Inhaltsverzeichnis 1. Religiöser Aktivismus – ein tagesaktuelles Forschungsfeld 3
2. Die Ablehnung des säkularen Nationalstaates
am Beispiel christlicher Aktivisten in den USA 5
2.1. Der säkulare Nationalstaat – Grundlagen einer europäischen Idee 5
2.2. Juergensmeyers Vier-Stufen-Modell 7
2.2.1. Aufbegehren gegen den säkularen Nationalstaat 7 2.2.2. Internationalisierung 8 2.2.3. Anti-Amerikanisierung 9 2.2.4. Globaler Krieg 10
2.3. Die Entwicklung der Bewegung christlicher Aktivisten in den USA 12
2.3.1. Die ersten Siedler 12 2.3.2. Erstes und Zweites Great Awakeness 14 2.3.3. Säkularisierung – Zwei Strömungen, ein Gedanke 14 2.3.4. Immigrantenströme – Feuerprobe für das System 16 2.3.5. Christliche Aktivisten in den USA 18 2.3.6. Blütezeit des Liberalismus 21 2.3.7. Die Neue Christliche Rechte 22 2.3.8. Christian Reconstructionism, Christian Identity und der Terror 24 2.3.9. Einfluss der christlichen Aktivisten ab 2000 26 2.3.10. Quellenkritik 27
2.4. Juergensmeyers Vier-Stufen-Modell
am Beispiel der christlichen Aktivisten in den USA 28
3. Religiöser Aktivismus im 21. Jahrhundert – selbstbestimmtes Aufbegehren oder Mittel zum Zweck? 31
4. Verzeichnis 34 4.1. Quellenverzeichnis 34 4.2. Literaturverzeichnis 34 4.3. Statistikverzeichnis 36
3
„I knew that my God was bigger than his. I knew that my God was a real God and his was an idol.“1
Army Lt. Gen. William Boykin
über einen muslimischen Warlord in Somilia, 1993
1. Religiöser Aktivismus – ein tagesaktuelles Forschungsfeld Ob Weber, Marx, Freud oder Spencer, sie alle waren der festen Überzeugung, dass es
mit der einsetzenden Aufklärung nur noch eine Frage der Zeit sei, bis sich Religion und
Glaube aus der modernen Gesellschaft herausmendeln, gleich einem Genmerkmal, das
aus dem Körper ‚Zivilisation’ verschwindet.2 Der Blick in die Tageszeitung widerlegt
diese Überzeugung schnell:
Ein radikaler und menschenverachtender Islamischer Staat (IS) scheint eine so große
Anziehungskraft zu besitzen, dass Jugendliche und Erwachsene zu Tausenden in das
neugegründete Kalifat strömen. Egal ob Kenia, Somalia, Nigeria oder Sudan, die Nach-
richten von glaubensbedingten Konflikten in Afrika reißen nicht ab und auch in den
USA mussten im Februar dieses Jahres drei junge Muslime aufgrund ihres Glaubens
sterben.
Dieser subjektive Eindruck lässt sich objektiv bestätigen: Norris und Inglehart weisen
seit einigen Jahren erfolgreich nach, dass die Religiosität in der Welt von Jahr zu Jahr
zunimmt. Zum einen ist hier die Anzahl an Menschen gemeint, die einen Glauben an-
nehmen, zum anderen aber auch der Stellenwert den religiöse Überzeugungen im Leben
der Menschen einnimmt.3
Wissenschaftler verschiedener Forschungsfelder versuchen, die daraus entstehenden
Probleme, aber auch die Chancen die sich ergeben zu verstehen, zu beschreiben und zu
prognostizieren. Marc Juergensmeyer ist als Soziologieprofessor an der University of
California, Santa Barbara einer von ihnen. Sein Forschungsgebiet umfasst seit den 80er
Jahren das Erstarken religiöser Politik im 21. Jahrhundert.
1 Boykin, William, zitiert nach: Fagin, Barry/Parco, James, A question of faith. Religous bias coercion undermine military leadership and trust, In: Armed Forces Journal, Ausgabe Januar 2008, S. 41. 2 Vgl. Norris, Pippa/Inglehart, Ronald, Sacred and Secular, Religion and Politics Worldwide, Cambridge u.a. 2011, S. 3. 3 Norris, Inglehart, Sacred and Secular, S. 25.
4
Einer seiner Hauptthesen nach ist religiöser Aktivismus eine Widerstandsbewegung
gegen den säkularen Nationalstaat, und das unabhängig von der zugehörigen Religion.4
In einer von ihm erstellten Theorie beschreibt er die Entwicklung der oben genannten
Widerstandsbewegung ab den 70er Jahren, die seiner Meinung nach auf alle Religionen
anwendbar ist.
In dieser Arbeit wird Juergensmeyers Theorie aus der Sicht des Historikers geprüft.
Hierfür wird zunächst eine zu untersuchende Gruppe religiöser Aktivisten historisch
betrachtet. Für diese Arbeit hat sich der Autor für die Gruppe der christlichen Aktivisten
in den USA entschieden. Sie ist als Testgruppe für Juergensmeyers Theorie besonders
geeignet, da sie sich aus anderen Gründen entwickelte wie die meisten Gruppen religiö-
ser Aktivisten und somit einen Sonderweg darstellt (siehe hierzu Punkt 2.1).
Der Fokus bei der Betrachtung christlicher Aktivisten in den USA liegt nicht auf kon-
kreten Institutionen, wie beispielsweise der Pfingstgemeinde, der katholischen Kirche
oder den Baptistengemeinden, sondern auf überinstitutionelle Strömungen und Denk-
schulen, die in allen Institutionen vorkommen und, wie später beschrieben, religiösen
Aktivismus begünstigen.
Das Vorgehen dieser Arbeit gründet auf einer kurzen Beschreibung des säkularen Nati-
onalstaates, auf die eine Erläuterung der Theorie Juergensmeyers folgt. Die tatsächliche
historische Entwicklung der Gruppierung christlicher Aktivisten in den USA wird auf-
gezeigt, um sie anschließend in einen direkten Vergleich mit Juergensmeyers Theorie zu
stellen. Die Aussagekraft Juergensmeyers Theorie wird abschließend bewertet.
Juergensmeyers Terminus des ‚religiösen Aktivisten’ hat der Autor in der folgenden
Arbeit übernommen, da er im Gegensatz zu ‚Fundamentalist’ oder ‚Terrorist’ nicht wer-
tend ist, sondern lediglich einen religiös motivierten Aktivismus beschreibt.5
4 Vgl. Juergensmeyer, Marc, Global Rebellion. Religious Challenges to the Secular State, from Christian Militias to al Qaeda (= Comparative Studies in Religion and Society 16), Berkeley u.a. 2008, S. 16. 5 Vgl. Juergensmeyer, Global Rebellion, S. 19f.
5
2 Die Ablehnung des säkularen Nationalstaates nach der Theorie voniJuergensmeyer am Beispiel der christlichen Aktivisten in den USA
Um Juergensmeyers Theorie korrekt bewerten zu können, soll zunächst der säkulare
Nationalstaat beschrieben werden. Anschließend wird die Theorie ausführlich vorge-
stellt. Obwohl sie nur die Entwicklung ab den 70er Jahren beschreibt, ist es gerade aus
historischer Sicht wichtig, die Ursachen für Ereignisse zu kennen und zu verstehen. Da-
her wird in Punkt 2.3 die Entwicklung der christlichen Aktivisten in den USA ab dem
17 Jahrhundert bis in die Jetztzeit beschrieben, um in Punkt 2.4 diese Entwicklung mit
dem Ergebnis der Theorie zu vergleichen.
2.1 Der säkulare Nationalstaat – Grundlagen einer europäischen Idee
Das Konstrukt des Nationalstaates wirkt im alltäglichen Gebrauch so geläufig, normal
und omnipräsent, dass es verwunderlich scheinen könnte, warum es weltweit Anlass für
eine Vielzahl von Konflikten und Kriegen darstellt.
Der Vorläufer des säkularen Nationalstaates ist der souveräne Staat, der als Modell im
Westfälischen Frieden von 1648 und der Neuordnung nach dem 30-jährigen Krieg in
das internationale Staatensystem eingeführt wurde und dieses bis zum heutigen Tag
beherrscht.6 Staaten wurden souverän und waren keiner höheren (sakralen) Macht mehr
untergeordnet – der Säkularismus wurde auf Staatenebene etabliert. Der Nationalstaat
entwickelte sich aus der Französischen Revolution 1789 und der dort etablierten Volks-
souveränität.7 Der säkulare Nationalstaat war – zumindest formal – vollzogen.
Der säkulare Nationalstaat ist demnach eine europäische Schöpfung. Er wurde von eu-
ropäischen Mächten aufgrund seiner vermeintlichen Stabilität von einem europäischen
zu einem weltweiten System entwickelt.8 Die Expansion dieses nationalstaatlichen Sys-
tems fand jedoch nicht im Sinne einer Volkssouveränität statt. Sie begann bei den ehe-
mals europäischen Kolonien.9
6 Vgl. Tibi, Bassam, Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamenta-lismus, Hamburg 1995, S. 68. 7 Vgl. ebd. 8 Vgl. ebd., S. 69. 9 Vgl. ebd.
6
Deren Grenzen orientierten sich nicht an Ethnien oder Religion, sondern an rein geo-
graphischen Merkmalen wie Flüssen, Gebirgen oder gar an der Geometrie – dem Reis-
brett, dem Lineal und dem Zirkel.10
Die Unabhängigkeit der Kolonien durch die Gründung eines eigenen Nationalstaates
war der erste Schritt hin zur alten Selbstständigkeit. Jedoch unter der Prämisse, dass
dieser neu gegründete Nationalstaat weiterhin ein Transplantat der europäischen Mächte
war und ist.11 Zum Ersten wurde der Nationalstaat nicht aus der eigenen Kultur entwi-
ckelt. Zum Zweiten legitimierte er sich oft einzig durch die von den ehemaligen Koloni-
almächten gezogenen geographischen Grenzen. Ethnische oder kulturelle Grenzen wie
sie in Europa die Grenzen des Nationalstaates bildeten, mussten hier vernachlässigt
werden. Und zum Dritten bildeten sich die Autoritäten des neuen Staates häufig aus
denselben Eliten wie zu Kolonialzeiten.12
Die lange Zeit vorherrschende Meinung europäischer Historiker, die weltweite Entwick-
lung zum demokratischen, säkularen Nationalstaat sei ein ‚europäisches Geschenk’ und
eine historische Teleologie, in der geschichtlichen Entwicklung also unausweichlich
zielgerichtet, zeugt von einer historischen Verkennung der Lage, die außerhalb Europas
als eurozentrische Arroganz wahrgenommen wird.13
Religion konnte nach der erlangten Unabhängigkeit das Vakuum, welches durch feh-
lende ethnische oder nationale Identität bestand, im aufoktroyierten Pseudo-Staat wieder
füllen. Religiöse Aktivisten lieferten die Ideologie, um ein neues ‚Wir’-Gefühl zu schaf-
fen und eine neue Einheit zu bilden, die ihre Identität nun nicht mehr aus der Staaten-
flagge sondern dem Religionsbuch zog.14
Anders als im kollektiven europäischen Gedächtnis verankert, ist der säkulare National-
staat keinesfalls ein immerwährender, weltweit akzeptierter Standard. Vielmehr handelt
es sich um ein europäisches Export-Produkt, das neben vielen Vorteilen, auch als Kata-
lysator für die Flucht in aktivistische Religiosität dienen kann.
10 Vgl. ebd. 11 Vgl. ebd., S. 71. 12 Vgl. Juergensmeyer, Global Rebellion, S. 10f. 13 Vgl. Tibi, Krieg der Zivilisationen, S. 76. 14 Vgl. ebd., S. 82f.
7
2.2 Juergensmeyers Vier-Stufen-Modell
In seiner 2008 erschienenen wissenschaftlichen Abhandlung ‚Global Rebellion. Religi-
ous Challenges to the secular State, from Christian Militias to al Qaeda’ thematisiert
Marc Juergensmeyer das oben beschriebene Spannungsfeld zwischen säkularem und
religiösem Nationalstaat eingehend. Er entwickelt eine Theorie, die einzelstehende, his-
torische Ereignisse zu einem globalen und religionsübergreifenden Gesamtansatz ver-
bindet. Eine der durch diese Theorie vertretenen Thesen besagt, dass der Konflikt zwi-
schen religiösen Aktivisten und der säkularen Politik in bisher vier chronologischen
Eskalationsstufen stattgefunden habe.15 Diese erfahren im Folgenden ihre Darstellung.
2.2.1 Aufbegehren gegen den säkularen Nationalstaat
Die erste Stufe seiner Theorie beschreibt das Aufbegehren religiöser Aktivisten gegen
die säkulare Autorität ab 1970.16 Charakteristisch für diese, zunächst regional begrenz-
ten Aufstände, war vor allem die Unzufriedenheit mit den während der Kolonialzeit
aufoktroyierten Verwaltungsstrukturen.17 Fehlverhalten und Inkompetenz genau dieser
Strukturen wurden als „moral failings“18 der säkularen Idee in ihrer Gesamtheit wahr-
genommen.19
Juergensmeyer führt als Beispiel für solche Ausbrüche die friedliche Bewegung von
Jayaprakash Narayan, einem Schüler Gandhis, an, die 1974 die Korruption im indischen
Verwaltungsapparat durch eine ‚totale Revolution’ beenden wollte. Auch genannt wird
die islamische Revolution unter Führung von Ayatollah Khomeini im Iran, die sich ge-
gen den säkular aber auch despotisch regierenden Schah richtete.20 In Punjab sorgte die
Khalistan-Bewegung der Sikh 1980 für blutige Auseinandersetzungen.
Parallel torpedierten buddhistische Aktivisten in Sri Lanka die Annäherungsversuche
der säkularen Regierung mit den Separatistenbewegungen der Tamilen, 1981 wurde der
ägyptische Präsident Anwar as-Sadat von muslimischen Extremisten ermordet. 21
15 Vgl. Juergensmeyer, Global Rebellion, S. 244f. 16 Vgl. Juergensmeyer, Global Rebellion, S. 244. 17 Vgl. ebd., S. 245. 18 Vgl. ebd., S. 244. 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. ebd. 21 Vgl. ebd., S. 244f.
8
Die säkularen Apparate gingen zwar mit teils gewaltsamer Entschlossenheit gegen die
Aufstände vor, nahmen jedoch die auslösenden Problematiken nicht ernst. Noch lange
nach der islamischen Revolution im Iran betrachteten amerikanische Thinktanks bei-
spielsweise noch immer „the events of 1977-1981 as a historical aberration, an unfor-
tunate interruption of the historical process“22.23
Dieses Zitat zeigt, dass auch die US-Administration weit davon entfernt war die Trag-
weite der wachsenden religiösen Aktivität richtig einzuschätzen.
Und auch Indira Ghandi sah in den Protesten keinen Ausdruck einer tiefergehenden
soziokulturellen Problematik, sondern löste die Konflikte mit Gewalt.24
2.2.2 Internationalisierung Die zweite, in den 80er Jahren einsetzende, Stufe in der Theorie Juergensmeyers be-
schreibt die Internationalisierung des Konflikts zwischen säkular und religiös basierter
Politik.25 Als der Bewegung prägendes Schlüsselelement sieht Juergensmeyer den Krieg
gegen die Sowjetunion in Afghanistan, dessen Kämpfer er als erste „international coali-
tion of jihadi Muslim radicals“26 bezeichnet.27
Aus dieser Erfahrung eines gemeinsamen, internationalen und erfolgreich geführten
Kampfes der Mudschahedin gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner, die sowjeti-
schen Besatzer, entstanden internationale, politische Netze, die bis heute in der Welt
agieren.28
Anwar as-Sadat, der sich im Gegensatz zu seinem Vorgänger zunächst als gläubiger,
ägyptischer Präsident in der Öffentlichkeit präsentierte und die Scharia als eine Quelle
für die Rechtsprechung anerkannte, machte jedoch mit seinem Leitspruch: „Keine Poli-
tik in der Religion und keine Religion in der Politik“29 seine Position für eine säkulare
Gesellschaftsordnung klar. 30 Ermordet wurde er 1981 durch die Terrorzelle al-
Dschihad, die geführt wurde von Aiman az-Zawahiri.
22 Sick, Gary, All Fall Down: America's Fateful Encounter with Iran, London, 1985, S. 159. 23 Vgl. Juergensmeyer, Global Rebellion, S. 244f. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. ebd., S. 245. 26 Ebd., S. 246. 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. ebd. 29 Wright, Lawrence, Der Tod wird euch finden. Al-Qaida und der Weg zum 11. September, München 2008, S 64. 30 Vgl. ebd.
9
Zawahiris Werdegang kann als Paradebeispiel für die Entwicklungsstufen Juergenmey-
ers Theorie verwendet werden. Bereits 1979, kurz nach der Invasion der Sowjetunion in
Afghanistan, kümmert sich der Chirurg Zawahiri um Flüchtlinge im pakistanischen
Grenzgebiet.31 Schon während der Revolution im Iran ist er einer Derjenigen, die die
internationale Brisanz der Ereignisse erkennen, die sunnitisch-schiitischen Spannungen
beiseite schieben, und versuchen die Revolution durch Flugblätter und Kassettenauf-
nahmen des Ayatollahs auch nach Ägypten zu bringen.32 1986 kehrte Zawahiri zurück
nach Afghanistan um aktiv am Kampf gegen die Sowjetunion teilzunehmen und lernte
dort Osama bin-Laden kennen. 33
Ein Beispiel für die internationale Vernetzung einzelner Terrorzellen.
2.2.3 Anti-Amerikanisierung
Verschiedene Gegebenheiten führten laut Juergensmeyer zur dritten Stufe seiner Theo-
rie ab den 1990er Jahren: dem Antiamerikanismus.
Nach den Unwägbarkeiten des Kalten Krieges schien nach dem Zusammenbruch der
Sowjetunion die neue, amerikanisch dominierte Weltordnung klar. Gleichzeitig hatte
der Fall des eiserenen Vorhangs gezeigt, dass auch Supermächte verwundbar waren. 34
Gerade die islamischen Aktivisten erlangten durch Ihren Sieg in Afghanistan ein neues
Selbstverständnis.35
Als letzte verbliebene Supermacht wurden die USA zusammen mit Europa für viele
globale und lokale, wirtschaftliche und kulturelle Problematiken verantwortlich ge-
macht.36 Die Bevölkerung in den betroffenen Regionen suchten die Schuldigen nicht
mehr nur bei den lokalen Autoritäten, sondern in den globalen Strukturen. Die USA mit
der Durchsetzung nationaler Interessen, beispielsweise der Erdölförderung oder der kul-
turellen wie politischen Einflussnahme, und Europa mit seiner kolonialen Vergangen-
heit, gaben hier gute Feindbilder ab.37 Den religiösen Aktivisten, aber auch den neuen
Führern der frisch gegründeten Staaten in der ehemaligen Sowjetunion, verschaffte die-
se Umorientierung eine neue Basis, um ihre Macht zu stärken. So entstand in Osteuropa
ein christlicher, in den GUS ein muslimischer und in der Mongolei ein buddhistischer
31 Vgl. ebd., S.61. 32 Vgl. ebd., S.62. 33 Vgl. ebd., S. 154f. 34 Vgl. Juergensmeyer, Global Rebellion, S. 248. 35 Vgl. ebd., S. 247. 36 Vgl. ebd., S. 246. 37 Vgl. ebd., S. 247.
10
Nationalismus.38 Aber auch in scheinbar stabilen Industrienationen, wie Japan und den
USA selbst, kam es zu antiamerikanisch motivierten Gewalttaten. Beispielsweise im
Jahr 1995, in dem in den USA eine ganze Serie christlich motivierter Anschläge im
Bombenanschlag auf ein bundesstaatliches Bürogebäude in Oklahoma City gipfelte,
aber auch in Japan wo im selben Jahr die buddhistische Sekte um Aum Shinrikyo einen
Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn vollzog, um unter anderem den Beginn des
dritten Weltkriegs durch die USA zu beweisen.39
Die Stufe des Antiamerikanismus ist nach Juergensmeyer nicht alleine eine Ablehnung
der USA, sondern auch eine Ablehnung der westlichen säkularen Welt an sich.40 Ein
Beispiel hierfür sind die religiös motivierten Ausschreitungen in Algerien, die sich ge-
gen Frankreich richteten. Das neu erlangte Selbstbewusstsein der religiösen Aktivisten
zeigte sich auch hier, beispielsweise bei Imam Abu Kheireiddine der einen „march of
history away from Western-dominated society to a society based on indigenous cul-
tures“41 sah.42
Die Beendigung des für fast 50 Jahre alles überschattenden kalten Krieges mit einer
neuen alleinigen Führungsmacht USA, die für westliche Werte wie Meinungsfreiheit,
und kapitalorientiertes militär-strategisches Machtinteresse stand, führte zu einem neuen
Feindbild – der USA.
2.2.4 Globaler Krieg
Die vierte und vorerst letzte Stufe in Juergensmeyers Theorie ist der globale Krieg.43
Aus den regionalen Konflikten, die durch die feindlichen globalen Strukturen aufgewie-
sen wurden, entwickelten die religiösen Aktivisten eine Rhetorik, in der es nun nicht
mehr um eine lokale, sondern um eine globale Fehlstellung ging.44
In der Rhetorik bin-Ladens sollte in einem globale Krieg nun nicht mehr nur die US-
amerikanische Vorherrschaft in Saudi-Arabien, sondern die Vorherrschaft in der gesam-
ten muslimischen Welt gebrochen werden.45 Auch die an sich lokal operierende Hamas-
38 Vgl. ebd., S. 248. 39 Vgl. ebd., S. 247. 40 Vgl. ebd., S. 246. 41 Ebd. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. ebd., S. 249. 44 Vgl. ebd. 45 Vgl. ebd.
11
Bewegung übernahm bis zur Mitte des ersten Jahrzehnts diese globale Rhetorik des
Dschihads.46
Eine Einteilung in Gut und Böse führte dazu, dass sich überall auf der Welt religiöse
Aktivisten diesem globalen Kampf zuordnen konnten und daran teilnahmen. Das her-
ausstechendste Ereignis ist hier der Anschlag auf das World Trade Center und das Pen-
tagon am 11. September 2001.
Diese Anschläge wurden transnational geplant; mit Zellen in Deutschland, Afghanistan
und den USA, sowie vorwiegend saudi-arabischen Attentätern.47 In der Folge kam es zu
weiteren Anschlägen in der ganzen Welt. 2002 sind die Anschläge in Tunesien, Ägyp-
ten, Jakarta und auf Bali zu nennen. Weiterhin die Anschläge in Madrid 2004 oder jene
2005 in London.48 Aber auch die Reaktion auf diese Anschläge war eine globale Reak-
tion.49 Erstmals seit der Gründung der NATO wurde eine Woche nach den Anschlägen
des 11. Septembers der Bündnisfall beschlossen. Die daraus entstandene ‚Operation
Enduring Freedom’ ist eine international und global agierende Großoperation, an der
sich über 70 Nationen beteiligen. Die Haupteinsatzgebiete waren Afghanistan, das Horn
von Afrika, die Philippinen und Afrika. Zum Ziel wurde eine Bekämpfung des globalen
Terrors deklariert. Aber auch die religiös motivierte, militante Gegenbewegung zu den
islamistisch geprägten Taten nahm den globalen Ansatz in ihrer Rhetorik auf. Zu nen-
nen ist hierin der Anschlag von Anders Breivik 2011 in Norwegen. In seinem Pamphlet
‚2083’ unterzeichnet er das Vorwort mit:
„Justiciar Knight Commander for Knights Templar Europe and one of several leaders of the National and pan-European Patriotic Resistance Movement. With the assistance from brothers and sisters in England, France, Germany, Sweden, Austria, Italy, Spain, Finland, Belgium, the Netherlands, Denmark, the US etc.“50
Breivik, der den Anschlag als reine „marketing operation“51 sieht, um sein ‚Buch’ zu
verbreiten, beschreibt in ähnlicher Rhetorik wie die islamischen Aktivisten den Kampf
als ‚Gut gegen Böse’, in seinem Fall christliches Abendland gegen infiltrierenden Islam.
Und auch in der Frage nach den Umständen, wie es zu einer solchen weltweiten Ent-
gleisung kommen konnte, sind sich die religiösen Aktivisten erstaunlich einig: „Euro-
46 Vgl. ebd., S. 251f. 47 Vgl. ebd., S. 249. 48 Vgl. ebd., S. 251. 49 Vgl. ebd., S. 250. 50 Behring Breivik, Anders, 2083. A European Declaration of Independence, London, 2011, S. 9. 51 Ebd., S. 8.
12
pe’s predicament, I repeat, is entirely self-inflicted. Not Islam is to blame. Secularism
is.“52
Seit 2000 wurden die Rhetorik aber auch die Taten religiöser Aktivisten in den globalen
Kontext gerückt. Zum Teil in der gegenseitigen Bedingung hat religiöse Gewalt eine
neue Dimension erreicht.
2.3 Die Entwicklung der christlichen Aktivisten in den USA
Wie in der Soziologie üblich, entwickelt Juergensmeyer nach dem deduktiven Prinzip
aus seiner empirischen Forschung eine möglichst allgemein anwendbare Theorie. Be-
kanntermaßen ist die Krux einer allgemeinen Theorie die Verallgemeinerung an sich.
Der Anspruch des Historikers muss es also sein, die aufgestellte Theorie durch Indukti-
on wieder am speziellen Objekt zu testen und zu bewerten.
Im folgenden Teil soll nun die historische Entwicklung der religiösen Aktivisten in den
USA beschrieben werden. In einem zweiten Teil soll dann Juergensmeyers Theorie mit
dieser Entwicklung verglichen und geprüft werden.
2.3.1 Die ersten Siedler
Die staatliche Entwicklung in den USA verlief anders als die in Punkt 2.1. beschriebene
‚klassische’ Entwicklung der europäischen Kolonien. Die USA erkämpfte ihre Unab-
hängigkeit bevor sich der europäische Nationalstaat final herausgebildet hatte.
Der Pluralismus für den die heutige USA mit seinen über 1500 religiösen Gruppen
steht, hat nichts gemein mit den religiösen Strukturen im frühen 17. Jahrhundert. 53
Neuengland wurde seit 1620 von den Puritanern, einer streng kalvinistischen Sekte be-
siedelt, um ein ‚Neues Jerusalem’ zu gründen. Die religiöse Vielfalt in den Kolonien zu
dieser Zeit darf nicht überbewertet werden: von allen Einwanderern aus Europa waren
fünfundneunzig Prozent Protestanten, von denen sich wiederum neunzig Prozent dem
Kalvinismus zugehörig fühlten.54 Auch lag der puritanischen Mehrheit der Toleranzge-
danke fern, vielmehr sollte die anglikanische Kirche von allen Resten der katholischen 52 Ebd., S. 643. 53 Vgl. Berg, Manfred, Die historische Dimension: Vom Puritanismus zum religiösen Pluralismus, in: Manfred Brocker [Hg], God bless America. Politik und Religion in den USA, Darmstadt, 2005, S. 32. Siehe auch: Pally, Marcia, Gottes eigenes Land? – Die Trennung von Kirche und Staat in den USA, in: Internationale Politik, Heft 10/2004, S. 13. 54 Vgl. Berg, Die historische Dimension, S. 32f.
13
Kirche gereinigt werden. Gleichzeitig war die immerwährende Konfrontation mit An-
dersgläubigen eminent für die geistige und politische Entwicklung der Kolonien. Diese
Auseinandersetzungen fanden innerhalb und zwischen den christlichen Strömungen
aber auch mit der spirituellen Welt der indigenen Ureinwohner statt. 55 In den puritani-
schen Gemeinden waren zu dieser Zeit säkulare wie religiöse Autoritäten stark verbun-
den. Wahlrecht besaßen nur volle Kirchenmitglieder, die männlichen sogenannten visib-
le saints. Ihre Mitgliedschaft musste von der Kirchengemeinde bestätigt werden.56
Dieses distinktiv-elitäre Vorgehen der puritanischen Majorität führte zunächst zur Pro-
vokation der Minderheiten und im nächsten Schritt zu deren Exil.57 Eine wichtige histo-
rische Bedingung für den nun langsam einsetzenden Pluralismus waren die schier unbe-
grenzten räumlichen Möglichkeiten.58 So wurden die religiösen Minderheiten zwar aus
der eigenen Kolonie verbannt, jedoch nicht weiter verfolgt. Der amerikanische Urvater
des Baptismus, Roger Williams, gründete, nachdem er aus dem puritanischen Massa-
chusetts 1636 verbannt wurde, das spätere Rhode Island, die Kolonie Providence.59 Dort
trat er als einer der Ersten für die Trennung von Staat und Kirche ein. Seine Beweg-
gründe lagen weniger im europäischen Humanismus als viel mehr im Schutz der eige-
nen Religionsausübung und im Gegenmodell zum puritanischen Alleinanspruch.60
Ganz ähnlich verlief die Emanzipation der Society of Friends, besser bekannt als Quä-
ker. Auch sie wurden aus der puritanischen Bay Colony verbannt. Und auch sie suchten
sich ein eigenes Stück Land, erhielten 1681 die königliche Charta an William Penn und
konnten so offiziell Pennsylvania gründen. Ähnlich wie die Puritaner waren auch die
Quäker radikale Protestanten mit höchsten moralischen Ansprüchen. Sie zeichneten sich
jedoch mit Ihrer Lehre, die besagt dass in jedem Lebewesen etwas Göttliches steckt,
durch eine große Toleranz und einen ausgeprägten Pazifismus aus. Es waren die Quä-
ker, die als erste Gemeinschaft die Sklaverei ablehnte.61
55 Vgl. ebd. 56 Vgl. ebd., S. 33. 57 Vgl. Murrin, John M., Religion and Politics in America, from the First Settlements to the Civil War, in: Mark A. Noll [Hg], Religion and American Politics. From the Colonial Period to the Present, Oxford u.a. 2007, [Kindle Version], Kap. 1.1, P. 339. 58 Vgl. Berg, Die historische Dimension, S. 46. 59 Vgl. Weinstein, Allen/David, Rubel, The Story of America. Freedom and Crisis from Settlement to Superpower, London u.a. 2002, S. 63. 60 Vgl. ebd. 61 Vgl. Berg, Die historische Dimension, S. 34.
14
2.3.2 Erstes und Zweites ‚Great Awakeness’
Ab den 1730er Jahren wurden die Kolonien von einer neuen christlichen Denkrichtung
erfasst, deren Einfluss bis zum heutigen Tag enorm ist. Mit dem ersten Great Awaken-
ess (1730-1760) entwickelte sich eine neue Art Religiosität. Die entstehenden evangeli-
kalen Strömungen richteten sich noch stärker gegen die intellektuellen und elitären In-
stitutionen. Glaube wurde über die Kirche gestellt und das eigene Seelenheil ein Ziel,
dass nur jeder persönlich für sich erreichen konnte.62 Einzelne Prediger wie George
Whitefield, erlangtem große Aufmerksamkeit, indem sie durch ihre emotionalen und
charismatischen Predigten die Massen anzogen.63 Durch die Dezentralisierung der
Glaubensinstitutionen entwickelten sich während des ersten und zweiten Great Awa-
keness (1790-1840) in kürzester Zeit neue Gemeinden und Glaubensrichtungen. Evan-
gelikale Baptisten, Methodisten und Presbyterianer bauten ihre Anhängerschaft zu die-
ser Zeit massiv aus.64 Die new lights, so wurden die neuen Gemeinden und die Refor-
mer in der puritanischen und anglikanischen Kirche genannt, rekrutierten ihre Glau-
bensbrüder mit ihren einfachen und emotionalen Predigten und ihren tiefgreifenden Er-
weckungserlebnissen, Camp Meetings, vor allem aus dem einfachen Volk.65
2.3.3 Säkularisierung – Zwei Strömungen, ein Gedanke
Obwohl sich die verschiedenen Strömungen dieser ersten Ausprägungen der charisma-
tischen Bewegung stark voneinander in Ursprung und Lehre unterschieden, einte sie
doch eines: Die Ablehnung der intellektuellen anglikanischen Staatskirche, sowie die
Glaubensinhalte der Selbstbestimmung und Gleichberechtigung vor Gott. Hinter dem
Ausspruch ‚Religionsfreiheit ist ein göttliches Recht’ stand die Idee, dass nur Gott und
nicht der Staat die einzig wahre Glaubensgemeinde finden und ihr zum Aufstieg verhel-
fen konnte und sollte.66 Wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, teilten sie sich die
Idee der freien Religionsausübung mit den humanistischen Aufklärern wie Thomas Jef-
ferson, die nicht aus glaubens-, sondern vernunftorientierten Gründen die Meinung ver-
traten, dass die Wahrheit sich durchsetze.67 Jefferson sah die freie Religionsausübung
62 Vgl. ebd. 63 Vgl. ebd., S. 35. 64 Vgl. ebd. 65 Vgl. ebd. 66 Vgl. Hochgeschwender, Michael, Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fun-damentalismus, Leipzig, Frankfurt a. M., 2007, S. 184. 67 Vgl. ebd.
15
und damit die Trennung von Staat und Kirche als ein edles Experiment.68 So war er der
Ansicht, dass
„all forms of Christianity must now stand on their own feet and on an equal foo-ting with all other faiths. Their survival and groth must turn on the cogency of their word, not the coercion of the sword, on the faith of their members, not the force of the law.“69
Jefferson war also der festen Überzeugung, dass weder Gesetz noch Gewalt die Kirchen
beeinflussen sollte, sondern nur die Lehre und der Glaube.
Die ersten großen Erfolge hin zur Trennung von Staat und Kirche hatten Thomas Jeffer-
son und James Madison bei der Grundrechteerklärung von Virginia 1776 und dem nach-
folgenden ‚Act of Establishing Religious Freedom’ von 1786 erzielt. Auch hier ist es
bezeichnend, dass Jefferson bei der Umsetzung große Unterstützung von den Baptisten
bekam, die ihn als Aufklärer und religiösen Skeptiker zwar verachteten, in ihm jedoch
denjenigen sahen, der ihre Kirche stärken und emanzipieren konnte.70
Im ersten Zusatzartikel der Bill of Rights wurde die Religionsfreiheit 1789 beziehungs-
weise mit Inkrafttreten 1791 letztendlich auf Bundesebene fixiert.71
Die Problematik der entfachten Debatte um eine institutionelle Trennung teilte sich in
zwei Lager. Stand auf der Seite des Humanismus, und Jeffersons als dessen Vertreter,
ein Schutz des vernunftorientierten Staatsapparates im Vordergrund, war es auf Seite
der Kirchen deren Gleichstellung, durch sie zwar durchaus Einfluss auf den Staat und
das öffentliche Leben würden nehmen können, jedoch nicht von diesen beeinflusst wer-
den sollten.72
Bis zum heutigen Tag ist dies eine zentrale Frage, welche die Gerichte in den USA bis
hin zum Supreme Court immer wieder neu bewerten müssen. Aktuelles Beispiel, dessen
juristische Bewertung eine Beantwortung genau dieser Frage erfordert, ist das soge-
nannte ‚Homeschooling’, also die Schulausbildung außerhalb des staatlichen Bildungs-
systems. Ein religiöser Aktivist, der seine Kinder selbst unterrichtet, beschreibt seine
Beweggründe wie folgt:
„Das sind meine Kinder, die mir von Gott dem Schöpfer gegeben wurden. Es ist meine Aufgabe Sie groß zu ziehen und zu unterrichten und sie auf das Leben vorzubereiten. Wenn die Regierung sich da einmischt und mir vorschreiben will wie ich das zu tun habe, dann ist das eine Beschneidung meiner elterlichen
68 Vgl. Witte, John, Religion and the American Constitutional Experiment: Essential Rights and Liberties, Boulder, 2000, S. 1. 69 Ebd. 70 Vgl. Berg, Die historische Dimension, S. 36. 71 Vgl. ebd., S. 37. 72 Vgl. ebd.
16
Rechte. Gott hat mir die Kinder gegeben, nicht der Staat. [...] Wir unterrichten das, was Gott will, dass wir ihnen beibringen und nicht das, was der Staat von uns erwartet.“73
In den USA wächst die Zahl der Schüler, die Unterricht durch ihre Eltern erfahren.
Wurden 2011 3,4% der Schüler (ca. 1,77 Millionen) außerhalb des staatlichen Bildungs-
systems unterrichtet, waren es 2007 hingegen 2,9%. 83% der Eltern gaben als Begrün-
dung an: „A desire to provide religious instruction“74.75
1833 fiel auch die letzte Bastion der staatskirchlichen Überreste, Massachusetts, eine
Hochburg des puritanischen Glaubens.
Mit ihrem gewonnenen Kampf für den Pluralismus und dem Bestreben nach der Eman-
zipierung von Minderheiten und religiösen Randgruppen hatte die in Punkt 2.3.2 be-
schriebene Erweckungsbewegung entscheidenden Anteil an dem Demokratisierungspro-
zess in den USA.76
2.3.4 Immigrantenströme – Feuerprobe für das System
Auch wenn die Wahl des Glaubens fortan frei war, mussten sich die Gemeinden doch
an der sich langsam entwickelnden Leitkultur der noch jungen Nation orientieren. Bei-
spiel hierfür sind die Mormonen, deren Gründer 1844 von einem Mob ermordet wurde,
weil er die Polygamie zum religiösen Gebot erhob. Diese Praxis widersprach dem Leit-
bild der gerade entstehenden Zivilgesellschaft. Der Supreme Court bestätigte das Verbot
der Polygamie 1879. Er hob jedoch explizit hervor, dass es nur die Praxis, nicht aber
den Glauben daran verbot.77
Im Gegensatz zu den Auseinandersetzungen innerhalb der protestantischen Strömung
wurde eine andere Entwicklung als tatsächliche Bedrohung wahrgenommen: Ab der
Mitte des 19. Jahrhunderts landete eine Flut an katholischen Iren und Deutschen in der
neuen Welt. Innerhalb kürzester Zeit sank der Anteil an Protestanten auf 70% der Ge-
samtbevölkerung.78
73 Ohne Angabe, zitiert aus ARTE Dokumentation: Willke, Claudia [Regie], Die letzte Schlacht. Christli-cher Fundamentalismus und seine Anhänger in den USA, 2007, URL: https://www.youtube.com/watch?v=1MLAeOxfTiY (14.05.2015; 18.45). 74 US Department of Education, Statistics About Non-Public Education in the United States, URL: http://www2.ed.gov/about/offices/list/oii/nonpublic/statistics.html#homeschl (14.05.2015; 18.26). 75 Vgl. ebd. 76 Vgl. Berg, Die historische Dimension, S. 38. 77 Vgl. ebd., S. 39f. 78 Vgl. ebd., S. 40.
17
Der gelebte Pluralismus innerhalb der protestantischen Glaubensgemeinschaft sah sich
nun mit einer rasanten Umwälzung der religiösen Landschaft konfrontiert. Neben den
religiösen Unterschieden sahen die Protestanten auch die patriotische Idee, die immer
Teil ihres Glaubens war, durch die Katholiken bedroht, die einer fremden Autorität,
dem Papst verpflichtet schienen.79 Eine erste, religiös motivierte, Polarisierung durch-
zog die Nation, deren Auswirkung von manchen Historikern höher bewertet wird als die
Sklavenfrage oder die wirtschaftlichen Konflikte. Die Evangelikalen im Norden unter-
stützten zunächst die United State Whig Party und später die Republikaner. Die Demo-
kraten stützten sich auf die katholischen Einwanderer und den Sklaverei betreibenden
Süden.80 Trotz der Säkularisierung hatte demnach die Religion zu dieser Zeit großen
Einfluss auf die Politik, da die Entscheidung, welche Partei gewählt wurde zu einem
großen Teil auch von der Religionszugehörigkeit abhing.81 Während des Sezessions-
krieges, aber auch in dessen Folgezeit gab es immer wieder Versuche von protestanti-
scher Seite, die christliche Zugehörigkeit wieder stärker in der Politik durch Verfas-
sungsänderungen zu verankern. Wieder waren es die Minderheiten, diesmal die Katho-
liken, sowie die Vielzahl der evangelikalen Sekten, die das zu verhindern versuchten
und damit Erfolge verzeichneten.82
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entspannte sich dieser erste Anflug von protestanti-
schem Dominionismus, dem Versuch, die Säkularisierung zu Gunsten der eigenen Kir-
che aufzuheben. Liberale Strömungen bekamen die Oberhand, und der Pluralismus ent-
wickelte sich zunehmend, auch bei nicht protestantischen Bewegungen, von einer Dul-
dung hin zu einer Inklusion. Dieser liberale Frühling sorgte vor allem mit dem Einwan-
derungsstrom der ‚New Immigration’ zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die Formie-
rung einer fundamentalistischen Gegenbewegung. Militanter Arm war hier die Reinkar-
nation des antikatholischen und antisemitischen Ku-Klux-Klans, der zwischen den spä-
ten 10er und den frühen 20er Jahren des neunzehnten Jahrhunderts über 3 Millionen
Mitglieder akquirierte.83 Der gesellschaftliche Druck der Fundamentalisten sorgte dafür,
dass neben den Obergrenzen für die Einwanderung an sich auch spezielle Quoten für
Ethnien und religiöser Zugehörigkeit im National Origins Act von 1924 eingeführt wur-
79 Vgl. Swierenga, Robert P., Ethnoreligious Political Behavior in the Mid-Nineteenth Century: Voting, Values, Cultures, in: Mark A. Noll [Hrsg], Religion and American Politics. From the Colonial Period to the Present, Oxford u.a. 2007, [Kindle Version], Kap. 7.6, P. 2200. 80 Vgl. Swierenga, Ethnoreligious Political Behavior, [Kindle Version], Kap. 7.6, P. 2186. 81 Vgl. Swierenga, Ethnoreligious Political Behavior, [Kindle Version], Kap. 7.6, P. 2075. 82 Vgl. Berg, Die historische Dimension, S. 41. 83 Vgl. ebd., S. 43.
18
den.84 Die Prohibition, sowie der Butler Act, der das Unterrichten der Evolutionstheorie
in Tennessee verbot, sind weitere Beispiele dafür, wie konservativ-evangelikale Grup-
pen zu dieser Zeit erneut versuchten, Einfluss auf die Politik zu nehmen.85
Erst der Zweite Weltkrieg sorgte für eine tiefgreifende Veränderung im religiösen Ge-
füge der USA. Zum ersten Mal sah sich die Nation mit einer existenziellen Bedrohung
von Außen konfrontiert. Das rückte den Fokus auf die Gemeinschaft der Nation und
sorgte dafür, dass sich die Gräben zwischen den Konfessionen in den USA nachhaltig
schlossen.86 Die Fundamentalisten, die mit der Prohibition scheiterten, reagierten bereits
seit den 30er Jahren zunehmend mit Absonderung und Eskapismus. Sie gründeten ihre
eigenen Schulen und Colleges und schirmten sich nahezu vollständig vom öffentlichen
Leben ab.87
2.3.5 Christliche Aktivisten in den USA
Die oben geschilderte Zusammenfassung der Entwicklung der Religion als Institution in
den USA bis zum Zweiten Weltkrieg wurde dargestellt, um das zivile Verständnis in
den USA von Staat und Kirche zu verdeutlichen. Einem großen Teil der Bevölkerung ist
es auch heute vor allem wichtig, seine Kirche und nicht den Staat zu schützen.
Wie bereits oben genannt, gibt es heutzutage über 1500 unterschiedliche religiöse
Gruppierungen in den USA, von denen viele nochmals dezentral unterteilt sind. Um
diese Gruppierungen nach religiösem Aktivismus zu filtern, ist es von Vorteil, genaue
Glaubensparameter zu definieren, die den religiösen Aktivismus fördern und motivieren
können.
Die Frage nach der Motivation für eine religiös-aktivistische Einstellung ist letztlich das
ausschlaggebende Kriterium, das erklärt, warum ein Gläubiger seine Komfortzone ver-
lässt, um durch eigenes Handeln eine Änderung innerhalb, oder auch außerhalb, des
politischen Systems anzustreben.
84 Vgl. Weinstein, Rubel, The Story of America, S. 480. 85 Vgl. ebd., S. 469. 86 Vgl. Berg, Die historische Dimension, S. 44. 87 Vgl. Brocker, Manfred, Protest – Anpassung – Etablierung. Die Christliche Rechte im politischen Sys-tem der USA, Frankfurt/Main 2004, S. 63.
19
Erste wichtige Voraussetzung ist der wortwörtliche Glaube an die Bibel, als das unver-
rückbare Wort Gottes. Nur mit diesem Fundament lassen sich die, in den Augen der
religiösen Aktivisten zweifelsfreien Kausalketten bilden, an deren Enden die religiös
motivierte Aktivität steht.
Der Anteil der fundamental bibeltreuen Christen ist seit den 70er Jahren rückläufig.
Trotzdem waren 2014 noch 28% der US-Amerikaner von der Wort-für-Wort Auslegung
der Bibel überzeugt, wie es die folgende Graphik belegt. 88
In einer Befragung des Rassmussen Reports von 2005 bekannten sich sogar 63% aller
Amerikaner zum Glauben an eine wortwörtliche Auslegung der Bibel.89 Diese Diver-
genz erklärt sich in einer weiteren, abgeschwächten Antwortmöglichkeit der Gallup
Befragung, ‚The Bible is the inspired word of God’, der 2014 47% der Befragten zu-
stimmten. In der Rassmussen Befragung gab es diese Zwischenstufe nicht.
Einer der wichtigsten Motivationsgründe religiöser Aktivisten ist der unbedingte Glaube
an die Apokalypse. Die apokalyptische Idee ist in allen Weltreligionen enthalten. Und in
allen Religionen gibt es Strömungen, die ihren Hauptfokus auf die Apokalypse legen.
Im christlichen Glauben ist das der Fokus auf die Offenbarung des Johannes. Bei fun-
88 Gallup Organisation, Gallup Poll Social Series: Values and Beliefs, Princeton 2014. 89 Rassmussen Reports, ‚63% Believe Bible Literally True’, New Jersey 2005, URL: http://legacy.rasmussenreports.com/2005/Bible.htm (23.05.2015; 10:58).
20
damentalen Christen in den USA gibt es unabhängig von der institutionellen Zugehö-
rigkeit drei Hauptrichtungen der apokalyptischen Idee: Prämillenarismus, Dispensatio-
nalistischer Prämillenarismus, Postmillenarismus. Allen Modellen geht die Vorstellung
voraus, dass nach einer Zeitspanne von 1000 Jahren (Millenium) das Jüngste Gericht
über die Erde und ihre Bewohnern gehalten wird.
Im Prämillenarismus besteht die Vorstellung, dass nach einer Zeit der großen Trübsal
unter der Herrschaft des Antichristen, Jesus Christus ein zweites Mal auf die Erde
kommt, ein dominierendes Reich Gottes erkämpft, 1000 Jahre regiert, um dann das
Endgericht zu halten und seine Gemeinde ins Paradies zu führen.90
Im Dispensationalistischen Prämillenarismus wird die Gemeinde je nach Auslegung
vor, während oder nach der Herrschaft des Antichristen von Christus im Geheimen ‚ent-
rückt’, also in den Himmel gebracht. Dann offenbart sich Christus der Welt, reinigt die-
se in aller Härte, besiegt den Antichristen und regiert mit seiner Gemeinde das tausend-
jährige Reich mit strenger Hand, um sie nach dem Endgericht in die Ewigkeit zu füh-
ren.91
Im Postmillenarismus ist es Aufgabe der Menschheit ein tausendjähriges Gottesreich,
das Millenium, zu schaffen. Erst nach dieser Phase kommt Christus zum zweiten Mal
auf die Erde um das Endgericht zu halten.92
Während im prämillenaren Glaubensbild der Gemeinde eine relativ passive, abwartende
Rolle zugeteilt wird,93 verhält es sich bei Strömungen, die eine dispensationalistisch-
prämillenare Vorstellung vertreten gegenteilig. Hier ist es das Ziel, Teil der Privilegier-
ten zu sein, die vor der Wiederkunft des rächenden Christus entrückt werden. Je nach
Denkschule muss die Gemeinde, um diesen Status zu erreichen, bereits auf Erden aktiv
werden und das Reich Gottes, so gut es ihr möglich ist, vorbereiten. Beispiel für eine
aktionistische Auslegung des Dispensationalistischen-Prämillenarismus ist die King-
dom-Now Bewegung.94
Die aktivsten Gruppen sind die Gemeinden, die ein postmillenares Glaubensbild vertre-
ten. Sie müssen danach streben, das Reich Gottes zu erbauen, um die Wiederkunft
90 Vgl. Juergensmeyer, Mark, Terror im Namen Gottes. Ein Blick hinter die Kulissen des gewalttätigen Fundamentalismus, Freiburg u.a. 2004, S. 52. 91 Vgl. Trimondi, Victor, Trimondi, Victoria, Krieg der Religionen. Politik, Glaube und Terror im Zei-chen der Apokalypse, München 2006, S. 34f. 92 Vgl. Juergensmeyer, Terror im Namen Gottes, S. 52. 93 Vgl. ebd. 94 Vgl. Trimondi, Krieg der Religionen, S. 154.
21
Christi zu erreichen und ins Paradies eintreten zu können.95 Die größte und bekannteste
Denkschule ist hier der Christian Reconstructionism.
Neben der apokalyptischen Motivation, die dem Hauptteil der religiösen Aktivisten in
den USA die Grundlage für ihr Handeln bietet, gibt es eine weitere Bewegung, deren
Anhängerschaft zwar um ein Vielfaches geringer ist, die jedoch aufgrund ihrer Aggres-
sivität und ihres Aktionismus erwähnt werden muss.
Es handelt sich um die Strömung der Christian Identity, die neben der apokalyptischen
Idee ihre Motivation aus Rassismus, Chauvinismus, Antisemitismus und Antikatholi-
zismus zieht. Es wäre falsch den Ku-Klux-Klan dieser Bewegung zuzuordnen, da dieser
bereits vor jener Strömung bestand. Jedoch waren es Klan-Mitglieder, welche die Theo-
logie der Christian Identity entwickelten und deren erste Kirchen aufbauten.96 Aus dem
Dunstkreis des Klans etablierten sich auch viele weitere Organisationen wie Posse Co-
mitatus, The Order oder die Aryan Nation, die ihren Fokus teils mehr auf das religiöse,
teils mehr auf das rassistische Fundament legten.97 Diese drei Hauptbewegungen,
Kingdom-Now, Christian Reconstructionism und Christian Identity werden unter dem
Oberbegriff Dominionism zusammengefasst, da sie alle das Ziel einer dominierenden
Theokratie verfolgen.98
Diese Einteilung beziehungsweise Zusammenfassung der einzelnen Strömungen ist
wichtig, da in den folgenden Kapiteln die Entwicklung der christlichen Aktivisten ab
den 60ern beschrieben wird, und die Dominionisten zu dieser Zeit beginnen Einfluss zu
nehmen.
2.3.6 Blütezeit des Liberalismus
Die 60er und frühen 70er Jahre des 20. Jahrhunderts waren die Blütezeit des amerikani-
schen Liberalismus.99 Entstanden aus der Euphorie des Weltkriegsendes entwickelten
sich „Detraditionalisierungs-, Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse“100 ,
die von den Rechtsprechungen des Supreme Court noch unterstützt und beschleunigt
wurden.101
95 Vgl. Juergensmeyer, Terror im Namen Gottes, S. 52. 96 Vgl. Schmidt, Monika, Christian-Identity Movement (USA), In: Wolfgang Benz (Hrsg.), Handbuch des Antisemitismus. Band 5: Organisationen, Institutionen, Bewegungen, Berlin 2012, S. 99. 97 Vgl. Juergensmeyer, Terror im Namen Gottes, S. 55. 98 Vgl. Aho, James, Christian Heroism and the Reconstruction of America, In: Critical Sociology, 2013, Vol. 39(4), S. 546. 99 Vgl. Brocker, Protest – Anpassung – Etablierung, S. 42. 100 Ebd. 101 Vgl. ebd.
22
So wurden die Rechte der Frauen gestärkt, die Sexualmoral gelockert und das Abtrei-
bungsrecht liberalisiert. Auch wurde die Säkularisierung nach humanistischem Vorbild
vorangetrieben: So wurden beispielsweise die Morgengebete und die Bibellektüre in
öffentlichen Schulen verboten.102
Auch der Civil Right Act, der 1964 verabschiedet wurde und die Rassentrennung in öf-
fentlichen Einrichtungen aufhob, war Teil dieses Liberalisierungsprozesses. Die konser-
vativen Christen wurden von dem gesamten Prozess regelrecht überrollt.103 Neben der
Liberalisierung an sich wiederstrebte ihnen das Big Government des Bundes, das seine
Gesetze über die Gesetze der Einzelstaaten hinweg durchsetzte.104 Die rasante Verände-
rung der amerikanischen Gesellschaft ging einher mit einer zunehmenden Verunsiche-
rung der konservativen Mittelschicht: Gewaltsame Proteste schwarzer Gruppen in den
Slums der Großstädte, die Ermordung Robert Kennedys im Jahr 1968, die Ermordung
von Martin Luther King im selben Jahr, die darauf folgenden Aufstände und die kurz-
fristige Radikalisierung schwarzer Gruppen, wie des Black Panther. Die ‚vaterlandsver-
ratenden’ Studenten die gegen den Vietnamkrieg demonstrierten und deren Proteste
teilweise gewaltsam niedergeschlagen wurden, erschütterten die Moralvorstellungen der
konservativen Protestanten weiter.105
Diese Wucht an unaufhaltbaren Neuerungen führte zunächst, ganz in der Tradition der
ersten Siedler und der Entwicklung in den 30er Jahren, nicht zu einem Aufstand der
fundamentalen Christen sondern zur Abgrenzung, zum Rückzug und zur Abkapselung
von der liberalen Mainstream-Gesellschaft.
2.3.7 Die Neue Christliche Rechte
Der Hauptgrund, weshalb die fundamentalistischen Gruppierungen als politische Kraft
mobilisiert werden konnten, war zu dieser Zeit weniger der Liberalisierungsprozess an
sich, als die Tatsache, dass ihre selbst gewählte Ausgrenzung aus der Gesellschaft zu-
nehmend durch die Bundesgesetze, beispielsweise die staatliche Lizensierungspflicht
der privaten Schulen gefährdet wurde.106 Initiatoren der Neuen Rechten in den USA wie
Paul Weyrich planten den Aufbau neuer, politisch aktiver christlicher Organisationen,
102 Vgl. ebd. 103 Vgl. Hochgeschwender, Amerikanische Religion, S. 176. 104 Vgl. Brocker, Protest – Anpassung – Etablierung, S. 45. 105 Vgl. ebd., S. 46. 106 Vgl. ebd.
23
um strukturellen Zugriff auf die christlich-konservative Wählerschaft zu erlangen.107
Weyrich beschrieb in einem Interview die damalige Situation wie folgt:
„Die Evangelikalen und Fundamentalisten hatten zu der Zeit eine ghettohafte Einstellung nach dem Motto: Wir unterrichten unsere Kinder auf unsere Weise, dann werden sie mit so etwas gar nicht in Berührung kommen. [...] Das [Die einflussnehmenden Bundesgesetze, Anmerkung des Verfassers] machte sie wü-tend. Ich konnte sie dann davon überzeugen, dass wir uns gegen die Einfluss-nahme der Regierung wehren müssen. Sie begriffen endlich, dass sie sich nicht weiter isolieren und einfach so weitermachen konnten wie bisher. [...] Wir konn-ten sie nur deshalb mobilisieren, weil sie selbst betroffen waren.“108
Weyrich konnte die einflussreichsten Tele-Evangelikalen der USA wie Pat Robertson,
Jerry Falwell, James Robinson oder Timothy LaHaye davon überzeugen, politisch aktiv
zu werden. Eine Neue Christliche Rechte war geboren und wurde mit der Gründung
politscher Organisationen wie der Moral Majority (1979) oder dem Religious Roundtab-
le (1979) zementiert.109 Viele der Prediger begannen auch unabhängig von den großen
Organisationen Einfluss auf die Politik zu nehmen. Obwohl sich die verschiedenen
Strömungen in Zielen und Glaubensfragen unterschieden, wurden sie durch einige
wichtige gemeinsame Punkte geeint. Sie alle lehnten die momentane Entwicklung im
Liberalisierungsprozess ab, sie alle besaßen ein apokalyptisches, meist dispensationalis-
tisch-prämillenares Glaubensbild und viele entwickelten oder hatten bereits die Vorstel-
lung einer bevorstehenden Theokratie, dem Gottesstaat (siehe hierzu 2.2.10 Quellenla-
ge).110 Auch einte sie der Wille, die Politik und die Gesellschaft innerhalb des Systems
zu verändern.111
Und das taten sie mit großem Erfolg: Jerry Falwell, Gründer der Moral Majority, war
persönlicher Berater von Präsident Ronald Reagan und nahm bei Briefings des National
Security Council teil, bei denen über einen möglichen Nuklearschlag gegen die Sowjet-
union beratschlagt wurde.112
James Watt, ein überzeugter Apokalyptiker, war als Innenminister unter Reagan der
Meinung, dass es keinen Umweltschutz bedürfe, da die Endzeit unmittelbar bevorstün-
de.113
107 Vgl. ebd., S. 51. 108 Weyrich, Paul, zitiert aus Dokumentation: Ziv, Ilan [Regie], Wählt Jesus. Amerika in Gottes Hand [org.: Jesus Politics], 2008, URL: https://www.youtube.com/watch?v=1a_aAqARbq4 (25.05.2015; 12:46). 109 Vgl. Brocker, Protest – Anpassung – Etablierung, S. 51. 110 Vgl. Trimondi, Krieg der Religionen, S. 152. 111 Vgl. ebd., S. 38. 112 Vgl. ebd., S. 41. 113 Vgl. Hochgeschwender, Amerikanische Religion, S. 191.
24
Pat Robertson baute mit CBN einen der einflussreichsten christlichen TV-Sender der
USA auf und versuchte sich sogar als Präsidentschaftskandidat 1988, unterlag jedoch in
der Vorauswahl Bush Senior. Trotzdem oder gerade weil er am Ende nicht in die Politik
ging, ist er einer der einflussreichsten Evangelikalen in den USA.114
Timothy LaHaye ist Autor der Sience Fiction Reihe Left Behind, die in zwölf Bänden
die Apokalypse, die Entrückung und den darauffolgenden Kampf der Zurückgebliebe-
nen, den Left Behind, gegen den Antichristen beschreibt. Die Romane wurden über 70
Millionen Mal verkauft.115 Eine große Anzahl der Left-Behind-Leser sind der festen
Überzeugung, dass die Romane eine mögliche Darstellung der Apokalypse beschrei-
ben.116
Diese Hochphase des christlichen Einflusses in der Politik hielt jedoch nur kurz. Skan-
dale, wie der Ehebruch von Jimmy Swaggart und Jim Bakker, aber auch Glaubensunter-
schiede und persönliche Rivalitäten sorgten mit der Auflösung der Moral Majority 1989
für einen schnellen Zerfall der scheinbar gefestigten Einheit.117
Die Republikanische Partei hatte großes Interesse daran, weiterhin einen strukturierten
Zugriff auf die christlich motivierte Wählerschicht zu erhalten. So unterstützte sie den
bis dahin skandalfreien Pat Robertson bei der Gründung der Nachfolgeorganisation, der
Christian Coalation of America. Als direkter Verbindungsmann zur Republikanischen
Partei wurde niemand anderes als George W. Bush, Sohn des damaligen Präsidenten,
bestellt. 118
2.3.8 Christian Reconstructionism, Christian Identity und der Terror
Parallel dieser Strömung entwickelte sich als Antwort auf die Skandale und den schnel-
len Zerfall der ersten Christlichen Rechten eine neue, postmillenare, äußerst radikale
Denkschule: der Christian Reconstructionism, der seine Königreichs-Theologie nun
nicht mehr nur innerhalb, sondern auch außerhalb des Systems umzusetzen versuchte.119
Ziel ist die Wiederherstellung eines gottgegebenen nicht-säkularen Staates oder wie es
Gary North, einer der ideologischen Führer dieser Strömung, beschreibt:
„Christian Reconstruction – A recently articulated philosophy which argues that it is the moral obligation of Christians to recapture every institution for Jesus
114 Vgl. Trimondi, Krieg der Religionen, S. 42f. 115 Vgl. Aho, Christian Heroism and the Reconstruction of America, S. 547. 116 Vgl. Trimondi, Krieg der Religionen, S. 79. 117 Vgl. Hochgeschwender, Amerikanische Religion, S. 191. 118 Vgl. ebd., S. 194. 119 Vgl. Juergensmeyer, Terror im Namen Gottes, S. 51.
25
Christ. It proclaims "the crown rights of King Jesus." The means by which this task might be accomplished [...] is biblical law. This is the "tool of dominion." We have been assigned a dominion covenant—a God-given assignment to men to conquer in His name“.120
Christian Reconstruction besagt, dass es die Pflicht eines jeden Christen sei alle Institu-
tionen für Christus zurückzuerobern. Es beschreibt also – daher auch der Name – dass
es bereits eine Zeit gab, in der die Theokratie bestand, und das Ziel sein muss diesen
alten Zustand wieder herzustellen.
North spricht sich grundsätzlich für einen Gewaltverzicht bei der Umsetzung der Ziele
des Rekonstruktionismus aus. Deutlich wurde das vor allem durch seinen auch als klei-
nes Buch erschienenen Antwortbrief an Paul Hill, in dem er dessen Taten schwer verur-
teilte. Paul Hill, Mitglied der Terrorgruppe Army of God, ermordete 1994 den Abtrei-
bungsarzt John Britton und dessen Leibwächter. Hill schrieb Monate vor der Tat einen
Brief an North, in dem er seine Taten vorab theologisch rechtfertigte. North antwortete
auf den Brief erst nach Hills Tat.121 Seit 1977 wurden in Nordamerika im Kampf gegen
die Abtreibung 6143 Straftaten und 156.961 Ordnungswidrigkeiten begangen. Darunter
waren 8 Morde, 41 Bombenanschläge und 175 Brandstiftungen.122
Auch wenn in den ersten Jahren ab 2000 die Anzahl an Straftaten im Kampf gegen die
Abtreibung pro Jahr ihren Höhepunkt erreichten, waren es doch hauptsächlich die 90er
Jahre, in denen die schwersten Verbrechen wie Mord, versuchter Mord, Bombenan-
schläge und Brandstiftungen stattfanden.123
Die christlichen Aktivisten wurden von verschiedenen Strömungen beeinflusst. Auch
wenn die grundsätzlichen Ziele ähnlich waren, unterschieden sich die Aktivisten doch in
den Motivationen. Hill versuchte seine Taten ausschließlich mit der Bibel und theologi-
schen Vorbildern wie Augustinus oder Bonhoeffer zu rechtfertigen.124 Andere gewalttä-
tige Aktivisten zu dieser Zeit wie Eric Rudolph oder der ‚Oklahoma-Bomber’ Timothy
McVeigh waren stark von der Christian Identity geprägt.125 Wie bereits oben beschrie-
ben, nährt sich diese Bewegung aus einer Mischung aus religiösem, nationalistischem
und rassistischem Gedankengut. Aufsetzend auf den British-Israelism, einer Glaubens-
120 North, Gary, Backward, Christian Soldiers? A Action Manual for Christian Reconstuction, Tyler 1984, S. 267, URL: http://www.garynorth.com/freebooks/docs/pdf/backward_christian_soldiers.pdf (27.05.2015; 22:12). 121 Vgl. Juergensmeyer, Terror im Namen Gottes, S. 53. 122 Vgl. NAF Violence and Disruption Statistics, URL: http://prochoice.org/wp-content/uploads/violence_stats.pdf (28.05.2015; 22:33). 123 Vgl. ebd. 124 Vgl. Juergensmeyer, Global Rebellion, S. 185. 125 Vgl. Juergensmeyer, Terror im Namen Gottes, S. 55.
26
theorie aus dem 17. Jahrhundert, halten die Vertreter an einer arischen Herkunft Jesu
fest. Darüber hinaus sehen sie die Briten als Nachfahren der zwölf verlorenen Stämme
Israels.126 Weit verbreitet ist auch die antisemitische Two-Seed-Doctrin, wonach die
weiße Bevölkerung alleine von Adam abstammt (‚adamisch-arische Rasse’) und die
Juden aus einer Verbindung von Eva mit dem Satan entstanden sind.127 Auch wenn
schon früh Organisationen wie der Ku-Klux-Klan Gedankengut der Christian Identity
aufnahmen, stellte sie als Theologielehre erst „seit den 1980er Jahren ein verbindendes
und einflussreiches ideologisches Element vieler rechtsextremer Gruppierungen in den
Vereinigten Staaten dar.“128
2.3.9. Einfluss der christlichen Aktivisten ab 2000
Am Beispiel der Abtreibungsgegner zeigt sich ein zweiseitiges Bild bei der Entwick-
lung gewalttätiger christlicher Aktivisten in den USA seit 2000. Zum einen hat die An-
zahl an rechtswidriger Protestaktionen durchaus, mit einer Spitze 2005, zugenommen,
jedoch sind die Kapitalverbrechen stark zurückgegangen.129
Weitere Indikatoren für christlich motivierte Gewalt in den USA sind die Hate Crime
Statistiken des FBI. Die Anzahl an Hate Crimes pro Jahr, die aufgrund der sexuellen
Orientierung des Opfers stattfinden und somit überdurchschnittlich häufig einen christ-
lich motivierten Hintergrund haben, sind in den Jahren 2000 bis 2012 nahezu unverän-
dert geblieben, mit leicht steigender Tendenz.130 Ein massiver Anstieg christlicher Akti-
visten, die Ihre Ziele gewaltsam, außerhalb des Systems, durchsetzen möchten, ist nicht
zu erkennen. Eher scheint der allgemeine Fokus auf der Veränderung aus dem System
heraus zu liegen. Dafür sprechen auch die gestiegene Anzahl an zwar rechtswidrigen
jedoch nicht gewalttätigen Aktionen, wie Straßenblockaden, Landesfriedensbruch oder
Störanrufe bei Abtreibungsbefürwortern.131 Wenn hier vom allgemeinen Fokus gespro-
chen wird, darf jedoch nicht die Illusion einer einheitlich agierenden Struktur entstehen.
Nach wie vor ist die christliche Glaubenslandschaft in tausende Denominationen und 126 Schmidt, Christian-Identity Movement (USA), S. 99. 127 Vgl. ebd. 128 Vgl. ebd. 129 Vgl. NAF Violence and Disruption Statistics. 130 Vgl. Anti-Defamation League, Comparison of FBI Hate Crimes Statistics (2000-2010), New York 2011, URL: http://www.adl.org/assets/pdf/combating-hate/Hate-Crimes-Statistics-2000-2010.pdf (30.05.2015; 17:36). Siehe auch: FBI, 2012 Hate Crime Statistics. Incidents and Offenses, URL: http://www.fbi.gov/about-us/cjis/ucr/hate-crime/2012/topic-pages/incidents-and-offenses/incidentsandoffenses_final (30.05.2015; 17:40). 131 Vgl. NAF Violence and Disruption Statistics.
27
Gemeinden unterteilt. So ist beispielsweise momentan ein starkes Wachstum an rechts-
radikalen Gruppierungen festzustellen (45% Steigerung zwischen 2000 und 2009), die
wie oben beschrieben, oft in Zusammenhang mit der Christian Identity Bewegung ste-
hen.132 Daryl Johnson, ehemaliger Analyst der Homeland Security, sprach in einem In-
terview 2011 über eine Sekte in Michigan:
„The Hutaree, an extremist Christian militia in Michigan accused last year of plotting to kill police officers and planting bombs at their funerals, had an arse-nal of weapons larger than all the Muslim plotters charged in the United States since the Sept. 11 attacks combined.“133
Es zeigt sich, dass die Entwicklung seit den 2000er Jahren nicht homogen verläuft. Ob-
wohl die Anzahl schwerer Delikte gering ist, gibt es immer wieder Radikalisierungen
kleinerer Gruppen wie der Hutaree-Sekte. Gruppen, die sich mit der Christian Identity
identifizieren, expandieren. Im nächsten Kapitel wird aufgezeigt das auch der Einfluss
der Christlichen Rechten nicht sicher festgelegt werden kann.
2.3.10 Quellenkritik
Über den wachsenden oder schrumpfenden Einfluss des politischen Flügels der christli-
chen Aktivisten, der Neuen Christlichen Rechten, ist die Forschung uneins. Eine Mehr-
heit der Autoren, unter anderem die Trimondis, Juergensmeyer, Aho und Pally sind der
Meinung, dass die Neue Christliche Rechte mit der Wahl Bushs zum Präsidenten, einem
born again Evangelikalen, eindrucksvoll ihre Macht öffentlich präsentierte und nach
den Anschlägen auf das World Trade Center und dem darauffolgenden Irakkrieg weite-
re Anhänger gewinnen konnte. Sie sind davon überzeugt, dass die Dominionisten, die
seven mountains (Familie, Religion, Unterhaltung, Medien, Bildung, Wirtschaft, Regie-
rung) infiltrieren werden. Nach Aho waren 2004 7% der Mitarbeiter im weißen Haus
Absolventen dominionistischer Hochschulen, wie dem Patrick Henry College.134
Auf der anderen Seite vertreten Autoren wie Brocker oder Hochgeschwender die An-
sicht, dass die Neue Christliche Rechte nie die Macht hatte, die ihr die Medien gerne
zuschreiben, und stellen den tatsächlichen Einfluss der Dominionisten in Frage. Hoch-
132 Vgl. Beirich, Heidi, Potok, Mark, USA: Hate Groups, Radical-Right Violence, on the Rise, In: Poli-cing: A Journal of Policy and Practice, 2009, Vol. 3(3), S. 258f. 133 Johnson, Daryl, zitiert aus: Shane, Scott, Killings in Norway Spotlight Anti-Muslim Thought in U.S., New York Times, 24. Juli 2011, URL: http://www.nytimes.com/2011/07/25/us/25debate.html?pagewanted=all&_r=0 (30.05.2015; 18:26). 134 Vgl. Aho, Christian Heroism and the Reconstruction of America, S. 548.
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geschwender ist mit Verweis auf den fehlenden Erfolg bei der Durchsetzung christlicher
Themen auf Bundesebene der Meinung,
„[...] dass man den Einfluss der Religiösen Rechten – und damit auch der Fun-damentalisten und Evangelikalen innerhalb der Organisationen der Religiösen Rechten – keinesfalls überschätzen darf.“135
Brocker geht in seinen Annahmen sogar noch weiter und spricht der Neuen Christlichen
Rechten jegliches dominionistisches Verhalten ab. Belege für diese These sieht er in
einer Anzahl an Zitaten von Robertson und Farwell, bei denen sie jegliches Streben
nach einer Auflösung der säkularen Strukturen ablehnen.136
Die Trimondis liefern hingegen eine mindestens ebenso große Anzahl an Zitaten
Robertsons und Farwells bei denen sie die Säkularisierung verteufeln und den Gottes-
staat heraufbeschwören.137
Ein weiteres Beispiel uneiniger Forschungsmeinung ist die religiöse Ausrichtung einer
der wichtigsten Figuren in der Neuen Christlichen Rechten: Pat Robertson. Während
Juergensmeyer davon spricht, Robertson sei strikter Postmillenialist138 meinen die Tri-
mondis, in vielen Bereichen einig mit Juergensmeyer, er sei zwar „kein ‚reiner’ [prämil-
lenarer] Dispensationalist, aber teil[e] viele von deren Ideen.“139 Gleichzeitig rechnen
sie ihn dem Spektrum der Rekonstruktionisten zu, dem wiederum Juergensmeyer wider-
spricht. Festzustellen ist, dass schon die genaue religiöse Zuordnung eines einzelnen, im
öffentlichen Leben stehenden und mit seiner Religion bekannt gewordenen Amerika-
ners die Aufgabe eines eigenen Werkes zu sein scheint.
So muss klar sein, dass jeder vorangegangene Versuch der Zusammenfassung und Ein-
ordnung einzelner religiöser Strömungen, Gruppierungen und Ereignisse immer einer
Verzerrung und Verallgemeinerung unterliegt, die der Autor jedoch einzugehen gewillt
war, um im Ergebnis einen belegbaren Eindruck der Gesamtsituation zu gewähren.
2.4 Juergensmeyers Vier-Stufen-Modell am Beispiel der christlichen Aktivisten in den USA
Nach der ausführlichen Darstellung der Theorie Juergensmeyers, wie auch der der histo-
rischen Entwicklung von Strömungen christlicher Aktivisten in den USA, wird im Fol-
135 Hochgeschwender, Amerikanische Religion, S. 188. 136 Vgl. Brocker, Protest – Anpassung – Etablierung, S. 321f. 137 Vgl. Trimondi, Krieg der Religionen, S. 153f. 138 Vgl. Juergensmeyer, Terror im Namen Gottes, S. 51. 139 Vgl. Trimondi, Krieg der Religionen, S. 42.
29
genden aufgezeigt, inwiefern sich jene spezifischen Entwicklungen in die Theorie fügen
lassen.
Laut Juergensmeyers Theorie beginnt der religiöse Aktivismus in den 70er Jahren mit
dem Aufbegehren gegen die Verwaltungsstrukturen des Nationalstaates. In den USA hat
der christliche Aktivismus eine weitaus länger währende Tradition. Beginnend mit den
ersten Siedlern musste die Gesellschaft schon sehr früh Strategien entwickeln, um mit
den unterschiedlichen religiösen Strömungen, aber auch dem Humanismus im Einklang
zu leben. Anders als bei den von Juergensmeyer beschriebenen aufoktroyierten Verwal-
tungen ehemaliger Kolonien, war die wall of separation die amerikanische Säkularisie-
rung, eine Entwicklung, die von allen Gruppen, ob religiös oder humanistisch, getragen
und etabliert wurde. Doch gab es, oft durch Eingriffe wie den Sezessionskrieg oder die
Immigrationsströme, immer wieder Kulturkämpfe, bei denen religiöse Interessensgrup-
pen oder Organisationen wie der Ku-Klux-Klan versuchten, diese Strukturen zu bre-
chen.
Juergensmeyers Theorie ist aber insofern treffend, als die tatsächliche Politisierung der
Christen in den USA als Reaktion auf die Liberalisierungsprozesse, beziehungsweise
die Einflussnahme des Bundes, in der Tat im Laufe der 70er Jahre in Gestalt der Neuen
Christlichen Rechten stattfand.
In den 80er Jahren beobachtet Juergensmeyer einen Prozess der Internationalisierung
religiöser Aktivisten. Dies gilt derart nicht für die USA. Der christliche Aktivismus in
den USA ist eng verbunden mit einem amerikanischen Nationalismus, der eine interna-
tionale Vernetzung auf Augenhöhe nicht zulässt. Zwar missionierten Evangelikale wie
Billy Graham in den 80er Jahren bei riesigen Events weltweit Tausende von Menschen,
jedoch war dies Verhalten fern einer internationalen aktivistischen Strömung. Eine Ver-
schmelzung und gegenseitige Befruchtung religiöser Aktivisten, wie beispielsweise in
Afghanistan, fand in den USA nicht statt, vielmehr war es ein von Amerika ausgehen-
des Sendebewusstsein einzelner Missionare. Der Internationalismus rückte in den 80er
Jahren in den USA nur insofern in den Blickwinkel, als dass das Christentum verstärkt
als Kontra-Punkt zum ‚gottlosen Kommunismus’ verwendet und so noch weiter in der
nationalen Identität verankert wurde.140 Hier triften Theorie und praktisches Beispiel
deutlich auseinander.
In Juergensmeyers Theorie thematisiert die dritte Stufe den Anti-Amerikanismus in den
90er Jahren. So paradox es scheint, diese These auf die USA selbst anzuwenden, ist sie
140 Berg, Die historische Dimension, S. 32f.
30
dennoch passend. Es waren die neunziger Jahre, in denen sich radikale Gruppierungen
wie die Army of God aus dem Schoß des Christian Reconstructionism und der Christian
Identity erhoben und mit Gewalt das System bekämpften. Hier ist es wichtig festzuhal-
ten, dass Anschläge gegen Abtreibungskliniken nicht gleichgesetzt werden können mit
einem Anschlag gegen das Government an sich. Jedoch ist die Tatsache entscheidend,
dass sich diese Organisationen dazu entschlossen haben, ihre ‚Probleme’ nicht mehr als
Teil des Systems zu lösen, sondern sich von diesem abzuwenden. Ebenso wie auch
Osama bin-Laden lehnten sie die moralischen Standards ab, die allgemein als westlich-
amerikanisch definiert werden, und sahen sich in ihrer Rechtfertigung nur noch dem
Wort Gottes verpflichtet. Tatsächliche Anschläge gegen die Regierung wie jener von
Timothy McVeigh 1995 zeigen die grundlegend ablehnende Haltung gegen das System.
Juergensmeyer letzte und aktuelle theoretische Stufe handelt vom globale Krieg. Für die
amerikanischen Apokalyptiker hatte der Gedanke an die Endzeit schon immer eine glo-
bale Komponente, da die Endzeit in ihren Augen ein globales Phänomen ist und be-
stimmte Orte wie die Schlacht bei Harmageddon in Nord-Israel geographisch festgelegt
sind.141 Interessant ist, dass in den 90er Jahren der Antichrist nicht, wie vielleicht ver-
mutet, im Islam, sondern vor allem in Staatenbünden wie der EU, der UNO, oder aber
in Europa allgemein gesehen wurde.142 Der globale Krieg war also mit dem Aufstieg der
Apokalyptiker schon immer ein wichtiges Thema bei den christlichen Aktivisten und
wurde durch Literatur wie der Left Behind Serie noch verstärkt.
In den Mainstream gelangte diese globale Sichtweise mit den Anschlägen auf das World
Trade Center im September 2001. Mit einem Schlag wurde der Fokus auf den Islam als
neues Feindbild und auf Einzelpersonen wie Osama bin-Laden oder Saddam Hussein
als den Antichristen gelenkt.
Die apokalyptische Rhetorik der Bush-Administration, beispielhaft in Bushs Ausspruch
im Jahr 2002: „the evil one is among us“143, nutzten die Prediger um Falwall und
Robertson um die globale Schlacht ‚Gut gegen Böse’ in der amerikanischen Gesell-
schaft auszurufen.144
Aus einer theologischen Idee, dem globalen Krieg als Teil der Apokalypse, wurde im
Jahr 2001 ein tatsächlicher Krieg, der mit Waffen, aber auch mit tausenden von Prayer
Warriors, Gebetskriegern, geführt wurde und wird.145 Die Prägung während der Bush
141 Vgl. Trimondi, Krieg der Religionen, S. 69. 142 Vgl. ebd., S. 56f. 143 Bush, George W., zitiert nach: Trimondi, Krieg der Religionen, S. 173. 144 Vgl. Trimondi, Krieg der Religionen, S. 172. 145 Vgl. ebd., S. 134f.
31
Ära hat dazu geführt, dass sich der christliche Aktivismus, aber auch die Mainstream-
Gesellschaft, im Kampf gegen das globale Böse geöffnet hat und über die Grenzen des
eigenen Staates schaut. Unter dem Slogan ‚Christians under Attack’ verbreiten nicht nur
religiöse, sondern auch konservative Sender wie FOX News, die Nachricht über die
Unterdrückung von Christen weltweit. Die Frage, warum der ‚leader of the free world’,
Präsident Obama, nichts dagegen unternimmt, wird nicht etwa mit seinem säkularen
Status als Regierungschef, sondern mit seiner islamischen Prägung in den Kinderjahren
erklärt.146
Juergensmeyers letzte Stufe findet also Bestätigung in der Entwicklung der Christlichen
Aktivisten in den USA.
Wurden innerhalb dieses Kapitels die Theoriestufen Juergensmeyers jeweils auf ihr Zu-
treffen hin geprüft, folgt im abschließenden Kapitel die Einordnung der Gesamttheorie
bezüglich ihrer Anwendbarkeit.
3 Religiöser Aktivismus im 21. Jahrhundert – selbstbestimmtes Aufbegehren oder Mittel zum Zweck?
Nur zwei der vier Thesen von Juergensmeyers Theorie haben auf das Untersuchungs-
feld ‚USA’ zugetroffen – das sind 50% Prozent, im Praxistest ist die Theorie also
durchgefallen. So könnte ein schnelles Urteil lauten, jedoch wäre derart Schlüsse zu
ziehen voreilig.
Juergensmeyer hat grundsätzlich Recht mit der These, dass sich in den USA in den 70er
Jahren eine religiös aktive Kraft formierte, die bis zum heutigen Tag ihre Gestalt mehr-
fach gewandelt, und sich zuletzt auf die Rhetorik des globalen Krieges eingelassen hat.
Jedoch muss gerade in der Entwicklung der USA die Frage gestellt werden, wer in die-
ser Entwicklung wen beeinflusst, gelenkt und benutzt hat.
Zunächst war es schließlich Paul Weyrich, ein konservativer Republikaner, der darum
bemüht war, eine Christliche Rechte, oder in den Augen seiner Partei, eine organisierte
Wählerschaft zu schaffen. Und es waren wieder politische Kräfte, die nach dem ersten
Scheitern der Christlichen Rechten Robertson überredeten, mit der Christian Coalation
einen zweiten Versuch zu starten.
146 vgl. FOX News Video, Christians under Attack, April 2015, URL: http://video.foxnews.com/v/4195237972001/christians-under-attack/?#sp=show-clips (31.05.2015; 13:19).
32
Interessant ist auch die Tatsache, dass es direkt nach den Anschlägen auf das World
Trade Center zunächst drei theologische Erklärungen der christlichen Aktivisten gab:
Zum einen der eröffnete Kampf gegen den islamischen Antichristen – diese Erklärung
setzte sich am Ende auch durch. Weitere Ansätze waren jedoch auch ‚Gottes Strafe für
das sündige Amerika’ und ‚Der Angriff des Teufels auf ein moralisch geschwächtes
Amerika’.147 Letztgenannte Ansätze, die zunächst auch von Robertson und Falwell ver-
breitet wurden, sind unter der Prämisse, dass mit dem World Trade Center, dem Penta-
gon und dem weißen Haus keine christlichen Symbole angegriffen wurden, sondern
Symbole des eigentlich verhassten säkularen Nationalstaates (Mammon, Exekutiv-
macht, Government), zutreffend. Relativ schnell ruderten die Führer der Christlichen
Rechten aber zurück und ordneten sich der von der Bush-Administration propagierten
Idee des islamischen Antichristen unter.148
Auch darf nicht vergessen werden, dass Timothy LaHaye seine Left-Behind-Serie nicht
kostenlos verteilt, sondern damit Millionen verdient, und damit Hand in Hand geht mit
allen Führern der Neuen Christlichen Rechten.
Religiöser Aktivismus, ob in den USA, in Syrien oder Nigeria, wird häufig und wahr-
scheinlich auch vornehmlich als Machtinstrument für Institutionen oder auch einzelne
Personen missbraucht. Autonome, nicht steuerbare Nebeneffekte wie die Army of God
scheinen in Kauf genommen zu werden um die eigene Position, die eigene Wahl oder
aber nur den Status Quo zu stärken.
Diese Arbeit hat aufgezeigt, dass die Ablehnung des säkularen Nationalstaates kein rein
islamisches und kein nah-östliches Phänomen ist. Es ist, wie Juergensmeyer in seiner
Theorie richtig beschreibt, ein Phänomen, das auch in der westlichen Welt, in allen Ge-
sellschaftsschichten und in allen Religionen vorkommt.
Am Beispiel der USA zeigt sich auch, dass die Ablehnung des säkularen Nationalstaates
als Motivation nicht nur, wie unter Punkt 2.1 beschrieben, eine Widerstandsbewegung
gegen alte Kolonialmächte sein muss, sondern dass weitere individuelle wie institutio-
nelle Faktoren, die Motivation beeinflussen.
Menschen suchen für sich und ihre Familie Sicherheit und Anerkennung. Sie befinden
sich in einem Gefüge aus Religion, Aufklärung, Macht, Kapitalismus, Liberalismus und
Humanismus, und das in einer Zeit, in der auch kleine Gruppen einzelner ideologischer
147 Vgl. Trimondi, Krieg der Religionen, S. 89. 148 Vgl. ebd. S. 88.
33
Ideen große Aufmerksamkeit auf sich ziehen können. Diese Individuen müssen im ste-
ten Wandel ihr Wertesystem neu anpassen und definieren.
Zu untersuchen wäre in den USA, aber auch in anderen Regionen mit religiösen Akti-
visten, ob der Wunsch nach einer gesteigerten religiösen Aktivität tatsächlich von der
Bevölkerung an sich ausgeht, oder aber von Personen oder Institutionen als Werkzeug
zur Kontrolle missbraucht wird. Norris und Inglehart, wie schon in der Einleitung er-
wähnt, haben nachgewiesen, dass die Religiosität in der Welt zunimmt. Doch worin
finden sich die Gründe dafür?
Es stellt sich die Frage, ob religiöse Aktivisten seit den 70er Jahren durch neue Kom-
munikationsmittel und Propaganda einfach effizienter mit Themen wie Sicherheit, Sinn-
findung oder Endzeitdenken ‚aktiviert’ werden konnten. Im aktuellen Kontext gefragt:
Wäre der IS in Irak und Syrien ohne moderne Medien und Mittel in der Lage, weltweit
junge Muslime zu rekrutieren, die oftmals erst durch die Medien und Mittel des Islami-
schen Staates radikalisiert worden sind?
Juergensmeyers Theorie trifft im Grundsatz zu und besagt Das eine Entwicklung in der
Gruppe religiöser Aktivisten stattgefunden hat. Die Aufgabe des Historikers in weiteren
Arbeiten muss sein das genaue Wie, nicht nur in den USA, sondern in weiteren Regio-
nen zu sezieren.
Weder Kommunikation noch religiöser Aktivismus lassen sich mit Gewalt unterdrü-
cken. Es sollte das Ziel sein, mit der Kenntnis über das Wie, möglichen Manipulatoren
zuvor zu kommen, und betroffene Individuen in Ihren Bedürfnissen ernst zu nehmen.
Nur so können gemäßigte Alternativen geboten werden. In der Säkularität, aber auch im
Glauben.
34
4. Verzeichnis 4.1 Quellenverzeichnis
Behring Breivik, Anders, 2083. A European Declaration of Independence, London, 2011. FOX News Video, Christians under Attack, April 2015, URL: http://video.foxnews.com/v/4195237972001/christians-under-attack/?#sp=show-clips (31.05.2015; 13:19). Johnson, Daryl, zitiert aus: Shane, Scott, Killings in Norway Spotlight Anti-Muslim Thought in U.S., New York Times, 24. Juli 2011, URL: http://www.nytimes.com/2011/07/25/us/25debate.html?pagewanted=all&_r=0 (30.05.2015; 18:26). North, Gary, Backward, Christian Soldiers? A Action Manual for Christian Reconstuc-tion, Tyler 1984, URL: http://www.garynorth.com/freebooks/docs/pdf/backward_christian_soldiers.pdf (27.05.2015; 22:12). Weyrich, Paul, zitiert aus Dokumentation: Ziv, Ilan [Regie], Wählt Jesus. Amerika in Gottes Hand [org.: Jesus Politics], 2008, URL: https://www.youtube.com/watch?v=1a_aAqARbq4 (25.05.2015; 12:46). Ohne Angabe, zitiert aus ARTE Dokumentation: Willke, Claudia [Regie], Die letzte Schlacht. Christlicher Fundamentalismus und seine Anhänger in den USA, 2007, URL: https://www.youtube.com/watch?v=1MLAeOxfTiY (14.05.2015; 18.45).
4.2 Literaturverzeichnis
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