspektive des Erzählers besonders zum Ausdruck kommt. Auf der Suche nach
dem Vater beschreibt ihn Andreas Sam mit folgenden Worten:
229 Rakusa, Ilma (Hg.): Danilo Kiš. Homo poeticus. Gespräche und Essays. München, Wien: Carl Hanser 1994. S. 25f. 230 Ebd. S. 31. 231 Ebd.. S. 31. 232 Vgl. Ebd. 21.
93
Ich sagte ihm, mein Vater sei recht groß, gehe ein wenig vornübergebeugt, er trage
einen schwarzen Hut mit harter Krempe, eine Brille mit Eisengestell und einen Stock,
der eine Spitze habe. »Man hat ihn vor zwei oder drei Jahren von hier weggeführt«
sagte ich, »und seither haben wir keine Nachrichten von ihm«.233
In Frühe Leiden hat Vater die unagreifbare Rolle in seiner Beziehung zum Andreas
Sam. Der Vater ist in den Augen seines Sohnes ein Held. Die heroische Bild des
Vaters nimmt in Garten, Asche etwas ab. Hier hinterlässt er schon teilweise den
Eindruck eines Verlierers, der mit seiner Begabung, Menschlichkeit und der
Phantasie nicht umgehen kann. Eduard Sam wird zu einer Person, dessen Talent
durch die Geisteskrankheit begrenzt wird.234 Andis Vater wollte zuerst eine „dritte,
erweiterte und ergänzte Ausgabe“ des Fahrplans des Autobus-, Schiffs-, Eisenbahn-
und Flugzeugverkehrs erstellen – eine Idee, die anfangs durchführbar schien.
Die Anmerkungen am unteren Rand der Seiten oder die ideographischen Zeichen in
Form eines Kreuzes, eines Halbmonds oder eines sechszackigen Sterns wurden
durch ganze, eng mit der Hand beschriebene Seiten ersetzt; Abkürzungen
verwandelten sich in Nachworte, Nachworte in Kapitel, und alsbald war die
ursprüngliche Idee einer Kombination aus Fahrplan und Baedeker lediglich zu einer
kleinen, provokatorischen Befruchtungszelle geworden, die sich wie jeder primitive
Organismus in geometrischer Progression teilte, so daß schließlich von dem, was ein
Fahrplan des Autobus-, Schiffs-, Eisenbahn- und Flugzeugverkehrs gewesen war, nur
eine ausgetrocknete Hülse übrig blieb, ein ideographisches Zeichen, eine große
Klammer, eine Abkürzung; der Text zwischen den Zeilen, die Randbemerkungen und
Fußnoten saugten diese kleine, rein zweckmäßige und unstabile Konstruktion, die auf
der bunten Karte der Welt des Wesentlichen fast unsichtbar und ganz nebensächlich
geworden war, in sich auf, und dieses erdachte und abstrakte Urthema stellte nur die
dünnen Linien der Längen- und Breitenkreise in diesem ungeheuren Bauwerk von
etwa über achthundert Seiten dar, in dem es keine leere Zeile gab.235
Susanne Düwell beschreibt die Rolle des abwesenden Vaters Eduard Sam als
„theatralisch, lächerlich und erbarmungswürdig“, ihn selber kennzeichnet sie als
„pantheistischen Prediger, als Neurastheniker, als vagabundierenden Alkoholiker“.
233 Kiš, Danilo: Frühe Leiden. München: Carl Hanser Verlag 1989. S. 106. 234 Beganović, Davor: Pamćenje traume. Apokaliptička proza Danila Kiša. Zagreb: Zoro 2007. S. 156. 235 Kiš, Danilo: Garten, Asche. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. S. 50.
94
Aus dem Blickwinkel des Sohnes ist er ein „Prophet, Märtyrer, Moses, Ahasver, eine
Christus gleiche Opfergestalt“.236
8.2 Das vaterlose Mädchen
Die Vaterfigur tritt in Aichingers Werk eher als eine selbstsichere Persönlichkeit. Den
Hinweis auf seinen Beruf als Offizier237 erfährt der Leser anhand der beschriebenen
militärischen Ausrüstung. Die Stiefel, Schulterstücke und der Revolver weisen als
Machtsymbole auf seine Position in der Gesellschaft hin.238
Ellen wird sogar vom eigenen Vater bedroht. Es kommt aber zu der Wendung in
welcher das Opfer die Macht übernimmt. Der Vater, ein Offizier, ein Ordnungsmann
wird durch Ellen, das kleine unbewaffnete Mädchen und gleichzeitig seine Tochter,
auf seine eigene „Unordnung“ aufmerksam gemacht, nämlich die der
„Rassenschande“239. Auf die Frage: „Sind sie Arier?“ antwortet Ellen: „Du mußt es
wissen, Vater!“240 Der Vater, welcher im Normalfall die Beschützerrolle übernehmen
sollte, wird in eine Situation gebracht, aus welcher er, unabhängig von seiner
Entscheidung, als Schwächling zu erscheinen und somit auch die gesamte sinnlose
„Ordnungsmacht“, hinter welcher er steht. Er entschied sich noch einmal gegen
seine Tochter, die aber hier deutlich zusammen mit ihren Freunden die Rolle der
mächtigeren eingenommen hat. Der Vater verrät und wendet sich von der eigenen
Tochter ab. Das Militär ist jetzt seine neue Familie.
Diese Rolle hat er so sehr verinnerlicht, daß es ihm nicht mehr möglich ist als Mensch
zu reagieren, er funktioniert als Maschine innerhalb des festgelegten Programms.241
236 Düwell, Susanne: „Fiktion aus dem Wirklichen“. Strategien autobiographischen Erzählens im Kontext der Shoah. Bielefeld:
Aisthesis Verlag, 2004. S. 62. 237 Der Vater von Ilse Aichinger war Lehrer von Beruf. 238 Seidler, Miriam: „Sind wir denn noch Kinder?“. Untersuchungen zur Kinderperspektive in Ilse Aichingers Roman „Die größere
Hoffnung“ unter Einbeziehung eines Fassungsvergleichs. In: Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur. Bd. 1893. Frankfurt/Main: Lang 2004. S. 118.
239 Vgl. Ebd. S. 119. 240 Aichinger, Ilse: Die größere Hoffnung. München: Süddt. Zeitung GmbH 2007. S. 40. 241 Seidler, Miriam: „Sind wir denn noch Kinder?“. Untersuchungen zur Kinderperspektive in Ilse Aichingers Roman „Die größere
Hoffnung“ unter Einbeziehung eines Fassungsvergleichs. In: Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur. Bd. 1893. Frankfurt/M: Lang 2004. S. 120.
95
Ellen verabschiedet sich hier von ihrem Vater und wird zu einem „vaterlosen,
halbjüdischen“ Mädchen.
8.3 Die Suche nach dem Vater – Peter Härtling
Denn mein Vater hat für mich eigentlich bis heute seine Identität nicht gefunden. So
versuche ich es, sie ihm zu finden.242
Auch Peter Härtling ist durch den Krieg zum „vaterlosen“ Jungen geworden. Seine
Geschichte ähnelt zwar jenen von Danilo Kiš und Ilse Aichinger hinsichtlich des
Vaterverlustes, die Schicksale unterscheiden sich aber alle in den Begebenheiten
rund ums Verschwinden des Vaters. Kišs Vater wurde 1944 zusammen mit seinen
Verwandten nach Zalaegerseg deportiert und danach nach Auschwitz gebracht, von
wo er nicht mehr zurückkommt. Ilse Aichingers Vater, ein nichtjüdischer Lehrer, ließ
trennte sich von der Familie und ließ sich von seiner jüdischen Frau scheiden, um
seine berufliche Karriere nicht zu gefährden. Peter Härtlings Vater Rudolf stirbt 1945
in russischer Gefangenschaft. Härtlings Mutter wurde von den einrückenden
Soldaten vergewaltigt, 1946 begeht sie Selbstmord.
Das schwierige Verhältnis zum Vater und die Distanziertheit, unter der Härtling in
seiner Kindheit erheblich leidet, arbeitet der erwachsene Autor 35 Jahre später auf,
älter als sein Vater jemals geworden ist243, im Werk Nachgetragene Liebe. Die Liebe
zum Vater entwickelt sich, wie im Titel angedeutet, nachträglich, im Zuge der
Aufarbeitung von schmerzhaften Erinnerungen.
Nun wehrt sich das Gedächtnis des Mannes gegen die Gegenwart des Kindes, das
»Vati« zu dir sagte. Ich bin es gewesen, ich bin es, wenn ich schreibe, und bin es
nicht. Ich versuche den Abstand zwischen uns, Satz um Satz, zu verringern.244
Der kleine Peter fühlt sich vom Vater vernachlässigt und im Stich gelassen. Das
Schweigen des Vaters erlebt er als die größte Strafe. Der Vater verweigert ihm jeden
Dialog. Der Vater bestraft ihn mit „Liebesentzug, indem er den Jungen in seiner
242 Siblewski, Klaus (Hg.): Peter Härtling im Gespräch. Frankfurt/Main: Luchterland 1990. S. 97. 243 Rudolf Härtling starb 1945 im Alter von 39 Jahren. 244 Härtling, Peter: Nachgetragene Liebe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 101993. S. 75.
96
Persönlichkeit herabsetzt“. Jeder Versuch, mit dem Vater eine Kommunikation
aufzunehmen, scheitert und der Junge wendet sich auf der einen Seite der Literatur
und andererseits dem Jungvolk, wo er „Anerkennung und emotionale Geborgenheit“
findet. Die „starke aber negative Vaterverbindung“ wird hier vor allem durch die
Hinwendung zur Hitlerjungend wiederspiegelt, einen Entschluss aus „Protest gegen
einen schwachen, unheldischen Vater, der die militärischen, männlichkeitsbetonten
Leitbilder strikt ablehnt, aber dem Jungen keinen Ersatz“ bietet“.245 Die Vaterfigur ist
hier in erster Linie die eines Schwächlings.
Ich wünschte mir einen Helden zum Vater, einen, der teilnahm, der die kriegerischen
Sätze erfüllte und nicht einen, der sich aus der Zeit stahl und Gegenparolen folgte
[…].246
Durch das endlose Schweigen wird aber auch der Vater enttäuscht, da er seine
Erwartungen an Peter verschweigt. In einem Versuch, den bereits zum Jungvolk
geneigten Sohn vom Nationalsozialismus abzubringen, indem er ihn zu einem zum
KZ verurteilten Juden mitnimmt, macht ihm das Peter sogar sehr deutlich:
Das konnte dir nicht gelingen, Vater. Du hättest reden, dich redend mit dem Unglück
des Mannes verbünden müssen. Du hättest, gegen meinen Unglauben, erzählen
müssen, was ihn in Theresienstadt erwartete. Wahrscheinlich fürchtetest du meine
Fragen, meinen naiven, von Nemec und anderen bestärkten Widerstand. Ich begriff
deinen Mut und deine Herzlichkeit nicht. Ich frage mich nur, wie du dazu kamst, Herrn
Glück, einen Fremden, zu umarmen.247
Im weiteren Verlauf des Buches nimmt das Vaterbild ein immer helleres Licht
an, die Beziehung zwischen Vater und Sohn bessert sich. Diese Entwicklung
zeigt sich am besten in der Szene als der Vater aus der russischen
Gefangenschaft zurückkommt, wo er, für einen Gauleiter gehalten,
irrtümlicherweise gehalten wurde:
245 Vgl. Dücker, Burckhard: Peter Härtling. München: C. H. Beck 1983. S. 55f. 246 Härtling, Peter: Nachgetragene Liebe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 101993. S. 71. 247 Ebd. S. 103f.
97
Ich bin, als er in der Tür stand, zu Vater gerannt, hab ihn an der Hand gepackt,
festgehalten. […]Er läßt meine Hand los und preßt mich an sich. Er bebte am ganzen
Leib, habe ich in einem Buch gelesen. Er bebt am ganzen Leib.248
Der Vater setzt sein Schweigen fort, dieses „vertraute Schweigen“ wird jetzt aber
vom Jungen anders verstanden und akzeptiert. Die gemeinsame Angst und Vaters
Schwäche werden besiegt, was eine Basis für die Beziehung zwischen Vater und
Sohn bildet. Dücker erklärt die erfolgreiche Annäherung durch Vaters „physische und
psychische Verletzung“, der sich jetzt als „Opfer der gesellschaftlichen und
historischen Situation“ bekennt.249
Härtlings Aufarbeitung seiner Beziehung zum Vater beginnt mit dem Satz „Mein
Vater hinterließ mir eine Nickelbrille, eine goldene Taschenuhr und ein Notizbuch,
das er aus grauem Papier gefaltet und in das er nichts eingetragen hatte als ein
Gedicht Eichendorffs […]“250 und endet mit einer rührenden Liebeserklärung an den
Vater: „Ich fange an, dich zu lieben.“ 251
248 Ebd. S. 162. 249 Vgl. Dücker, Burckhard: Peter Härtling. München: C. H. Beck 1983. S. 59. 250 Härtling, Peter: Nachgetragene Liebe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 101993. S. 7. 251 Ebd. S. 168.
98
9. Zusammenfassung Abschließend soll ein Überblick der wesentlichen Erkenntnisse hinsichtlich der
vorgenommenen Analyse gegeben werden.
Ausgangspunkt der vorliegenden Diplomarbeit waren die ausgewählten Werke: Die
größere Hoffnung von Ilse Aichinger, Die Familientrilogie – Frühe Leiden, Garten,
Asche und Sanduhr von Danilo Kiš sowie Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung und
Nachgetragene Liebe von Peter Härtling. Das Ziel war, Parallelen hinsichtlich des
Inhaltes, des autobiographischen Anteils, der Erzählstruktur, der verwendeten
literarischen Elemente sowie der Aufarbeitung von Erinnerungen aufzuzeigen. Des
Weiteren wurde ein besonderes Augenmerk auf einige Themen, die in den Werken
stark zum Ausdruk kommen, gelegt.
Einführend wurde ein chronologischer Überblick der Werke gegeben, was die
Analyse einiger Aspekte erleichtern sollte, da die ausgewählten Werke unter
anderem geschichtliche Ereignisse behandeln. Außerdem ermöglicht die
chronologische Sortierung der Werke die Information über genaue Entstehungszeit
der Werke, womit bestimmte Entwicklungen leichter nachvollziehbar sind.
Im nächsten Kapitel wurde das Thema Judentum näher angesprochen. Fragen wie
Definition des Jüdischseins, Übertritt zum Judentum, die Identitätsfrage sowie der
gesellschaftliche Status der Juden durch die Vergangenheit wurden näher erörtert.
Ferner wurden die beiden (halbjüdischen) Autoren, Ilse Aichinger mütterlicherseits
und Danilo Kiš väterlicherseits, hinsichtlich ihrer Abstammung und ihres Bezugs zum
Judentum vorgestellt.
Das darauffolgende Kapitel befasst sich mit der Rolle des Erzählers in der
Kindheitsliteratur. Nach einer kurzen Begriffsklärung und Festlegung der Definition
der Kindheitsliteratur wurde festgestellt, dass die Kinderperspektive in der Literatur
eine nicht selten getroffene Wahl ist, insbesondere, wenn sie in Verbindung mit der
Nachkriegs- und Erinnerungsliteratur steht. Darauf aufbauend wurde die
Erzählstruktur in den ausgewählten Werken untersucht. In den drei Büchern der
Familientrilogie von Danilo Kiš – Frühe Leiden, Garten, Asche und Sanduhr – sind
mehr oder weniger die gleichen Geschehnisse geschildert und haben den gleichen
Hauptprotagonisten, den Vater, betrachtet aus drei verschiedenen Perspektiven. Im
ersten Buch werden der Vater und die Geschehnisse aus der Sicht des Jungen
betrachtet, so dass die Erzählweise in diesem teil auch etwas kindisch erscheint. Im
99
zweiten Buch wird die Handlung aus zwei Perspektiven erzählt, seitens des Jugen
und aus der Sicht des Erzählers, der sich aber mit dem Jungen identifiziert. Im dritten
Buch verschwindet der Erzähler und die Handlung wird möglichst objektiv
geschildert. Der Roman Die größere Hoffnung von Ilse Aichinger kann der Erzähler
nicht immer klar definiert werden, und es wird von einer Stimmenvielfalt sowie einer
Vermischung und Überlappung verschiedener Redepositionen gesprochen. Es findet
ein ständiger Perspektivenwechsel durch verschiedene Erzähltechniken statt. Es
kann aber festgelegt werden, dass hauptsächlich die Kinderperspektive aus der Sicht
des kleinen Mädchens Ellen verwendet wird. Die kindliche Perspektive in den
Werken von Peter Härtling wird an manchen Stellen durch den homodiegetischen
Erzähler unterstützt, indem sie durch die Beobachtersicht kommentiert und beurteilt
wird.
Im weiteren Verlauf der Diplomarbeit wurde auf der Aspekt und die Bedeutung der
Kindheit bei den drei Autoren untersucht. Anhand dieser stark thematisierten
Lebensphase bei Danilo Kiš kann eine gewisse Besessenheit von der Kindheit bzw.
von einem bestimmten Teil dieser festgestellt werden. Für Ilse Aichinger stellt die
Kindheit ebenso eine der intensivsten Lebensphasen dar, was sich deutlich im
Roman Die größere Hoffnung wiederspiegelt. Die Kriegserfahrungen machten auch
aus Härtlings Kindheit eine schwierige Zeit, die er in seinen Werken thematisiert.
Anhand dieser Analyse konnte gezeigt werden, dass die Kindheit der zentrale
Baustein in den für diese Diplomarbeit ausgewählten Werken ist.
Als nächster Schritt wurde die literarische Aufarbeitung der Erinnerungen sowie der
Umgang mit der Vergangenheit untersucht und dargestellt. Hier wurde festgehalten,
dass die Erinnerungen ein bedeutender Bestandteil der Kindheitsliteratur sind, vor
allem wenn autobiographische Geschehnisse wiedergegeben werden. Anschließend
wurden die Aspekte des autobiographischen Erzählens dargelegt und in Hinblick auf
den Umgang und die literarische Wiedergabe ausgeführt. Auch hier konnten
Parallelen gefunden werden. Bei der näheren Untersuchung des autobiographischen
Erzählens der drei Autoren kann eine geistige Bewältigung von Lebensprozessen
erkannt und festgestellt werden. Während Peter Härtling dadurch eine Annäherung
an die Vergangenheit und die Aufhellung der komplexen Beziehung zum Vater
unternimmt, entstand Die größere Hoffnung nur zufällig als ein zum Teil
autobiographisches Werk, das anfangs ein Bericht werden sollte. Die Trilogie von
Danilo Kiš konnte gar nicht anders als autobiographisch werden, weil er sich als
100
Autor nie getraut hat, über etwas anderes zu schreiben, was er nicht persönlich
erlebt, gesehen oder gehört hat.
Des Weiteren wurden einige literarische Elemente unter die Lupe genommen, wie
z.B. indirekte Sprechweisen, wobei die Ironie als wichtiges Merkmal in der Literatur
des 18. und 19. Jahrhunderts als Beispiel genommen und näher untersucht wurde.
Insbesondere in den Werken von Danilo Kiš spielt die Ironie eine wesentliche Rolle,
indem sie verhindert, dass die Emotionen und Erfahrungen aus der Kindheit zu sehr
mit Pathos erfüllt werden. Eine Ähnliche Wirkung konnte anhand Aichingers
Verwendung von poetischer Sprache nachgewiesen werden. In den Werken von
Peter Härtling spielt die sprachliche Überbrückung der Distanzen, vor allem jener
zwischen Vergangenheit und der Gegenwart eine große Rolle. Dafür setzt Härtling
eine verständigende Sprache und geschichtliches Bewusstsein sowie bestimmte
Eigenerfahrungen voraus und verwendet das Dialogische als Form der poetischen
Sprache.
Im nächsten Schritt wurde lediglich versucht, die Verwendung und Bedeutung der
metaphorischen Sprache im Zusammenhang mit den Werken von Ilse Aichinger,
Danilo Kiš und Peter Härtling zu untersuchen. Der Schwerpunkt wurde auf
poetologische Metaphern gesetzt, die sprachlich vermittelt werden. Dabei konnte
eruiert werden, dass die Metapher ein oft eingesetztes Mittel bei allen drei Autoren
ist. Durch die Ironie und die Metapher versucht Kiš die Tragik und Pathetik sowie die
autobiographischen Tatsachen zu beschatten und abzumildern. In allen seinen
Werken spielt die Sensibilität für Details und die Metapher eine wesentliche Rolle.
Ilse Aichinger verwendet ein System von Chiffren als Teil eines metaphysischen
Kommunikationssystem. Die Chiffren eröffnen eine zweite Realität, die hinter der
Wirklichkeit versteckt ist und erst durch bestimmte Andeutungen erkennbar wird.
Des Weiteren wurde das Spiel als Form der Metapher näher untersucht. Im Roman
Die größere Hoffnung ermöglicht das Spiel, Hintergrundinformationen über die
Protagonistin Ellen zu liefern, ohne konkrere Angaben bekannt zu geben. Darauf
aufbauend wurden die einzelnen Spiele auf ihre metaphorische Bedeutung
untersucht und erörtert.
Eine weitere Metapher, die näher analysiert wurde, ist das Dokument. Danilo Kiš
setzt das Dokument als wesentliches Hilfsmittel auf dem Weg zur angestrebten
Objektivität. Das Ziel, das er sich dabei setzt, ist, den Leser zu überzeugen, dass das
Erzählte, oder das meiste davon, tatsächlich passiert ist. Im Roman Zwettl.
101
Nachprüfung einer Erinnerung begegnen wir ebenfalls der dokumentarischen
Methode. Hier geht es darum, die bereits fragwürdige Zuverlässigkeit des Erzählten
durch Zeugenaussagen und Dokumente erneut zu relativieren.
In weiterer Folge wurde der Tod als obsessives Thema erörtert. Der Tod wird von
den Autoren unterschiedlich erlebt und in der Literatur geschildert und aufgearbeitet.
Interessante Erkenntnisse ergaben sich aus dem Vergleich des Bezuges zum Tod
von Aichinger und Kiš. Während der Tod Ilse Aichinger keine Angst keine Angst
macht, steht der Tod für Danilo Kiš ausschließlich in einer negativen Konnotation.
Jedoch konnte festgestellt werden, dass der Tod bei beiden Autoren ein sehr
wichtiges Motiv ist, insbesondere bei Kiš, zumal der Tod die Grundlage seiner Werke
bildet und mit Sicherheit das markanteste Motiv von den obsessiven Themen seiner
Literatur ist.
Abschließend wurde die (un)angreifbare Rolle des Vaters untersucht. Sowohl im
Roman Die größere Hoffnung als auch in den anderen ausgewählten Werken ist der
Vater abwesend. Interessant erweist sich diese Analyse insofern, da die Beziehung
der Kinderprotagonisten zum Vater zwar vergleichbar aber dennoch sehr
unterschiedlich ist. Der selbstsichere Vater im Roman Die größere Hoffnung verlässt
die eigene Tochter, er lässt sie im Stich und bedroht sie sogar. Die Vaterbeziehung
steht nicht im Vordergrund des Geschehens. Peter Härtling versucht in seinen
Werken, insbesondere in Nachgetragene Liebe, sein schwieriges Verhältnis und die
Distanziertheit zum Vater, unter der er erheblich leidet, aufzuarbeiten. Der Vater steht
im Vordergrund des Geschehens und spielt eine wesentliche Rolle. In den Werken
von Danilo Kiš steht die Suche nach dem verschwundenen Vater zur Gänze im
Vordergrund.
102
10. Literatur
10.1 Primärliteratur
Aichinger, Ilse: Die größere Hoffnung. München: Süddt. Zeitung GmbH 2007.
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Winter, Hans Gerd: „Uns selbst mussten wir misstrauen“. Die „junge Generation“ in
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112
11. Anhang 11.1 Abstract (Deutsch)
Die vorliegende Diplomarbeit mit dem Titel Kindheitsliteratur und
Vergangenheitsbewältigung bei Ilse Aichinger, Danilo Kiš und Peter Härtling hat sich
das Ziel gesetzt, einige ausgewählten Texte auf mögliche Gemeinsamkeiten und
Unterschiede zu untersuchen. Ausgangspunkt sind die autobiographischen Werke:
Die größere Hoffnung (Aichinger), Die Familientrilogie – Frühe Leiden, Garten, Asche
und Sanduhr (Kiš) sowie Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung und Nachgetragene
Liebe (Härtling). Ein besonderes Augenmerk wird auf einige wichtige Aspekte wie
z.B. die Kinderperspektive als Erzählform in der Kindheitsliteratur oder das
autobiographische Erzählen gelegt. Ein weiterer Schwerpunkt der Analyse ist die
Verwendung und Bedeutung von literarischen Elementen. Parallelen konnten vor
allem in der Verwendung von metaphorischer Sprache als indirekter Sprechweise
sowie einige wesentliche thematische Gemeinsamkeiten und Bezüge festgelegt
werden. Des Weiteren wird die literarische Aufarbeitung der obsessiven Themen
untersucht. Hierbei stehen vor allem der Umgang mit dem Tod sowie die Suche nach
dem verschwundenen Vater im Vordergrund des Vergleichs. Die Ergebnisse der
Untersuchung zeigen eine Zusammengehörigkeit vieler Motive, die auf eine doch
unterschiedliche Weise in den autobiographischen Texten dargestellt werden.
11.2 Abstract (English)
The Diploma thesis at hand, titled „Childhood literature and coping with the past in
the works of Ilse Aichinger, Danilo Kiš and Peter Härtling“ deals with comparison of
selected texts written by these authors. The effort is made to point out their
similarities as well as differences. Following autobiographical writings have been
chosen as a starting point: Die größere Hoffnung („The Greater Hope“) by Aichinger,
the family triology – Frühe Leiden, Garten, Asche und Sanduhr („Early Sorrows“,
„Garden, Ashes“, and „Hourglass”) by Kiš as well as Zwettl. Nachprüfung einer
Erinnerung („Zwettl. Reconsideration of a Memory“) and Nachgetragene Liebe
113
(„Supplemented Love“) by Härtling. Attention is directed towards several important
aspects such as for e.g. child’s perspective as a narrative form in childhood literature
or, on the other hand, the autobiographical narration. Further emphasis of this
analysis is the usage and importance of various literary elements. Similarities can be
recognised especially in the usage of metaphors as the indirect speech. Moreover,
similarities can be found in the choice of topics and choice of references.
Consequently, the topics in question will be dealt with in more detail. The primary
focus will be set on writer’s dealing with death and search for the missing father,
respectively. The results of this study show affiliation of many motifs that were,
however, represented differently in mentioned autobiographical works.
114
11.3 Curriculum Vitae
Persönliche Angaben:
Name: Sanja Selak-Ostojić
Geburtsdatum: 23.01.1980
Geburtsort: Sarajevo
Staatsbürgerschaft: Bosnien-Herzegowina
Bildungsweg:
seit dem WS 2001 Studium der Deutschen Philologie, Universität Wien
1999-2001 Studium: Germanistik und Anglistik, Philosophische
Fakultät der Universität in Sarajevo,
Bosnien-Herzegowina
1998-1999 Studium: Romanistik, Philosophische Fakultät der
Universität in Sarajevo, Bosnien-Herzegowina
1996-1998 I Gymnasium in Sarajevo, Bosnien-Herzegowina
1992-1996 Bundesoberstufenrealgymnasium in Kirchdorf/Krems
1986-1992 Grundschule in Sarajevo, Bosnien-Herzegowina
Berufsweg: 2011-laufend Wissenschaftliche Mitarbeiterin –
L&R Sozialforschung, Wien
März-Juni 2010 Deutsch Trainerin - ibis acam Bildungs GmbH, Wien
2009-2011 Unterstützende Lehrkraft - bfi Berufsförderungsinstitut
Wien / Schulen des bfi Wien
2005-2009 Projektleitung – Consent Markt- u. Sozialforschung
1997-2000 Projektkoordination; simultanes/konsekutives
Dolmetschen/Übersetzen - Konrad Adenauer Stiftung
in Sarajevo
1996-1997 Dolmetscherin / Übersetzerin von Fernsehsendungen
für Kinder - FTVBiH, Fernsehsender, Sarajevo, BiH