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Forgotten Books

Mar 16, 2023

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Khang Minh
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Vorwort

l s im Jahre 1903 eine Studie herauskam , in der einpaar Seiten dieses Buches zu lesen waren , sprach im

Mercure de France Henri Albert von einem „schwierigenAutor“ , von Dunkelheiten und Verkürzungen . Er erblicktedarin den Grundzug der deutschen Mentalität“ . Der Abrißbegann mit Barrés, zu Barrés führte er zurück . Er wolltezeigen, wie von der napoleonischen Epoche bis zur Gegenwart auch in Frankreich die Glut einer individualistischenSehnsucht gelodert habe . Und er schloß mit dem Wunsche,„daß einige , die vielleicht ihre deutsche Erde, ihre deutschenToten , ihr deutsches Volkstum dem Vernunftwitz opferten,selbst durch dieser Schrift unzureichende Mühsamkeit denTakt der französischen Epopöe, der Epopöe des Enthusiasmus, hindurchhören und dem Geheiß irgendwie, bald, j edochnach deutschem Wesen folgen werden“. Henri Albert hatterecht : das ließ sich einfacher sagen .

Dreizehn Jahre sind vorüber. Der Autor hat, lange durchWidrigkeiten beirrt, neue Versuche unternommen . Er denktj etzt an den Jugenddrang und die Jugendabstra.ktion einesFünfundzwanzigjährigen mit dem Gefühl der Fremdheit.Der erbebende Mensch nur, die Landschaft, das unbewußteLeben , nicht ein holfärtiger Wahn des Intellekts hat ihmseitdem Freude gebracht oder hat ihn zur Trauer gestimmt :eines Kindes Atmen , ein Morgen in Opcina, am Lido , aufdem Laurenziberg . Von der Ideologie möchte er ganz derErzählung sich zuwenden, dem dichterischen Gleichnis , undeinen Roman „Schandera

“ hätte er in den letzten Monatenfertig geschri eben , wenn nicht bei uns allen ein gewaltigeresSchicksal anklopfte .So bittet das Buch , das in den Tagen des Weltkriegs erscheint, als ein Übergang aufgefaßt zu werden . Es gibt Be

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VORWORT

trachtungen , Porträts, Novellen und wiederum Porträts ; undes hofft, daß in ihm mancherlei Bilder und Worte sich finden , die durch Klarheit und Heiterkeit ihres Gegenstandesberuhigen können . Denn was auch j edem von uns zuteilwird , das Beste unsrer Überlieferungen dürfen wir nicht vergessen . „Laßt“, so mahnt in der Erschütterung der großenRevolution Goethes weise Baronesse von C ., „alle diese Unterhal tungen , die sich sonst freiwillig darboten , durch eineVerabredung , durch Vorsatz , durch ein Gesetz wieder beiuns eintreten , bietet all e eure Kräfte auf, lehrreich , nützlichund besonders gesellig zu sein ; und das alles werden wirund noch weit mehr al s j etzt benötigt sein , wenn auchalle s völlig drunter oder drüber gehen sollte . Kinder, versprecht mir das !“

B e r l in , im Mai 1 916 .

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Chateaubriand inWalpoleDer Jesui t

Die Jungfrauen

Lorenzaccio

KöcheDie SpötterCassaneus

Benj owski

Der GroßkophtaBäder .DichterDie UmstürzlerDer Opiumesser

Sankt HelenaDie SomnambuleDie RachelDisraeli

I n ha l t

Der WitzFrau von Kalerg13ProphetenEugenieRenanDer Herzog von PortlandTaineDer DeutscheReklameDie HöllenmaschineDer B laubartRimbaudDie B eredsamkeitLutetiaDie NabobsGideClaudelNovotny .

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Chateaubriand in Prag.

I .

as geschieht mit mir? Wo bin ich ? murmelte, langsam sich fassend, Herr von Chateaubriand . Drängende

Töne umrauschten ihn . Hatte Schlaf ihn bezwungen , wares die endlose Träumerei eines Mannes über sechzig Jahregewesen ? Er erschrak , weil sein Herz ihm nicht gehorchte,und dennoch fiel ein Empfinden ihn an , daß j etzt oder niesein ganzes , ihm selbst verhülltes Leben sich aufschließ enkönne . Ihm war, als liege er in seiner Jägerun iform amRande des kleinen Waldes bei Namur und sänke tieferund tiefer, in Abgründe, der Ohnmacht des Wundfiebers dahingegeben . Er sah sich als Kind in Combourg, sah seinefurchtsame Mutter, seinen Vater, der in langem Mantel undweiß er Zipfelmütze durch das Gemach ging , stumm und

drohend, seine Schwester Lucile , die Verklärte. Dann gehörtendiese aus dem Unsichtbaren flehenden Augen der Frau vonBeaumont, und sie starrten tränend in die herbstlichen Ruinendes römischen Kolosseums, wo sie, zwischen Dorngestrüppund roten Fingerhüten , von der Erde Abschied genommenhatten . Leise seufzte Chateaubriand . Als er in seinem Sofawinkel sich bewegte , zerflossen die Erscheinungen .

Eine Woge schmutzigen Lichtes kroch unstet über dieDecke, über die nackten , getünchten Wände, die Kupferstiche, den Fayenceofen , die niedere, durch Eisenklammerngegen Gasthausdiebe geschützte Tür. Und mit der flackernden Glut quol l die Litanei zu Chateaubriands Fenster, die,ohne daß es ihm deutlich geworden war, von fern ihn umschwebt hatte . Trüb zog sie ihn abermals in das Reich dergebundenen Sinne . Er glitt vorwärts und verschob das Rouleau aus Madapolam . Die Gasse war voll von alten Männernund Frauen . Zwei Banner und ein Gekreuzigter wandelten ,

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6 CHATEAUBRIAND IN PRAG

hundert Hände trugen Kerzen an denen der Wind fraß . Einheiseres Baßorgan gab das S ignal zum Abgesang, dem beständig ein paar Ungeduldige fromm vorauseilten . Zorni gund fremd war die Sprache, in der sie beteten .

Jetzt wußte Chateaubriand , in welcher Stadt er war. Erfühlte ihre Last, der nieman d zu entrinnen vermochte . Dervom Schlummer weggelöschte, bleich verdämmernde Nachmittag erstand vor ihm : graue Türme, dumpfe Glocken ,glitzernde Kapellen , brennende Ampeln , goldene Schreine ,Marmoraltäre, braune , gewundene Säulen , Bischöfe undEngel , die Flammenherzen umfingen . Der Schauer des Ver

gangenen feuchtete seine Stirn , der Schauer der Grüfte, dieewig warten . Und plö tzlich erinnerte er sich , daß er hierhergekommen war, um , weitab vom Tag, seinen vertriebenenKönig zu besuchen , Karl den Zehnten mit Marie Karoline ,Herzogin von Berry, und ihren schlimmen Abenteuern zu versöhnen . Stiller und stiller wurde es ; in der Kirche nebenanerstarb der Büßerchor. Der Lauschende trat in die Mitteder Stube und riß an den Quasten der Klingel . Baptiste ,sein Diener, brachte ihm mit pfiffiger D evotion die Lampeund sagte , daß noch eine halbe Stunde Zeit sei .Herr von Chateaubriand hatte ein pathetisches Profil,

schwarze Brauen , die von weißgrauem Lockenhaar abstachen ,

eine kleine Statur und in seinen Gesten eine brüske Verworrenheit. Während er die Kleider wechselte, sah er, mitnicht sehr aufrichtigem Bedauern , vor seines Geistes Augedas strahlende Paris , die Abbaye - aux - Bois und ihre dritteEtage . Den teuren Namen der Recamier lispelte er vor sichhin . Nur in Nebeln unterschied er das Vestibül , den Schlafraum , die Bibliothek , die Harfe, das Piano und zwei weiß eArme , nur zag noch hörte er Julietten s gläsernen Sopran eineRomanze singen . Aber da er die

‘Wollust der Entbehrungliebte , war ihm diese Herberge , was anderen das vermes

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CHATEAUBRIAND IN PRAG 7

sen ste Glück ist. Dem Ahasver verglich er sich,der nirgends

Ruhe hat, und stöhnte über sein Exil wie Cymodocea,die

holde Griechin , die nach den Lorbeerbäumen Messeniens

verlangt, sein en B lumenauen und Silberbächen . Das vonFichten und Z

‚edern umdunkelte Haus in Vallée - aux - Loups

hatte er verkauft, weil er, der Misere Frankreichs müde ,unter Englands Himmel genesen wolle . Und es war seinebitterste Erfahrung, daß ungeachtet der Geschäftigkei t derHerzogin von Duras, durch eine Lotteri e ihm j enes Besitztum wieder schenken zu lassen , seine Verehrerinnen nur platonische Teilnahme bekundeten . Als Minister, als Botschafterhatte er irdischen Triumph und irdische Enttäuschungenkennen gelernt . Ungeberdig hatte er Kapitalien vergeudet,fünfundzwanzig Pferde in seinem Stall gehabt und dannwieder mit der Hoheit eines Bettlers aus Gesinnung Einladungen abgelehnt, weil er zu arm sei , einen Fiaker zu bezahlen . Er haßte die Welt der Vorzimmer, der Boudoirs ,der Zeitungen , in die es ihn lockte . Doch er hätte nicht zuatmen vermocht ohne die Feindschaft des groß en Napoleon ,ohne die Erbärmlichkeit der Bourbonen und seine schimpfliche Verj agung aus den Tuilerien . Jahrelang erwog er Unbill , die man ihm zufügte , und wenn er imstande war, sie

zu vergelten , sank ihm zitternd die Hand . Sein kaltes Urtei lerforschte die Menschen ; aber wenn er ihnen gegenübersaß ,lobte er sie, weil j eder Tadel , j eder Konflikt die Entfernungverringert. Um eine fatale Stunde zu vermeiden , begab ersich in unwiderrufl iche Knechtschaft. Er scheute die persönliche Vertraulichkeit, da ihm nach fünf Minuten der Klangseiner eigenen Stimme hohl und gefährlich erschien . Stolznannte er sich einen Bruder des Dante , der den Fluch derEinsamke iten geerbt hat . Ohne Hemmung erging er sich inPlagiaten des René , mit dem er sich selbst umschmeichelte ,und es war symbolisch, daß er nur die Ätnaszen e aus seinem

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8 CHATEAUBRIAND IN PRAG

Roman wiederholt hatte , als er später feierlich über die Lavades Vesuv geklettert war. Die Länder, die er durchstreifte ,wurden ihm zu ekstatischen und vi el leicht nicht absichtslosfalschen Bildern . Unw irklichkeiten bezeichneten seinen Pfad ,weil er die Erfüllung immerdar verschmäh te . Er huldigte denSylphen der Luft, nach denen erals zögernder Schül er schmachtete, den indianischen Odalisken , die er bei den WassernFloridas , unter üppigen Magnolien , versäumte , den eitlenMädchen , die an seinem Ruhme sich sonnten . Leer war es inihm , al s Frau von Beaumont, schon mit den Stigmen derSchwindsucht behaftet, in Savigny ihm eines Sommers Zuflucht bot. Voll Überdrusse“s hatte er sie nach Rom m itge

nommen , wo sie ihm unbequem war ; und erst ihr Tod be

gnadete ihn mit der Fähigkeit, zu leiden . Mehr Schattenfolgten diesem Scheinlebendigen als irgend einem Menschensonst. Auf felsiger Insel bei Saint - Mal o hatte er sein Grabsich gewählt . Und nach dem Nichts begehrte er mit einemHeimweh , dem er viele Zeugen wünschte .Eine Uhr schlug neun . Baptiste legte die Pelerine überChateaubriands erblindete Orden . I n der Tür zum Weinzimmer standen Hyacinthe, sein Sekretär, mit der Rosetteim Knopfloch ‚ und Schwartz , sein Lohndiener aus Basel .Aber nicht sie hatten ihn in die Burg zu begleiten , sondernj emand , der am Ende des Korridors auf ihn zukam undden betressten Zylinder lüpfte. Er stellte sich in einer ArtFranzösisch als Schloßlakai Homolka vor, war Aspernveteran , roch nach Tabak und hatte , wie er gutmütig meldete ,den Befehl , mit dem Herrn aus Paris den raschesten Wegzu nehmen .

In der Torfahrt zuckte eine Öllampe . Alle Gänge warenfinster, verrostete Riegel lagen vor den vergitterten Luken .

Hökerinnen und Trafikantinnen sperrten ihre Kasten zu .

D ie Häuser kauerten wie das Seinéviertel zur Zeit der Cho

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CHATEAUBRIAND IN PRAG 9

lera, der Chateaubriand jüngst im Entsetzen des Hypochonders nach Genf entflohen war. Schritt für Schritt vertieftesich die Vision , die er kurz sichtig und noch jäher denneinige Stunden zuvor genoß . Ein Palast aus gelbem Sandsteintauchte in brüchiger Anmut auf. Erker und Lauben , Simsemit Wappen , schräge Pfeiler umringten den Markt. Das

Turmpaar einer domartigen Kirche erdrückte die Dächer,die Patina ihrer Kuppel schwamm in den silbernen Netzendes Mondes . Auf der anderen Seite dehnte sich em zweiterPlatz mit der Kirchentreppe, einer Hauptwache , einer Votivsäule . Und über ihre Spitze wuchs ein ungeheures Etwas ,eine Stadt über der Stadt, die Masse einer Kathedrale, einekaum zu ahnende Burgfront,

'

in der irgendwo ein Funkemühsam glomm .

Es ist sehr steil“ , brummte Homolka und trottete . Herrn vonChateaubriand schmerzten die Schienbeine; auch schmerzteihn der Kopf, weil er der Tropen sich nicht entsann, durchdie er Karl den Zehnten rühren wollte . D ie erhabene Pflichtnahte, die ideale Situation für den Ritter, den Höfling desUngemachs . Wie Blondel zu Richard Löwenherz , war erzum Schloß der habsburgischen Kaiser gepilgert, die demAllerchristlichsten König, ihrem Vetter, ein letztes Asyl gewährten . „Sire ,“ wollte er anheben , „ sie i st die Witwe IhresSohnes . Marie Karolinens Schoß hat Heinrich den Fünftengetragen , dessen Scheitel seit Ihrer Abdankung die Kroneziert. Die Orléans , die sie in Blaye mißhandelt, die mich indie Polizeipräfektur eingekerkert haben , verleumden ihreReinheit.“ D enn so begann der Entwurf, den er in der Kalesche ausgearbeitet hatte ; und da Chateaubriand sich derGrenzen von Chimäre und Wahrheit nicht bewußt war, hattenauch die übrigen Begebenheiten sich ihm wundersam verändert. D iese kreischende Herzogin mit den blonden Lockenund dem winzigen Vogelgesicht, diese hirnlose Prinzessin

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10 CHATEAUBRIAND IN PRAG

von Neapel , die mit einer Bauernschar im bretonischenD ickicht die Rebellen des „Ivanhoe

“ nachgeahmt hatte undmit von Ruß geschwärztem Gesicht in einem Kamin ertapptwerden war, wurde ihm zu einer Maria Stuart, einer MaterDolorosa . Und er war bereit, vor ihrem Schwiegervater zubeschwören , daß Graf Lucchesi im Haag, den sie niemals gesehen hatte, in legitimer Ehe das Kind mit ihr gezeugt habe ,das sie vor zwei Wochen in der Zelle von Blaye gebar.

Dort ist die französische Maj estät“ , sagte Homolka schnaufend . Sie waren auf einer granitenen Stiege, die zweihundert Stufen hatte und mit breiter Rampe links , mit friedlichen Häuschen rechts über eine enge Gasse hing . Chateaubriand blickte dem Funken entgegen , der j etzt ein starkesFeuer war, auf das Halbrund eines Fensters , wo Kressenund Reben blühten , auf Rollziegel und Schanzmauern . Nunwar die Höhe erreicht. Unten gähnte das Tal . Sie passierten ein angebautes Tor. Ein österreichischer Soldat lehnteträg an der Schranke und summte ein Lied vor sich hin .

Die Steine eines viereckigen Hofes dröhnten zu ihren Füßen .

Sie durchquerten schweigende Gewölbe, die von plumpenLaternen erhellt wurden . Wi ederum ein Hof, in dem einbronzener Sankt Georg einen Brunnen umritt : die Kathedrale, schwarz wie ein Berg ; ein Portal ; Lakaien ; eine Freitreppe ; das war das Ziel.

I I .

Herr von Chateaubriand betastete seine Orden und dra

pierte seinen Mantel . Strauchelnd ging er ohne Homolka ,der sich empfohlen hatte , an sechs Kandelabern vorbei inszweite Stockwerk . Ein Militärposten in weißer Uniform

,

ein Tuileriengardist, salutierte vor ihm ; und nun , wie voneinem ärgerlichen Traum gesendet, erschien der Herzog vonBlacas, der mit geheucheltem Entzücken ihm die Hand gab .

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CHATEAUBRIAND IN PRAG 1 1

Hinter dem dritten von drei unmöblierten Sälen , die modrig waren wie der furchtbare Escorial , sprang eine Tür aufblinzelnd neigte sich Herr von Chateaubriand in seinemStaatsfrack vor der Gesellschaft, die unter dem Lüster gruppiert war, und eine Fistelstimme traf schleppend sein OhrWillkommen , lieber Botschafter ! Herr von B lacas hatmich von Ihrem Brief benachrichtigt . Sie werden fatigu iertsein . Setzen . Sie sich doch ! Was macht Ihre Frau ?“Chateaubriand stammelte nichts als : Su e !“ Er gewahrte

zwei entfärbte Augen , eine Stirn von Wachs , ein in seinerWelkheit noch glattes Antlitz . Der König von Frankreichsaß , im Sammetj aket über der mit Lilien bestickten Weste ,mit schwarzem Moiréband , an dem das Lou iskreuz befestigt war, und in den langen Beinkleidern der Dandies beimWhist. Und wie er sich j etzt über die grüne Tafel beugte,zwang er den halbofl

enen Mund zu einem gefrorenen Lächeln :Sein Partner war der Herzog von Angouleme , sein ältesterund nach Berrys Ermordung einziger Sohn , der Graf vonMarnes ; die Herzogin , Ludwigs des Sechzehnten geweihteTochter, die Gefangene aus dem Temple, die männ ische Antigoue , gebrauchte die Karlsbader Kur. Der Herzog hattedie Nase der Familie, ein ausrasiertes Kinn und einen Bartnach Londoner Mode, womit er, den Generalsinsignien zumTrotz , einem dünkelhaften Kaufmann aus der City geähnelthaben würde, hätten nicht diese geschwollenen Lider unddie schlaffe Anmaßung dieser Lippen die Unzufriedenheiteines Entfürsteten verraten . Frau von Gontaut, die spitzeGouvernante, knetete ihr Taschentuch . Wi e eine Bulldoggestierte Herr von Villatte den Gast an . Frau von Guichewandte ihm kokett ihre schon vernachlässigteMedaillenschön

heit mit den schweren Haarflechten zu , Herr von Guichelegte hustend di e Karten fort, Latil, der Priester mit den aschgrauen Wangen , überschaute die Szene . Der König winkte ;

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1 2 CHATEAUBRIAND IN PRAG

und Herr von Chateaubriand blieb allein in seiner Hörweite

,während der Whistklub sich flüsternd um den Grafen

von Marnes beschäftigte .

„Sire“ , stammelte der Gast ein zweitesmal und ordneteange strengt Begriffe und Phrasen . Er sprach mit schlechtester Kunst von Louis Philippe , dem Räuber auf dem Thron ,von Deutz , dem Syk0 phanten , Thiers , dem Charlatan voneiner Mutter, die ihm Briefe für ihre vergötterten Kinderübergeben habe und dank einem nachsichtigen Monarchenund Schwiegervater sie bald hier zu umarmen hoffe . Dochwährend er sprach , flog sein Geist in die Ferne und zurückzu der Maske da, die noch immer vom selben süßen Lächelnumgaukelt wurde . Die Chronik seiner Begegnungen mitihr las er in böser Schnelligkeit ab . Er dachte an die Flottenmanöver in Saint - Malo , an einen Grafen Artois , der wie einSieger im Pulverdampf stand , einen verwöhnten Don Juanund mit dem weißen , wallenden Busch Heinrichs des Vierten das Emblem des Royalismus . An Thionville und denAufmarsch der Navarraoffiziere vor einem selbstgefäl ligenTheaterhelden . An einen bej ahrten Emigranten , der blasiert ,als habe sich nichts ereignet, in Pari s einzog , von einer Deputation zu Pferde begrüßt der Herr von Chateaubriandsich zuzählte. An die gemem samen hundert Tage in Gentund das Hotel der Niederlande ; an die verweigerte Audienznach der Schlacht bei Cadix ; an die Krönung in Rheims ,der er knirschend entwichen war, an das Scherzwort Karlsdes Zehnten über einen zu engen Handschuh , das die Märverursachte , der Gestürzte sei abermals in Gunst ; an dieEmpfänge in Saint Cloud , an das Gemisch von Hoflart undLaune , das Verderbnis eines in den Untergang taumelndenGeschlechts . Deckte diese Fassade eine Seele zu ? Hattedieser Greis wirklich vi er seiner Blutsverwandten durch dieGuillotine verloren , hatte er j e zu Lond on inbrünstig vor der

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CHATEAUBRIAND IN PRAG 1 3

sterbenden Polastron gekniet, die, eine Agentin Latils, ihnzum Glauben bekehrt hatte ? War er j e ins Foyer der Opergerufen worden , wo sein Sohn Berry zwischen noblen Habitués, Damen in Gala und verstörten Musikanten mit klaffendeu Wunden gebettet lag? Konnte das Schicksal Spurenhinterlassen , wenn diese Larve so lächelte ! Herr von Chateaubriand schluchzte fast gegen seinen W il len heft ig auf. Der

König fixierte ihn ; die entfärbten Augen irrten. Dann warensie wieder regungslos , und die schleppende Stimme greintedurch den Saal : „Sie ereifern sich , lieber Botschafter. I chmuß Sie bitten , die Briefe der Herzogin der Frau von Gontaut a uszuhändigen , die weiß , was ihres Amtes ist. Woll enSie, so fahren Sie zur Dauphine nach Karlsbad . Ich werdemich immer freuen , Sie zu sehen .

Herr von Chateaubriand erhob sich . Der Herzog von Angouleme trat auf ihn zu und fragte nach der spanischen Politik, Frau von Gontaut steckte die Briefe in ihr Ridicule,Frau von Guiche nahm am Whisttisch des Königs Platz .Der Kardinal Latil redete über Pius den Achten . Matterund matter glänzten die Kristalle des Kronleuchters, undalle Gesichter verzerrten sich . Die Fistelstimme sagte : „Aufmorgen !“ Vor der Türe machte Herr von Blacas mit geheucheltem Entzücken die Honneurs . Der Tuileriengardist

salutierte . D ie Kandelaber der Freitreppe waren durch sparsame Windlichter ersetzt. Herr von Chateaubriand lief, umHomolka nicht auf den Fersen zu haben . Adler und Tro

phäen waren ausgespannt, groß e Fledermäuse zischten , vorbei an Häusern , Kirchen und den Hütern eines grauen Palais, zwei Mohren mit Straußenfedern um die Knöchel , zweigrinsenden Mohren in Ketten . Mehrmals zauderte er, mehrmals drehte er vergeblich sich um , ob drohen der Funkenoch leuchte . In krampfhafter Erschöpfung und haltlos vorGrimm , weil er um den sublimen Zweck seiner Reise be

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14 CHATEAUBR IAND IN PRAG

trogen werden war, stürmte Herr von Chateaubriand durchdie Nacht.Nun war er vor dem wuchtenden Brückenturm , nun auf

der Brücke selbst. „Sicut nubes , quasi naves , velut umbra“ ,

deklamierte er emphatisch zu den Wolken , zum ruhigenStrom . Die Statuen der Heiligen ragten wie ein versteiner

ter Wald . Vor einem Jüngling schmiegte ein Löwe sichnieder, der ihm wedelnd die Schuhe leckte ; Märtyrer wurden in Höhlen gefoltert ; um einen versunkenen Mönch mitbrechenden Augen wölbte sich ein Reif aus roten Glassternen ; ein goldener Kruzifixus schimmerte , eine Madonna betrauerte den Leichnam des Erlösers . Herr von Chateaubriand geriet in schmale Gassen , die tückisch sich zusammenrotteten . Aus einer von Efeu umsponnenen Taverne haschte

,

unverständlich lallend , eine Dirne nach ihm . Da überraschte ihn sein Name . Ernüchtert und beschämt erkannteer seinen Sekretär, der von der Herberge sorgend ihm nachgegangen war.

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1 6 WALPOLE

der groß en Walpoleschlacht“, von der Junius spricht, ge

schah . „ Ich bin im Hause eines gestürzten Ministers“ , klagtdes Staatsmanns jüngster, vernachlässigter Sproß , als

“erdessen Ruhesitz in Houghton besucht . Später, vi el später,grollte er den Fremden , die Sir Roberts Schlafkammer, dieFarbe der Tapeten, einen Hummer in irgendeinem Stillleben beschwätzten und dann zu der Herberge eilten , woihr D inner verbrannte . „Wo sind die hübschen Bosketts,

die reizenden Pfade ? Houghton ist nur noch ein Denkmalvon Größe und Untergang .“ D ie Galerie des Landhauseshat Walpoles Neffe Georg , nach dessen Tod er die Lordschaft bekam , zu seinem Gram der Zarin verkauft . Innighing Horace an seiner Mutter. Es wurde behauptet, sie habeihn von Lord Hervey, über dessen Sippe eine sp itze Zungesagte , die Welt bestehe aus Männern , Weihern und Herveys .Lady Walpole war schön . Sie strahlte , als die Königin Karoline beim Handkuß des Adels in die vierte Reihe rief:Dort sehe ich eine Freundin“ , und die Neiderinnen vor derFrau des fast schon wankenden Premiers zurückwichen .

In der Westminsterabtei ist sie begraben .

Belanglos i st , daß Horace Parlamentsmitglied für Carlingtonwurde , für Castle - Rising und Kings - Lynn . Sein einziges Erlebnis sind die Reisen nach dem Kontinent. Auf der erstenhielt er Gray frei , den künftigen D ichter der „Elegie auf

ländlichem Kirchhof“ , einen seiner Freunde von Eton herwie George Selwyn . Sie machten le Grand Tour“ . „Gestern“,

schreibt Walpole , „war ich ein Schäfer aus dem Dauphine ;heute ein wilder Älpler ; morgen ein Karthäusermönch undFreitag ein kalvinistischer Schweizer.“ Am Mont Cenis raubteein Wolf den kleinen Tory

,den schwarzen King Charles .

Gray versäumte , diesen Schmerz so zu verherrlichen wienachmals Walpoles Lieblingskatze , die in einem Goldfisch

becken ertrank . In Reggio überwar‘

fen sie sich . Von Italiens

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WALPOLE 1 7

Städten gefielen den Touristen Bologna und Florenz . Romwar kleiner als ihre Träume . Und mehr als Herculanumhat Walpole die Viscontina , die in der Londoner Oper singensollte , beachtet.Frankreich zog ihn an . Er sah die Provinzen und dieKathedralen , die Comédie und Versai lles , das ihm ein ärmliches Schloß schien mit einem Garten für ein großes Kind .

Zweimal i st er nach Paris zurückgekehrt, „um seine Erziehung zu vollenden Alle lachenden Gedanken“ seinerJugend wollte er in sich erneuern , auf die Gefahr hin , alsNarr zu gelten . Vor ihm saß en Madame du Barry, wie eineBürgerin , ohne Rot und ohne Puder, und Ludwig XV dieses„Gemisch von Frömmigkeit, Pracht und Wollust“ . Der Engländer erstickte im Gedränge derAn tichambre, wo die schreckliche „Hyäne von Gévaudan“ ausgestellt war. Er betrat dasDamenkloster von Saint Cyr, die Gemächer der Maintenon ,

und war über j enes Fräulein von Mailly gerührt, das desKönigs Gunst verlor und den Offizieren , die es laut eineMetze schmähten , erwiderte : „Da Sie mich kennen , so bittenSie Gott für mich !“ Er berauschte die blinde du Deffand ,„la femme Voltaire“ , die mit dem Regenten und dem stumpfenHénault Verhältnisse hatte und einsam blieb , als ihre Gesellschafterin , das unglückliche Fräulein von Lespinasse, vonihr ging . Schmarotzer umringten sie . Walpole heiterte sieauf. Sie wollte bi s drei Uhr morgens wachen , um den Kometen zu sehen . Sie verliebte sich in den schmeichlerischenTon seiner Stimme und offenbarte sich ihm durch die Federihres Sekretärs W iart. Er verlangte von der blinden „Witzschwelgerin“

, der dringlichen Matrone, Schweigen über ihreKorrespondenz . Er beschuldigte sie der Indiskretion undder Albernheit : „Bin ich dazu geschaffen , der Held einesBriefromans zu werden ?“ Er spottete, daß er die Antwortenauf die Portugiesi schen Briefe

“ abschreiben wolle . Sie ent

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18 WALPOLE

gegnete, er sei trocken und roh . Sie verwünschte ihre „Feigheit

,Schwäche und Lächerlichkeit“ und bedeutete ihm , er

habe die Blumen ihres Gartens bis auf die traurige Immor

telle zerpflückt. Gern hätte sie ihm alles vererbt ; er drohte,daß er Paris nie mehr auszeichnen wolle, und nahm nurihre Manuskripte und Bücher.Wohl hat er auf englischem Boden Franzosen bewirtetMadame de Boufflers, Duclos, den Herzog von Nivernais ,D elille und die Genlis . Oder den Ahbé Raynal , dem er inParis Taubheit vorspiegelte , um nicht über die Kolonien mitihm reden zu müssen . l ndes , er vergißt nicht, daß , als derUrheber der „Geschichte der beiden Indien“ äußerte, j edesD ing in England könne ihm Frankreich nur empfehlen ,Churchill ihn mit den Worten abführte : „Gentlemen, wärendie Irokesen hier, so würden sie nur Fischtran essen .

“ Erverleugnete seine Lehrmeister. Sie hätten sich von den Britendie zwei lahgweiligsten Stücke angeeignet, nämlich Whistund Richardsons Romane . Das Lachen sei j etzt in Pari sverpönt ; die guten Leute müßten zunächst Gott und denKönig am Boden haben . Nach dem „Grand Tour“ warenAlbions Menschen für Walpole „Berge von Roastbeef“ . Späterwollte er sich den alten Göttern und Göttinnen Frankreichsnicht mehr beugen . Was heiliges Dunkel war, i st j etztSchmutz und Finsterm s. Die Illusion ist weg, wie bei einemTrauerspiel , das von Lampenputzern aufgeführt wird .

“ Der

Zögling meint, daß der französische Charakter im einzelnenerträglich , als Gesamtheit verderbt sei . Die Keuschheit ausländischer Frauen taste er an : „Yes, I swear to you by theSicilian vespers , they can never be of much duration .

“ Erist außer sich über den Herzog von Chartres , der beim erstenDiner einer Lady seine Knöpfe hinreicht

,worauf Pferde und

Hunde in obszönen Stellungen eingraviert sind . Ihm rät er,sich durch das Feuer zu läutern .

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WALPOLE 1 9

Auch von Voltaire ist er abgerückt, zu dem Frau du Deffandwie zu einem Überirdi schen betete . Zwar mit dem Behageneines Neuigkeitsträgers der Aufklärung teilt er seinemFreundeMontagu die Geschichte von dem Beamten des Kantons Bernmit, der alle Exemplare des „Esprit“ von Helvetius und der

„Pucelle“ konfisz ieren sol lte und dem Rat bestellte : „ In derganzen Stadt hat man sehr wenig Esprit und keine Pucellegefunden .

“ Doch in einem seiner Bücher strafte er die Unfreundlichkeiten des Schloßherrn von Ferney gegen Shakespeare. Arouet gebärdete sich harmlos , schrieb ihm undlobte seine Historischen l weifel über Richard „Vouspesez toutes les probabilités .“ Der Baron Holbach ist nachWalpole ein Trop f. Gegen Friedrich I I . richtete er das Epigramm : „Haben Sie die Werke des Philosophen von Sorgenfrei gesehen oder vielmehr des Mannes , der kein Philosophist und j etzt mehr Sorgen hat als irgend j emand in Europa?Wie erbärmlich sind sie ! B lende Reimerei : kein neuer Gedanke, und kein alter neu ausgedrückt.“ Am unglimpflichsten

verfuhr er mit Rousseau , dem „vice qui raisonne“ . Ihn opferteer durch eine gefälschte Epistel des preußischen Monarchendem Hohn der Welt . Dem düsteren Sendboten der Natur,der Paris in Armen iertracht durchschlich und in London dieZu lassung seiner Haushälterin zu allen Tischen begehrte,verhieß er in Friedrichs Namen „Verfolgungen nach Herzenslust“ . Er freute sich , hierbei d

Alembert seine Geringschätzung bekunden und über Humes Rechtfertigung schreibenzu können , daß Europa „mit solchen müßigen Streitereiensich die Kehrseite wische

‘ Daheim wurde er ein selbstsüchtiger Grandseigneur, derseinen Besitz zusperrte . Einmal , als der zweite Jakobitenaufstand loderte und der Prätendent Karl Eduard dräute,

fürchtete er bereits, er müsse mit dem König nach Herrenhausen fliehen oder den Prinzen in Kopenhagen Sprach

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20 WALPOLE

stunden geben . Er war unfähig , den Küraß zu schleppen ;doch als der Prinz von Wales im Siebenj ährigen Krieg eineramerikanischen Schule Bücher schickte, bemerkte er, nurWaffen , Pulver und Blei seien erlaubt. Er war glücklich,wenn der Herzog von York gnädige, zerknirscht , wenn diePrinzessin Emily ungnädige Laune hatte , diente al s Costumierund besichtigte würdevoll mit dem Prinzen Eduard das

fromme Magdalenhouse, dessen verirrte Lämmer ohnmächtigniedersanken , weil die feinen Herren sie zu lange prüften .

Er hängte das Todesurteil gegen Karl I . über sein Bett, alsdie „maj or charta“ , die wahre Befreiung Englands . Prahlte ,seine Schüler würden den

Herrschern ihre Entbehrlichkeitvorhalten , und amüsierte sich über den spanischen Gesandten ,der die katholische Maj estät gefragt hatte, was sie denn anderssei als eine Zeremonie . Er spielte den Kardinal Retz undwollte sich vom Geschrei der „Patrioten“ den Schlaf nichtstören lassen . Macaulay, sein Nachrichter, sagt, er habe esals „practical j oke“ betrachtet, politische Charaktere zusammenzuhetzen . Er ist d er Stockbrite , der , sei t der LektüreFontenelles ungläubig , der „servants“ wegen zur Kirche gehtund empört ist, daß in Gegenwart eines Bedienten das alteTestament kritisiert wird . Die „respectability“ ist ihm Dogma .

Zwar nicht ganz verlor er die Erinnerung an Mrs . Commyns,die gastliche Gevatterin , deren Bude in Airstreet demoliertwurde, weil eine Lady in Eifersucht auf die Pensionärinnendem Mob zehn Guineen schenkte . Er lustwandelte mit geschminkten Damen der Gesellschaft , die frei von Prüderi ewaren , und fuhr mit ihnen bei Musik mit einer Gondel überdie Themse nach Vauxhall . Sie holten Betsy, das Obstmädchen , heran und durchlärmten den Garten bis zum Morgen .

Zwölf Jahre darauf vergnügte er sich nur in Bedford House,wo die Tochter Georgs I I . mitten unter j ungen Leuten speiste,beim Schall von Jagdhörnern ,Klarinetten und Tamburin , oder

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WALPOLE 2 1

auf dem Lampionfest der Northumberland . Er vertauschteArlington street, wo er in Winternächten gefroren hatte, dieStätte seiner Geburt, mit einem Domizil am Berkeley Square .Dürftig sind die Zwischenfäl l e . Etwa , daß im Hydepark derRäuber Maclean in seinen Wagen schoß und ihn plünderte,ein Ire, für den vor seiner Hinrichtung die 'schönsten Besucherinnen von Newgate Tränen hatten . Oder daß Walpoleim Theater Drury Lane wo der Pöbel gegen die Boxer desDirektors Fletwood kämpfte , diesen einen „unverschämtenSchurken“ nannte und als Heros ausgeschrien ward . Odersein pudeltreuer und doch befehlshaberischer SchweizerColomb ist zu erwähnen und die feiste Hündin Rosette, dieneben ihm im Sessel schlummerte, ein Geschenk der duDefi

and . Walpoles Geliebte war Mrs . Clive, die kluge, rotwangige Schauspielerin , die ihmAnekdoten vom „greenroom“

,

der Garderobe, lieferte . Als Mrs . Heidelberg“ figuriert sienach ihrem Part in der „Heimlichen Ehe“

Sie i st Walpoles Genossin auch in dem Ort seiner Wahl ,im gotischen Landschloß bei Twickenham gewesen . „Strawberry - Hill“ , „Erdbeerhügel

“, taufte er es und Clivedon oder

Little Strawberry die Villa der Clive , die nach ihrem Todevon der Schauspielerin Jane Pope abgelöst wurde . Da l ebteer seinen Neigungen . Mit Hallen , Kammern , Bücherei undGalerie , baute er Strawberry , das „Haus von Papier“ , zueinem Kloster aus . Eine Presse für Amateurdrucke richteteer sich ein . Sein Drucker ist Robinson , der noch mehr alsGarrick die Augen Richards I I I . hatte . Walpoles Zeitvertreib war, für die Ladies süße , im Satz vorbereitete Gelegenheitsverse zu drucken . Er huldigte ihnen mit Narzissen ,Tulpen , Lilien , Musik, Eis, Tee, Kaffee und Biskuit, mit Parkszenen nach Watteau , fühlte sich als Harun al Raschid undschmollte, als Strawberry eine Herberge wurde . Er widmetesich der Zucht von Hammeln und Goldfischen , pflanzte

2

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22 WALPOLE

chinesische Lebensbäume und Fichten aus Neuengland undbildete die phantasiereiche Gartenkunst von Kent und Templeweiter. Er war ein Sammler von sehr verwöhnten Sinnen .

Er pilgerte durch die Schlösser. Sein Blick glitt über di eHolbeins , über Shakespeares Grab und Fotheringhay , denKerker der Maria Stuart . In Woburn stöberte er Ahnenbilder auf, in Rowley verschollene, von den Ratten zerfressenePergamente, in Hardwicke zerlumpte Goldvorhänge. Erergötzte sich an Heraldik , Cäsarenmünzen , Gobelins , anHeinrichs VI I I . Uhr für Anna Boleyn , an Wolseys rotemHut, an der Wärmflasche für die Mätressen Karls I I . DieAltertümer waren ihm vertraut, nicht das Altertum , das er

persifliert , nachdem er in Eton - Neston eine Statue Cicerosin einem Haufen kopfloser Kaiser und Vestalinnen sah . Erhat die „Anekdoten von Malern“ bearbeitet, worin er, zuMacaulays Bürgergrimm , sagt, die Malerei müsse verfallen ,weil keine Modelle übrig seien, die gemalt zu werdenverdienten . „Wie pittoresk“ , seufzt der Oscar W ilde desachtzehnten Jahrhunderts, „war die Gestalt eines Wiedertäufers !“ Hogarth mochte der Genießer, in dessen Zimmerder Duft von Tuberosen , Heliotrop , Orangeblüten und Weihrauch schwebte , nicht leiden . Aber in Strawberry hing dasPorträt der Magd Sarah Malcolm , der reinen Mörderin .

Die Autoren“ sind für den D ichter Walpole Tagelöhneroder die Brechwurzel Ipekakuanha . Fielding ist ein Plebej er, der mit einem Blinden , drei I ren und einer Dirne aufunsauberemLeinen kaltesHammelfleisch und

'

einen Schinkenknochen verzehrt . Swift, der bei Sir William Temple amzweiten Tische saß , und mit einer schwarzäugigen Kammerj ungfer, seiner Stella , l iebäugelte, i st ein undankbarer Streber ;bei Sir Robert Walpole selbst hat er zugegeben , er sei eineKletterpflanze. Richardson schildert die Welt nach den Ideeneines Buchkrämers . Sterne , der seine Mutter verhungern läß t,

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24 WALPOLE

das Laub noch winterlich sei , kritzelte er mit Anmut : Wirhaben noch kein Blatt, das breit genug wäre, um einer Evavon zwei Jahren als Schürze zu dienen ;“ und wenn derSchneesturm das Dach der Lady Raymond abgedeckt hatte :Lord Robert Berti e , der die Dame heiraten will , kann nunzu ihr n iederfliegen wie Jupiter zu Danae .

“ Seine Berichtesind eine Chronique de I’Oeil - de - boeuf.“

Dieselbe Eigenschaft geht durch die Memoiren , die er fürdie beiden Fräulein Berry entworfen hat . B elagerungs

münze“ sind sie, vom ersten besten Metal l geschlagen , umdie Garnison für den Augenblick zu beschwichtigen“ . Erbucht die Wandlungen unter drei Monarchen . Vom GrafenKön igsmarck erzählt er, der zur Gemah l in des nachmaligenGeorg I . in die Schlafstube sich stiehlt, und dessen Leicheman nach Jahren unter dem Fußboden findet. Von Georg I I . ,dem feindlichen Sohn , der das Testament seines Vor

gängers brutal dem Erzbischof wegreißt und es verbirgt,weshalb Friedrich der Große ihm Zuchthaus wünscht. Vonder Königin Karoline , die einen Bruch hat und ihr Hemdwechselt, indes der Kaplan im Vorzimmer unter dem Bildder nackten Venus steht und ihr das Wort Gottes durchsSchl üsselloch pfeift . Von ihrer Rival in , der Lady Suffolk,die al s Frau Howard im Exil ihr Haar feilgab und dem nachtsim Wachraum von Saint Jam es polternden Gatten hoch bezahlt wird . Auf daß sie nicht ganz taub werde

,erbittet der

Hofwundarzt Gnade für einen Gefangenen , der sich zur Probeeiner Operati on des Trommelfell s unterziehen will . Er wirdbegnadigt‚ aber die Sache i st ein Gaunerstreich . Der königliche Liebhaber beehrt die Suffolk, die Uhr in der Hand .

Denn er ist genau , und noch gegen Ende dünkt er sich , wenner mit Lady Yarmouth , der letzten deutschen Kebse , vonRichmond durch den Staub kutschiert , der großartigste FürstEuropas . Doch ist er Karoline, so lange sie lebt, gehorsam ,

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WALPOLE 25

duldet, daß di e Howard bei der Frisur gepeinigt w ird , undfährt sie an : „Weil S ie selbst ein en häßlichen Hal s haben ,wollen Sie den Hals der Königin verstecken .

“ Alle Fitz derWelt, al le Bastarde, scharen sich um den Hof, in dessen Getri ebe bal d „Tanzlehrer die Minister ersetz en“ . Eine trügerische Hoffnung ist der Herzog von Cumberland , der Prinzund Feldherr, der im Jugendtrotz seiner Mutter den SpruchJesu zitiert : „Weib , was habe ich mit dir zu schaffen ? “ Da

i st der entfernte Schatten von Sir RobertWalpoles erbittertemFeind, dem blühenden , dem eitlen , dem „Satan“ Bohngbroke .

Da i st der Herzog von Newcastle, Smollets Zerrbil d, derstottem de, ekl e Minister, der glaubt, Hannover li ege imNorden , weinerlich die Pflaster des Herzogs von Graftonküssen will , auf den Mantel des Cumberländers trippelt, umsich in der Grabkapell e nicht zu erkälten , und feig in daswärm ende Bett von Frau Pitt schlüpft. Da ist Popes „Atossa“ ,

die verrückte Sarah Marlborough,die Witwe des Siegers vonBlenheim und Hüterin seines Leichenwagens , die tyranni schdie Königin Anna ihre Handschuhe tragen läßt, sich von ihrabwendet, als ob sie übel röche, und dem „Nachb ar Georg“

verbietet, durch eine Galeri e Marlboroughhouse zu verdan

keln ein Feldwebel in Unterröcken , der sogar mit dem Toderauft. Da i st die Tochter der frechen „Kön igsmetze

“ Dor

ehester, die Herzogin von Buckingham , di e in Paris überdem Sarg Jakobs I I . , ihres Erzeugers, schl uchzt, docheine Samtdecke zu bezahlen aus Geiz ab lehnt . Da ist di eHerzogin von Queensberry, die mit Weihern im Parlamenthemmtobt. Da i st der Blaustrumpf Lady MaryWortl ey Montagu , Popes Freundi n , die in Florenz den Palast beschmutzt,aber den Epiktet verdolmetscht . Ihr Sohn hat eine eisernePerücke, fäll t dem Islam zu und stirbt, bevor er seine Verwandten durch die Ehe mit einem vom Maler Romney geworbenen , bereits schwangeren Mädchen foppen kan n . Da

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6 WALPOLE

i st die Abenteurerin Chudleigh, Herzogin von Kingston , diewegen Bigamie schimpflich verdammt wird und die Zarinwie den Patriarchen von Jerusalem durch ihre Reiz e besticht.Da ist die zügellose Lady Vane, ist LadyWorseley mit ihrenviem nddreiß ig Ehebrechern , die sie, um den fünfunddreiß igsten zu retten , selb st vor Gericht lädt, und das Fräulein Strafford , das zu Crébillon entläuft. Da sind , während ein Stanh0 pe noch prahlt, die ersten Menschen hätten Adam undEva Stanhope geheißen , die Bündnisse mit Lakaien undKutschern . Da i st d ie von Junius verabscheute Nany Parsons, die der Herzog von Grafton durch die Oper führt, unddas Glück der armen Schwestern Gunning . D ie äl tere wirdmit einem Ring vom Bettvorhang Herzogin von Hamilton ,die jüngere , Lady Coventry , vergiftet sich durch das Bleiweißder Schminke . Da ist eine britische Manon Lescaut, dieTochter der Butterfrau , die im Park den schönen Tracyfischt und auf entliehenen Tüchern Hochzeit macht.Es wandern die tol len Pembrokes vorüber, die adligen

Filze , Verschwender, Selbstmörder, Duellanten wie der berüchtigte Lord Byron , die Beutelschneider der Spielklubs ,die Nabobs aus Indien . Die Führer der Stuartpartei werdenhingerichtet. Der alte Lord Balmerino redet durchs Gittermit dem Volk, setzt auf dem Schafott eine Brill e auf undzuckt mit keinerWimper. Lord Kilmanrock brichtzusammen .

Dawsons Herz wird von seiner Braut ins Feuer geworfen .

Lord Cromartie wird geschont ; aber seine Frau gebiert einKind , das im Nacken ein Beil als Mal z eigt. Walpole sitztbeim Prozeß auf der Galerie neben dem jüdischen Wirt Norsa

,

dem Vater der Konkubine seines Bruders . Der greise Lovatwird aus einem hohlen Baume Schottlands hervorgezogen .

Die protestantischen Katilinarier wüten . Ihr Haupt,der

b leiche Lord Gordon , maskiert sich als bärtiger I sraelit undverschwindet im Gefängnis . Wilkes taucht auf, der Zeitungs

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WALPOLE 27

schreiber und D emagog, Wesley, der Erzspitzbube und Apostel der Methodisten , Theodor, der König von Korsika . InCock - Lane spukt ein Gespenst, die Erde hebt, die Trompetedes j üngsten Tages schmettert, Lafayette eilt nach Amerika,während sein Weib im vierten Monat ist, Charles Fox spielttrotz seinen Gläubigern Faro und mit Pitt um die Macht,Lunardo hebt sich mit Katze, Hund und Taube im Bal lonzu den Wolken . In Paris gellt die Revolution , die Walpolehaßt wie die Sünde.Wie j ener Irländer auf brennendem Schiff beruhi gte er

sich : „ Ich bin j a nur Passagier.“ Philosophisch erkannteer mit Shaftesbury : „Die Welt ist eine Komödie für die,welche denken , ein e Tragödie für die , welche fühlen .

“ Under starb , als er schon diese häßliche und unbequeme Notwendigkeit durchaus vergessen hatte .

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Der Jesuit.

einen Namen hören wir nicht. Pere L . von der Gesellschaft Jesu : das i st sein Inkognito . Von Station zu

Station wandert sein Fuß , ohne eigenen Willen . Aus London , wo ihn ein britischer Ordensmann , ein ehemaliger Reverend , herumführt, aus Roehampton , wo er den Frauendes Heiligen Kreuzes predigt, holt ihn der Provinzial nachLothringen zurück . Seine Mutter stirbt. Er ist ihrem Be

gräbnis fern . Denn dreihundert Zöglinge sollen Lehrstunden erhalten , die er nicht versäumen darf. „ Ich habe michdem Priestertum geweiht, uii d Gottes Altar ist mein Platz .“

Kaum hat er in einer Stadt geendet : da ruft ein Telegrammihn nach neuem Ziel . Dann steht er in einer Kathedrale undredet über Petri Fo t tleben in seinen Nachfolgern . Es ist dasJahr des vatikanischen Konzils . Ruhmlos stützt er das Dogmavon des Papstes Unfehlbarkeit. Er wird nach Rom befohlen ,an den Sitz des Ordensgewaltigen . Die Episode ängstigtihn . Von Basilika schweift er zu Basilika, von Madonnazu Madonna . Er wohnt im Haus des Heiligen Ludwig , siehtPius den Neunten , küßt ihm die Füße und nimmt al s Gnadenbeweis einen Sündennachlaß in articulo mortis für seineSchwestern mit. Er preßt die schmalen Lippen auf dieKetten der Märtyrer, taucht seine knochigen Finger insWasser gesegneter Brunnen . Durch preuß ische Posten hindurch reist er über Straßburg , Nancy und Metz , um denBrüdern den \Nunsch ihres Generals zu bestellen . Er groll tder Republik , und gern würde er das Los der fünf Blutzeugen teilen , die von den Kommunards erschossen werden .

In Amiens geht er mit einer Prozession unter dem Fenstervorbei , an das seine Schwester sich geschleppt hat, um nocheinmal das Bild der Himmlischen Jungfrau zu erblicken .

Der Mutter Gottes verspricht er, eine‘

Geschichte seiner Pilger

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DER JESUIT 29

fahrt zu schreiben , wenn sie die Kranke genesen lasse . Hierauf erkennt er, daß diese Bedingung frevelhaft war, undwiederholt sein Gelöbnis bedingungslos . Die Schwester lebtnoch einige Wochen . Der Herr wollte sie bei sich haben

,

des Herrn Wille i st wohlgetan .

“ Das Alter kommt. Das

Rheuma meldet sich , wenn er vor seinem Gott niederkniet.Er wird Rektor in D ij on . Sechsunddreiß ig Stunden bleibter unterwegs, wallt in strömendem Regen durch die Straßenvon Lourdes . Der Tod ereilt ihn , da er sich schon anschickt,in Paris die Kanzel zu betreten .

Vierundvierzig Jahre alt, hat er an das blutj unge FräuleinMarie - Anne de Fallois, den Gegenstand seiner geistlichenSorge, den ersten Brief gerichtet. Mit einundsechzig schreibter ihr zum letztenmal . Sie hat einen Offi zier geheiratet,den zum Obersten aufsteigenden Herrn de X ., und denkt anihren Beichtvater nicht mehr. Sie erinnert sich nur noch einesVerdrusses, den seine Torheit ihr zugefügt hat, als habgierigeNonnen , denen sie ein Waisenhaus einrichtete, samt dengrößeren Schülerinnen entflohen . Mit ihrem Gatten ist siein einer algerischen Garnison . Eine Familienanzeige, diesie zwischen dem Lesen der Revue des deux Mondes undweltl ichen Geschäften kuverti ert und mit der Adresse desPére versieht, l iefert ihm den Vorwand , sie zu begrüßen .

Sie antwortet nicht. Bald darauf findet sie in einer Zeitung,daß er „ entschlafen“ ist. Sie hat noch alle zweiundsiebenzigZuschriften . Ein Blutsverwandter‚ ihr Bruder vielleicht,läß t sie drucken und gibt sie heraus . In der Einleitung haderter mit Klerikali smus und Jesuitismus. Doch das Buch istnoch etwas anderes als ein Beitrag zur Religion in Frankreich : ein Roman von spröder, trauriger Melodie .Zuerst weicht die Korrespondenz von den Floskeln despriesterlichen Verkehrs mit einem vornehmen Mündel nir

gends ab . Leise nur errät man zarte Überraschung, zarte

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30 DER JESUIT

Unruhe. Der Pere L . beklagt sich , wenn das Fräuleinihn vergessen hat, mit halber Stimme. Er fragt, warum sieihn so grausam bestrafe . Er schildert ihr, wie die Lai enschwester, die Hüterin der Pforte , mit dem ersehnten Briefin seine Stube tritt, und wie er das Siegel aufbricht. „Schnell ,schnell“ , so schreibt er eines Maimorgens , vor der Frühmesse, „weshalb eilt meine Feder nicht wie mein Herz ?“

Das deutsche Wort Heimweh“ soll seine Spannung verdolmetschen . Er ist stolz auf sie die seiner Häßlichkeit unerreichbar edel erscheint . Demutig wirbt er um ihr Vertrauen . Ihn bedrückt der Zweifel ihrer Jugend . Er möchtedie Hände ausbreiten , um sie zu trösten .

Dann wird er, ohne den Übergang zu spüren , heftiger.Ein flackerndes Fieber kriecht ihm in di e hohlen Wangen .

Plötzlich steht auf dem Papier : „Sine cruce non bene vivitamor. Sie lassen es mich fühlen .

“ Er stockt, ihn erschrecktd ie Herrschaft, die er gewonnen hat. Zitternd häl t er ansich , zitternd ahnt er, daß zwischen der ideellen Gemeinschaft und dem Drang der Sinne ein Band ist. Er, das Vorbild eines Kl erikers , opfert seinen Rosenkranz , sein Brevier,um eine halbe Stunde für einen Brief an sie zu stehlen . InRom schlägt die Leidenschaft über ihm zusammen . Er streiftdurch Subiaco , auf den Spuren des heilig - unheiligen Benedikt, von dem Montalembert erzält : Die Versuchungen werden ihm nicht erspart . So sehr plagt das Begehren seinerebellischen Sinne , daß er nahe daran ist, seine Zuflucht zuverlassen und einem Weihe nachzulaufen , dessen Schönheitihn einst ergriffen hatte . Bei der Grotte war ein Dorngebüsch.

Er reißt das Tierfel l ab , in das er sich zu kleiden pflegte,und wälzt sich nackt umher, bis sein Leib nur noch eineWunde und das innere Feuer, das in der Einöde ihn verzehrte, ganz erloschen war.

“ I n Assisi , Loretto, Padua erwacht der gequälte Mann aus dieserLegende . Die mysti sche

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3 2 DER JESUIT

Tierchens , das Sprühfeuer ihrer Augen am meisten erregen .

Ungewandt formt er ein Kompliment : „Belle et cruelle : deralte Reim ist immer noch wahr.“ Auf den Plan tritt Mr. deX ., der Erkorene‚ der eine Vergangenheit hat, Espri t undD istinktion . Der Pere L . . wittert den Feind . Er kämpftgegen ihn : „I ch will diesen Wahnwitz nicht.“ Unter Tränenbeschwört er sie, ihm sein Gut, ihr kri sta llenes Herz nichtzu rauhen , dem Bunde treu zu sein , den aufzuheben sie nichtbefugt sei . Er entwürdigt sich zur Rauheit . Als S i e schwankt,vergeht er. Als sie ihm wiederum genommen ist, stammelter : „Erbarmen Sie sich eines Greises . Ich bin nicht j ung wieSie .“ Ihrem Wun sch , ins Kloster zu geben , ihr schwarzesHaar unter der Haube zu bergen , weigert er die Gewährung .Hochmütig schreibt er ihr, daß sie al le Rechte auf ihn habe,die mit dem Vorrecht des Heilandes vereinbar seien . „Ge

horchen Sie Ihren Neigungen , ertränken Sie sich , doch beisehen Sie meinen Beifall nicht.“ Zuletzt gibt er nach , miteinem Rest von Hoffnung, daß ihm der Garten ihres Gewissens auch fürderhin offen sein werde . Bang fleht er zumUnbekannten !das er den Himmel nennt) , ihre erschütterteGesundheit möge sich kräftigen , ihre Mutterschaft ! die ihrnie zu Teil wird) nicht mit dem Tod zu bezahlen sein . Um !

sonst klopft er an der Tür der Verheirateten , seiner Tochter“ , seiner Protestantin“ , die er kein einziges Mal ohneZeugen spricht.Er wird ein stumpfer Mönch, der in seiner Dürftigkeit

um den Buchstaben zankt. Der vierzig Jahre lang von derNeugier der Späher abhängig gewesen ist. Der einsam istin einem System , dessen gebieteri scher Sinn über ihn hinausreicht.

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Die Jungfrauen .

rst als die Kirche wankt, al s aus dem Felsgewirr desSila der Kalabreser Giovacchino und Ranieri ihre Pro

phezeiungen geschickt haben , als die sanfte, der Erde lächelnde Glorie von Assisi verblaßt, i st von neuem die Stundedes Weibes da . Nicht auf den Marktplätzen spüren wir sie

,

nicht im Lärm der W ilhelmitinnen , der Flagellantinnen ,der

Apostelschwestern . Schlafend sitzen in ihren Kammern dieJungfrauen , die erstorben über die Welt triumphieren . InFoligno löst sich die von der Fastenzeit geschwächte Angelaaus der Starrheit und verkündet ihren Traum von Gott : wieihr die Liebe sich in Gestalt einer Sichel näherte , wie ihrRumpf in zwei Hälften zerfi el , eine dürre und eine feurige,wie ihre Zunge abgeschnitten war, daß sie nicht von dem zureden vermochte, was sich ihr offenbarte . Katharina vonGenua , die eingetan i st in den göttlichen Busen , drin alle

ge'

schafl‘

en en Formen sich verlieren , nennt sich ihren zerschmolzenen Gliedern so sehr entfremdet, daß sie zu elendsei , ihren Leib zu tragen , und j ubelt dazu . Mit dreiunddreiß ig Jahren hat Katharina von Siena, die Entsühnerinder Päpste und Kön ige, das dreiundzwanzigste Kind desFärbers , ihr Ziel erreicht und grimmig sich zu Tode gefoltert.Verbannt geht diese von Sodoma, dem Glühenden , in zitternder Schwäche, von Vecchiatta als eine „Prinzessin des Mystizismus

“ gemalte Heilige durch die getürmte Felsenstadtmit den roten Mauern , durch das Siena der Begräbnisse undund der morte oscura , doch auch der Kunst und des listigenHandel s . Sie kasteit sich , speit ihre Nahrung von sich,schwelgt in Liebe und Blut, empfängt die Stigmen und wirddurch einen unsichtbaren Ring die Braut des Herrn . Er gibtihr seine Züge zu schauen , seinen maj estätischen Blick , seinenkornfarb igen Bart , und tauscht sein Herz gegen das ihre, das

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DIE JUNGFRAUEN 35

st der Fraziskaner Bruder Richard, dem syri sche Judenie Geburt eines Messias zu Babylon angesagt haben , derellend vonWiderchrist spricht und Glücksspiele und Frauenierat verdmmt. Er hält die Magd von Greux für höll ischesflendwerk Dann folgt er ihr mit dem Bruder Pasquerel,.m erst nan ihrer Verbrennung von ihr zu lassen . Mit ihmieht ein gaz er unruhigerTroß echter und unechterBeguinen ;enn eine Eguine i st Jehanne d

Arc, wie nicht nur ihre durchwei Frauekommissionen , eine in Poitiers und eine in Rouen ,estätigte Isuschheit vermuten läßt, gewesen . Catherin e laochelle mcht ihr den Ruhm streitig , die zwar schon mehrach geboren hat , aber wie eine Jungfrau Gottes in Nächtenine weiß e in Gold gehüllte Heilige schauen will , und zweiireton inne sind da , arme , der Jehanne ergebene Kranke .ie eine rctet sich durch Widerruf, die andere, die Pieronne , behrrt, als der Scheiterhaufen schon lodert, bei ihrerersicherug, Gott habe wie ein Mensch , in langem , weiß em

'

. l eid mit i r gesprochen . Doch alle überwindet die Beguineus Greux,die in Rouen vor ihrem Sterben zwei H olzstäb

hen , die en Engländer ihr gibt, zum Kreuz zusammenlegt,e küßt ud lächelnd sich zwischen Brust und Gewandeckt .In blindm Drang steht sie eines Tages unter den Armanacs , den rohen Soldaten , die, da sie häß lich ist, sie wiedereimschickn möchten . Nimm sie nach Hause zu ihremlten undgib ihr ein paar Ohrfeigen

“, spricht der Ritter

on Baudrzourt zu ihrem Oheim Lassois, der sie gen Vauouleurs fürt. Al s sie nochmals kommt und sagt, sie werderei Söhne einen Papst, einen Kaiser und einen König geären, biett der Ritter ihr seine Hilfe zum ersten der drein. Sie lät sich nicht spotten und erzwingt das verweigerteehör. Uhr den Landsknecht Jean de Metz , auf dessenat sie ihm Kittel mit Hosen vertauscht und ihr Haar kurz

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seine Finger hervorwühl en . I n der Katalepsie ist sie eineGefangene, wenn sie sich ihr entwindet, eine geharnischteBotin des Himmels . Ihre hispanische Schwester war Teresavon Jesus , die erhabene Doktorin , die seraphische Mutter vonAvila, die Scheintote und von der Todesangst Beschattete .Wachend fühlt sie selbst ihre Raserei unter den Bissen scharferZähne, ihre stundenlangen Ohnmachten , aus denen sie senfzend sich erst befreit, wenn das Wachs der Kerzen ihr aufdie Lider tröpfelt, die Eiskälte der Hände , die sich wie Stangenanrühren . Sie hört das Brausen groß er Ströme, Vogelzwitschern und Pfeifen , si e wird durch das Grinsen des Teufelserschreckt, der bald eine Kröte , bald eine Flamme, bald einkleiner Neger ist, und oft wird sie gelähmt von Verzweiflung .Zur Transzendenz beruft sie ein Christus an einer Säule , derseine traurigen Augen auf sie richtet. Das finstere Haus unterdem gezackten Kamm der Sierra , eine Stunde vom Escorial ,unter welker Sonne ist ihr Reich , und ein Blutsturz die Ursache ihres Hinscheidens .Jehanne d

Arc , die lothringi sche Bauernmagd , ist gleichder Sieneserin ein Kind der Zeit, da überall bei den Großender Erde inspirierte Weiber und Männer sich meldeten undmit erschreckten , glänzenden Augen zur Buß e mahnten .

Zu Karl VI . waren die Dame Mari e de Maillé gekommen ,die ihm die Tiefen der Vorsehung kund tat, und MarieRobine von Avignon , die den offenen Himmel erblickte.Heinrich V. beugte sich dem Einsiedler von Gent. Wort fürWort hat Jehanne in Chinon die Reden wiederholt

,mit denen

fünfundsiebzig Jahre zuvor ein Landmann aus der Champagne Johann den Guten gewarnt hatte . Um sie her schwärmteine Sekte , die wünscht, sie solle an der Spitze der französischen Truppen Jerusalem erobern . Sie verwechselt dieHeiden mit den Hussiten , die sie verabscheut, obwohl siedes nämlichen chiliastischen Geistes voll sind . Ihr Gefährte

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i st der Franziskaner Bruder Richard, dem syri sche Judendie Geburt eines Messias zu Babylon angesagt haben , dergellend vomWiderchrist spricht und Glücksspiele und Frauenzierat verdammt. Er hält die Magd von Greux für höllischesBlendwerk. Dann folgt er ihr mit dem Bruder Pasquerel,um erst nach ihrer Verbrennung von ihr zu lassen . Mit ihmzieht ein ganzer unruhigerTroß echter und unechterBeguinen ;denn eine Beguine ist Jehanne d ’

Arc, wie nicht nur ihre durchzwei Frauenkommissionen , eine in Poitiers und eine in Rouen,bestätigte Keuschheit vermuten läßt, gewesen . Cathérine laRochelle macht ihr den Ruhm streitig, die zwar schon mehrfach geboren hat , aber wie eine Jungfrau Gottes in Nächteneine weiß e, in Gold gehüllte Heilige schauen will , und zweiBretoninnen sind da, arme, der Jehanne ergebene Kranke.Die eine rettet sich durch Widerruf, die andere, die Pierronne , beharrt, als der Scheiterhaufen sehon lodert, bei ihrerVersicherung, Gott habe wie ein Mensch, in langem , weiß emKleid mit ihr gesprochen . Doch alle überwindet die Beguineaus Greux, di e in Rouen vor ihrem Sterben zwei Holzstäbchen , die ein Engländer ihr gibt, zum Kreuz zusammenlegt,sie küßt und lächelnd sich zwischen Brust und Gewandsteckt .In blindem Drang steht sie eines Tages unter den Arma

gnacs, den groben Soldaten , die, da sie häß lich ist, sie wiederheimschicken möchten . Nimm sie nach Hause zu ihremAlten und gib ihr ein paar Ohrfeigen“ , spricht der Rittervon Baudricourt zu ihrem Oheim Lassois, der sie gen Vaucouleurs führt. Als sie nochmals kommt und sagt, sie werdedrei Söhne, einen Papst, einen Kaiser und einen König gebären, bietet der Ritter ihr seine Hilfe zum ersten der dreian . Sie läß t sich nicht spotten und erzwingt das verweigerteGehör. Über den Landsknecht Jean de Metz , auf dessenRat sie ihren Kittel mit Hosen vertauscht und ihr Haar kurz

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36 DIE JUNGFRAUEN

trägt,über den Herzog von Lothringen , der trotz ihrem Ge

heiß seine Konkubine Alison nicht verj agt und die Bäuerinmit vier 5 0 15 und einem Gaule abfertigt, dringt sie nachChinon vor. Dort wird sie vom halbreifen und schon dekrepiten König empfangen und , da die Menge ihr zuläuft,in seiner Umgebung geduldet . Der Herzog von Alencon ,Karls Vetter, ahnt mit einfältigem Sinn ihre Größe . MessireRegnault de Chartres, der Reimser Erzbischof, erkennt, wienützlich diese Besessene ist, die hellen Antlitzes gelobt, m itdem König nach Reims zu ziehen , wo vor Zeiten Chlodwigaus der wundervollen Ampulla gesalbt worden ist . Sie versucht den Entsatz des belagerten Orléans , in weiß em Küraß ,

auf einem bej ahrten Pferde, das Schwert von Fierbois undein Banner mit Gott und der Weltkugel in ihren schwachenHänden . In ihrem Gefolge reitet, sie überragend , Herr Gillesde Rais , der spätere Marschall von Frankreich , Zaubererund Kinderwürger. Die Pri ester senden der guten JehanneProklamationen vorauf, die den Engländern drohen , als ob sieJudith wäre . Die Soldaten gehen mit ihr einen falschenWeg . D icht vor Orléans sieht sie, daß die Loire sie vonTalbot trennt. Sie spürt den Verrat und nähert sich demBastard von Orléans , der in der mit nichten abgeschnittenenStadt befehligt. Sie tadelt seine Hinterlist und hält ihm vor,daß Gott der Herr mit ihr im Bunde sei . Der Bastard gehorcht ihr zum Schein ; denn er ist klug, Grammatiker, Sterndeuter und ein Meister der Heuchelei . Aber Jehanne verwirrt sich , als Taten gefordert werden . Es grämt sie, daßTalbot nicht demutsvoll die Schanzen räumt. „Kuhhirtin l

„Hurenmensch !“ schmähen auf dem Wall die betrunkenenBriten , die sie wie d ie Leute in Lothringen „les Godons“

nennt, weil sie stets „Goddam !“ fluchen . Ihr hoffenderGlaube wankt . Sie will nach Blois , und schwer nur überredet der schlaue Bastard sie zu bleiben . In Orléans ist sie,

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38 DIE JUNGFRAUEN

Erschüttert hat selbst France in seinem traurigen und gelehrten Buch den Elan ihres Martyriums bestaunt, die wi lde ,schweigende Kraft, mit der sie für einen König starb , dersie nichts anging. Die Hoheit stiller Gegenden ist um sie .Vor den schwarzen Häschern in Rouen sehnte sie sich nachihrer Heimat, nach dem rauschenden Baum der Feen , deralten Buche , unter der Sainte Catherine , Sainte Margueriteund Saint Michel ihr erschienen . „Wäre ich inmitten meinerWälder,“ entgegnete sie dem Cauchon , „würde ich ihreStimmen hören .

“ Sie hat zwei Freundinnen gehabt, Hauviette, deren Lager sie teilt, und Mengette, mit der sie zurArbeit des Wehens und Nähens zusammentrifft . Sie istfromm gewesen wie ihre Mutter, die im Dorfe „ la Romee“ ,

die „Rompilgerin“ heißt ; niemals streift sie einen Messing

reif, der Mutter bescheidenes Geschenk, vom Finger. Alsdörfliche Halluzinierte, als eine von Prophezeiungen , vonMord und Brand , von hundert Kriegsnächten erregtes Geschöpf, i st sie hinaus auf die Heerstraße gewandert.Es traten Nachahmerinnen auf, die mit ihrer Passion

wucherten . Fünf Jahre war sie tot, da eilte durch Lothringendas Gerücht, Jehanne d

Arc l eb e und habe in einem Ortebei Metz sich ihren Brüdern vorgestellt, die nun von KönigsGnaden adelige Herren du Lys waren . Die Brüder prüftendie Fremde und sagten , daß sie ihre Schwester sei . DasWeib saß trefi

'

lich im Sattel und sprach wie eine Prophetin .

Freudig huldigte ihr das Volk, der König , der zum wenigstenden Jean du Lys beschenkte , und der Rat von Orléans .Die Herzogin von Luxembourg nahm sie auf. Sie bestrickteden j ungen Grafen Ulrich von Württemberg, der ihr einenKüraß gab , und zog mit ihm nach Köln . Doch da sie unzüchtige Kleider trug , mit Männern tanzte und sich der Jongleurkun st befliß , erweckte sie den

_Argwohn des TheologieProfessors Kalt Bysen ; der Inquisitor verhängte den Bann

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D IE JUNGFRAUEN 39

über sie. I n Arlon heiratete sie Robert des Armoises,Herrn

von Tichemont, von dem sie zwei Kinder bekam . Jeannedu Lys , Jungfrau von Frankreich“ , nannte sie sich in einemKaufvertrag . Zwei Jahre hauste sie in Metz mit einem Priester.Dann zog sie nach Orleans, wo derselbe Schenke sie he

w irtete, der Jehanne d’

Arc den Wein serviert hatte . Sie sahsich Tours an , befreundete sich in Poitou mit Gilles de Rais ,der schon der im Blute watende Magier war, und wurde erstin Paris entlarvt. Sie gestand , daß sie in Rom unter demPapst Eugen Heeresdienste geleistet hatte . Die Richter be

gnadigten sie, nachdem sie auf steinernem Pranger ausgestellt worden war. Sehr glimpflich ging es einer drittenJehanne d

Arc, der von Sarmaize, der nur die männlicheTracht verboten wurde. Eine vierte, die von Dämonen geplagte Jeanne La Peronne , stand , vor das geistliche Geri chtgezerrt, mit papierener Mütze auf dem Markt von Tours .Dann ließ man sie frei . An toine du Faur erzählt, daß siespäter ein Sündenhaus betrieben habe .Unter der Präsidentschaft Sadi Carnots litt Schwester

Jeanne - Marie an Periostiti s ; sie genas durch die Fürbitteder Jungfrau von Orléans . Es folgten Schwester Julie Anthier von Sankt Norbert, der die Selige einen Brustkrebs , undSchwester Therese von Sankt Augustin , der sie einen Magenkrebs wegnahm . Die Hügel von Domremy wurden durchkirchliche Bauten ihrer Anmut entkleidet. Eine Kapelle, einEudistenhaus, ein frommer Gasthof, ein Karmelitenkloster,

Läden und Baden erhoben sich , und als Maurice Barrés hinrei ste

,um zwischen Wald und Fluß der Tradition seine An

dacht zu zollen , seufzte er über die mönchische Entweihungeiner Gestalt, die dann in den neuesten Tagen vollends fürdie Intelligenz der Curés zurechtgemacht worden ist.Neben Katharina und Jehanne verschwinden die mysti

schen Lämmer der deutschen Klöster, verschwinden die30

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40 DIE JUNGFRAUEN

weichmütigen Schwärmerund Schwärmerinnen , die beij ungenVölkern erstanden . Nur einer Transzendenten sei gedacht,die noch vor Roger und Memling lebte , der heiligen Lydwinevon Schiedam . Ihr Vater war ein betrunkener Nachtwächter,und sie hatte das derbe Gesicht einer Proletari erin . Mit fünfzehn Jahren wurde ihr beim Schlittschuhlaufen eine Rippeeingedrückt. Seitdem hütete sie das Bett, in dem alle Seuchenihr eiterndes Fleisch zerfraßen , und hatte keinen Teil mehram Leben . Jan Pot, der Geistliche von Schiedam , sagte ihr,daß um derWeltsünde willen die Leiden des Kalvarienbergessich an ihr wiederholten . S ie fügte sich mit lächelnder Geduld . Ihre Seele , die töricht war bei Tage, flog durch Qualund Unrat zu den Wolken , und wenn Lydwine von dortzurückkehrte, quoll aus ihren bresthaften Brüsten Milch , ander Katharina Simon , die Witwe , gierig sich labte . Aber dasUnbegreifl iche war der Wohlgeruch , der nach Thomas a Kempis ihrem Siechtum entströmt ist, ein Geruch von Zimmetund Kannel . D ie arme Lydw ine hat diese Funktion mit vielenHeiligen gemeinsam . Bei Görres steht ein Kapitel mit Aufzählungen , die eine lange Tradition verbürgen : Dominikus ,Franziskus von Paula , die selige Helena , die selige Ida , Joseph von Cupertino , der Dominikaner Salomini, der aussätzige Tertiarier Bartholus, zu dessen Lager Volaterra undFlorenz pilgerten , und ein Heer noch von Geschöpfen Gottestroffen aus Kleidern und Schwären . Und auch Teresa vonJesus hat einem Blatt Papier, worauf sie geschrieben hatte,einem Salzfaß , dessen sie sich bediente, den himmlischenDuft hinterlassen . Lydwine j edoch ist die wichtigste Zeugindieser Erscheinung , die der Arzt Georges Dumas mit chemischen Prozessen erklärt hat, mit der Absonderung derEssigsäure , des Essigäthers , der Butterfette, der Ameisensäure ,der Kapronsäure , die im Atem , im Schweiß sich durch dieHaut verflüchtigen, weil die normale, Wasser, Kohlensäure

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DIE JUNGFRAUEN 4 1

und Harnstoff ergebende Verbrennung und Oxydation gehindert i st.Als die Völker irdisch und witzig wurden !nur die Kon

vulsion istinnen und die Guyon treten aus der Stumpfheitherau s) , haben die Lydwinen fast sämtlich die Beziehungzur Religion abgestreift. Die letzte Lydwine im Nonnenrocki st die Westfälin Emmerich , an deren Lippen Brentano hing,die in allfreitäglicher Substitution blutete . Und es folgen dieSeherinnen Justinus Kerners und ihre Nachfahrinnen , diepeinlichen trivialen Damen der okkulti stischen Vereine .

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Lorenzaccio .

er Herzog Alessandro de’ Medici , der krausköpfige, negergleiche Bastard des Papstes Clemens und der Römerin

Simonetta, war beim Schal le gläserner Trompeten , al s Bergtölpel maskiert , auf einem Esel in das Nonnenkloster geritten ,das seiner Geilheit sich als Freistatt zu öffnen pflegte, undmit zerbrochenem Rückgrat umgekehrt. Er wurde von seinerGattin erwartet, dem Kinde Margarete von Österreich , derTochter Karls V. und der Flämin Vangest, im Palaste Ottavianos de’ Medici , gegenüber der linken Empore von SanMarco , an der Straße nach Fiesole . Dort drängte im betäubenden Geschrei man feierte den Tag der Könige ausdem Morgenlande, alle Gläser waren voll , und selbst die zaghafte Herzogin saß mit verwirrtem Haar da an die SeiteAl essandros sich Lorenzino , sein lauernder Feind und kupplerischer Vetter. Er rannte dem Tyrannen zu , daß er Gelegenheit habe, eine edle Beute zu machen . Der Herzogwußte , wen Lorenzino ihm anbot : seine eigene SchwesterLaudomine, die Witwe des Alamanno Salviati , die in hoffä rtiger Schönheit prangte wie die troische Helena und mitMaddalena, der j üngeren , zu San Frediano in Castello unterder Obhut der Sor Tomasa wohnte . Hitzig fuhr der schontrunkene Alessandro auf, und eilends schritt er mit Lorenzino zu dessen Haus in der Via Larga , wo er seine waffenrasselnden Satelliten verabschiedete . Nur einen , den Ungarn ,l ieß er Posten stehen und gebot ihm zu bleiben , bis er ihnrufe . Doch dem Menschen wurde die Zei t lang , und er trolltesich , um zu schlafen . Weißer Schnee war gesunken , auf

Gassen und Plätzen leuchtete der Mond , und lachend huschten die Maskenzüge .Der Herzog betrat mit Lorenzino ein glühendes Zimmer

im Erdgeschoß . Nebenan war das Schlafgemach der Frau

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LORENZACCIO 43

Maria Salviati , die von Kirche zu Kapelle, von Kapelle zuKirche gegangen war und an den umflammten Krippen fürdie Seel e des wilden Giovanni delle Bande Nere

,für das

Glück seines und ihres Sohnes Cosimo in hoffender Trauergebetet hatte. '

An der anderen Ecke hielt Bernadetto de’ Medici eine Spelunke für Galgenvögel und Kurtisanen . Alessandro warf sich schwer auf das Bett. „Ruht ein wenig,empfahl ihm Lorenzino , „sehr bald wird sie kommen“ . Müdeschlummerte der Neger ein . Lorenzino maß ihn von obenmit bösem Blicke . Selbst im Widerschein des Kaminfeuersstand er fahl und hohlwangig da, und sein von dünnem Barteumränderter Mund, der wüst und schlaff war, verzerrte sich .

Er spähte nach Alessandros offenem Hals, an Tacitus unddie Ermordung des Kaisers Galba denkend . Sorglich rati

teer den Vorhang zusammen , bis kein Licht hindurchdrang,verstohlen trug er das Schwert des Herzogs in eine Ecke .Mit den Riemen um schnürte er die ziselierten Scheiden , so

daß es unmöglich war sie zu lockern, dann winkte er demScoronconcolo . Ein Spießgeselle des Ruffians, Freccia, wachtevor der Tür, deren Schlüssel Lorenzino umdrehte . Er hobden Vorhang und stieß den Degen in Alessandros plumpenLeib . Gurgelnd wälzte der Herzog sich auf den seidenenKissen . Der Hieb schnitt ihm ins Zwerchfell . Er stürzte dasBett mitreißend , zu Boden und flehte, ohne daß er begriffenhatte, seinen Feind an : „Lorenzo , beim barmherzigen Gott,laß mir das Leben !“ „Nur Euer Leben will ich“ , zischte derEntbrannte und schob ihm , damit er verstumme, zwei Fingerin das Negermaul. Alessandro zerbiß ihm den Daumen und

packte einen Schemel , um ihn niederzuschlagen . Scorocon

colo , die Hyäne , betrachtete, mit entzündeten Augen blinzelnd, die Verschlungenen . Da endlich wurde der Kopf desHerzogs frei , und Scoroconcolo zerschlitzte ihn . Lorenzinogrub seinen neapolitanischen Dolch ihm in die Kehle, aus der

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44 LORENZACCIO

in rauschenden Strömen das dunkelrote Blut barst, und rißihm

,wie ein Metzger einem Schwein , die knorpligen Röhren

hervor. Den tri efenden Leichnam schleppte er m it dem Ruffian auf die Kissen . Da ihm von der Arbeit schwül geworden war, legte er sich ins Fenster und atmete die Luft derWinternacht. Mehr Opfer noch forderte j etzt seine plötzlicheBegierde . Er nannte dem Banditen den Giomo de Carpi , demMaddalena und der Palast der flüchtigen Strozz i vomTyrannenzugesagt waren , Giulio , den kleinen Bastard , und MesserMaurizio , den obersten der Häscher. Denn er vergaß nicht,daß dieser den Herzog vor ihm gewarnt hatte , als er dasPanzerhemd Alessandros wie scherzend in einen Brunnendes Castello Capuano fal len ließ ; und auch Scoronconcolohegte gegen Maurizio den Haß der Gilde . Aber der Ruffianteilte die Empfindungen des Brutus nicht, der den Tarquinius , den Schänder der keuschen Lucrezia , getötet hat unddie Stadt aus der Knechtschaft rettet. Er hatte den Mord vollbracht, für den er bezahlt war ; nun j uckte ihn die Haut seinesNacken s .Der Morgen kündigte sich an . Lorenzino deckte sich

das hohle Antlitz mit dem Mantel und suchte, indes dieBanditen unter den Simsen der Häuser vorwärtskrochen ,

Zeffi auf, den Rechnungsführer der Maria Soderini, seinerin Entbehrung stolzen Mutter. Ihn hat er um Geld ; dochder verstörte , graue Pedant, der ihn zuerst die ruhmvollenBeispiel e der Antike gelehrt hatte , besaß nur den Inhalteiner mageren Börse . Lorenzino klopfte bei Leonardo Ginorian ; niemand regte sich , unsaubere Finochetti in weiß undgrün , Pulcinelli mit rotbezipfelten Kappen schwankten vorüber und foppten die Harrenden . Er weckte im Palast desBischofs de Marzi den von stinkendem Weinrausch umnebelten Pförtner und reichte ihm einen falschen Brief, eineschleunige Bestel lung nach Cafaggiolo, wo sein Bruder Giu

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46 LORENZACCIO

einen Prei s von viertausend Dukaten gesetzt hatte . Überden Lagunen sah er einen feurigen Balken , und als die Gondel,in die er taumelte, vor dem grünlichen Palast des FilippoStrozzi die vollgefressenen Ratten aufscheuchte, war ihm ,

al s biege sich gegen seine röchelnde Brust unentrinnbar dieKlinge des florentinischen Shirren .

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Koche.

iner von ihnen gehörte zu den Weltüherwindern . Dieswar der berühmte Vatel, der freiwillig den Heldentod

starb , einen dunklen , grausamen Heldentod . Der Schauplatzwar das lachende Chantilly, in dem Jahrhunderte französischerGeschichte mit ihrem Zauber sich vereinigen . Wo heutedie Türmchen aufsteigen , der Ehrenhof sich dehnt und am

Portal wohlgepflegte Kinder in den flachen Schloßgrabenn iedersehen , i st vor mehr als zweihundertunddreiß ig Jahrender dicke Vatel in Ängsten umhergerast. Der Sonnenkönigwar zu Vatels Herrn , dem großen Condé , „Monsieur le Prince“ ,

gekommen , dem Erfinder einer nach ihm benannten Bohnensuppe. Zwölf Apri lnächte schloß Vatel kein Auge zu . Ersah nichts von der frohen Hirschj agd , nichts von den buntenLaternen , die durch das Gebüsch irrten , nichts von Lunassilbernem Schein ; unter zentnerschweren Lasten fiel er zusammen . Am dreizehnten Abend ging der Braten aus . Dampf

murmelte Vatel vor sich hin : „ Ich habe meine Ehre verloren diesen Schimpf überlebe ich nicht.“ Der groß e Condéeilte zu dem Verzweifelnden , trat in sein Zimmer und beruhigte ihn : „Vatel, alles geht gut ; nie war etwas so schönwie das Souper des Königs .“ Der Dicke erwiderte an zweiTafeln habe der Braten gefehlt . Der große Conde trosteteihn aufs neue . Um Mitternacht wurde ein von Vatel bestelltesFeuerwerk losgelassen ; aberWolkendunst zog über denHimmel . Das Feuerwerk kostete sechzehntausend Frames.

Um vier Uhr morgens stahl sich Vatel, über trunkene,schlafende Diener hinweg , durch die Gänge . Sein Schattenlief mit ihm . Unten traf er ein winziges , bleiches Kerlchen ,das im grauen Dämmerlicht zwei Körbe voll Seefischeschleppte . „ I st das alles ?“ stöhnte der Koch , der nach j edem Meerhafen geschickt hatte . Es war alles . Unsichtbare

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48 KOCHE

Tränen weinend stand Vatel da. Dann schlich er, fest wieLeonidas oder Winkelri ed , auf seine Stube, zwängte seinennackten D egen in den Türgriff und bohrte sich die Spitz edurchs Herz . Purpurn schoß sein Blut hervor. Aber erstbeim dritten Anlauf ist er verendet. Inzwischen kamen vonüberallher die Seefische an . Man holte Vatel, sie zu verteilen , man sprengte zuletzt die Tür ; da sah man ihn liegen .

Monsieur le Prince fuhr sich in die Perücke , der Sonnenkönig fuhr sich in die Nase, sagte, daß er wohl in Chantillyzu viel Umstände mache , und wollte bei dieser Gelegenheitdas Schloß dem Condé abnehmen . Etliche Stunden spätervergnügte man sich an Vatels Speisen , niemand gedachtesein , und lustig klang das Hifthorn . Er war der treue Gesetzgeber der neueren französischen Küche, und die Sévignélobt seinen klugen Kopf, der eines ganzen Staates Sorgenin sich gefaßt habe .Auch unter seinen Vorgängern gab es ernste , im Bratendunst den Prinzipien zugewandte Philosophen . Der frühestewar Taillevant, der Frankreich der Barbarei entriß , derKoch Karls VI I ., unter dem die Servietten aufkamen ; dieStadt Reims widmete sie dem König, als er, mit der Pucelleim Troß , zur Krönung dort einzog. Taillevant i st der Weiseder mittelalterlichen Küche, eine ferne, blasse Gestalt wieAlbertus Magnus .An der Schwelle der neueren Epoche, die in dem unseligen Opfer von Chantilly ihre Höhe erreichte, steht dieherrschsüchtige I talienerin Cathérine de Médicis . Sie brachtedie römischen Würzen . Hahnenkämme waren ihre Lieblingsspeise, Geflügel und Wildbret ; sie verschmähte die Gemüse und die Schlachttiere . Sie war sehr erhaben und sehrgefräßig . Sie besaß zwar die Methode des Absolutismus ,indes noch nicht seine Genußdisziplin . Erst allmählich wurdedie Kochkunst verfeinert, dann aber hat sie Blütezeit und

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KOCHE 49

Verfallzeit des unumschränkten Königtums bestimmt. Nichtaus Schlachten und Heraldik , sondern aus der Folge derGerichte ist die erlauchte Chronik des französischen Hofesabzulesen und des französischen Adels . Was istVauhan nebendem Sieur de la Varenne, dem Küchenmeister des Marquisd

Uxelles, der die „Ecole des ragoüts“ schrieb , und neben dem

königlichen Koch Montier, der Medizin und Chemie studierthatte ! Wer wüßte noch Von dem Herrn von Béchamel ,Marquisvon Nointal, dem Haushofmeister LudwigsX IV., hätte er nichtdie sauce ä la Béchamel eingeführt und das vol - au - vent geschaffen ! Haben nicht die Hammelkoteletten ä la Soubiseden „Feldherrn“ Soubise überlebt, der die Schlacht bei Roßbach verlor ! Ewig rühmt man die Filets ä la Pompadour, dieSauce Colbert, den Truthahn a la Régence und die pains äla d

Orléans, die Kulturtaten des Regenten , des „Lüstlings“ .

Und war der Untergang der Bourbonen nicht besiegelt, alsLudwig XVI . aufkam , der wie ein Roturier, ein Bürger, allesdurcheinander aß , in dessen Magen noch , als er während seinesProzesses zum Temple zurückgebracht wurde, sechs Koteletten , ein Huhn , Eier,Weißwein und Muskat hinabglitten ? Erhatte nicht mehr die geringste Befähigung, als Koch zu wirken . Nichts, gar nichts hat er geleistet, indes Naturen wiedie Marschälle von Richelieu und Duras , der Herzog vonLavalliere und der Marquis von Brancas al le Träger weiß erKittel beschämten .

Langsam , nach den Verwüstungen der Revolution ! derman einz ig die Straßburger Gänseleberpastete des MaitreClose verdankt) , stiegen die mit ihren Herren gestürztenKöche wieder empor. Nicht Bonaparte war ihr Heil , derkleine, gelbe, korsische General , der überhaupt nicht wußte,was Gastronomie ist, und mit verpfuschtem Magen seineKri ege begann , sondern die „ex - nobles“ , die ari stokratischenD iplomaten . Der eine ist Cambacérés, der nach dem Ther

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O KOCHE

m idor mit seinen Freunden in potage a la ci - devant reine unda la ci - devant Condé schwelgte, der spätere Herzog - Kanzler.Der andere ist Talleyrand , al s dessen maitre d ’hotel der groß eCareme unsterblich wurde .Schon der Name Careme ist schicksalsvoll ; ein Koch , derFasten“ heißt . Er stammte von Jean de Careme ab , derunter Leo X . für die Gaumen der Vatikangäste besorgt warund eine „magere Suppe“ zur Labsal in trauriger Fastenzeit erfand . Die Jugend unseres Careme verging in Armutund Entbehrung , wie das Leben Spinozas . Mit achtzehnJahren trat er bei einem Pastetenbäcker ein Sein Lehrerin den Grands extra war der illustre Laguip1ere, der ersteKoch Murats, der nachmals auf der Flucht von Moskau ineinem Wagen erfror. Von ihm begeistert, strebte Careme derVollendung zu . Lasnes unterrichtete ihn im Gefrorenen , dieBrüder B ichant lehrten ihn die Saucen . Nacht für Nachtund in seinen kärglichen Pausen durchforschte er Bücher.Mit brennenden Augen zeichnete er ; die Geschichte der Tafelbei den Gri echen war ihm bis in die Einzelheiten bekannt.Wenn er der Wissenschaft Stunden geweiht hatte , fachte erseinen Herd zu verdoppelter Glut wieder an . E r hatte inseinen stillen Asketenzügen das Merkmal der Eßlustigen ,

die herabhängende Unterlippe . Sein Genosse ist B iquette,derselbe Biquette , den um die Zeit des Friedens von Tilsitein besonderer Auftrag nach Petersburg berief, um dort fürdie französische Küche zu zeugen .

Auch Careme wurde ausgeliehen . Den Verbündeten hatteer 1814 das D iner in der Ebene der Tugenden“ zu bereiten .

Dann mußte er nach Brighton , als Küchenchef des Prinzenvon Wales , der ihn j eden Morgen in sein Zimmer holte undergiebige Lektionen bei ihm nahm . Careme g ewöhnte ihmdie blutige , schwere Kost der Engländer ab und befreite d ieprinzlichen Beine vom Zipperlein . Aber zu dumpf lag Al

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KOCHE 5 1

bions grauer Himmel auf seinem klaren , französischen Sinn .

Der Prinz versprach ihm eine Lebensrente . Unter Tränenlehnte der Koch sie ab * er fürchtete zu sterben . Zehn Jahredarauf absolvierte er be i dem nunmehrigen Georg IV ., Königvon Großbritannien , ein Gastspiel . Der Lady Morgan , dieer in einem Kapitel verherrlicht hat, antwortete er : „Es zeugtfür Ihre Generosität, Milady, daß Sie sagen , das Talent einesKochs müsse durch Kränze ermutigt werden , denen ähnlich ,die man den Damen Sontag und Taglioni auf die Bühnewirft ! I ch danke Ihnen im Namen aller Talente der französischen Küche .“ Aus Petersburg, wo noch Alexander regierte,vertrieb ihn “ die russi sche Kälte . In Wien servi erte er mitdem feinen Montmireil dem Kongreß . Als er Frankreichwieder betrat, schimmerten Diamantringe an seinen Händen .

Jedoch er streifte sie ab und ergriff die Feder, „um zu schreibenund Werke zu veröffentl ichen“ . Er wandte dem Prinzen vonWürttemberg seine Gunst und Gnade zu , und es ist symbolisch , daß er auch in der neuen Dynasti e der Rothschild den Geschmack verbreitet hat. Sehr viel erzählte er von dem Charmeder Baronin Rothschild ; wie ko stbar war dieses Komplimentvon Tal leyrands Vertrautem ! Bei den Rothschilds speisteRossini, der Maestro, der Gourmand der Gourmands , für dender Koch tiefeFreundschaft empfand . Kurz bevor Careme starb ,murmelte er mit herabhängender L ippe leise Worte . Dannwar er hinüber. Man wird seinesgleichen nicht wiedersehen .

Das neunzehnte Jahrhundert hatte keine Köche mehr. Esverfügte, nachdem auch die Schule der Souperkünstlervon 1820gesprengt war, nur über die demokratische E inrichtung der

„Restaurateurs“ . Ihr Stammvater ist Boulanger, der in derRue des Poulies seine Marmortische aufstellte . D ie Heroenunter ihnen sind Männer wie Philippe oder die Brüder Robion , die die „Réserve“ in Marseill e dirigierten , Caremes fürdas reisende Publikum .

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Die Spö tter.

D e r N e ffe d e s F o n t e n e l l e .

ünf Wochen , ehe wir ihn beigesetzt haben , sprach meinOnkel mit seiner knurrenden Stimme zu mir : „Herr von

Aube,Sie haben alle Vorteile einer imaginären , der Willkür

der Geschichtschreiber botmäßigen Person , von der mankaum den Namen wissen wird .

“ So erinnerte er mich, daßich für ihn Staffage sei wie für die du Deffand ihre Katzenund Hündlein . Nie hat er mich geliebt, sein Wunsch warmich zu beschämen . Er nahm mich für einen Pedantenwie des Billettes , der auf den Stufen des Pont - Neuf sich zurSeite drückte, um die blankgewetzten Steine der Mitte zuschonen . Oder wenn er mein verlegenes Gesicht beobachtete,fiel ihm Boursaults Junker ein , der Tölpel aus der Normandie, der um die Bahet wirbt und sich , ohne die sommerspros

sigen Hände zu waschen , zu Tisch setzt. Er hatte vergessen ,daß er selbst wie auch ich aus Rouen gekommen war. Dergroße Corneille , sein erlauchter Oheim , war ihm ein Dichter,doch ein plumper Mensch , dessen Unterhaltung so elend gewesen sei wie die meine . Viel hatte er für Thomas, seinenPaten , übrig, nichts für seine Mutter, diesen verfehlten drittenCorneill e, und für seinen Bruder, den Geistlichen . Als Kindhabe ich gehört , wie sich j emand nach dessen Befinden erkü ndigte . „Des Morgens sagt er die Messe auf “, erwidertemein Onkel . „Und abends ? “ Abends weiß er überhauptnicht, was er sagt.“ Zahnlos , g1chtgeschwollen , halb erhlindet schürte er im Kamin , daß die goldenen Funken seinenrostbraunen Schlafrock versengten . „Wovon ist die Rede ?“fragte er mitunter. Durchs Höhrrohr stotterte ich : „Onkel ,i ch meinte . . Bah t“ knurrte er voll Überdruß . Das geschahj eden Tag. Aber von Bewunderung zerbrochen war ich zuschwach , ihm n icht zu lauschen .

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54 DIE SPOTTER

es mittags tiefe Nacht sei , wenn nur vier Personen anfingen .

Schon vor achtzig Jahren habe ich das Gefühl in dieEkloge verbannt“ , sagte er zu Diderot, dem die Vergänglichkeit des Irdischen Tränen entlockte , und der schweigendmich , den wie Espenlaub Zitternden , ansah.

Das Weib war meinem Onkel das Instrument der Unvernunft und des holden , mit Klugheit zu genießenden Truges .

Über sein Bett hatten wir ihm das Porträt des bärbeiß igenDescartes gehängt, des Asketen . Meinem Onkel schien es ,als flüstre im schwarzen Alkoven eine reizende Stimme : „Oh ,du Tropf du !“ Er wärmte„sich an der Lambert und an derTencin , der Intrigantin mit dem feuchten Blick . Die Zierdeihrer Menagerie“ war er und manchmal mehr. In j edemneuen Jahr schenkte sie ihm wie den sonstigen Habituészwei Ellen Samt für Hosen . Sie haben hier kein Herz ,“

sagte sie und näherte ihren scharf duftenden Arm seinerBrust, „sondern ein zweites Hirn .

“ Die Geofi‘

rin , die Bürgerin ,fand , daß er den Grundsatz habe, nicht einmal einen Nagelzu ändern, weil er die Prozesse vermied , und daß ihm das

Mitleid fern sei , das unglücklich macht. Absonderlich schienihm die Ehe und das Absonderlichste ein Vater, dessen Selbstsucht dadurch enttäuscht wird , daß nur Töchter seiner Mühelohnen . Aber mit größter Lust gab er seine Sentenzenpreis , wenn seine dürren Finger seidene Rö cke betastendurft en . Die Pupillen der Marquise waren ihm teurer als

das Firmament. Mit zweiundneunzig noch besuchte er eineSchöne

,die sofort im D é shabillé zu ihm herauskam und

ihm vorhielt : „Sie sehen, daß ich Ihnen zuliebe aufgestan

den hin .

“„Und einem andern zuliebe legen Sie sich hin ,“

versetzte mein Onkel , „und das giftet mich .

“ Oder er klingelte ,als er mit einer Dame allein war, heftig, wie wenn seineTugend in Gefahr wäre , und flötete die Staunende an : „Oh

wäre ich erst achtzig Jahre !“

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DIE SPOTTER 55

Sogar auf dem Totenbett litt er in Epigrammen . Wankendvor Müdigkeit beugte ich mich zu ihm und schrie durchsHörrohr : „Wie geht es ?“ Und mein Onkel : „Es geht nicht,ich gehe .“ Dann sah ich , wie dieses Gesicht, das niemalsgeweint, niemal s gelacht hatte , das mich vier Jahrzehnte beherrschte, vom Tod überfallen wurde, wie die Lippensich zusammenzogen und noch erkaltet zum Spott sichkräuseln wollten .

D i e G ä r t e n .

Im stahlblauen Morgen flogen die Genfer Schwalben umden Pavillon und sein Laubversteck . Der Chevalier Stanislas de Boufflers riß sich empor, küßte die rosige Schläferin ,verglich die unfertige Gestalt m it den Linien des Originalsund taumelte fort. Durch die Vorstadt ging er, durch diebergige Rue du Temple, über den Marché de l’lsle, den Platzder Gaukler, wo bei Monneron , dem Schmied , der gesattelteSchecke seiner harrte. An der blauen Rhöne ritt er entlang, amSee, durch das Walltor, durch die Büsche des Paquis hinausnach Ferney . Bauernmädchen schleppten Milch . Sie hattenleichte Kittel wie Aline, die Königin von Golconda . Hellwinkten Straßen , Dörfer, Kornfelder. Und bald war allesGlanz und Tireli .Um neun hielt der Chevalier am Portal des Schlosses . In

der Gartentür links stand Herr von Voltaire, in Zipfelmützeund Hermelin , mit den Grimassen des Doktors von Bologna,und krähte wie ein Hahn : Adam , wo bist du ?“ Verstohlenwurde neben dem Oleanderbaum der Pater Adam sichtbar,der Jesuit, mit dem er Schach gespielt hatte , und dem erdie Figuren an den Kopf zu werfen pflegte . Da i st er,“

krähte der Schloßherr noch lauter, den Chevalier bemerkend ,„da ist er, Monsieur Charles, unser Maler ! Er will die Kräfte,die er bei den Hugenottinnen verloren hat, bei uns wiederherstellen !“ Grinsend umarmte er den Sohn der Beauveau

4*

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56 DIE SPOTTER

Craon , der „dame de volupté“ , die des Lesczynski Freundinwar und in ihrer gereimten Grabschrift sich berühmte, sie

habe zu größ erer Sicherheit schon hienieden sich das Paradies verschafft. „Sie sollten nicht Gott abschwören ,“ hatteStanislas , als er noch das Chorhemd trug , seiner Mama geraten ; „denn stiege er abermal s in eines Mannes Verkleidungherab , so würden Sie ihn wie j eden andern lieben .

“ Grinsend hüpfte Herr von Voltai re dern ungetreuen Gast voraus.An den Hecken traf er den grauen Esel . „Bitte, Herr Präsident“ , sagte er. D ies hatte er in Tournay erfunden , um denPräsidenten Des Brosses zu fo ppen , den Provinzialen , dessenkleiner Satyrschädel im D ickicht der Perücke verschwand .

Nach dem Bad, im Gartensaal erzählte der Chevalier vomAbbé Porquet, dem Weinzapf, von Paris und Chanteloup ,vom schattigen Montmorency, von Fran von Luxembourg ,der Stabsmaj orin des Geistes, der Voltaire einst auf einenvier Seiten langen Brief über den „Orest“ antwortete : „FrauMarschallin , Orest schreibt man nicht mit h“

, und die nuneine kleine Alte in brauner Taffetrobe war, von der GräfinBoufflers , dem schwatzhaften Idol des Temple , von ihremSklaven , dem wider Willen komischen , verstörten Lorenzi .Dazwischen lachte der Chevalier das Lachen eines sorglosenKindes . Er drehte die Daumen auf seinem Bauch, als streifeer die Handschuhe ab . Boshaft sprach er von Rousseau , derunrasiert durch die Alleen von Montmorency gestolpert sei .„ lch möchte ihn am Busen seiner Haushälterin erschlagenlassen“ , krähte der Schloßherr. Der Mittag glühte . Im Saalmeldeten sich die j ungen Damen . „Kommen Sie“ , lud Herrvon Voltaire sie ein , „das erhabenste Schauspiel zu sehen .

In der Nähe des Stalles zeigte er den Errötenden einen invaliden dänischen Hengst, der an sechs Stuten sich plagte .Vom Balkon beäugte die runde Mad ame Denis das erhabeneSchauspiel durch ein Fernrohr.

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D IE SPOTTER 57

P a l a i s R o y a l .Chamfort zerteilte die Schwärme der Nymphen und der

zu Patrioten umgewandelten Stutzer, deren Markt das Palai sRoyal war. Über den Arkaden lag sein Zimmer. Ich bingefeit wie der Salamander“, so lehnte er die Neugier ab , diesich wunderte , daß er mitten in den kleinen Tempeln derVenus wohnte. Seine Nasenflügel bebten , die Hände kreuzteer auf dem Rücken w ie j emand , der eine Peitsche umklammert. Er trottete zum Café du Caveau , der Stätte , die einstvon der grölenden Stimme Firons hallte , des frechen Silen,des pausbäckigen Burgunders . Über die Scheiben rann dasvage Laternenlicht. Gespenstisch wimmerte die Tür. Einungeschlachter Gesell drängte sich Chamfort entgegen, dertraumbefangen den verschollenen Rameau zu erkennenmeinte . Doch schon entwich die Gestalt in den aufreizendenAbend .

Im Café führte Rivarol das Wort, der Piemontese , denkeiner unterbrechen durfte . Er war der eitle, wenig beschädigte Alcibiades von Paris . In seinen Mienen lag derHochmut eines Glücksritters , der als frommer Seminarist,als Schreiber eines Rechtsverdrehers, als Magister und Grandseigneur sich mit gleicher Nonchalance versuchte . Sein Organhatte den sehnsüchtigen Klang, der den Frauen gefällt. Manwußte , daß auch er dem Geschlecht sehr hold war, und daßer sich von ihm schmeicheln ließ wie der exotische VertVert, der Nonnenpapagei aus Gressets Schnurre . Einzig gegendie Engländerinnen bekundete er Argwohn . „Gott b ewahreSie vor der Liebe einer Britin“ , seufzte er des öfteren , indeser seine Halsbinde fester zog . Der Grund war FrauGräfinRivarol , die Sprachlehrerin aus Schottland , ein Irrtum , vondem er sich bei der zarten Manon , einer Schwester der ManonLescaut, erholte . Doch so stürmisch war diese Liaison , daßManon drohte, nach Brüssel zu gehen und dort von ihrem

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Talent zu leben . Ach , Kindchen ,“ beruhigte Rivarol dieKleine

, „bei den Belgiern wird der Hang zu schlechten Sittendurch den Geiz ertötet.“

An j enem Tage sprach Alcibiades schon zwei Stunden lang .Mit breitem Entzücken und wackelndem Bauch assistierteihm Champcenetz, sem unzertrennlicher Mondschein , seinSancho Pansa , über den er äußerte : „ Ich stopfe ihn mitGeist. Er ist ein dicker Bursche von unausstehlichem Behagen .

“ Auch Tilly war dort und der Rest des Hofstaats .Wi ederum kratzte Rivarol mit samtnen Pfoten , die einesTigers Klaue bargen , die Sänger des Parnaß , die Rhetorender Nationalversammlung . Garat, dem der Geist zurücktretewie den Leuten das Niesen, der aber manchmal geistvoll sei ,weil er aus Heuchelei das Gegenteil von dem sage, was erdenke . Giraud , der immer belle : „Absurd ! absurd l“, weiler überall se ine Signatur fallen lasse . Den Abbé Delille , denLyriker des Kohls und der Rüben . Den Abbé von Vauxcelles , nach dessen Leichenreden man wie niemals sonst dieNichtigkeit des Menschen empfinde. Einen Chevalier, dernoch den Unrat beschmutze . Cérutti, dessen silberne Phrasender Schleim einer literarischen Nacktschnecke seien . Dochnichts bedeutete das gegenüber Rivarols neron ischen Witzenauf Mirabeau , den Attila der Tribüne , den von fremden Ideenaufgeblasenen Schwamm . Er gleiche seiner Reputation , denner sei ein Scheusal . Für Geld sei er sogar einer guten Handlung fähig . Wie die venetianischen B irnen , habe er seinenTarif an der Pforte . Und dann zerfetzte Rivarol den Robespierre , den Schulmeister, der auf die Aristokrassie“ erpichtist, Josef Chénier, den Bruder des Abel Chenier, den Kain ,und die „verbrecherische Vorrede eines unmöglichen Buches“ ,

die Menschenrechte .Der träge Sybarit im blauen Frack verstummte . Da fuh r

mit zischendem Lachen Chamfort auf. E in Feuerwerk, das

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DIE SPOTTER 59

über Wasser sprühte, war Rivarols Spott, in Gewittern entIud sich seines Nebenbuhlers Sarkasmus . Und er schri egegen das Leben , diese j ämmerliche Oper, diese Herberge,dieses Bordell , diese Krankheit, die alle sechzehn Stundender Schlaf lindere, j edoch der Tod erst heile .Drüben in der Galerie lungerten die republikanischenNymphen . Die Kabinetts der ersten Etage öffneten sich .

M ém o i r e .

Kurz vor Weihnachten erfuhr die Wiener Gesellschaft denTod des Fürsten Charles Joseph von Ligne in seinem Hausauf der Mölkerbastei . Ihn bedauern nicht zuletzt die KaiserinMarie Louise und der König von Rom , mit welchem derEntschlafene vor der Gloriette und den Laubwänden vonSchönbrunn Soldaten gespielt hat. Wir haben das von Goetheverfaßte Requiem gelesen . Es ist ein schöner Wechselgesangdes Genius , des Erdgeists, der Anverwandten und der Länder,aus denen Italien sich hervorhebt. Ein würdiger Chor schließtden Reigen . Herr von Goethe bekränzt den Sohn , Charlesvhn Ligne, welcher in seiner Anwesenheit gegen Dumouriez

fiel, und preist den Vater.Der Fürst von Ligne versäumte bis zum Anfang Dezember

kein Sehlittenrenn en , kein Diner des Kongresses. In ele

gantem Weiß , über das, wenn bösen Zungen zu glauben ist,auf einer Redoute ein kecker Floh irrte, wohnte er den Ver

gnügungen bei . Nach einem Balle packte ihn ein ungestümesFieber. Er spürte den Tod, den er sich al s stattliches Weibmit einer Schale Op ium oder als eine lorbeerbekränzte Kriegerin geträumt hatte . Lächelnd sagte er, wie der BaronReifl

enberg uns berichtet, zu seinen Töchtern , die um dasBett knieten : „ I ch bin doch nicht heilig. Seht ihr mich dennfür eine Reliquie an ?“ In der Agonie rief er mit hellerStimme : „Vorwärts , Maria Theresia !“

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60 DIE SPOTTER

Mit Wien und dem habsburgischen Hause verbanden ihnmancherlei Beziehungen . Aber wir dürfen in diesem fürVerschwiegene bestimmten Nachruf wohl seiner Ketzereiengedenken : daß er nämlich , als er die Prinzessin Liechtenstein geheiratet hatte , schon am Morgen nach der BrautnachtdieWi ener Honigwochen abbrach , um seine Geringschätzungder Familienbräuche darzutun , und daß er Europa den österreichischen Connaissancen vorzog. Seine Mutter, eine Prinzessin Salm , deren Leben „wie eine Wachskerze“ zerging ,wurde im großen Hüftenrock von ihm überrascht und starbbald darauf. Der alte Prinz von Ligne, ein grimmigerWallone,verlangte, daß Charles Joseph als Held erschossen werde .Nichtsdestoweniger hat diesen die Belagerung von Belgradunter Laudon gelangweilt. Aber seinen Leitfaden der Taktik,die militärischen Vorurteile“ , sol l wir schreiben das imgegenwärtigen Moment nicht ohne Bewegung der KaiserNapoleon während der italienischen Kampagne sehr beachtethaben . Der Fürst von Ligne war als ein Weltbürger mitden ersten P ersonen der Zeit im Umgang . Neben Katharina ,dem Kaiser Joseph und Potemkin ist er über RußlandsStröme dahingeglitten . Er tändelt in seinen Briefen ! die eineLabsal für Kunstrichter sind) mit der neuen Semiramis oderKleopatra , welche zwar Perlen nicht verzehre , sondern aus

tei le : Offenbar bin ich kein Jansenist, denn diese Herrennahen der Gottheit nur einmal oder zweimal im Jahr, undnun sehe ich , daß mir das zweimal seit vier Monaten oderdreimal seit neun widerfährt .“ Im Feldlager von Neustadthatte der Fürst Unterhaltungen mit Friedrich, dessen Espri tihn durch hundert Madrigals hinriß , und dem er sein Idealskizzierte : bis dreißig ein hübsches Weib , bis sechzig einglücklicher General, bis achtzig ein Kardinal zu sein . Ichbin nicht propper genug für Sie , Messieurs , und nicht wert,Ihre Farben zu tragen“ , sagte der nordische Hannibal , al s

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ma Téte en Liberté“ heißt einer der vierzig Bände seinerAutorschaft. „Die Natur hatte keine Illusion , so beklagte ersich , „daß man ihr mit D ingen wie Ehre , guter Ruf, Sittsamkeit, Egoismus kommen würde . Heute lebt man , alshätte man zweimal zu leben , man rennt hinter dem gutenRufe her. D i eseWeisheit wird uns in die Irrenhäuser führen .

Sie ist das Delirium der Vernun f Das Huzzageschrei desPöbels war ihm nicht sympatisch . Den Brabantern verkün

dete er, daß er niemals imWinter rebelliere . „Gri echenland“,

schrieb er über die Abgeordneten dem Grafen von Ségur,hatte nur sieben Weise . Ihr habt zwölfhundert, zu achtzehn Francs der Kopf.“ Er rümpfte die Nase über die neuenDespoten , die Söhne der Tuchhändler und Schuster. Aberauch die Jakobiner nahm er nicht ernst : „Die Welt gehtweder zu gut noch zu schlecht. Par conséquent, chantez !“

Soll man nicht darum Herrn von Goethe beipflichten , welcherdem Entschlafenen al s dem frohesten Mann des Jahrhundertsgedankt hat?

D er S o n n e n u n t e rg a n g .

Silbern schlug im Salon zu Valencay der Hammer der Pendule . Talleyrand legte den Jaspisstock weg , den er seineslahmen Beines wegen brauchte, und streichelte die Händeseiner Nichte , der Herzogin von Dino . Ein zurückgeschobenerMantel hob ihren untadeligen Wuchs . Freiliegend glänztenihr Nacken , ihre Schultern . Zwiefach war ihr dunkles ,lockiges Haar unter dem Brillantreif gescheitelt. Sie hattegroße Augen , eine gerade Nase und einen winzigen Mund ,dem ein sonorer Alt entströmte . Zerstreut an den Guéridonstoßend , sah Royer— Collard die Vermittlerin hinwegrauschen .

Mit seinem roten An litz, seiner kastanienfarbenen Perückeund seinem grünen Rock war er gewiß sehr deplaziert. Beklommen fragte er sich , ob es nicht bäurisch gewesen sei ,Gattin und Tochter in Chäteau —Vieux zu lassen , damit kein

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Hauch des Nachbars sie berühre . Als ein Ärgernis hatte ihmHerr von Talleyrand, der Helfer von Kön igsmördern und verheiratete Priester, gegolten . Die Undurchdringlichkeit einesLibertins , der auch die Frauen wohl an Felonie gewöhnthatte , der Zynismus eines Verräters hatten ihn wild erregt .Nun bestri ckte ihn ! als ein Mann von Prinzipien räumte erdas ein) dieselbe Frau , deren Ruf in Chäteau - Vieux so schlechtwar, weil dieFürstin Talleyrand noch lebte . Und währender die Ab sicht gehabt hatte , das erste Signal zur Flucht zubenützen , bannte der phosphoreszierende Blick seines greisenWidersachers ihn fest an den S essel . „Noch fünf Minuten“

,

hat Herr von Talleyrand . Sein Gesicht war totenblaß undvon weißem Haar umrahmt. Er zwinkerte , wenn die Sonne ,die durchs herbstliche Gezweig des Ahorn stach , ihn blendete . Sein Kinn ertrank in der vielverschlungenen Krawatteder Directoiremode, seine Nase war aufgestülpt wie die Naseeines Chérubin . In den Pausen des Gesprächs rich er mitder Unterlippe gegen die Oberlipp e an . Jedoch dieser Pausengab es wenige . Herr von Talleyrand war heute mitteilsam ,

und das Gespräch glich einem unsteten Monolog .

„Der Weg zwischen unseren Besitz tümern ist nicht sehrgangbar“ , sprach er mit j enem Doppelsinn , für den er einelasterhafte Neigung hatte. „Mein lieber Herr Royer— Collard ,wir werden hinfort besser harmonieren . I ch möchte inParis ein Zelebritätendiner geben , bei dem Herr Cuvier imNamen der Wissenschaft speisen soll , Herr Gérard in demder Malerei und Sie als Statthalter der politi schen Eloquenz .“

„Dann wäre ich also ein Gattungsmuster“, sprach dumpf der

Parlamentarier. „Sie sind charmant“ , fuhr Herr von Talleyrand fort Ihre demosthenische Rede für die Freiheit derPresse hat mich vollends gewonnen . Sie haben Treff lichesüber das Bestreben gesagt, die R el igion zu einem weltlichenD ing zu erniedrigen .

“ Herr Roycr - Collard räusperte sich

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streng . „D iese Leute sind ebenso töricht wie die Fanatikerder Irreligion ,“ beharrte Talleyrand . „Da war, als der Menschheitskultus noch im Schwange war, Larevilliére - Lepaux , derTheophilanthrop , der eine Religion stiften wollte , aber aus ir

gendwelcher Ursache den Kreuzestod verschmähte . Sie, meinHerr, sind ein konstitutioneller Mystiker, ein Doktrinär. Ichhoffe, daß ich Sie bekehren werde . Man ist in Ihrer Parteij a schon duldsamer. Herr von Rémusat heiratet das hübscheFräulein von Lasteyrie, und er nimmt sich ernstlich vor, sichin sie zu verlieben . Herr Guizot heiratet Fräulein D illon , diein ihm einen zweiten Vater verehrt .

“ Sie ist seine Nichte“ ,

murrte Herr Royer - Collard . Man hätte seine Physiognomiefür die eines Uhus halten können .

„Der interessante Chateaubriand“ , lispelte , als wäre ertaub , Herr von Talleyrand , „ speit gegen mich Gift und Galle .Die Flugschrift, mit der er den Kaiser Napoleon gestürzt zuhaben wähnt, verwahrte er unter seinem Kissen . Nachtsschlief er mit geladenen Pistolen . Madame trug das Manuskript in ihren Strümpfen , wenn sie beim Epicier einkaufte .Madame ist häuslich . Wie eine Löwin hat si e sich gesträubt,ihre Wäscheschränke den Royalisten zu Opfern , die Tuch fürweiße Fahnen benötigten . Sie waren hart, mein lieber HerrRoyer - Collard , gegen den armen Constant. I ch habe ihn sehrgeschätzt, obwohl er mir in seinem schülerhaften Epos dieMaske des Apsimar umgebunden hat, des listigen Diplomaten .

Er war milder als seine Frau von Stae l . Im ersten Roman ,der Ihnen entgangen sein wird , figuriere ich als MadameVernon , in Haube und Unterrock , so daß wir beide dort alsFrauen travestiert sind ; dieser Blaustrumpfmeinte sich selbstmit der Delphine . Wie schade , daß der Kaiser, der sie haßte,im übrigen von der Literatur so wenig geahnt hat. SeineManieren waren die einesArtilleri sten , und der Geschmackwarsein intimer Feind . Hätte er ihn mit Kanonenkugeln zer

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trümmern können , er hätte di e längste Zeit existiert.“ „Siehießen Fürst von Benevent und trugen Degen und bunteMaschen“ , grollte Royer - Collard , der während des Empirekaton isch in seiner öden Stube gearbeitet hatte .

Das alles ist j etzt wie ein Phantom ,

“ zwinkerte Herr vonTalleyrand . Elf Eide auf französische Verfassungen habeich gelei stet. Der z ehnte war der, den ich dem König Karlgeschworen habe . Er sagte mir, daß ihm , wenn eine Revolution komme , nur zwischen Thron und Schafott die Wahlbleibe . Seine Maj estät hatte die Postkutsche vergessen . Bevor der Lärm der Straß e uns ein elftes Mal schreckt, werdeich in einer Kapel le oder im Pantheon fri eren . O Voltaire !I ch vertrage die Kälte nicht und schlafe unter einem Bergvon Nachtmützen und Plumeaus . Sie, mein Herr, sind übersechzig, nicht wahr?“

„Zweiundsiebzig“ , verbesserte Royer - Collard und nahmfeindselig seinen altväterischen Cylinder. „Trösten wir uns,“

schloß Herr von Talleyrand , indes er mit dem Politiker langsam hinaushinkte, bis zur Schwelle . Ich bin eine Mumieund werde zu Staub werden . Den anderen gehört die Zukunft. Es gibt j emanden , der mehr Geist hat als Voltaire ,mehr Geist als Napoleon und alle Minister. D ieser j emandist Tout le Monde.“

Einsam betrachtete Herr von Talleyrand den herbstlichenPark . Die Sonne streifte den B achrand des Treibhauses . Siewar ein pompöser Feuerball . Dann erlosch sie, und graueSchleier umspannen den Hintergrund .

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Cassaneus .

m 5 . März 1 766 duellieren sich wegen der Binetti in demnoch unbelaubten Garten bei Warschau der Podstoli

und Ulanenoberst B ran icki und Giacomo Casanova , Chevalier de Seingalt, Doktor der Rechte von Padua , Sekretär desKardinals Acquaviva , Fähnrich auf Korfu, Violinkratzer imTheater San Samuele , Schatzgräber, Freimaurer, Gefangenerdes Inquisitionskerkers neben dem Dogenpalast, Lotteri edirektor in Paris , Finanzagent des Kardinal s Bernis, Spieler,Gauner, portugiesischer Bevollmächtigter beim AugsburgerFriedenskongreß , Hausfreund einer Londoner Courti sane ,halb angestell ter Erzieher im Potsdamer Kadettenkorps ,Bergbauinspektor in Kurland , Schmaro tzer bei Kaiserinnen,Königen und Ministern . Eine Kugel durchschlägt dem Branicki den Bauch , und der Venetianer wird gezwungen , sichvon Warschau zu entfernen . Mit dem Grafen Clary, demLügner, reist er nach Breslau , mit der argen Maton nachDresden , in Leipzig beglückt er die al s Zofe verkleid ete Arenberg, in Wien chikaniert die Sittenpoliz ei ihn und die Elasin.

Der D ieb Pocchini und die beiden Slawonier überfallen ihn .

Der Statthalter Schrattenbach weist ihn aus , zerquetscht ihnmit dem Pantofi

el Ihrer Maj estät der Kaiserin Maria Theresia .I n Augsburg soupiert er während dreier Monate beim GrafenLamberg , in Köln gibt er dem Tintenklexer Jacquet, derihn einen Abenteurer genannt hat, einen Fußtritt. In Spaastößt er dem Gauner mit dem Ring sei nen Degen drei Zolltief in die Brust. In Paris stellt ihn der Marquis de Lille

,

der Neffe der guten , alten Urfé, die er durch die famose Ver

j üngungskur um eine Million betrogen hat . Sein e Eleganzwird schäbig , seine Gesichtshaut faltig , sein Blick wirdstumpf, er verliert, trotz der aretinischen Berichte in denMemoiren , die Unermüdlichkeit des Priapus , die einst Nym

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CASSANEUS 67

phen und Schäferinnen zu Tausenden antrieb , ihm ihreSympathie zu bezeugen. Ein letztes Mal unternimmt er inSpanien , mehr als „Fortunas Spielball“ zu sein . Er erbietetsich , die Sierra zu kolonisieren . Doch als er nach der Haftim Buen Retiro Madrid verläßt, hat er n ur einen Galarock ,

Uhr und Tabaksdo se. Aus Barcelona und Florenz wird erverj agt, in Neapel hält er die Bank mit dem FalschspielerGondar. Ein Fünfzigj ähriger, kehrt er nach Venedig zurück .

Durch Spionendien ste, die er von Triest dem Staatstribunal

geleistet hat, erwirkt er die Aufhebung des Bannspruchs.

Seine Bettelbriefe lohnt die Signoria mit Almosen von einpaar Zechinen . Er, der Wollüstling , der Graphomane, denunziert die j ungen Patriz ier, die j ungen Frauen , die Theaterdirektoren , die Schriftsteller. Ein Pasquill gegen die Aristokraten raubt ihm auch diese Zuflucht. Morsch und verdüstert sieht er sich wiederum in Paris , das ihm mißfällt,seit die Pompadour, Choiseul und Crébillon , seine glanzvollen Relationen , nicht mehr da sind . An der Tafel desAbbate Eusebio Lena sitzt er neben dem Grafen JosephWaldstein , der mit ihm über die hebräische Kabbala undden Schlüssel Salomon is plaudert und , befremdet und interessiert, den zerrupften Habenichts einlädt, ihm nach Böhmenzu folgen . Casanova sagt zu ; denn das Jahresgehalt vontausend Gulden lockt ihn . Aber er macht Umwege, ehe erzu der Sinekure sich meldet. Er geht mit seinem BruderFrancesco , dem Schlachtenmaler, nach Wi en und dient demvenetianischen Gesandten Foscarini als Sekretär, ein Jahrlang , bis zu dessen Tode . Dann will er nach Berlin , umMitglied der Akademie zu werden . Er fährt über Brünn undCzaslau , wo er einen Wagenunfall hat, nach Karlsbad, woer hofft, die Prinzessin Lubom irska zu finden . Bei Teplitztrifft er abermal s Waldstein , im Kreise seiner Standesgenossen , des Prince de Ligne, des Fürsten von Anhalt, der

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Clarys und Jablonskys . Dann sitzt er eines Tags in derPostkutsche und erwacht in Dux, dem „böhmischen Chantilly“ , zwischen dessen Steinen das grüne Gras wächst.Zwei nach dem Schloßpark zu gelegene Stuben sind ihmdurch gräfliche Gnade überlassen ; drüben die weißgetünchte

Bibliothek wird sein Arbeitsraum sein . Ein goldner Adlermit gekrampften Fängen , der sterbend sich hochwirft, hängtan der Wölbung , und Weinlaub umrankt die Scheiben . DieseBücher soll der Chevalier de Seingalt ordnen und beaufsichtigen . Nach ein paar Stunden sind sie ihm nichts neuesmehr. Von Ungeduld erfaßt, geht er hin und her und hinaus zur Tür über den weiten Hof. Er trägt einen schmutzigweißen Federhut, einen zerschlissenen Galarock, die Insign ien des goldenen Sporns auf der Brust, eine schwarzeSamtweste, Zwickelschuhe und Rohrstab . Im Ballettschrittrennt er durch die einzige Straße . D ie Buben stürzen ihmnach . Dem Grafen sein Italiener“ , lachen die Marktfraueneinander zu . Grimassierend hört er e s , wütend stampft ermit dem Fuße auf. Dann ist er am Ende der Häuser, amRande der Acker, wo die mit Ochsen hespannten Pflüge

blinken , und schnell trippelt er in das Schloß zurück.

Solange er in der oberen Etage seinen Gebieter weißzwingt er sich , seinen Ingrimm zu hehlen . Er klopft beiihm an , er produziert sich vor der illustren Gesellschaft, dieder Graf Waldstein aus Teplitz mitbringt. Er schreibt fürdas Liebhabertheater, und er verspricht der Frau GräfinMutter ein Heldenepos zum Preise des Mannes , dessen Bildnis an den Wänden des Schlosses hängt

,die „Albertiade

“,

w orin er nach virgilischer Manier den Herzog von Fri edlandin die Unterwelt hinabsteigen und mit seinen Vorfahren zu ‘

sammen treffen , seiner Kindeskinder Ehen schauen lassenwill . Jedoch die „Albertiade“ gelangt kaum über die Vorredeh inaus . Der Graf ist, wie sein unzufriedener Pensionär er

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0 CASSANEUS

willkommene Visite machen würde .“ Der Opiz hat sich geschmeichelt, von den Opizi Pallavicini oder Obizzi in Genuaoder Venedig abzustammen . Jetzt weist man ihn auf das

„opice“ der Böhmen , „terme qui indique singe“ . Der „Affe“

rächt sich durch „Koza nova“ !was böhmisch „die neueZiege“ besagt) , und „cosa vana“ das italienische Anagramm .

Es ist ein Volk von Jakobinern und ungesitteten Demokraten .

Als Dorothea , die Tochter des Schloßpförtners Kleer, schwanger ist, bereitet ganz Dux vier Tage lang sich den Spaß , Casanova für den „Urheber ihrer Entj ungferung“ zu erklären ;bebend protestiert er. Die Stubenmädchen bringen ihm dieBiskuits und den Wein nicht , die sein durch die Dünste derBleikammern geschwächter Magen fordert. Der Kaffee unddie Milch sind schlecht, die Makkaroni zu wenig , die Polentaist versalzen . Die Jesuiten und die Mönche in Ossegg planenGiftattentate . Die Waldstein sche Fabrikinspektion zu Oberleutensdorf ist unhöflich genug , Zahlung für das gelieferteTuch zu begehren . Der Bäcker Theodor Seifert mahnt inlateinischen Rechnungen an Beträge „pro semulis et pane“ ,

für Semmeln und Brot. Der Erzfeind ist Feltkirchner, dergrobe Verwalter, ein verabschiedeter Leutnant des RegimentsWaldeck , der dem Narren und Müßiggänger wegen der tausend Gulden Pension aus der waldsteinischen Kasse gramist. Schadenfroh hetzt er die Bedienten gegen den Alten auf,

dessen Köchin drei von ihnen und den Läufer des Grafendem Chirurgen überliefert hat. Von Feltkirchner ermuntert ,reiß t der Hausoffizier Karl von Wiederholt Casanovas Porträt aus einem Exemplar seines „Icosaméron

“, seines phan

tastischen Romans über Eduards und Elisabeths Reise indas Innere der Erde , und hängt es auf einen Schloßabort .Dem zahnlosen Gentiluomo schwinden die Sinne . Dannschreibt er an Feltkirchner gegen zwanzig Briefe vol l ver

habener Gekränktheit und niederséhmetternder Verachtung .

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Und dann trifftWiederholt auf dem Marktplatz den Chevalierde Seingalt und verprügelt ihn mit einem W eidenrohr.

Mit glasigen Augen sitz t Casanova in der Einsamkeit . DerGraf kehrt nach Dux zurück, Feltkirchner und Wiederholtverlieren ihre ’ Ämter . Doch auch das Gewissen des Venezian ers ist nicht rein . Er hat für Caroline, die Mätresse desSchloßherrn , zu der er nicht ganz klare Beziehungen hat,einen schöngeistigen Brief an den Grafen Chodkiew iez geschri eben , worin die Dame fragt : „Welchen glänzenden Vorteil wird mir ein Fehltritt verschaffen , den ich gegenübermeinem Liebhaber begehen würde ?“ Stumm , mit zwei Pistolen in der Hand, tritt der Graf Waldstein bei Casanova ein .

Wie könnte ich meinen Wohltäter töten ?“ ruft dieser. DerScherz dünkt ihn Ernst. Schluchzend umarmt er seinenGönner. Bei Nacht und Nebel fährt er nach Weimar, wo eran Wielands und Goethes Namen seine Hoffnungen neidischzerrinnen sieht, nach Prag , wo Meinert wohnt, der AbbéMaffei und leider auch Josef Krug und der Advokat MichaelSchuster in der Langen Gasse , der Vertreter des Juda Schiff,die in Geldangelegenheiten ihn bedrängen , und nach Wienzu Francesco . Unrasiert, eine Pelzmütze auf dem Kopf, einrotwollenes Tuch um den Hals , irrt er über den Graben , biser dem Grafen Waldstein wieder begegnet und froh ist, vonihm nach Dux zurückgeholt zu werden . Er stirbt im Juni 1 798i n den Armen des Reichsgrafen und des Prince de Ligne .Seine le tztenWorte sind : „Groß er Gott und ihr übrigen Zeugenmeines Todes , ich habe als Philosoph gelebt und scheide al sChrist von der Welt.“ Man begräbt ihn auf dem Friedhofn eben der Barbarakirche, und in die Sterbematrikel trägt derDechant mit falscher Schätzung des Alters ein : „Herr JakobCassaneus, ein Venezianer, 84 Jahre alt.“

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Wenn ich nicht schl afe,“ steht auf einem Zettel der Duxer

Schloßbibliothek, „so träume ich, und wenn ich des Träumens müde bin, so bekritz le ich Papier ; dann lese ich, undzumeist verwerfe ich , was meine Feder ausgespien hat.“ Hiermathematische Abhandlungen und der Entwurf eines Briefesan Bailly : „Herr Präsident, ich war mit Pythagoras in Ägypten ,als ich meine Arbeit über die Verdoppelung des Kubus begann .

“ Hier ein Dialog zwischen Robespierre und dem Ga

leerensträfling Bonneville, der den Unbestechlichen als einder Hölle entsprungenes Monstrum verflucht und ihm zuheult : „ Ich habe kein anderes Mittel gefunden , mich Ihrerents etzlichen Tyrannei zu entziehen , al s daß ich Galeerensträf ling wurde .“ Hier ein langer Brief an die Fürstin Clary,dort ein Dialog zwischen einem Philosophen und einemTheologen , ein Traumge5präch mit Gott, acht Gesänge eineritalienischen I lias, ein Zettel mit Notizen über Seifenfabrikation in Warschau oder über Maulbeerzucht, ein Dial ogmit O ’

Reilly, dem irischen Arzt in Oberleutensdorf, dem manSottisen sagt, ein Prager Zeitungsblatt mit dem Bericht übereinen Aufstieg des Luftschiffers Blanchard, Rezepte , Pässe ,der „Précis d e ma vie“ , ein „Essai d

Egoisme“, der „Polémo

scope“ od er : „Die trügerische Lorgnette“ oder : „Die durchGeistesgegenwart entlarvte Verleumdung“ , die Tragikomödiefür das Schloßtheater der Fürstin Clary , Dialoge mit denNamen Alcibiades , Marc Anton , Aspasia , ein Bruchstück einerTragödie „Le grand sacrifice“ , ein L ibretto „ I l Plebiscito Fatale“ , eine Musikkomödie I l Collerico eine Untersuchung ,weshalb der Kaiser Josef nicht volkstümlich sei , Sonette,kleine Verse , Kabbala und ein Fragment, das die Memoirenergänzt. Dazu die Briefe der italienischen und österreichischen Freunde, Briefe von Zaguri und daPonte, von Kaunitz , Lobkowitz , Lamberg , Collalto ,

und Frauenbri efe : zärtl iche von Francesca Buschini aus Venedig , von Manon Ba

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CASSANEUS 73

l etti , von Henriette Schuckmann , die serva amatissima“

unterzeichnet, Briefe der bösen Charpillon und der mitleidsvollen Elisabeth von der Recke, der Schwärmerin , die auf

den Umschlag schreibt : D u vin et des Boulions accompa

gnent cette lettre .“ Der kleine Marmorgott ist Harpocrates ,

der Gott des Schweigens, der in einem Tempelchen im Schloßpark stand , und den Casanova mit der poetischen Grazieeines ausgedienten Tanzmeisters in einem Gedicht auf dieReiz e der Gräfin Clam - Gallas anrief

Dux , dans ton parc un temple solitaireMe montre un Dieu qui défend du fracas .Je vois Harpocrate sévére

Qui de son doigt m ’

ordonne de me taire .I l faut brüler pour el le et soupirer tout has.

In hellbraunem Holzrahmen hängt am Fenster ein Kupferstich , das Bild eines alten Mannes mit steif gewellter Perrücke,einem Habichtsprofil, dem Munde Friedrichs des Großen undmißtrauischen , stechenden Augen . Darunter ein lateinischerSpruch : Altera nunc rerum facies ; me quaero, nee adsumnon sum , qui fueram non putor esse, fui .

“ Der Spruch hatseinen Platz in einem obszönen Traktat. Aber dunkle Weisheit scheint aus ihm zu quel len , tiefster Gram eines, demalles unwirklich geworden ist.

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Benj ow ski .

on dem Tage ab , an dem Graf B enj owski erstmals zuHerrn von N ilow , dem Gouverneur von Kamtschatka,

geführt wurde , war sein unerschütterl icher und mit kalterSchlauheit betriebener Plan , diesen Stellvertreter der ZarinKatharina zu hintergehen und sich mit den übrigen Sträflingen der Deportationskolon ie zu furchtbarem Aufstand zuvereinigen . Ein langes Abenteurertum hatte ihn gewöhnt,seine Sache auf nichts zu stellen : die Flucht aus Ungarn ,der D ienst bei den polnischen Konföderierten , die Gefangenschaft in Rußland , das Entweichen aus Petersburg , die Verhaftung im Gasthof kurz vor der Abreise des holländischenSeglers , die wütend ertragene Schlittenfahrt in Ketten , dieFälschung der Staatsdepesche, al s die Kosaken betrunkenwaren , und die letzte Schmach auf stürmischer See , wo man

ihn und seine Genossen nicht als Edelleute , sondern wieBestien behandelt hatte . Kaum war er im Dorf der Verbannten , kaum stand er im Hause Krustj ews mitten unterihnen , da bemächtigte er sich der Führung . Er unterdrücktedie Äußerungen der Unvorsichtigen , er spähte und forschte,bis er all e Schwierigkeiten kannte, und am nächsten Tagewurde er zum souveränen Chef eines Geheimbundes gewählt,dessen Mitglieder sich durch Eid auf die Bibel verpflichteten .

In den Ausschuß kamen Krustj ew , der Gardeleutnant Panow ,

der Artillerieoberst Baturin , der Gardekapitän Stephanow,

der Senatssekretär Solmow , der schwedische Maj or Wynbladth , B enj owskis Freund , und Wassili , sein alter Leibeigener. Todesstrafe war auf den Verrat gesetzt.Schon nach seinem zweiten Besuch in N ilows Haus wußte

B enj owski , wie er zum Ziele gelangen würde . Mit Wohlgefallen hörte der stets berauschte Gouverneur die Erzählungdieses Mannes von Welt, der, als sei das gar nichts , Latei

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nisch, Französisch , D eutsch, Russisch und Ungarisch durcheinander sprach und mit angenehm gesetzten Worten ihns elb st lobte , die Gouverneurin , den Sohn , die drei Töchterund die hauptstädtische Feinheit ihrer Sitten . Mit herablas sender Gnade wurde er zum Hauslehrer ernannt und vonden Zwangsarbeiten freigesprochen . Auch der Kanzler undder Kosakenhetman begegneten ihm nun huldvoll . Siesp i elten Schach mit i hm , sie l ieß en ihn sogar gewinnen ,und der Hetman befahl ihm , reichen Kaufleuten , an die erverl oren hatte, für ihn diese Summe wieder abzuj agen. Amnächsten Morgen nahm B enj owski sein Lehramt auf. I nd er groß en Familienstube fand er seine Zöglinge . Am teilnahmsvollsten z eigte sich die Jüng ste , Athanasia . Sie erkundigte sich nach der Stimmung des Fremdlings und blickteihn mit verzückten Augen an . B enj owski zählte erst dreiß igJahre , und in seinem blassen , häßlichen Gesicht war einelasterhafte Verwegenheit, die unwiderstehlich fesselte . Athanasia fragte ihn nach seinen Blessuren er hinkte, denn imS iebenj ährigen Kriege hatte ihm eine Kugel das rechte Beinverkürzt. So trug er mit fingierter, träumerischer Schwermutd ie romanhaften Begebenheiten vor, deren Held er gewesenwar. Aber er verschwieg , weshalb er, der Sohn eines kaiserl ich österreichischen Generals , Ungarn hatte verlassen müssen , und auch , daß er sei t langem Ehemann war, erzählte erd er schwarzlockigen Athanasia nicht. Als er geendigt hatte,z erfloß sie in Tränen . Eines Tages in dieser Woche zog ihnFrau von N ilow mit gefallsüchtiger Z iererei auf die Seite.Umständlich berichtete sie ihm , sie sei die Tochter einesn ach Sibiri en verbannten schwedischen Obersten und zurHeirat mit Nilow gezwungen worden . Jetzt stehe Athanasiae in ähnliches Los bevor ; ein gewisser Kuzma , ein widerl icher Mensch , sei ihr als Bräutigam zugedacht , und keineM utter vermöge in dieses einzuwilligen . Benj owski ver

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sprach, den Gouverneur andern Sinnes zu machen . Dannging er zu Athanasia, die krank auf ihren Kissen lag . Weinend warf sie sich ihm in die Arme.Es begann nun ein Doppelspiel , aufregend und doch für

B enj owski desto verlockender, j e mehr ihm die Entdeckungdrohte . In nächtlichen Sitzungen wurden dem Geheimhundneue Genossen zugeführt, die bei dem Protopopen der Sträflingskirche auf ihren Schwur das Sakrament nahmen . Schonflackerte der trübe Brand der Meuterei empor, und schonwurden die Feinde wachsam . Der Kaufmann Tschulosnikowgab in heftigen Worten seinen Verdacht gegen B enj owskizu erkennen und lief zum Gouverneur, um seine Einkerkerung zu fordern . Abgewiesen , überfiel er, von seinem Vetterbegleitet, den Günstling Nilows zwischen den Blockhäusernmit Knütteln und Messern . Dem Vetter schlug B enj owskidie Hirnschale ein . Tschulosnikow, der gleichfalls schwereWunden davontrug, wurde zu sechs Monaten Zwangsarbeitverurteilt und sein Vermögen konfisziert . Bald danachsuchte der Kaufmann Kasarinow den ungarischen Abenteurermit vergiftetem Zucker wegzuschaffen . B enj owski brachteden Zuckerhut zu N ilow , der Kasarinow und zwei andereKaufleute einlud , mit ihm Tee zu trinken , und ihnen denweißen Giftstauh in die Tassen schüttete . Winselnd umklammerte Kasarinow die Knie des Gouverneurs und klagte Ben

j owski arglistiger Rebellion an . Ein Sträfling namens Biatzinin habe alles verraten . Der Gouverneur glaubte demKaufmann nicht und schickte ihn ins Gefängnis . Biatzinin

wurde nach dem Spruch des Kriegsgerichts erschossen . Dannkam ein Tag, wo Benj owski selbst, des Verrats angeschuldigt,den Verschworenen gegenüberstand . Der Giftbecher auf demTisch glänzte durch den dunklen Raum , und aller Mienenwaren finster. Stammelnd verteidigte Benj owski sich . l in

Gouverneurhaus flehte Athanasia den Vater um die Rehabili

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Ismailow ein Komplott angezettelt habe , um ihn zu verhaften und nach Kamtschatka zurückzukehren , sonst aberdas Schiff in Brand zu stecken und auf der Schal uppe zuen tfliehen . B enj owski l ieß die Aufrührer in Ketten legen .

Ismailow , Parentschin und dessen Weib wurden auf derInsel ausgesetzt, die übrigen Verschworenen mit Knuten gezüchtigt. Dann sah man den verschollenen Kapitän , einenSachsen , der gleiches wie B enj owski erduldet hatte und ihnin seiner kleinen Festung empfing . Bei einem großen Feuersaßen sie zusammen und sprachen über die Gründung vonKolonien . Durch gewaltigeE ismassen ging es weiter. Ben

j owski versuchte die Nordpassage . Aber das nndnrchdringliche Eis zwang ihn zur Rückkehr. Ein neuer Aufstandunter Stephanow zerrüttete die Besatzung . Schnee fiel herab ,ein Orkan drohte das Schiff zu verschlingen . Endlich erreichte man die amerikanische Küste. D ie Späher gerietenin ein Dorf, aus dem alles forteilte . Nur eine tätowiertealte Fran und einige Kinder blieben in den Hütten versteckt,worin Bogen hingen , Pfeile und ein Anzug aus Vogelbälgen .

Auf den aléutischen Inseln , zu denen man von dort trieb ,verbrüderte B enj owski sich mit dem Taon , dem Oberhauptder Eingeborenen , der alle aufforderte , sich das Gesicht zuwaschen , und Kohle in die Glut warf mit den Worten : „MitFeuer wollen wir die Kosaken verbrennen !“ Dann zerbracher die Pfeile al s Sinnbild der Freundschaft. Die Aleutentanzten zum dumpfen Klang einer Trommel und betäubtensich mit Fliegen schwammtee. D ie Gefährten Benj owskis

schmuggelten fünfzig galante Aléutinnen an Bord . Er befahl , sie auszusetzen , und schenkte ihnen Spiegel zum Trost.An einem Abend erklärte S tephanow, er sei der Herr desSchiffes . Die Meuterer sperrten Benj owski und seine Ad

j utanten im Vorderdeck ein . Als die Horde betrunken war,befreite B enj owski sich. Den Stephanow ließ er an einen

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Mast binden . Einen anderen dieser tollen Gesellen streckteer durch einen Pistolen schuß nieder. Tage mit furchtbarerHitze , Nächte mit Gewittern steigerten die Raserei an Bord .

Landvögel flatterten über die Wogen , B enj owskis Hundbellte und schnupperte die Luft, ein Matrose rief : Alaska !Alaska !“ und zeigte in die Ferne .Das Schiff l ief in einen Hafen ein . Ringsum war Fruchtbarkeit. Ein Trupp brachte Kristalle und goldhaltige Erze.Das Goldfieber bemächtigte sich der Gehirne , und Begierdebrannte in den leeren Augen . Doch B enj owski sah denUntergang voraus, wenn er j etzt nachgehen würde , und nurmit Gewalt und Trug riß er die von Stephanows bösem GeistBeherrschten fort. Wieder segelte man auf dem Weltmeer.Sträucher schwammen herbei , an deren einem ein StückSeide befestigt war. Die j apanische Küste tauchte auf.Kleine , gelbe , süß lächelnde Menschen kletterten auf dasSchiff und liefen umher. Ein Japaner hatte Papier undPinsel bei sich und notierte sich alles , was ihm anffiel.

B enj owski wurde im Lusthaus des Königs empfangen , der,mit schwerer grüner und blauer Seide angetan , auf einemSofa von gelber Seide saß. Auf den Lin — kiu - Inseln traf erEingeborene, die von Jesuiten getauft worden waren . „H isos !

Hisos !“ riefen sie Christos ! Christos !“ und hielten die Händegen Himmel . B enj ow ski mußte einem der j apan ischen Mäd

chen , die in weißer Seide , mit blumengeschmücktem Haarihm vorgeführt wurden , den Schleier überwerfen ; dies bedeutete , daß er sie zur Braut wählte. Sie hieß der scheinende Mond “

, und sie hatte nur ein blumenhaft zartesLächeln , al s er ihr den Abschied gab . In einer Bai der InselFormosa wurden die Fremdlinge von einem Pfeilhagel überschüttet. Panow wurde im Bad von ihm getötet. B enj owskivol lstreckte ein Strafgericht. In Macao starb Athanasia, dienur noch ein Schatten gewesen war. Benj owski selbst er

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krankte auf den Tod . Auch Wyndtblath machte mit demirrsinnigen Stephanow gemeinsame Sache . N ur das Lebenhatte Benj owski gerettet , al s er nach einer zweij ährigenOdyssee in I sle de France eintraf.Sobald er genesen war, bot er seine Dienste dem franzö

sischen Statthalter, dem Herzog von Aiguillon , an , der ihmein königliches Infanterie - Regiment übertrug . Ein Jahrspäter reiste er mit seiner Frau , der Tochter des ungarischenMagnaten Grafen Hen sky, die er seit der Kampagne in Polennicht mehr gesehen hatte , im Namen Frankreichs nachMadagaskar ab . Unter phantastischer Mühsal eroberte erdas Land . Doch er wollte nicht französischer Beamter sein ,sondern König , wie drüben auf Korsika Theodor Neuhof.Eine al te Sklavin , eine Prophetin , mußte den Madagassenerzählen , daß Benj owski der Sohn der Prinzessin Raminisei, der Tochter des letzten Königs Ampansakabe. Zananhar,

der höchste Gott der Madagassen , habe es ihr im Träumeoffenbart. Zwei königliche Kommissäre wollten den Unhotmäßigen vierhaften . Aber er unterwarf sich nicht. In feierlicher Versammlung ließ er sich von den Madagassen mitder Königslanze schmücken , und die Madagassinnen leistetender Gräfin B enj owski den Treueid . Dann fuhr der Königvon Madagaskar nach Europa . In Paris behandelte man ihnso schlecht, daß er sich, schäumend vor Zorn , von Frankreich lossagte . Zwei Jahre lang lebte er in Österreich . Aberder Kaiser Josef verschmähte ihn . Von England begab ersich auf einem Fahrzeug, das ein Handelshaus in Baltimoreausrüstete , wiederum nach Madagaskar in See . In wildemGefecht wurde er von einer französischen Kugel durch dieBrust geschossen , und so starb er Nelsons Tod.

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Der Großkophta .

oethe schreibt in seinen Annalen : „Haben wir nicht inden neueren Tagen Cagliostro gesehen , wie er, groß e

Räume eilig durchstreifend, wechselweise im Süden , Norden ,Westen seine Taschenspielereien treiben und überal l Anhangfinden konnte ? I st es denn zuviel gesagt, daß ein gewisserAberglaube an dämonische Menschen niemals aufhörenwird ?“ „Nach gewohnter Weise“ , um seine Betrachtungen

„ loszuwerden“ , hat er über den Sizilianer den „Großkophta“

verfaßt. Und als er in Palermo , der Geburtsstadt Cagliostros,weilte ‚ b eschloß er , die Herkunft des Schwindlers zu erforschen, die schon für das französische Ministerium untersucht worden war. Er stellte fest , daß Cagliostro wirklichJoseph Balsamo heiße .Sein Vater , der Händler Peter Balsamo , war j üdischer

Abstammung . D ie Mutter lebte bei Josephs Schwester, ein erFrau Capitummino, in einem elenden Häuschen der Straßeil Cafaro . Als Engländer, unter dem Namen Milton oderJoff, hat Goethe das Zimmer mit den schwarzen Heiligenbildern , mit den einst vergoldeten Lehnstühlen, dem ausgehöhlten Backsteinboden betreten . D ie tanbe Alte , um diezwei blatternarbige Kinder und eine Schlafkranke hockten ,freute sich des Fremden , der ihr von ihrem berühmten SohnBotschaft bringe . Die Schwester lud ihn zum Rosalienfest

ein und meinte , daß der Bruder, für den sie bei seinerschnellen Abreise Sachen eingelöst habe, ihr noch vi erzehnUnzen schulde . Als Goethe ging , sprangen die Kinder aufden Balkon . Später schickte er Geld und bekam zwei Dankbriefe , in denen die Mutter den guten Joseph , den sie fürden Spender hielt , „al le Stunden“ segnete . Jedoch er warschon im Gefängnis der Inquisition und harrte des Todes.Cagliostro war von barmherzigen Brüdern , den Benfratelli

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in Caltagirone , erzogen worden . Sie steckten ihn in dieApotheke , wo er der Wissenschaft der Medizin mit ahnung3vollem B etrügergeist sich näherte . Im Refektorium sollte eraus der Geschichte der heiligen Frauen vorlesen ; er schobdie Namen der verrufensten B irnen Palermos unter. Dannentwischte er den Brüdern . Auf den Straßen seiner Heimatprügelte er sich mit der Stadtwache . Er befreite Mörder,fälschte Theaterbillets, Pässe und Testamente , lei stete Kupplerdienste , wobei er seine Famili e nicht vergaß , erpreßteGelder, stahl eine Uhr und einen mechanischen Spazierstock .

Zugleich war er als ruhmr_ediger Wundermann tätig . Erkurierte seine Schwester durch ein Tuch , das mit hei ligemO1 getränkt war, und zog auf der Erde geheimnisvolle Kreise .Dann prellte er den Goldschmied Murano , dem er einen ver

grabenen Schatz zusagte ; er befahl ihm , zweihundert Unzenunter einen Stein zu legen , und nachdem Joseph Balsamoauf Italienisch , Lateinisch und Arabisch gebetet hatte, kamensechs schwarze Teufel und raubten dem guten Murano denBeutel . Nun hielt Balsamo es für klüger, zu entfliehen .

Er reiste nach Messina wo ein Grieche ihn den Okkultismus und die Taschensp1elerei l ehrte, schl ich mit ihm alsCharlatan und Trödler durch Ägypten und Kleinasien undgelangte nach Malta , wo „der große Meister Don ManuelPinto d ’

Alfonseca , der in einem alchimistischen Laboratoriumden Stein der Wei sen suchte , si e als wertvolle Mitarbeiteraufnahm“

. Einsam fuhr Balsamo nach Messina zurück ,streifte Prinzen und Banditen und zog mit gefälschten Bri efenin das Rom Clemens des X I II . ein , wo er in Haft saß ,weil er einen H erbergskellner mißhandelte . Fast wäre dersiz ilianische Figaro Kardinal geworden ; aber er heiratete .Sein Weibchen w ar die hübsche , sinnliche , listigdumme

Lorenza oder Seraphina Felician i, die Tochter eines „butadore“ , eines Klempners . Bourget beschreibt den j ungen

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Gatten , der sich zum Grandseigneur nmwandelte : „Cagliostroschien für die Rolle des Signor Tulipano in der italienischenKomödie geprägt. Er war von mittlerem Wuchs , dick , hatteolivengrünen Teint, einen sehr kurzen Hals , ein rundes Gesicht mit zwei dicken , hervorquellenden Augen und eineroffenen , aufgestülpten Nase .

“ Mit Lorenza , die Gimpellocken und sich von dem liebenden Gatten in flagran ti ertappen lassen mußte , brandschatzte er die Länder. In Spanien , wo er als Pilgrim im Mantel von schwarzer Leinwand ,mit Muscheln dekoriert, nach San Jago di Compos tella undzur Mutter Gottes von Pilar wallfahrtete , gab er sich füreinen preuß ischen Obersten aus ; ein milder Pfarrer reichteihm statt Geldes Schweineschinken . In England betrank ersich wie ein Lastträger. Von Calais nach Pari s fuhr Lorenzamit einem Intendanten in der Kutsche ; Joseph ritt hinterdrein . Seine Fran verschaffte ihm etliche Wochen Gefängnis ,dann söhnten sie sich aus . Seit j ener Zeit hat Balsamo sichMarquis di Cagliostro genannt.Er wurde Men schenarzt und Freimaurer. In al len Städten

begründete er Logen und verkaufte er Elixiere . In Londonerschien er zum zweiten Male und ward mit seiner Fran indie Loge der Hoffnung zugelassen . Lorenza mußte eineNacht lang mit einem Strumpfband schlafen , worauf dieWorte „Einigkeit , Schweigen , Tugend“ gestickt waren . Erbeglich di e H otelschuld mit einem leeren Koffer. Im Haagleitete er als Großkophta des ägyptischen Ritus feierlicheKonvente . Er stieg in Venedig ab , in Nürnberg , wo er eineSchlange , die sich in den Schwanz heißt , auf ein Papierzeichnete und von seinem Bewunderer einen D iamantringeintauschte, in Berlin und Leipzig. Er hatte Prunkkleideran und fuhr in verglaster Goldkutsche, der Herolde voraussprengten . In Kurland betrog er die empfindsame Seele vonTiedges Freundin Elisa von der Recke . Er gab an , nur zwei

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4 DER GROSSKOPHTA

bis drei Stunden in einem Lehnstuhl zu schlafen , seine einzige Nahrung seien Makkaroni . Er erzählte, daß er auf demRoten Meer geboren und hundertnndfünfzig Jahre alt sei ,und rechtfertigte sich , wenn er unzüchtige Worte sprachoder die Wunder mißlangen , mit der Gegenwart böser Geister.Zuletzt wurde er entlarvt und ausgewiesen , ehe er zur ZarinKatharina , der nordischen Semiramis , gedrungen war ; N icolai hat eine Schrift Elisas gegen den Betrüger Cagliostroveranlaßt.Er kam nach Warschau , wo man ihm ein Landhaus, Klein

odien und Gold überwies , nach Frankfurt am Main , wo ermit zwei „ I lluminaten“ in

!

einer Grotte gegen die Despotensich verschwor. Diese Geheimgesellschaft hatte Emissäre anden Höfen , Geld in den Banken von Amsterdam , Rotterdam ,

London, Genua und Venedig und rühmte sich, Nachfolgerinder Templer zu sein . Als Triumphator betrat er Straßburg ;dann bezog er wie Rousseau ein niedriges Häuschen . Erkühlte mit einigen Tropfen Liquor einen, der in Brand schonhalb tot lag ; ausgetriebener Schweiß und Milch einer Z iegewaren sein Arkanum . Zn Lavater, der, um ihn zu sehen ,

nach Straßburg kam , sprach er voll Hofiart : „Sind Sie vonuns beiden der Mann , der am besten unterrichtet ist , sobrauchen Sie mich nicht ; bin ich es , so brauche ich Si enicht.“ Und auf ein briefliches Verhör, wie er seine Kenntnisse erlangt habe, schrieb er zurück : „ In verbis , in herbis,in lapidibus .

“ Zwölf „Damen der Welt“ und zwei Schauspielerinnen hatten ihn begleitet. Vor seinem Fenster drängtesich das Volk. Der Kardinal von Rohan lud ihn ins erzbischöfliche Palais . Durch ihn eroberte er Paris , die Stadtdes L ichtes . Sein Hotel in der Rue Saint - Claude wurde überlaufen . Rohan stellte seine Büste mit der Goldinschrift

„Divo Cagliostro“ auf. Er ahmte dern kabbalistischen Grafenvon Saint- Germain nach , dem Günstling der Pompadour, der

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dem König werde er ihn mitteilen . Man hielt ihn für einenSohn des verstorbenen Großmeisters von Malta mit einerTochter des Scherifs von Mekka . In einem Fiaker holtenihn zwei Geri chtsdiener zum Prozeß nach dem Palai s d eJustice . Er trug ein grünes Kleid , eine modische Fri sur, sahzufri eden aus und spaßte . Ein Krüppel ging voran , den manmit drei Bouteillen und einem Kasten von Eisenblech belud .

Die Lamotte wurde zu Stäupung, Brandmarkung, Kirchenbuß e mit einem Strick um den Hals und Kloster auf Lebensz eit verurteilt. Cagliostro , der Kardinal und die Oliva wurden freigesprochen ; aber die

_

Minister des Königs verbanntenden Charlatan aus Frankreich . Die Logen gaben ihn preis .Wie der Schmetterling in das Licht, i rrte er nach Rom . Der

Vatikan sperrte ihn als Ketzer in die Engelsburg , seine Frau ,die ihn abermals denunziert hatte , in das Kloster SantaApollonia . Dann brachte ihn die Inquisition nach demFort San Leon in Urbino , wo er heuchlerisch büßte , umseine Schergen zu täuschen , und ein dunkles Ende fand .

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Bader.

enn in j ener fernen Zeit Herr von Montaigne eineBadereise antrat , so war eine ganze Karawane um

ihn , Pferde, Reitknechte , Diener, und höchstens fünf Meilentäglich wurden im Iangsamsten Trab der Welt zurückgelegt.Herr von Montaigne war mit Ausdauer bestrebt an hei lbringenden Brunnen sich zu erholen . Ihn quälte ein Blasenleiden so stechend , daß ihm die Phi10 3 0 phie der Skepsis fastverging . Er hielt sich darum am liebsten in Badeorten „mitgutem Tisch und guter Gesellschaft“ auf. Zuerst versuchteer es in Banieres , das zur französischen Heimat gehörte.Dann zog er nach Plombieres , an der Grenze von D eutschland und Lothringen . Der Ort liegt in einem kleinen Talkessel . Das Wasser war sehr heiß oder sehr kalt, und Herrvon Montaigne mußte es von einem Glas ins andere gießen .

Dem Kön iginnenquell entströmte eine Flüssigkeit, die nachder Süßholzwurzel roch . Alaungeschmack besaß ein Quel l,der unten am Berge entsprang. Herr von Montaigne trankj eden Morgen , ohne Medizin vorher , neun Gläser. Jedenzweiten Tag stieg er ins Bad , nachdem das Gesinde ihn geschröpft und purgiert hatte . In Plombieres genas man auchvon Hitzpocken und Geschwüren . Herr von Montaigneplauderte oft mit Herrn von Andelot, dessen Bart und Brauenzur Hälfte weiß starrten , als seien sie mehlbestäubt. Der

Grund dieser Seltsamkeit war sein Gram um seinen Bruder,der mit den Grafen Egmont und Hoorn in Brüssel hingerichtet wurde . Herr von Montaigne saß gern in dem ovalenHauptbad , einem von Stufen umrandeten Bretterverschlag .

„Es wird sehr auf Anstand gehalten ,“ diktierte er seinemSekretär, „obwohl die Männer nur mit einer Hose bekleidetund im übrigen nackt sind ; die Frauen tragen nur ein Hemd .

Zwei Wochen später ging es nach Baden in der Schweiz ,63

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einem von Edelleuten bevorzugten Schwefelbad , das sichschöner Gasthäuser und sogar reservierter, mit Glasfensternversehener Badestuben für Damen erfreute . Der Aderlass“ ,

heißt es im Tagebuch , „wird so stark angewandt, daß diebeiden öffentlichen Bäder bisweilen mit reinem Blut gefülltschienen .

“ Herr von Montaigne nahm täglich fünf großeGläser vom Schwefelbrunnen und kroch bis an denHalsins Badebassin , während die Einheimischen , spielend undtrinkend, nur bis zu den Hüften tauchten . Kurz war derAufenthal t des Philosophen in Battaglia bei Venedig , derdritten Station , einem Schlammbad . Monate hingegen bliebdie Karawane in Lucca . Die Bagni della Villa waren dasEntzücken der Fremden . Und der Sekretä r berichtet, wasHerr von Montaigne bewunderte , wie er Bälle veranstaltete,und wie schwach er vor der Abreise sich fühlte .Sein Beispiel erweckte im siebzehnten Jahrhundert manche

Nacheiferung . D ie Bäder in Vals , Pougues , Bourbon , undwie sie sonst noch hießen , kamen in Flor. Noch immerwurde mit Reisedispositionen begonnen , und es gal t für einGebot der Klugheit , erst sein Testament zu machen . Fürdiese Gläubigen lebte in den Tagen von Molieres Argan,Molieres Purgon und Diafoirus der berühmte Doktor Delorme , der die Badereisen als Panazee ausschrie . In Kissenund Wolltücher verpackt , glotzte er aus seiner Sänfte , diemitten in eine Stube gestellt war ; ringsherum waren vierKohlenbecken entzündet. „ I l faut aller aux eaux“ , pflegteer bei den Konsultationen zu murmeln , und selbst zerschossene lahme Kriegshelden empfingen nichts als diesenTrost von ihm . „Die warmen Brunnen“

, orakelte einer seinerAmtsgenossen , „zerschmelzen die Phlegmen und bringen dieSäfte ins Gleiche , indem sie die Unreinlichkeiten des Blutesaussondern und ihnen denWeg durch die Poren der Lederhaut öffnen . Sie heilen die Hautkrankheiten , den aus einem

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Katarrh des Magens , aus Winden oder Blähungen zu erklä

renden Zahnschmerz , das Ohrensausen und die Epilepsie,die von unreiner Fülle des Gehirns herrührt.“ D icht bei Parisflossen die Quellen von Antenil und Passy. Die in Antenilwar eisenhaltig

'

und tötete die Fische, die in Passy war einSauerbrunnen . Hierhin fuhren die vornehmen Pariser inKarossen , und die Anhänger des Badeorts priesen mit Leiden schaft seine Vorzüge ; doch es fanden sich auch Ketzer,die versicherten , wer in Passy Kurgast sei , den j ucke dieHaut . Im Jahre 1676 reisten Frau von Montespan undFrau von Sévigné nach Vichy. Die zweite, deren haushältefi sche Natur uns allen durch ihre Episteln vertraut ist, wichauch im Mineralbad von ihren Grundsätzen nicht ab . Befriedigt meldete sie ihrer Tochter, daß das Leben in Vichyganz billig sei und zwei j unge Hähne nur drei Sons kosteten .

Um fünf Uhr morgens stand sie bei der Quelle, deren Mirakel sie vom Rheuma befreien sollte . Man trinkt dasWasser“ , schwatzt Frau von Sévigné , „und schneidet Gesichter dazu ; denn der Salpetergeschmack ist gräßlich .

Um acht Uhr begab man sich zur Messe . Gegen Mittagscharfe man sich zur Kurpromenade , zeigte Toiletten undklatschte über die Augen der Fran von Ludre, das Haar derFrau von Brissac, über Intrigen und Skandale . Im kühlenAbend lustwandelte man zum Ufer des Allier. Frau vonSévigné liebte die Haine , die Bäche, die Wiesen , die Hammel , die Hunde und die Bauern , die la bourrée tanzen“ . Indiesen Ländler war sie so vernarrt , daß sie die Mädchenhäufig einlud , ihn abends vor ihrer Gesell schaft aufzuführen ,bei Geige und Tambnrin .

Das Idyll von Vichy i st doppelt bescheiden , wenn manes mit den Bädern des achtzehnten Jahrhunderts vergleicht.Mehr als Plombieres, dessen steiniger Boden und düstererHimmel Voltaire erschauern ließen , mehr als Forges, dieses

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öde Loch, mehr als Bourbon, wo vor D iderots Augen Frauvon Nocé ihr Hündchen duschte und ihren Affen Frau vonPers , war Cauterets, das Pyrenäenbad , en vogue . Die Herzogin von Choiseul brachte einen Abglanz von Versai l lesdorthin . Eine Reihe großer Damen waren ihre Nebenbuhleri nnen . Diners , Soupers , Bälle und Konzerte verdrängtendas Kurprogramm . Der Sänger Jéliotte , ein Apoll, und dieTische beim Zuckerbäcker wurden eifriger umstritten alsdas Brunnenhaus . Die Nächte wurden im Glücksspiel vergendet, und bald lockte der Klang des Goldes die hellhörigeRasse der Industri eritter herbei . In einer Komödie von Dancourt tritt ein solcher Galgenvogel auf, der Chevalier vonB ressandiére , dessen Spezialität die Badeorte sind . Docham tollsten ist j etzt das Getri ebe in Spaa : „HypochondrischeMylords , die traurig auf und niedergehen , Pariser B irnen ,

j unge Leute, die den Engländer markieren , indem sie durchdie Zähne sprechen und sich wie die Stallknechte kleiden .

Französische Bischöfe mit ihren Nichten , al te Herzoginnen ,die mit einem Stock a la Vendome von der Promenade kommen und drei Finger dick Weiß und Rot aufgetragen haben .

Widerwärtige und verdächtige Gesichter inmitten eines Bergesvon Dukaten , Augen , die das Geld verschl ingen , das amgrünen Tisch gesetzt wird . Russische Fürsten mit ihrenÄrzten , Pfälzerinnen und *Ka3tilianerinm n mit j ungen Beichtvätern , Gauner au s allen Gefängnissen Europas. Charlatanealler Arten , Abenteurer aller Gattungen , Abbés aus allenLändern , zwanzig Kranke , die wie Verrückte für ihre Gesundheit tanzen .

Im neunzehnten Jahrhundert, als die beiden Gewitter derRevolution und der napoleonischen Weltherrschaft vorübergerauscht waren , eroberten die deutschen und die österreichischen Kurorte den ersten Platz : Baden - Baden , das Stelldichein der Dandys von 1820 , und die lauschigen Verstecke im

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quellenreichen Böhmen . Der weimarische Staatsministervon Goethe w andte sich den Auen und Hügeln zu , derenwechselnde Szenen ihm das Bewußtsein von Freiheit , Anregung durch merkwürdige Personen , Material für geologische Forschung , dichterische Motive boten und die Zeugenletzter Liebeswirrungen wurden . Von Ulrike von Levetzowträumte der Entsagende , der in die Worte der „Trilogie“

sich rettete . Zn Karlsbad, im Goldenen Brunnen, bezauberteihn der Sopran der Madame Catalani . Ein Dolmetsch derwackeren Bürger , feierte er in schicklichen Versen „Der

Kai serin Ankunf Aber heute neu mit Machten , Sprudle,Quell , aus deinen Höhlen ! Faltet aus die frischen Frachten ,Ihr , des grünen Tals Juwelen , Holde Blumen euren Flor !“

Er besang das „klein - geblümt Gefäß“, aus dem die Monarchin ihren Sprudel schlürfte, die Stelle, wo die „Nympheder Kühle“ sie betrachtete , und das Feuerwerk bei ihremScheiden . Ihro des Kaisers von Österreich Maj estät“ undIhro der Kaiserin von Frankreich Maj estät“ umgab er mitHuldigungen . Den Fürsten von Metternich sah er, den Urheber der Karlsbader Beschlüsse, „und fand an ihm wie sonsteinen gnädigen Herrn“ . Dazwischen versenkte er sich indie Natur, zu der sein Genius unablässig sich den Eingangöffnete .Um 1830 wurde die Melodie einer neuen Bäderepoche an

gestimmt. Den Leonardo des B ergquells löste ein Ariost desSeebads ab . Heinrich Heine, das unartige Kind der Romantik, hörte die Rhythmen des freien Meeres . Er schilderte dasPublikum von Norderney, das ganz anders war als das Publikum von Marienbad und nicht im entferntesten so buntwie die Gäste , die allmählich , noch über ihren Mut stanncnd , an Hollands und Belgiens Küste sich versammel ten .

Auf die Elegie der Hauswiesen folgte die Elegie des Strandes ,auf die begrenzte Perspektive einer Flur die bis dahin nicht

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bekannte, wogende Unendlichkeit. Die Badestellen beiderGeschlechter“ , so schrieb der D ichter der Nordsee in seinerfrühen Manier , „ sind voneinander geschieden , doch nichtallzuweit, und wer ein gutes Glas führt, kann überall in derWelt viel sehen . Es geht d ie Sage, ein neuer Aktäon habeauf solche Weise eine badende D iana erbli ckt, und wunderb ar ! nicht er , sondern der Gemahl der Schönen habe dadurch Hörner erworben . Die Badekntschen ‚ die Droschkender Nordsee , werden hier nur bis ans Wasser geschobenund bestehen meistens aus vi ereckigen Holzgestellen , mitsteifem Leinen überzogen . Jetzt, für die Winterszeit, stehensie im Konversationssaale und führen dort gewiß ebensohölz erne und steifleinene Gespräche wie die vornehme Welt,die noch unl ängst dort verkehrte .“

Nachher, als Heine schon der Europäer war, hat er einmal in Bareges , das wie Cauterets an den Pyrenäen hing ,den Jul i und August zugebracht. Er labte seine Seele mitder Musik der Felsenwasser , er schwärmte für die silberfüßige Mademoiselle Belhomme , die Tanzn ixe der Pari serGroßen Oper. Er glossierte die Geduld des Herzogs von Nemours und die „rotgesunden , beefsteakgemästeten Gesichter

der Briten . Er spottete über die Kon sultationszettel derSöhne Äskulaps , diese Empfehlungsbriefe an den Zufall“ ,

und über die steinernen Badewannen , diese „provisori schenSärge , worin man alle Tage sich eine Stunde üben kann imStilleliegen mit ausgestreckten Beinen und gekreuzten Armen eine nützliche Vorübung für Lebensabiturienten“

.

Schl ießlich sind noch Heines „Bäder von Lucca“ da , dasIntermezzo von Gnmpelino , Hyazinth , Lätizia , Francescaund Bartolo , das Spiel einer Phantasie , die, so frech sie war,

doch ihr Kompliment gemacht hätte , hätte sie geahnt , daßsie auf den Spuren des Herrn von Montaigne sich tummelte .Um 1860 herrscht das Seebad beinahe exklusiv. Ostende,

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Dichter.

D i e d äm o n i s c h e n P o e t e n .

haws „Candida“ i st viell eicht ein langweiliges Stück.

Aber eine Rolle i st darin : die Rol le des j ungen EugenMarchbanks , der berauscht Frau Pastor Morrell folgt , derweiblich milden . Schmerzvoll sind seine Augenbrauen geschweift. Er hat ein Taschentuch als Krawatte . Zu JakobMorrel l , der ihn getroffen hat , wie er auf einer Kaibankschli ef, sagt er mit der Grausamkeit des Knaben . „ Ich zitterenicht vor der schweren Verpfl ichtung und den großen Gabendes Dichters ! Der Mangel dieser Gaben bei anderen , dermacht mich zittern !“ Als er hört, daß Frau Candidas FingerZwiebeln und Petroleum antasten , fährt er auf. In den Himmel wi ll er mit ihr, wo die Lampen Sterne sind . Und al s

er um sein Idol umsonst gekämpft hat , als sie für Jakobstimmt, verläß t er sie mit einer Geste des Ekels : „Nun dennhinaus in die Nacht mit m it !“ Denn er ist der Poet, derAusgestoßene , der Verzwei felte .Er ist ein NachfolgerWerthers , und da er mit dem nüch

ternen Spott eines fabian ischen Sozialisten geschaut ist, derletzte . Mit dem armen Seraph und Hauslehrer Hölderlin i ster verwandt , der , zu Fran Susette Gontard hingerissen , sieanschwärmte : „Es gibt ein Wesen in der Welt, worin meinGeist Jahrtausende verweilen kann .

“ Mit Lenau , der FrauSofie Löwenthal beschwor : Unser gemeinsames Leiden solluns heil ig sein“ , dem finsteren Pathetiker

,der in Dithy

ramben Entschädigung suchte . Mit den Byron iten und m itWagners „Fliegendem Holländer“ , in dessen Motiv die hohleQuinte tönt. Zweimal werden diese Schicksalsmenschen imTheater Ibsens sichtbar. Wi e Shaws Jüngling entweichtder zerlumpte Ulrik Brendel oder Hetman , und er prahltDie dunkle Nacht ist am besten .

“ Eilert Lövborg , der

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DICHTER 95

Dichter und Gast im Salon des rothaarigen Frauleins D iana,erschießt sich nach Heddas Wunsch . Hamsnns „Poete maudit“ i st Johann Nilson Nagel , der Nebelwanderer der „Mysterien“

. Ein j eder hat den Kain sstempel, den Freiligrath ,der deutsche Volkstribun , auf Grabbes Stirn drückte , undden heute Frank Wedekind bean sprucht. Ihr Auge rollt ina fine frenz“ , dem „schönen Wahnsinn“ , von dem Theseusim „Sommernachtstraum“ redet. Kometen möchten sie sein ,fri edlose Boten des Hasses . Sie gehen umher wie nach Emerson die Denker, „mager und bleich , mit kalten Füßen undheiß em Kopf. Die Nächte verbringen sie ohne Schlaf. Siesind Abstraktionisten .

D i e L ü g n e r.

Für Schiller i st der Dichter ein Bewahrer der Natur. FürNietzsche, dessen „Zarathustra“ das „Narren und Dichter“

Lied der Schwermut sang, ein Mond und Gottsüchtiger, einVerhehler der Natürlichkeit. Gutes und Böses schafft er,nach Byrons „Lament of Tasso aus zuviel Gefühl und Geist.Mit Notwendigkeit begehrt er das Unwirkliche, wi e das gebrechliche Emblem des Tasso von Weimar, der Seidenwurm ,

nicht ruht, bis er seinen Sarg gesponnen hat. I n Bahrs „Marsyas“ steht : „Das Gefühl , unfähig des Lebens zu sein , dieScham darüber, die Angst davor und derWahn , das Lebenersetzen zu können , dies alles bis zu einer explosiven Beklemmung gesteigert, macht produktiv .

“ Produktion ist dieAu sflucht derer, denen die Tat, das einfache Dasein versagtist. So behauptet Hofmannsthal , der Ästhet, ein gutes Gedicht sei mehr als eine Feldschlacht.Daudet erzählt, daß er durch die Panik

'

von 1 870 Tartarins Schöpfer wurde . Aber der Held der Dichterseligkeiti st Peer Gynt , der norwegische Erzschelm . Brandes teilt

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96 DICHTER

mit, daß ein j unger Däne das Modell war, ein schwatzhafterAufschneider, der ein Kostüm von weißem Atlas trug undauf Kreta und in Rom sich inspirierte“ . Man lasse PeerGynt in eine Photograpbenstube übersiedeln , und er wirdder flunkernde Hjalmar sein . Poeten schleppen ein zweites,ein imaginäres Ich auf ihrem Rücken . Ihm nur kommt Bedeutung zu . Lest, wie hartnäckig Beyle die „häßlichen Einzelheiten“

„par du romanesque“ hinwegtäuschte, bis der

größ ere Stendhal da war, und mit wie schlechtem GewissenAlfred de Musset beteuert : „I ch selbst habe gelebt und nichtein künstliches , von meinem Stolz und meiner Sorge erzeugtes Wesen .

Sind nicht schon die Gebote des Klanges , des Rhythmusein Zwang zur Unwahrhaftigkeit? Konnte nicht bei Flanbert die Vokalfarbe eines Wortes über ein ganzes Werk undseine Gestaltung entscheiden ? Am Reime, der nach Byronnützlich ist, „weil er der Geistesstörung der Dichter zuvorkommt und sie verhindert“ , hängen Glück und Unglückder Völker. „Auch im Drang“ können , so seufzte Hebbel ,die Dichter sich nicht verleugnen , sie müssen j a auch ineinem solchen Fall nach der höchsten Vollendung der Formstreben , und die Form erkältet alles Subj ektive , da sie verallgemeinert .“ Erstarrung haucht uns an . Frei vom Zweife lsind bloß die Pfuscher. Alle schlechte Kunst kommt ausechtem Empfinden“ , sagt Oscar Wilde .

K o n fe s s i o n e n .

Darum soll man den beichtenden“ Dichtern mißtrauen .

Denn keiner von ihnen !auch der abgeschminkte Wilde von„De Profundis“ nicht) hat den unversehrten Adel des Wundermannes Goethe , der seine „Bruchstücke einer großenKonfession“ entwarf. Sie sind belastet : Rousseau , der seine

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98 D ICHTER

l iterarische Briefe an . „Der Schriftsteller“, sagt er zu Gantier, „muß sich der Weiber enthalten , sie betrügen ihn umseine Zeit. Er muß sich darauf beschränken , ihnen zu schreiben ; das bildet den Stil“ . Als Frau von Hanska sich ihmanbot, nannte sie sich die „Fremde“ . Er nannte sie „Engel“ ,

„süße Blume“ , „beredter und anmutiger Stern“ . So wurdedie Fremde Madame de Balzac. Als sie ihn sah , fiel sie ausden Wolken . Als er starb , war Herr Gigoux in ihrer Kammer.Die Apostel , die Sehnsüchtigen sind Träumer von unge

w öhnlich heikler Natur. Ihr Typ ist Jean Paul , der „allerFrauen Mann“ war , der „zwischen Ather und Schlamm“

wechselte wie sein Rocquairol, und sobald er eine Palästrader Seele“ hinter sich hatte , das „anfgeschöpfte , stofi

'

lose

Leben“ verschmähte . Eine der gelehrigen Titaniden , Karol ine , die Luna“ , wandelte später als Eheweib neben ihm .

Wenn er Reisen machte , hielt sie ihm vor : „Mein süßerGott, wann liege ich wieder an deiner heiligen Brust? MeineSeele ist gierig nach deinem Allerheiligsten ; dein Schnupftuch nahm ich , es hatte noch einige Wärme von dir.“ Ihnkümmerten sein Schlafrock und der Biervorrat. Sie stöhnte :„Könnte ich meine Seele zu deinen Füßen aushauchen !“

Er mahnte sie , seine Briefe au fzuheben : „Du kannst derWelt mit ihnen zeigen , daß ich einen leichten Stil habe .“

Heiraten Sie kein Genie“ , warnt Mrs . Carlyle . Flauberturteilte , der D ichter sei eine Monstrosität. Frauen , die Künstler als Gatten wählten , bewiesen Verirrung der Instinkte .Auch hier sind die Katastrophen desto schlimmer, j e höherdie Romantik ihren Flügelschlag spannte . Man weiß vonLord Byron und Lady Lamb . Auf den ersten Blick sagte sie :„Dies blasse Antlitz i st mein Schicksal“ ; denn Childe Harold war trotz s einem Klumpfuß schön , aß nichts und galtfür einen „Piraten“ . Sie war tol l über seine Untreue , verbrannte sein Bild auf einem Scheiterhaufen , den Kinder

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D ICHTER 99

umtanzten , vererbte seinen Ring auf andere und spielteSelbstmord . Er meinte phlegmatisch : „Sie vertreibt sich dieZeit !“ Für die Unbill rächte sie sich durch den Skandalroman „Glenarvon

“. Indiskret war auch Constant , als er

der Stael müde wurde , „der Furie , die mich verfolgt , mitSchaum vor dem Munde und dem Dolch in der Hand“. Derfalsche Sainte - Beuve dichtete das Livre d ’

Amour“, das Frau

Adele Hugo kompromittierte und zu Victor Hugos Tochtermit salbungsvoller Väterlichkeit sich wendete . Der Grüblerund Märtyrer Kierkegaard zerbrach , ähnlich wie Kleist, denBund mit Regine Olsen . „Zur Buße“ veröffentlichte er das

„Tagebuch eines Verführers“ , das ihn als Scheusal stäupensollte. Es dünkte ihn „ausgesuchte Galanterie“ , wenn erdort auf dem Papier als „humoristische Individualität“ Reginen eine Beihilfe zur Aussteuer verhieß . D i ese Profan ierung ist asketisch und teufli sch . Ein Hanswurst aus demKaffeehaus ist der Dichter Gilbert ‘

in Schnitzlers „Literatur“ ,

der mit der Dichterin Margarete um die Wette die einstgetauschten Liebesbriefe ausschlachtet.

D i e E i n g e s c h l o s s e n e n .

Die Dichter leiden selbst unter ihren Funktionen . Undwäre ihr Zustand nur j enes überwache „doppelte Sehen“,

von dessen Pein Maupassant in „Sur l’eau“ berichtet. Ver

sunken spazierte Hebbel durch den Prater, das Haupt tiefherab , mit verschränkten Armen : „Sprach ihn j emand an ,

dann entfuhr ihm der heftigste Laut der Abwehr. Manchmal überhörte er die Anrede und schwankte , leise singend ,vorbei .“ Für ihn war D ichten eine stürmische Krankheitwie für den Hypochonder Franz Gril lparzer, der mit derEmpfindung eines nahenden Fiebers aufstand und die „Ahnfrau“ verfaßte . Jacobsen schreibt , der Dichter sei „un

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100 D ICHTER

normal“ , „etwa wie das Volk es sich mit den Seiltänzerkindern vorstellt, daß man ihnen die Gelenke bricht, währendsie noch klein sind“ .

Durch die schwächlichste Episode von Schnitzlers verwöbn ter Kunst , durch seine „Lebendigen Stunden“ , klingtder Gram des Entbehrens . „Ist es nicht ungleich wertvoller,“

äußert Ibsens Professor B ubek , „ein Leben in der Sonne zuführen , als sich in einer naßkalten Höhle mit Tonklumpenund Steinblöcken zu Tode zu plagen ?“ Wie traurig ist dieSzene : Turgenj ew , Flaubert, Goncourt, Zola sitzen beieinander, und drei gestehen , daß sie niemals etwas von wahrerLiebe erfuhren . lndes, sonst wären sie wohl keine D ichter.So hielt auch Goethe den Absentismus für ratsam undmeinte, Byron !der bekennt, nur aus Ekel oder Unvermögenpassiver Zuschauer geworden zu sein) habe sich auf übergroße Empirie eingelassen .

Die D ichter als Säu l enheilige , als unkirchliche Mönche .Dann ist Flaubert ihr Patriarch . Was war ihm Madame X . ?

Was waren ihm Reisen ? Wirkliche Bilder“ , schreibt erder Sand , die ihn nach Nohant lud , „würden in meinemHirn die mühsam erdichteten Bilder verdrängen . Meinganzes Kartenhaus stürzte zusammen .

“ Er sperrte sich einwie ein Maulwurf, verabscheute den doppelten Genitiv, dertrotz al lem in „Madame Bovary“ sich einschlich , wäl zte eineBibliothek für die Salammbö“ , in der, seiner Gelehrsamkeitzum Hohne , unmögliche Mosaiken , Kamele , Schmelzöfen ,assyrische Münzen , Kakteen und Palmen sich finden lassen ,und deklamierte bei brennenden Kerzen grimmiger als Balzac .

Der Schafi‘

ende muß gestorben sein“ , sagt Thomas Mann ,der Arbeiter in unpersönlicher Prosa . Und doch sind dieseHehler und Bemäkelten

,diese Gestorbenen das brausende

Herz der Welt.

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102 DIE UMSTÜRZLER

Charlotte Corday in der Badewanne empfängt. Den Racin ebetet er an , wenn Danton sich dem Corneille verwandt glaubt,und ein Roman spricht für ihn , mit ländlicher Liebe , rieselnden Quellen und flüsternden Hainen . Robespierre, den mannun doch rehabilitieren sollte , nachdem sein j edes Geßnerwürdiges B egleitgedicht zu ein paar an die Freundin geschickten Rebhühnern bekannt geworden ist. Er war denVögeln und den Blumen zugetan . Noch einen Tag , ehe erim Konvent vor der Brutal i tä t einer Pistole erschrak , haschter Maikäfer. Sehr sauber hält er seinen blauen Rock , er i stdie Provinz mitten in Paris . Und wer weiß , was aus demSprecher der „Rosengesellschatt

“ geworden wäre , hätte ihnnicht di e unholde Pfl icht seinen still en Beschäftigungen entri ssen ! Sein glorreichster Tag ist der zwanzigste Prairi al ,wo er als Hoherpriester auftritt, mit dem Blumenstrauß , demBündel von Weizenähren und der Fackel in frommer Hand .

„Wie hätte ich“, so schreibt er, „allein mit mir in Kämpfen

bestehen können , die mehr als menschliche Kraft erfordern ,hätte i ch nicht meine Seel e zu Gott erhoben !“ Ein Biedermann war der Atheist, dem Robespierre unter das Beil half,der rheinische Baron Anacharsis Cloots , der „Redner desMenschengeschlechts“ , der die kostümierten Botschafter derexotischen Völker in die Nationalversammlung lud , die

sagenhaften Araber , Chaldäer , Syrer und Chinesen : PioOlivadés, de Truck de Boetzlaer, van de Pol, de Capellen ,de Nyss , Abbéma, de Kock , de Balsa , de Raet, van de Stenne,Robert Pigott, Chavi s und Obamas . Und Fouquier- Tinville ,der bestallte Ankläger des Wohlfahrtsausschusses , der zustöhnen pflegte : „Wäre ich doch Landmann dervon seines Vaters

,des Ackerers , Windmühle und Tauben

träumte und ein Madonnenbild auf der Brust trug , als erMarie Antoinette in den Tod stieß . Und Fouché , der Oratorianer, der, einen Früchtekranz urn die Schläfen , in Nevers

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DIE UMSTÜRZLER 103

den Hohenpriester spielte , der tränenseligste Familienvater,der frohlockte , wenn er nach Paris melden durfte , daß erzweihundertunddreizehn Lyoneser vor die Mündungen derGeschütze stellen werde er, das bescheidene Werkzeugeiner „guten Sache“ .

D a s w e i ß e R o ß .

Sein Reiter ist der Marquis de Lafayette, der neue Scipio .

Carlyle vergißt niemals , es zu erwähnen , so oft der BefreierAmerikas sich in den Straß en zeigt, vergiß t es so wenig wieden Federbusch , der vom Hut des Bürgergenerals flattert.

Doch im Paris des Louis Philippe , den der Marquis als diebeste der Republiken“ umarmt, i st er, nutzlos und dekorativ,die „Vorsehung zu Pferde“ . Er ist nach Heines Zeugnis derAbgott der Gewerbsleute und Kleinhändler, er heißt im Lied

„Lafayette aux cheveux blaues“ , während er stets eine braunePerücke hat, und sein Landsitz winkt, mit der Einfalt seinerFeste, als der Hof des souveränen Volkes“ .

Das weiß e Roß verdient des Sinnbilds Unsterblichkeit .Es ist die Revolution der Dramen und Gedichte von Hugo ,die Revolution der Gesten und der Worte . Eine Revolution ,bei der Petöfi und Jokay auf öffentlichem Platz in Budapestdie zwölf Artikel verkünden , wo Petöfi Strophen deklamiertund Jokay das „y“ seines Namens , ein Adelsprivileg, ablegt , um sich hinfort „Jokai“ zu nennen , die Revolution ,deren Glanznummer Kossuths magyari scher Schnürrock war.I n Rußland schließt Stepan Tropimowitsch sich an , B osto

j ew skij s „fleischgewordenes Warnungszeichen“, Dostoj ews

kij s Replik auf die europäische Generation Turgenj ews,der Insarow schuf, den „bulgarischen Patrioten“, den Revolutionär als homme ä femmes, und den dumpfen Basarow,

der sich für die Frau Odinzow entzündet.Gegen den Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts ver

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104 DIE UMSTÜRZLER

wandelte sich der „panache“ Lafayettes in den Muschikrock,

in den Schafpelz des Grafen Tolstoi, des letzten „abdizierenden Aristokraten“ . Ein letztes Mal stellte er, der Nachahmerdes ideologischen Fürsten Krapotkin , der die graue Hosedes Amurkosaken und den Kittel des Geographen den Silberl itzen der Garde vorzog , die Revolution aus Edelmut dar.I n gerader Linie stammt er von Berthold Auerbach . „I chbin Eugen Baumann“

, sagte er zu dem Verfasser der Dorfgeschichten , den der bärbeiß ige Russe verschüchterte , weiler glaubte , ein Namensvetter seines Helden sei gekommenund wolle ihn wegen Ehrenbeleidigung verklagen . Elle estde l’année de la Sonate ä Kreutzer“ !dieser Predigt widerdie Fleischeslust) , meinte, als ihr Mann der Greis von Jasnaj aPolj ana war , lachend die Gräfin zu Herrn Bourdon , aufSascha, die Tochter Alexandrine, deutend . Und hinter demQuietismus wittert man die Vertrocknung der Säfte , hinterden Proklamationen dessen , der „nicht schweigen kann“ ,

den ungestillten Drang Tr0 pimow itschs des Zweiten .

D er h e k t i s ch e R e v o l u t i o n ä r.

Wie ein Phantom starrt mit seinem traurig schönen Griechenk0 pf der Chevalier de Saint - Just , der vielleicht dieSeele der großen Revolution war und vielleicht dem Provinzler Robespierre voranging. Durchaus verschieden ist ervon den anderen egoistischen Jünglingen , die neben ihm ihrGlück machen wollten . Von Desmoulins , dem Geliebten derheiteren Lucile , der über Saint - Just bemerkte , er trage seinHaupt so ehrfürchtig wie das heilige Sakrament , und derdiesen Hohn mit dem Verlust des eigenen Hauptes zahlte ;‚von Fahre d ’

Eglantine , dem Unbestechlichen , dem patrioti schen Alcest, dem Bukoliker des „republikanischen Kal enders“, dem Taugenichts , der das reizende Lied „ I l pleut , i l

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106 DIE UMSTÜRZLER

D i e R e v o l u t i o n ä r i n .

Vielfach ist geschrieben worden , sie sei in ihrem Wonnemond eine Dirne gewesen und die Göttin der Vernunft eineKurtisane“ . Aber es scheint, daß die Kurtisanen sehr prüdewaren . Dasselbe Fräulein Maillard von der Oper , das sichdie rote Jakobinermütze auf die Locken drückte , hat , dieBeine in Männerhosen , das Bois de Boulogne bewacht undmit einem Offizier die Klinge gekreuzt , weil ihn die Formen einer Passan tin verwirrten . Théroigne de Mericourt,die streitbare Terwagne aus Lüttich , die nicht bloß durchden Bastillensturm berühmt i st ! an dem sie keinen Teilhatte) , war zwar eine „fille entretenue“, doch sie „übertri ebdie Reserve ihres Geschlechts , und sogar die harmlosestenScherze machten sie erröten“ . Wie in einer StrindbergischenEhe redeten die Frauen der Freiheit , die in s Geäst derBürgereiche die Myrten der Liebe schlangen , und ihre Gattensich Bruder und Schwester an . D iese Damen waren Heldinnen der Feder !wie Olympe de Gouges) und Heldinnenin den Konventikeln . Si e prügelten ihre Genossinnen , diesich des Männerkostüms weigerten . Sie waren, mochten sie

auch dem Priap im Grunde freundlich sein , aus Überzeugunggeschlechtslos , und selbst die Bürgerin Tallien , die Amazoneim blauen Kaschmirkleid, mit der hohen , festen Brust, haßteal s Freundin der Verfassung !noch nicht des Barras , nochnicht Notre Dame de Therm idore“ , noch nicht „Notre Damede Bon Secours“) die Sybariten . D ie Umstürzlerinnen imFrankreich der Bourgeois hat George Sand , die Frau vonNohant und Dichterin der „ Indiana“ , angeführt . Spitz undschrill flackert ihre Stimme in Louise Michel fort , dieserin die Luft der politischen Kneipen verschlagenen Sand , diemit ihrer Gevatterin das Ressentiment der unehelichen Geburt gemein hat , die versetzte Mütterlichkeit , den geistigenHochmut , die Symptome der seelischen Erkrankung . Sie

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DIE UMSTÜRZLER 107

wähnt , in Notzucht gezeugt zu sein und das persönlicheBrandmal der sinnlichen Schande als Märtyrerin der Men schheit tilgen zu müssen . Hager, häß lich geht sie in einemalten , schwarzen Rock, eine rote Rose baumelt ihr um denScheitel . In Neukaledonien büßt sie , die „Parlotte“, diePetroleuse , alle Insignien des Geschlechts ein , sie wird dieknochige „Vierge rouge“ . Sie verschenkt ihre Nahrung, ihreSchuhe , ihre Strümpfe . Als Montégut ihr neue Garderobekauft, verschenkt sie auch diese Bazar - Erwerbung, weil dieverwaschenen Lumpen revolutionärer sind . Sie hockt ineinem Loch in Levallois und löfi

elt mit Bettlern die Suppeaus . Dann erfaßt sie, da die Gesellschaft Psychose als Verbrechen bestraft, Angst vor der Zelle. Sie fl ieht zu Krapotkinnach London , mit ihrem Hunde César und ihrem ekligenPapagei , den sie gelehrt hat, Constans zu beschimpfen und

„Vive la République“ zu kreischen . Bis zu ihrem Sterbej ahrhaust sie mit den Katzen , die sie als La M ere aux chats“ vonallen Straßen in itzunehmen pflegt. Bis zu ihrem Sterbej ahrist sie , die wütende Communarde , i st Larme ä - l

ce il“ diebesessene Heilige der Frauenrevolution . Sie hat nur einebürgerliche Attrappe hinterlassen , die Journalistin MadameSévérine , die Schülerin des Communards Jules Vallés , dieChristus auf Golgatha das erste soziali stische Plakat nennt,„Notre Dame de Germinal“ in der dreyfnsianischen Sage.Erst die russischen Umstürzlerinnen haben das Beispiel

der Bettlerin aus Haute - Marne vollendet. Ihr Revolutionstrieb ist der Atrophie der Sexualität entsprossen , die j etztArtzibaschew durch sein papiernes Traktat kurieren will .Unterernährt sind die Nihilistinnen , die fiktive Heiraten mitfremden Studenten eingeben , um nach der Schweiz vorzudringen , die in den Baumwollfabriken von Moskau agitierenoder von den Matrosen in Kronstadt sich entj ungfern lassen ,um al s Bordellmädchen sie für die Revolution zu gewinnen .

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1 08 D IE UMSTÜRZLER

Unterernährt i st die „Nihi listin“ der Kowalewska , sind di eS assulitsch, Perowskaj a und Larionow , die btassen j ungenDamen mit den Revolvern , samt ihrer blassen SchwesterTatj ana L eontj ew , die in ihrem Arbeitskörhchen Sprengstofi

e

verbarg und zu Interlaken den gesunden , dicken , rotenHerrn Charles Müller an der besonnten Hoteltafel tötete .Weiche , zapplige Nagetierchen sind diese Umstürzlerinnen ,wie Pologne , das grauseidene Kaninchen von Zolas russischern Mechaniker Suwarin , der Zigaretten dreht, mit weißenAugen ins Leere sieht und von Mord und Brand faselt. Undwie Pologne werden sie hingeschlachtet.Sie sind die Revolutionäre mit z itterndem Gewissen , dieRevolutionäre aus Dummheit , aus Erschöpfung . In ihnenschluchzt die Hysteri e des Christentums , dessen neue

Dogmatik man Robespierre verdan kt , und sie sterben nurmit dem bohrenden Schmerz , dem fressenden Leiden .

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1 10 DER OPIUMESSER

gegeben hatte , eine qualvolle , durch die Leiden und denHunger seiner Jugend verursachte Magenerkrankung beim,

die ihn zu gesteigertem Opinmverbrauch antrieb . Seine Gesundheit wurde gänzlich zerstört . Es gelang ihm , wie erpathetisch schreibt, „die verfluchte Kette , die mich hält,Ring für Ring bis zum letzten Glied zu sprengen“. Jedocher selbst bezeugt, daß er nachher „ in einer dritten Anbetungdes schwarzen Götzen“ gesündigt habe . Auch erklärt er inseinem Buche „Murder as a fine art“, sein Stil sei liederlich ,

und er könne ihn nicht verbessern , so wenig Herrschafthabe er über die betrübenden Erregungen seines haltlosenNervensystems . Der scharfsinnige Bewunderer Ricardos undVerfasser der gegen Malthus gerichteten „Logik der pol itischen Ökonomie“ war ein geistiges Wrack . Aber aus denPrüfungen ging etwas wie ein poetisches Wunder hervor.Seltsam zwar, wie auch dieses „Kind der Nacht und des

Todes“ in seinen romantischen Ausschweifungen bis zuletz tein Engländer geblieben ist. Bis zuletzt redet er in seinenSchriften manchmal wie ein pedantischer Schulmeister.Gleich im Anfang seiner „Confessions“ bringt er den moralischen Vorurteilen den notwendigen Tribut dar , indem ersich von der Bekenntnisl iteratur der zweifelhaften Damen ,der Schwindler und Abenteurer beflissen absondert. Erwählt in der gutartigen Heuchelei des Geschwächten für seineBeichte den Titel einer Selbstanklage. Nirgends entzieht ersich den theologischen Begriffen , preist mit Überschwangden Frieden der Natur und der unschuldigen KreaturenGottes , schwelgt quietistisch in dem Web und Ach der demHöchsten entfremdeten Menschheit und spricht von einemkindlichen Glauben , der an den Sabbaten mit leichten Schritten aus den kummerheladenen irdischen Tälern zu GottesFüßen hinaufsteige . Er prunkt mit seiner Wissenschaft vomAltertum und zitiert die in England unvermeidliche, haus

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DER OPIUMESSER 1 1 1

backeneWeisheit des Doktors Johnson . Die britische Sentimentalität schleicht sich ein . Sie zaubert in das Gemach desSchülers das umrahmte Bild eines anmutigen Mädchens

,das

er wie eine heilige Patronin küßt. Sie macht aus einerj ugendlichen, frierenden Straß endirn e, der sich der Heimatlose in der Oxfordstreet beigesellt , und die ihn für denSchutz gegen den Ring der Polizi sten durch ein Glas gewürzten Portweins entlohnt, eine reine Freundin . Sie bettetden Gealterten in Behaglichkeitsträume, zu deren Ergänzunger nur noch um warme Kaminvorleger, zwei Tassen undUntertassen , eine unerschöpfliche Teekanne und ein liebreizendes Weibchen mit den Armen der Aurora und demLächeln der Hebe petition iert.Aber diese Laterna magica verzerrt sich . Der Stubenhocker entpuppt sich als ein gequälter, friedloser Mensch .

Der weitschweifige , träge Humorist , der im Gedanken anseinen wohl längst von Motten zerfressenen Universitätstalarrückblickend sich über die Kupfernase des Pedells belustigte,wird bissig und höhnt. Er schlägt sich zur Partei derDichter, die seit der Erschaffung der Erde von den Geheimnissen der Seele mehr verstanden hätten als die Professoren ,beschuldigt die Ärzte der Unmenschlichkeit und nimmt dieWürde eines Philosophen für sich in Anspruch . Er versuchtsich auf den Spuren Swifts, in demokratischen Satiren . D ie

misera plebs nimmt er gegen den Hochmut der Bischofshaushälterinnen in Schutz . Auf den Märkten Londons streifter umher, das Murren oder die Genugtuung zu belauschen ,die Teuerung oder Billigkeit der Nahrungsmittel bei denkleinen Leuten erweckt irrt durch das Viertel der Armen ,beharrlicher als ein Gepäckträger oder Droschkenkutscher,an Kreuzungen oder Sackgassen vorbei . Er fürchtet sich vorder „Roheit“ der Gesellschaftsinstitutionen . Die Ereignisseseiner Knabenjahre wirken nach . Ein Kind mit einem Kinde,

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1 1 2 DER OPIUMESSER

hat er damal s im Zimmer einesWucherers geschlafen , unterSofafetzen und einem schlechten Plaid geborgen . Tags kauerteer irgendwo im Parke . Er war außerstande, Tränen zu vergießen , wie einer, der voreilig in die D inge hineingesehenhat. Aber er weinte , wenn er die Drehorgel hörte und derverlorenen Ann gedachte .So ließ er sich al lmählich von der Sklaverei des Opiums

fesseln . Nicht interessiert , daß er dieses Betäubungsmittelnahm , sondern wie es ihn spiritualisierte. Englische Unterstaatssekretäre und Kirchenbeamte , doch auch die Fabrikarbeiter von Manchester nennt er als Adepten der Sekte, eri st vorsichtig , er ist lehrhaft. Und dennoch klingt aus seinemBuche der Ton einer „candeur tragique“ , die mit der Unm ittelbarkeit datierter und undatierter Notizenzettel sichpreisgibt. In der Schule des Ungemachs war seine Frau umihn ; sie wusch ihm den Nachtschweiß von der Stirn . Aberdie Krankheit l ieß ihn nicht los . Die Entziehungskur, dieer einmal durchzuführen trachtete , vermehrte seine Pein ,kraftlos mußte er seine spekulativen und mathematischenEntwürfe unterbrechen . Das Abschicken eines Briefes wurdeihm zur Unmöglichkeit. Er war, nach seiner lauten Klage,wie einer, der ans Bett gebannt ist , indes man den Gegenstand seiner zärtlichsten Liebe beleidigt oder mißhandelt.Das furchtbare : Zu spät ! zermalmte ihn .

Sein inneres Schauen hob mit einem bangen Hindämmernan , wo er von den Wogen der Musik getragen wurde undin süßen Chören all e Leidenschaften sich ihm vergö ttlichten ,

wo er die Nächte am offenen Fenster saß und auf den vonsanfter Ruhe überstrahlten Ozean vor Liverpool starrte . Jedoch das, wie er witzelnd feststellte, für einen Penny käufl iche , in der Westentasche transportable , mit der Post inPaketen versendbare Glück Opium hat ihm zu weit Besseremgedient. Er rühmte es als den gerechten , erfinderischen

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1 1 4 DER OPIUMESSER

mit der Scheußlichkei t unzähliger Krokodile , martervollen

Verunstaltungen dessen was ihm das Heiligste war, des Gedächtn isses an die kleine Ann und die Promenaden imgelben Laternenschein der Oxfordstreet, so daß er mit demSchrei : „ Ich will nicht mehr schlafen !“ wie ein Halbverrückter erwachte .Nur ein kün stliches Echo solcher Verheerungen ist derInhalt seines späteren Werkes „Suspiria de profundis

“,das

eine grandiose Traumfuge „The English Mail - Coach“ enthält. Hier wird die Spirallinie seines Gedankens architektonisch . Aus dem Nebelsp uk des Brockens und der verschollenen Stadt Savannah - la - Mar tritt in feierlichen Umrissendas Traumsymbol der römischen Göttin Levana und derdrei Madonnen , der Mutter der Tränen , der Seufzer und derFinsternisse , die das Herz des Neugeborenen quälen , umseinem Geist Vollkommenheit zu verleihen . Noch einmalhat die „ candeur tragique“ das Wort , der Dulder und Gezeichnete , der Paria , der im Bann der I llusionen sein Schlem ihltum vergaß .

In On Murder as a fine Art“ ist er ein anderer. Der

Unterdrückte geberdet sich kriminell , der Zaghafte ruchlos .D i ese aus Journalartikeln zusammengestoppelte Essayreihehat keine entschuldigende Vorrede . Nicht Früchte rationalistischer Bildung im Geschmack von The Idler and TheRambler werden mehr gereicht . Das Lob des Mordes wirdgesungen , die Taten eines Familienschlächters werden als

I liade, die von einem nachstrebenden Brüderpaar besorgtenKopien als Äneide glorifiziert. Der mächtige Ersinner von

„Gullivers Travels“ , der ehedem als Turm in der Ferneragte , i st j etz t de Quinceys leibhaftiger Patron . Er beruftsich für sein Unterfangen auf Swifts Vorschlag , der Hungersnot des irischen Proletariats durch Mästung der zarten Kindl ein zu steuern , und wagt die Fiktion eines Liebhaberbundes,

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worin Gentlemen von London über die Mordtaten diskutierenund si e nach den Regeln akademischer Kunsttheorien abschätzen . Ein Raffinemen t der Brutalität wird gezeigt. Duldsam tadelt de Quincey den Mord als eine unpassende , imhöchsten Grade

'

unpassende Linie des Benehmens . Er stelltihn als etwas Ungefährliches hin , weil er lediglich die Vorstufe zum D ieb stahl sei ; aber er führe zu den infamstenAusschreitungen der Trunksucht, der Sabbatübertretung, derUnhöflichkeit und Geschäftsverschleppung. Er empfiehltihn als philanthropisch ; denn nach Marc Aurel sei die Kenntnis des richtigen Todesmomentes eines der edelsten Güter.Das Kriminalregister wird zum Quell der Genüsse, die sonstBildsäulen , Gemälde , Oratorien und Kameen bieten . Fürden Mord wird das dramaturgische Verlangen einer Läuterung durch Furcht und Mitleid erhoben. Wie in einer Angelegenheit der Lyrik werden Coleridge ,Wordsworth, Southeyund stürmische Verse Shelleys ein Zeugnis zu verkündengezwungen . Skizze, Gruppierung, Licht und Schatten , Poesieund Empfindung sollen wesentliche Momente sein . EinKanon legt genaue Vorschriften des Taktes auf. Er will , daßdas Opfer nicht im öffentlichen Leben stehe, daß es gesundsei , damit die barbarische H inmetzelung eines Kranken inWegfall komme, daß es Kinder habe, damit das Pathetischedes Aktes vert ieft werde . Das Halsabschneiden wird wieeine griechische Tragödie in Chor und Gegenchor Stropheund Antistrophe angeordnet. Zuweilen verirren Sich dieseRoués der Sensibilität über die schmale Brücke des Vorsatzes ins Land der Tat. Sie gehen auf den Kontinent, praktizieren ein wenig und töten nach hitziger Boxerei etwaeinen Mannheimer Bäcker, um ihr seelisches Gleichgewichtwiederzufinden .

Das Dokument On Murder as a fine Art“ hat sehr ödePartien . Aber der Griffel de Quinceys schafft groteske Schil

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1 6 DER OPIUMESSER

derungen , die das Buch vor einem Übermaß des Langweiligen bewahren . Er setzt um die Klubtafel greise Amateuredes Mordes , die den Erinnerungen an entschwundene Zeitennachhängen und die Verbrechen der Neueren als ungefüge,ehestens der Rauheit eines Dürer oder Füseli ebenbürtigePlagiate beschimpfen . Einen Großmeister mit dem Spitznamen „Kröte im Loch“ stellt er hin , der wie ein finsterer

laudator temporis acti umhergeht‚ j edoch nach einigen Massenmorden eine Renaissance , ein zweites Zeitalter Leos desZehnten proklamiert , mit himmlischem Lächeln bei einemFrendendiner der Gilde sitzt und, als die Orgie ihren Gipfelpunkt erreicht hat , in Tobsuchtskrämpfen des Morddurstes

hinausgeführt wird . Abseits von diesen Szenen ist in fahlerBeleuchtung die Maske des Verbrechers Williams zu sehen .

Aus dem Prozeßmaterial rekonstruiert der einstige Spaltenfüller der Westmoreland Gazette“ Thomas de Quincey dieGreuel dieses Epikuräers , der den Säugling in der Wiegeaufweckte , bevor er ihm den Schädel zertrümmerte . DieseGottesgeiß el , dieser häusliche Attila mit dem gelbgefärbten

Haar und den kreidigen Mienen , der stets in Escarpins,niemals im trivialen Schlafrock ans Werk geht , i st einPopanz der unteren Romantik und die harmlose Beschäftigung eines stil lvergnügten Bücherwurms . Aber „Ou Murder“

hat Oscar Wilde angeregt und j enes Kapitel der „ Intentions“

über den Giftmischer und Kunstkenner Wainwright.

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Großmarschall des kaiserlichen Palastes, und dann Napoleonselbst , in langem , grünem , bis an das Kinn zugeknöpft emRock, mit Dreispitz und hohen Stiefeln , ohne Waffe, j edemBlick bekannt und j edem fremd . Vor dem Kapitän verbeugter sich leicht, spricht einige französische Worte, prüft lächelnddie Offiziere und begibt sich mit ungleichen Schritten auf

die Kajüte zu . Er ist dick und keine sechs Fuß groß . Seintiefschwarzes Haar i st kurz geschnitten , lange Brauen beschatten seine Augen . Hinter ihm eilen außer Savary,Bertrand , Las Cases und Gourgaud die Adj utanten Marqui sde Montholon und L ’

Allemand , die Gräfinnen Bertrand undMontholon und vier Kinder. Sobald der Zug in den Offizierskammern verschwunden ist , löst sich die Spannung . Umsechs Uhr abends und am Vormittag zeigt Napoleon sich an

Deck. Er trägt nun weiße Hosen , seidene Strümpfe mitgoldenen Schnallen , eine grüne Uniform mit roten Aufschlägen , Stern und Kreuz der Ehrenlegion . Die Sonne vonAusterlitz strahlt herab . Er ist gut gelaunt. Einen vorwitzigenFähnrich

'

kneift er ins Ohr. Er scherzt mit der hochgewachsenen Gräfin Bertrand und ihren Kindern , zu derenSchutz die Matrosen die Pfosten mit Tauwerk verstricken .

Vom „Superb“ erscheint Admiral Hotham an Bord desglücklicheren „Bellerophon“ , um sich bei dessen Gast zumelden . Er setzt den Hut nicht wieder auf, solange er mitdem Kaiser spricht . Napoleon stattet dem „Superb“ einenBesuch ab . Er prüft die Front der Ehrenwache und richtetdas Baj onett eines Mannes im ersten , das Gewehr eines imzweiten Gliede. Am Nachmittag nimmt der „Bellerophon“ ,

durch den „Slaney“ angekündigt , den Kurs nach England .

Eine Woche dauert , bei flauem Wind und völliger Windstille , die Segelfahrt . Zumeist ist Napoleon sichtbar. Dierechte Hand schiebt er in Weste oder Hosentasche, mit derlinken hält er die goldene Tabatiere , in die vier römische

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SANKT HELENA 1 19

Münzen eingelassen sind . Gleichgültig beachtet er den Himmel . Einmal

murmelt er : „11 faut avo ir patience .“ Das

D iner wird unten serviert , auf silbernen Schüsseln . Umneun Uhr legt Napoleon sich zu Bett, auch an einem Abend,wo die j ungen

,

Offiziere ein Theaterstück mit männlichenund weiblichen Rollen zum besten geben ; er lacht , dochnach dem dritten Akt z ieht er sich zurück . An dem Tage,da Kap Ushant am Horizont auftauchen soll , betritt er schonnach Sonnenaufgang das platschnasse Deck . Von einemMidshipman gestützt, setzt er sich auf die Gleitschiene einerLafette . Sieben Stunden späht er durch das Fernrohr nachdem letzten , winzigen Fleck des Landes , dessen Ruhm ergewesen ist ; dann fällt er mit schwer bangendem Kopf demMarschall Bertrand in die Arme . Bei Tisch erzählt er vonAbukir und den ägyptischen Schlachten . An einem Montagfährt der „Bellerophon“ in die Tor - Bay ein . In aller Hastwird der erste Offizier nach Plymouth entsendet. Das Schiffankert noch innerhalb der Außenmole . Lungernde Schulknaben in einem Boot fangen eine schwarze Flasche auf,die ihnen ein Matrose zuschlendert. Der Korken riecht nachSchnaps , und drinnen steckt ein gerollter Zettel mit derAufschrift : „Wir haben Bonaparte an Bord .

“ In fünf Minuten weiß es ganz Plymouth . Orkanartig schwillt derLärm . Der Sund füllt sich mit Booten . Musikanten spielenfranzösische Melodien , um „Boney“ hervorzulocken . Kleinund dick steht er auf der

‚Heckgalerie, in roter Uniform, mit

goldenen Epauletten , weißer Weste und weißen Hosen undnimmt , während auch die Schittsoffiziere das Haupt entblößen , den mit einer Kokarde verzierten Dreispitz ab . Das

Publikum schreit : „Hooray !“ Wenn Napoleon unten ist,hängen die Matrosen eine Tafel aus : „Er ist beim Frühstück !“

Plötzlich werden die Wachen verdoppelt. Drei Kanonenboote und Fregatten lagern sich hinter den „Bellerophon“ .

83

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1 20 SANKT HELENA

Unsicher erst , dann immer bestimmter heiß t es , daß anMaitland scharfe Ordres gekommen sind . Sein Gast ist hin .

fort der kriegsgefangene General Bonaparte. I n den Zeitungen von London und Plymouth liest man , Napoleon werdeauf die Insel Sankt Helena , fern im südlichen Weltmeer,verbannt werden . D ie Gräfin Bertrand hinterbringt demKaiser die Neuigkeit. Er fährt zusammen , dann weigert ersich mit starrem Trotz . Am letzten Juli verkünden derAdmiral Lord Keith und Sir Herbert Bunbury ihm offizielldas Urteil . Bleich , ohne Hut, ungepflegt, wandelt er auf undab . In hysterischer Raserei wirft die Gräfin Bertrand sichihm zu Füßen ; nur Bertrand und Montholon hindern sie,

sich aus einem Fenster des Zwischendecks herabzustürzen,und nachts hat s ie Fieberphantasien. Von Keiths Flaggschiff , dem „Tonnant“, w ird der „Bellerophon“ nach BerryHead gebracht. Nochmal s heischt Lord Keith bei NapoleonEinlaß . Da Savary Drohungen ausstößt, werden den Franzosen Degen und Pistolen , deren Kolben mit einem großensilbernen „N“ geschmückt sind , genommen . Drei Degensind Napoleons persönliches Eigentum ; bei Marengo undAusterlitz hat er sie getragen .

Der Gefangene und sein Troß werden auf die „Northumberland“ überführt , die nach Sankt Helena zu segeln bestimmt ist. Nervös harrt der Admiral Cockburn . Endlichist Napoleon da. Sein Anzug ist vernachlässigt , seine Hautgrau und schwammig . Er verabschiedet sich von Mai tlander will reden , vermag es nicht und von Savary und

L’

Allemand , die ihn nicht begleiten . Den Matrosen des

„Bellerophon“ nickt er zu . Piontkowski , ein polnischerOffizier, der um die Erlaubnis gebeten hat , al s D iener mitzureisen , und abgewiesen worden ist , rennt drohen sinnlosumher. Als Arzt Bonapartes geht O ’

Meara, der Ire, statt desseekranken Leibarztes an Bord der „Northumberland“ . Vier

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122 SANKT HELENA

sehr elegante Strümpfe angezogen hat. Nach Sonnenuntergang , als die Stadtbewohner verschwunden sind , siedelt erin das Haus des Lientenant - Governors über. Am Morgenreitet er mit Cockburn durch die Berge nach dem Landgutdes Kaufmanns Bal combe , das über gähnenden Tiefen aufein em Felsen liegt . In einem gotischen Häuschen wohnt er,bis die Umbauten in Longwood fertig sind . Mit seinenschweren Soldatenstiefeln klettert er über die von Feigenbüschen eingefaß ten Pfade und das prasselnde Geröll . Tupelobäume mit blaugrünem Laub , die wie alte Sonnenschirmeaussehen , sind die Vegetati on der Insel . Kanari envögel ,Amadavats und j apanische Spatzen mit rotem Schnabelsitzen in den Wipfeln . Auch Rebhühner flattern herum ,

die von den Kolonisten hergebracht worden sind , Goldfasanewerden gezüchtet und Pfaue . D ie Regenzeit naht. Um dieMitte D ezember ist der Pavillon für den General Bonapartegeflickt. Er hat vi er Zimmer und ein Warmwasserbad dabei . Es sind niedrige , mit Erdharzpappe gedeckte Räume ,über deren Bohlen die Ratten laufen , und deren Mauernaus Lehm und Stroh sind . Las Cases und Gourgaud wohnenin Holzschuppen , die Bertrands in Hutsgate, eine Meile entfernt. Ein einziger Gummibaum ist vor Napoleons Haus .Und langsam gewöhnt sich der Kaiser, seit er bei j edem Rittvon engl ischen Offizi eren verfolgt wird und eine doppeltePostenkette ihn umringt , sein Gefängnis nicht mehr zu verlassen .

Im April wird Cockburn abgelöst. Auf der FregattePhaeton“ trifft Sir Hudwon Lowe ein , der Ersatzmann . DaCockburn ihm geraten hat , sich für morgens um neun Uhrin Longwood anzumelden , richtet er sich danach und gehthin . Der Gefangene schlägt den Besuch des neuen Gouverneurs aus und läß t antworten , er ‚

sei krank . Umsonst renntHudson Lowe bei Sturm und Regen zwan zigmal vor Napo

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leons Fenster auf und nieder. Er beschließt, sich zu rächen .

Nicht mehr als Fignranten sind die Vertreter der Großmächte ,d ie im Juni kommen , der österreichische Baron Stürmer, denein Botaniker begleitet, der Marquis de Montchenu , ein Geckin Lackschuhen , der den Frauen und Mädchen nachstellt,und der Schotte Balmoral , der russische Kommissionär, derein fatales Abenteuer hat und nach Rio de Janeiro segelt.Aber solange die Diplomaten da sind , i st Sir Hudson Lowebemüht, dem General die Verbindung mit ihnen zu nehmen .

Las Cases, dem Napoleon , mit Büchern und mit seinem Degend ie Landkarten auf den D i elen festlegend , die Geschichtes einer Siege zu diktieren angefangen hat , wird wegen verräterischer Korrespondenz verhaftet und samt seinem Sohnn ach der Kapkolonie transportiert . O ’Meara, der Arzt, wird ,weil er bestätigt, der Kaiser sei leberkrank , des Amtes enthohen und nach England geschickt ; in Kistchen mit dop

peltem Boden schmuggelt er seine Notizen hinüber. AuchG ourgaud geht, und wie er, so rettet sich Frau von Montholon . D ie Bücher für Napoleon, die die Fregatte „Newcastle“

auslädt , werden von den Engländern vierzehn Tage denRatten preisgegeben . Der Oberkanonier des „Baring“ gibteine Büste des Königs von Rom ab , die ein Bildhauer inL ivorno für hundert zu zahlende Guineen angefertigt hat.V ierzehn Tage zögert d er Gouverneur, ihre Aushändigungzu gestatten . Nicht and ers verfährt er mit den aus Indienabgesandten Geschenken des Hauptmanns Elphinstone ,einem Schachspiel , zwei Körben und Spielmarken aus Elfenbein , weil er überall die kaiserliche Krone und das „N“

findet. Er kargt mit Fleisch , Geflügel , Holz und Kohlen fürden Haushalt des Verbannten, der wütend wird , so oft ihmder Name seines Peinigers ans Ohr dringt. Als die Gräfinvon Loudoun in Plantation - House zu Gast ist und Napoleonb eim D iner zu sehen wünscht, sendet Hudson Lowe eine

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1 24 SANKT HELENA

Einladungskarte an den „General Buonaparte“ . Den Gummibaum läßt er niederhauen . Der Kaiser rast : „Dieser Mannist nur ein Schreiber und hat nie einen Kanonenschuß ge

hört ; all e seine Feldzüge hat er zwischen der Feder undeiner Flasche Tinte gemacht.“ Er höhnt üb er das Gesichtseines Kerkermeisters , sein fuchsiges Schottenhaar , seinescheelen Augen . „Der Kalabrese da ist mir ein Ekel . DieserHudson Lowe vergiftet alles , was er sieht und berührt . DerKerl so ll te sich große Zugpflaster auflegen lassen , um diewiderliche Lymphe aus ihm herauszuziehen . Das reine Gal

gengesicht !“ Und es überspr

_

udeln sich itali enische Schimpfreden .

Woche vergeht auf Woche , Monat um Monat, Jahr umJahr, und nur Bilder ohne Zusammenhang bleiben im dumpfen Halbschlaf dieser Einsamkeit den Miterlebenden haften .

Einmal i st es Napoleon , der, von einem Strohhut geschützt,die Hände in den Rocktaschen , im Garten steht und zu denkreuzenden Fregatten hinblickt. Dann wieder der Kaiserauf der Veranda , pfeifend, um den Kopf die rote Nachtmütze . Oder bei Tafel in der Hitze der Wachskerzen seinGefolge spricht im Flüsterton . Hinter den Stühlen in s ilberbestickten Röcken und in grünen Röcken mit Goldlitzen dieD iener. Wenn den Kaiser sein Jähzorn heimsucht, zerbrichter Weingläser. Mit dem Fuße des zerbrochenen Glasesklopft er summend im Takt, und seine unwi rsche Träumereiendet mit lautem Grunzen . Oft liest er in der Bibel oder inden Kirchenvätern . Oft sieht er überhaupt nicht auf j ederSpalt in den Fensterläden muß verstopft werden .

Im Dezember 1820 verfäll t der Körper des Gefangenen .

Sein Magen behält nichts , seine Haut i st Ieichenfahl . „Esist kein Öl mehr auf der Lampe“ , sagt er zu Montholon .

Jetz t pflegt ihn ein Korse , der DoktorAntommarchi, den seinOnkel , der Kardinal Pesch, ihm aus Europa geschickt hat.

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Die Somnambu le .

i e Vorgänge, über die hier berichtet wird, gehören einerZeit an, in der auch der Protestantismus vom Über

natürlichen erregt war. Der edelste ihrer Mystagogen istFriedrich von Hardenberg , der D ichter Novalis , der Sängerder Hymnen an die Nacht, der „Herrnhuter mit der hektischen Sinnlichkeit“ , den Friedrich Schlegel auf dem Sterbelager sah, und über dessen Anblick er schrieb : „HardenbergsGesicht ist lang geworden , er windet sich gleichsam von demLager des Irdischen empor, wie die Braut von Korinth . Dabei hat er ganz die Augen eines Geistersehers .“ Mit seinenVisionen stimmen die Träume der Naturphi10 50 phen überein . Gott müsse Mensch werden , so lehrt Schelling , dami tder Mensch wieder zu Gott komme ; der Anfang , die Heilungsei ein Zustand des Hellsehens, worin göttliche Kräft e denmenschlichen entgegenwirken . Baader verti eft sich in dasLebensgeheimnis , das er in der „Polarität“ des männlichenund des weiblichen Gegensatzes erblickt, und in das Geheimnis der Wiedergeburt ; alle Menschen sind totgeborene Seher.Der Professor Ritter spricht in seinem Buche über den Siderismus die Worte aus : „Alle unsere reinen Handlungensind somnambulistisch ; j eder trägt seine eigene Somnambulebei sich .

“ Im Mittelpunkt des Interesses steht eine neueTheorie, die unbegrenzte Hoffnungen wachruft und die verborgenen Kräfte der Natur erschließen soll , der Mesmeris

mn s, der tierische Magnetismus . Von Mensch zu Mensch ,

das besagen die Anpreisungen der Gläubigen , gehe ein Fluidum , und die Vereinigung magneti scher Menschenkraft aufkranke Personen sei fähig , sie zu heilen . Ein Berliner Arzt,der ProfessorWolfart, veranstaltet magnetische Experimentemit dem „Baquet“ , einem magnetisierten Gefäß , an das dieKranken gesetzt werden , und der Professor Kiser erfindet

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D IE SOMNAMBULE 1 27

das Baquet ohne Magnetisation , dessen Heilwirkung nur aufder „sideri schen“ , der geistigen Kraft der Stoffe beruht .Al lenthalben treten Damen auf, die mit dem „zweiten Gesicht“ begabt sind . Baader schreibt über eine Patientin desköniglichen Krankenhauses in München , eine Somnambule,deren Empfindungen sich mit unheimlicher Macht äußern .

Als er an ihrem Bett sitzt, erhält er durch Fernwirkungenheft ige Schläge über die Arme . Und eine elsässische Seherin , Maria Kummrin , vollzieht an der Freifrau von Krüdener,der Stifterin der Heiligen Allianz , die Erweckung .Im Jahre 1 809 heiratet Schl eiermacher die einundzwanzig

jährige Witwe seines Jugendfreundes, des Stralsunder Regimentspredigers Ehrenfried von Willich . Es ist eine j enerEhen , wie man sie kultiviert, eine Ehe der W irklichkeitsscheu und der Gefühlsableitung. Ein Roman des Schmerzes geht ihr voran . Schleiermacher selbst ist in dem BundW illichs mit Henriette von Mühlenfels der seeli sche Mittelsmann gewesen . In Briefen, die ein Echo der abgeri ssenen ,wilden und ätherischen Klagen aus dem „Werther“ sind ,hat sie ihm den Tod ihres ersten Gatten gemeldet, und dannwird aus dem : „Mein geliebter Freund ! mein Vater !“ einLieber ! Lieber !

“ und so ist auf einmal die neue Ehe da .

Sie wird nicht allein durch die menschliche Situation, sondern auch durch die früheren Erlebnisse und eine angeboreneEigenschaft Schleiermachers vorbereitet . Er steht im einundvierzigsten Lebensj ahr und ist in seiner Beziehung zuden Frauen zweimal enttäuscht worden : in seiner Freundschaft für die Herz , für die er die Briefe über Lucinde schrieb ,und in seiner Leidenschaft für Eleonore von Grunow, umderentwillen er Berlin verlassen hat. Seine natürlicheSchwäche hat er selbst bekannt. Ich muß mich anschlie

ßen an ein Hauswesen“ , beichtet er der Herz . Die B eruhi

gung an der Seite Henrietten s von Willich idealisiert er durch

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1 28 DIE SOMNAMBULE

seine Güte . Fünf Kinder kommen zu den zwei Kindern auserster Ehe hinzu . Das letzte ist der blondlockige Nathanael .Und man sieht die stillen Tage der Schleiermachers vor sich ,wenn man die Erinnerungen des ältesten Sohnes liest, desStiefsohnes Ehrenfri ed . Im Sommer wandert die Familieaus der Berl iner Kanonierstraß e aus und bezieht ein Hänschen am Rande des Tiergartens, am Kanal, der noch Schafgraben hieß . An der Potsdamer Straße stehen nur zweiHäuser. Ringsum ist grüne Wildnis, und wenn Reisekntschennahen , wird auf der Chaussee das Posthorn geblasen .

Zehn Jahre dauert die Ehe. Kein äußeres Zeichen läßtvermuten , daß sie in Gefahr ist. Nur als zitterndes Flämmchen lebt in Henriette die alte I rri tation fort, bereit, hervorzubrechen und alles zu verzehren . Noch immer, wie unmittelbar nach dem Tode W illichs, hat sie den Blick demJenseits zugewandt, und sie ist überzeugt, daß ein Verkehrmit den Geistern der Entschlafenen möglich sei . Da trifftes sich , daß Schleiermacher wegen eines Magenübels vonWolfart magnetisch behandelt wird , und daß die Kur gelingt .Er selbst bewahrt eine unüberwindliche Angst vor diesern euen Geheimwissenschaft. Mit um so drängenderer Gier vertieft Henriette sich in ihre Erscheinungen . Sie lernt eineFrau Karoline Fischer kennen , die Witwe eines sächsischenOffiziers, die ärmliche Schwester des Gymnasiallehrers Lommatsch , bei dem sie mit ihrem Töchterchen Luise lebt. D ie

Fischer ist somnambul . Sie kann , wie Humboldt bezeugt,nicht gehen und nicht essen . Sie trinkt magnetisiertes Wasser und morgens eine Tasse Kaffee . Ihr Kopfschmerz löstsich in einem Abszeß , der durch das Ohr fl ießt. Stundenlang liegt sie im Krampf, und in diesem Zustand spricht siein Versen , in schönen Versen , denen die Hörer andächtigschweigend zu lauschen pflegen . Verstorbene werden ihrsichtbar, die zu den anwesenden Hinterbl iebenen Worte des

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1 30 DIE SOMNAMBULE

zu ihm sagt, j edoch über das Unwesen der Fischer leidenschaftlich empört ist. Schleiermacher, der zusammenbricht,al s den kleinen Nathanael ein grausamer Tod hinwegrat

‘ft,

stirbt, durch tiefe Ahnungen eingeweiht . Nun wird dieFischer im Hause die Herrin . Ehrenfried wagt letzte Schritte,um sein Sohnesrecht gegen sie zu verteidigen . Dochnur im Innersten erschüttert und verletzt , hört die Mutternoch seine Stimme , und mit Reuetränen bittet er sie um Vergebung . Luise verlobt sich mit Guido von Usedom . Ermat

tet, ein Schiffbrüchiger, söhnt Ehrenfried sich mit der Fischeraus . So naht auch der Mu tter die Todesstunde . Als sie

sti rbt , i st sie von einem flackernden , überirdischen Lichtverklärt . Der lähmende Traum ist nicht mehr von ihr gewichen . Und an ihrem Sterbebett macht die Fischer dernSohne Vorwürfe wegen seiner Undankbarkeit.

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Die Rachel .

ei Wepler an der Place Clichy, unter den Glyzinen , gabder langmähnige Goudeau seine Erinnerungen zum besten .

Ein paar fragwürdige D ichter waren um ihn versammelt. Neugierig traten einige der Rapins an den Tisch, der Mallehrlinge,

die sich hier mit sämtlichen Hochzeitsgesellschaften zu verbrüdern pflegten , und lauschten dem Senior der Journalisten .

An j enem Abend“ , so erzählte Goudeau mit seinemwarmen Bariton , den die Quadrillenmusik und das Klirrender Gläser überschallten , „war ich mit Musset im Theätre

Francais , zum ,Tancred‘. Im halbdunklen Zuschauerraum

beobachtete ich ihn von der Seite . Nie hatte ich ihn so gesehen , seit er krank aus dem gräßlichen Venedig zurückkam . Er hatte nur für die Rachel Interesse . Wir, seineFreunde, hatten das alles verfolgt ; den Hymnus , den er ihrund der Garcia dichtete, die Abhandlung über die neueBlüte der Tragödie und über den ,Baj azet

‘. Aber nie schien

er W i e j etzt unter dem Bann des schwarzen Mädchens zustehen . In der Pause ging er hinter die Kulisse. Er kamerst wieder, als der Vorhang hochgezogen war. Im fünftenAkt, bei der Briefszene, quollen ihm die Tränen . Stummverli eß er mit mir das Theater.Es war eine milde, berauschende Nacht, wie er sie be

sungen hat. „La fleur de l’églantier sent ses bourgeonss

éclore rezitierte ich leise . Doch rasch hielt ich inne, dennMussets Gesicht fiel mir auf. Plötzlich stürmte er über denFahrdamm

,einer Gruppe entgegen , die etwa hundert Schritte

vor uns vorbeizog . Es waren ein Schwarm von Konser

vatoristinnen und ihre j ungen Anbeter, ein Herr, der stolzseinen Spazierstock durch die Luft wirbelte, und neben ihm,

klein und schmal wie ein Knabe, eine Frau in rotem Schal .Sie drehte sich um . Musset !“ rief sie. Das war die Rachel .

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1 32 DIE RACHEL

das war ihr schicksalsvoller Blick , der wie die Nächte Arabiens betörte , das war ihr raubes Organ . I ch nehme euchzum Souper mit“ , entschied sie lachend . Auf dem Weg nachder Passage Véro - Dorat redete sie beständig. Musset erwiderte kaum ein Wort, der Herr mit dem Spazierstockes war Bonnaire pfiff traurig und wütend vor sich hin .

Rachel verhöhnte ihn, als er sich im Hansflur mit einemdumpfen : „Adieu , Fanfan !“ empfahl .Wir stiegen drei Treppen empor. Im engen Speisezimmer

bewillkommnete uns die Famili e Felix, Rachels Mutter, diewürdige Matrone , und ihre— Geschwister : Sarah , der bleicheRaphael , Sophie , die neunj ährige Lia und Dinah . Sofortverlor Rachel ihre Heiterkeit. „Lauf ins Theater“, fuhr sie,sich besinnend , die Magd an, „und hole meine Ringe undArmbänder. Sie liegen in der Schublade“ . Und sie verschwand , sich umzukleiden . Drei Minuten später hörten wirsie in der Küche hantieren . Dann zeigte sie sich in Schlafrock, Nachtmütze und indischem Hal stuch , einen Teller mitBeefsteaks schwingend , die sie selbst gebraten hatte . EineSchüssel mit Bouillon und eine mit Spinat wurden aufgesetzt.Das Geschirr hatte die D ienstmagd weggesperrt . Rachel besorgte sich aus dem B ntfet eine Holzgab el und fing ohne unszu essen an . Erst al s die Mutter sich einmengte, verschafit esie uns Zinnteller. Sarah weigerte sich davon zu essen , undRachel zankte und sprach von den Jahren ihrer Armut.Musset fragte sie aus . Und sie gedachte ihrer Not in denM ietshöfen und Kaffeehäusern von Pari s, wo sie mit SarahLieder sang , und denen ein von ihrem Blick verzauberterGast s ie entführte, ihrer Lehrzeit bei Samson , ihres Darbensfür andre . Deutsch schnatterte die unfreundliche Sarah dazwischen . Die Konservatoristinnen und ihre Begleiter verabschiedeten sich . Die Magd brachte den Schmuck . Mitihren weißen , dünnen Händen strich Rachel ihn ein.

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1 34 DIE RACHEL

Oper zurückkehrte, wo die Nathan die „Jüdin“ gesungenhatte . Er setzte sich zu uns . D ie Mutter erwachte . Wie einböser Gnom schalt Herr Felix seine Tochter. Ergrimmtklappte sie ihren Racine zu . Sie weinte . Musset ignorierteden Alten , verbeugte sich vor Rachel und ging mit mir zurTür . „Lassen Sie mich , bitte, j etzt allein !“ sagte er unten .

I ch habe ihn dann vier Monate nicht mehr getroffen undweiß nur, daß er Rachel vergebens die Rolle der Fredegondeanbot und in ein paar Strophen Verzicht geleistet hat.Rachel hat die Phädra gespielt. Es kam die Stunde,

wo der Ruhm ihren Scheitel krönte . Sie reiste in die Provinz , gab oft zwei Vorstellungen an einem Tage, spielte indrei Monaten neunzigmal und unterj ochte sich das halbeEuropa . In Wolken von Musselin und Gaze, in hohenSpitzenkragen , die ein Juwel zusammenhielt, trippelte sie

über das Pflaster in der Rue Tridon , wo sie ihr Hotel hatte,zum Kutschenschlag . Sie war schwindsüchtig, das Kindchen .

Einmal hat sie in Rouen zwei Stunden lang bei strömend emRegen auf dem Balkon einen Liebhaber erwartet, irgendeinen Kerl mit schönem Gesicht, der ihr nichts gab und sichnichts aus ihr machte . In ihrem Boudoir in Paris warf siesich ohnmächtig nieder. Sie war ganz weiß , und in der Eckelag zerknittert ihr wunderbares Kostüm aus Smyrna . Manchmal konnte sie toben und schimpfen wie eine Vettel , undmanchmal war es ihr eineWonne , ihren Galanen die größtenSchmutzereien entgegenzuschleudern . Aber keiner wagte es ,die Kette zu brechen . Einmal begegnete Doktor Tampier,ihr Arzt, vor ihrem Boudoir dem Grafen Hector, der endlichsich seiner Schande bewußt geworden war. „Sie ist eineDirne“ , brüllte er. „Sie ist ein Skelett, sie Dann rannteer dem Arzt zu : „ Ich komme heute abend wieder !“

Zuletzt wäre sie beinahe katholisch geworden . Als S ienach Ägypten fuhr, traf sie den j ungen Aubaret. Er war

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DIE RACHEL 1 35

damals Leutnant auf dem Paketboot, das die Tragödin vonMarseille nach Al exandrien brachte, und da er sie zart undmitleidig pflegte, begann zwischen beiden ein durchaus platonischer Roman . Sie freute sich, wenn Aubaret von seinenEltern berichtete , von seiner Heimat und seiner Kindheit.In der glühenden Sonne des Nillandes , durch das sie bewegungslos auf ihrer Barke dahinglitt, hat sie, eine zweiteKameliendame, den guten Aubaret nicht vergessen . Sie zogsogar in die Nähe von Montpellier, wo seine Familie eineBesitzung hatte . Dort sprachen sie, wie das so geht, vielüber den Trost der Religion . Und plötzl ich war sie entschlossen , sich taufen zu lassen . Da meldete ihr ein Telegramm , daß ihre kleine Tochter erkrankt sei ; sie mußte fort.Erst in Le Cannet, wo sie bei Sardous Vater wohnte, kamsie auf ihren Plan zurück . Aubaret gab ihr einen Rosenkranz , den in Gaeta der Papst Pius ihm geschenkt hatte , undgeweihtes Wasser. Als nur noch Stunden sie von der Tanfzeremonie trennten und Aubaret bei ihr war, öffnete sichdie Tür. Der Prinz Napoleon trat ein , der in ihrer Villagerade die Rechte des Hausherrn hatte . Finster, lautlos entfernte sich Aubaret . Es war am zweiten Januar. Am drittenwar der Schiffsleutnant dienstlich verhindert. Aber zur Mitternachtsstunde hörte er von Tampier, daß Rachel soebengestorben sei .

Noch eins : Theophile Gautier hat es uns in Neuilly erzählt, in seinem mit dem Wirrwar einer Kunstauktion vollgestopften Häuschen , und sein Dogenantlitz blieb dabei unerschütterlich ernst. Er fand Rachel im Foyer . Sie kauerteauf einer Bank und starrte tragisch zur Decke . Er begrüßtesie und reichte ihr die Hand , die sie wie im Traum an ihrenBusen preßte . Schweigend riß sie das klassische Peplumauf und ließ Théo ihre Haut berühren . Wie ein Engel desVerderbens blickte sie ihn an und fragte ihn furchtsam : „Es

9 *

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1 36 DIE RACHEL

ist nichts da , nicht wahr ?“ „Nicht viel“, erwiderte Theobeklommen . Da murmelte Rachel verzweifelt : „Nur dieAmmen haben bei den Männern Glück.

“ Und tiefer Gramstand in ihren nachtschwarzen Augen

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1 38 D ISRAELI

viell eicht der Katharina von Rußland .

“ I saac D israe li , derVater, war für die Bank schon nntauglich . Er flüchtete mitseinen sti ll eren Neigungen in die Literatur, wurde mit Byronund Scott befreundet und legte eine Sammlung „ l iterari scherKuriosi täten“ an . D ie Universität Oxford ernannte ihn zumEhrendoktor. Mit der Synagoge stand er auf Kriegsfuß .

Beim Tode seines Vaters ließ er sich taufen , mit seinerGattin Maria , die der Familie Basevi entstammte, und mitseinen Kindern . Zwölf Jahre zählte Benj amin , der zweiteSohn , als sein Name in die Taufregistratur der anglika

n ischen Kirche St. Andreas! in Holborn eingetragen wurde .

Weit weniger glänzend , als seine Familiengeschichte vermuten l ieß war sein e Erziehung . Nicht nach Eaton und Oxfordkam er, W i e ein j unger Gentleman , sondern auf Landschulenvon Geistlichen , zu dem biederen Mr. Pothicary in Blackheath und nach Walthamstow . Dann wurde er Lehrlingbei der Anwaltsfirma Maple Co . Aber schon träumte ervon Ruhm , und schon machte er die ersten Bemühungen ,ihn zu erringen . „ I ch wollte groß und bestaunt werden ,“

so läß t er in seinem Roman „Contarini Fleming“ den Heldensagen , „aber auf welchem Wege, das wußte ich nicht. Wirsprachen vom Parlament und vom Feldherrnstab ,von Schwertund Feder. Wir sprachen mit Entzücken von einem Lebenvoller Abenteuer.“ Voltaires kleiner Roman „Zadig

“ warseinem ungeduldigen Talent die Befreiung . Auch darübergibt er im „Contarin i“ Rechenschaft : „Was ich lange gesuchthatte, lag j etzt vor mir. Die seltsame Mischung von großartiger Phantasie und beißenderWahrheit, diese unvergleichl iche Verquickung von idealer Schöpfungskraft und Weltklugheit entsprach gerade den beiden Naturen , die ich selber in der Brust trug . Ich wandelte als Dichter in den Straßen Babylons oder an den Ufern des Tigri s. Als Philosophund Staatsmann stellte ich Betrachtungen über den Charak

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D I SRAELI 39

ter der Menschen und die Natur der Regierungen an . Auchder Stil entzückte mich , und ich gab mich seiner wildenund blendenden Grazie mit Leib und Seele hin .

“ Der ersteVersuch des Schriftstel lers D i sraeli war der „Vivian Grey“ ,

ein in Technik und Charakteristik fragwürdiges Buch mitallen Eigenschaften des Schlüsselromans, doch herausforderndin der koketten Selbstsicherheit , die schon das Motto , einZitat aus den „Lustigen Weihern von Windsor“ , laut verkünd ete : „Die Welt ist eine Auster, und mit meinem Schwertewill ich sie öffnen .

“ Der Vivian Grey“ hatte einen buchhändlerischen Skandalerfolg. Die Porträtierten waren empört, ihre Feinde und Feindinnen lachten . Alle Leute“ , so

bemerkt Disrae li im „Contarini“ , wo er den „Vivian GreyMan stein“ nennt, „alle Leute, die ,Manstein ‘ gelesen undsich darüber amüsiert hatten , schämten sich dessen plötzlichund behaupteten , weil ein halbes Dutzend Narren , die sichfür Kenner ausgaben , es ihnen täglich ein paarmal in dieOhren rannten , es sei ein sehr ungehöriges , unmoralischesBuch . Viele bekamen auch Angst. Einzelne Leute , die mirauf der Straße begegneten, grüßten mich nicht mehr. Icherhielt anonyme Briefe , und das Benehmen meiner bestenFreunde wurde zusehends kalter.“ In Wahrheit hielt derj unge Talmi — Byron sich schadlos . Lytton Bulwer machte ihnunter den Aristokraten bekannt, und bald wagte er, sich aufgleichen Fuß mit ihnen zu stell en . So unbesonnen nahm eran der Londoner Season teil , daß er nervös erkrankte . Esschien ihm , als verspüre er die Umdrehung der Erde umihre Achse . Die Ärzte waren um ihn besorgt. Sie schickter

'

iihn ins Ausland .

Sechsundzwanzig Jahre alt, trat er mit seiner SchwesterSarah und ihrem Verlobten , seinem Freunde William Meredith , die groß e Reise an . Er fuhr nach Spanien , in die exotische Stadt der Alhambra, zwischen deren Säulenhöfen,

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wasserspeienden Löwen , Hallen und Hufeisenbögen ihm dasWesen des insgeheim ersehnten Orients aufging . Zu Pferdedurchstreifte er das von Räubern wimmelnde Andal usien .

Dann schiffte er sich nach den Ionischen Inseln ein , unddann beschloß er weil er hörte, in Albanien , Mazedonienund Thessal ien sei eine Empörung gegen die Türken losgebrochen , in deren Hauptquartier zu gehen . Auf den Spurenvon Byrons Childe Harold schlenderte er durch zertrüm

merte Städte, in denen nur das Minaret der Hauptmoscheenoch ragte, und durch wilde B ergschlnchten , die Kriegslagerder Beys und Paschas . Er

saß mitten unter den RuinenAthens , ohne mehr als ein Staunen der klassisch -

philoso

phischen Bildung in seinem dem Abendland fernen Geistezu fühlen , er erblickte bei Mondschein das Schlachtfeld vonMarathon und die freien Wasser von Salamis . Mit HalilPascha und einem türkischen Geschwader segelte er überdas Inselmeer. An einem Morgen hielt Windstille die kleineFlotte in Troj as Nähe fest : „Vor uns lag eine Wüste, hügelige, unbebaute Ebene , ein wasserarmer Bach , ein großerHügel , einige Hirten mit Herden so sieht heute das Königreich des Priamus aus , und das sind die Nachfolger desPari s .“ Das farbige Gewimmel von Konstantinopel berauschteihn , auf den verlassenen Ebenen Kleinasiens dachte er antote Reiche und Städte , in den Zelten der syrischen Beduinenwurde er zum Schwärmer für oriental ische Stammesgemein

schaft, und endlich dehnte sich mit Türmen und Mauerzinnen vor dem auf dem Olberg stehenden Wanderer dieheiligste der heiligen Stätten aus, Jerusal em . Niemals hatsein kalter Snobismus sie vergessen , und noch in seinenRomanen „Alroy“ und Tancred“ hat er sich zu einer Artvon zionisti scher Völkertheorie bekannt.Die Heimrei se führte ihn über Ägypten ; dort starb sein

Freund und Gefährte . Als ein unj ugendlicher Virtuos des

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Wycombe, in der Gegend des väterlichen Landsitzes . Dortstellte er seine Kandidatur gegen einen Sohn des liberalenPremierministers Lord Grey auf, als unabhängiger Hospitantder Tories All e Frauen“, so schri eb er an seine Schwester,„ sind für m ich und tragen meine Farben , rosa und weiß .

Er erlitt ein lächerliches Fiasko , das sich in Trenton wiederholte. Auch in einen Duellzank mit dem Iren O ’

Connell

geriet er, der ihn einen Verräter genannt hatte . Aber nunwar er offizieller konservativer Parteimann , Mitglied desCarltonklubs und Schützling des Herzogs von Wellington .

So wurde er Abgeordneter von Maidstone , im ersten Regierungsj ahre der Königin Viktoria . Und abermals war seinD ebut ein Miß erfolg . Er hielt seine Jungfernrede, als dieirische Frage erörtert wurde . D ie herrschende Whigparteiunter Lord Melbourne hatte sich , wie heute die um Asquith ,mit den katholischen Irländern verbündet. Heftig griff Disraéli , der Neuling , den Premierminister an , der „ in einerHand die Schlüssel Sankt Petri , in der andern die Freiheitsmütze“ schwinge . Das Wutgeheul der Mehrheit unterbrachden Kecken . Er wich , doch im Abgehen rief er seinen Feindendie vermessene Prophezeiung zu : „Für heute bin ich fertig ,aber die Zeit wird kommen , wo Sie mich werden anhörenmüssen .

“ Sheil , den er bei Bulwer traf, gab ihm das hinfortvon ihm angewandte Erfolgsrezept : „Seien Sie ganz ruhig ,bemühen Sie sich , langweilig zu sein , logisieren Sie : einerseits - andererseits, aber brauchen Sie Ihre Vernunft nur unvollkommen ; denn geschieht e s mit Geist , so werden dieLeute glauben , Sie wollten witzig sein . Setzen Sie sie inErstaunen , indem Sie zu Detailfragen sprechen . Führen SieDaten , Zahlen , Berechnungen an . Und Sie werden das Ohrdes Hauses haben und sein Liebling sein .

“ Bald auch gelang es D israe li , sich durch eine Heirat zu rangieren und ausden Klauen der Wucherer zu retten . Seine Gemahlin war

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eine reiche Matrone, die fünfzigj ährige Witwe seines Parteikollegen Wyndham Lewis , die ihn verehrte und seiner Unrast den Schutz eines Heimes bot. Seine Größ e war ihr einziger Gedanke . Als vor einer wichtigen Sitzung, in der erzu reden hatte,der zuklappende Wagenschlag ihr die Handzerquetschte, überwand sie bis zum Abschied von ihm denSchmerz , damit er nicht gestört werde ; als sie allein war,brach sie zusammen .

Zwei Romane Disraélis aus der Mitte der vierziger Jahrevergegenwärtigen das zwischen Torytum und Demokratieschwankende „j ungengliSche“ Ketzersystem , das er damals .für sich errichtete, und das anfangs nichts war als eine eitleUnfruchtbarkeit, um nachher in sonderbarem Spiel der Geschichte eine Bej ahung der Zukunft zu werden : „Coningsby“

und „Sybil“. Im ersten Roman verbrüdert der Enkel desfeudalen Lord Monmouth sich mit Harry Milbank , dem Sohnedes liberal en Fabrikanten . D ie Erneuerung der Königsgewalt,nachdem der Parlamentari smus abgewirtschaftet hat, i st diepolitische These , und ein j üdischer Bankier, der weise Sidonia ,sagt sie an . Schon aber wird auf die unteren Stände, aufdie Arbeiterklasse des Industriezeitalters , hingewiesen , die inSybil oder die zwei Nationen“ , verkörpert in einem lieblichen Mädchen von hoher Abkunft, die mit di lettantischemSozialismus gefeierte Heldin wird . Aber energischer no chals in diesen Werken seiner Einbildung schwor D israeli nunmehr als praktischer Politiker die wirtschaftlichen Dogmender Manchesterschule ab . Freihandel oder Schutzzoll warihm nur eine Lebensfrage der Gentry, die er als die beharrende Grundlage der englischen Macht pries . Als RobertFeel, der konservative Premierminister und Parteichef, ausErwägungen der Klugheit, unter dem frohlockenden Beifal lder Liberalen , die Zölle beseitigte, da organisierte D israel idie konservative Fronde gegen ihn . Es wäre eine Aus

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nahme so rief er dem Un terhanse zu , „von allen Gesetzendie bisher den Weltlauf bestimmt haben , wenn Sie den erstrebten Wohlstand aufrechterhalten können , ohne daß Siedie Gesellschaft auf j enem Element der Stetigkeit und Dauerberuhen ließ en , das al lein das Prinzip des Landbesitzes gewähren kann . Gewiß , Sie werden noch eine Zeitlang fortschreiten und prosperieren können , Ihre Häfen werden sichmit Schiffen füllen , über Ihren Städten werden die Hochöfenleuchten , Ihre Fabriken werden über das ganze Land Rauchwolken wälzen . Und dennoch vermag ich nicht einzusehen ,warum Sie eine Ausnahme in der Welt sein sollten , warumIhre Zivilisation nicht verfallen sollte wie das glänzendeTyrus und in Trümmer sinken wie die Paläste Venedigs .“Das Chamäleon der sephardischen Judenschaft wurde , halbBismarck , halb Lassalle , der englisch - patrioti sche Staatsmann des Imperialismus .

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dem die Vorstellungen „Familie“ und Mill ionär“ auf überraschehde Art vereinigt sind oder Witz durch Verschiebung des psychischen Akzentes . Jeder Witz schafft dem ,

der ihn ausspricht, Lust, der harmlose wie der tendenziöse,der, der uns lächeln macht, und der, den wir mit krampfhaftem Lachen begleiten . Auch der harmlose Witz ist eineBefreiung , ein Symptom der Freude, daß wir nun spielendim Gedanken überwinden dürfen , was sonst uns quäl te . Dertendenziöse Witz hilft uns , den Gegner auf Umwegen zu verachten . Nirgends ist er philosophischer al s im Ghettow itz,

und nie war er allgemeiner“

als in unserem Jahrhundert derD emokratie .Einmal war derWitz souverän , im achtzehnten Jahrhun

dert, das am Vergnügen der gesellschaftlichen Existenz alle,die überhaupt zu reden vermochten und sichtbar waren , beteiligte. Das war die Zeit für die Bonmots auch der Sterbenden . „ Ich glaubte, das zweite Stockwerk hierzulande seinicht so hoch“ , rief der Abbé de la Marre, den in Prag einübelgelaunter Ehemann oder war es ein Fieheranfall ?auf die Straß e hinabstürzte ; dann tat er seinen letzten Seufzer.Dieses Jahrhundert liebte den Witz in j edem Betracht. Mitunersättl icher Wollust gefiel es sich, seine Arten zu unterscheiden und neue au szutüfteln . Gott weiß , wi e viele in denledernen „B ievriana

“ des Marquis von Bievre hergezählt sind,einem schwatzhaften Katechismus des Witzes . Mit Witzenwurde der Abbé Poinsinet in den Tod gej agt ; so lange wurdeer mystifiziert , bis er ertrinken mußte . Schattenlos warendie Geister wie Chamissos Schlemihl , der „ selbst mit dembesten Willen nicht den Rausch aus dem Kopf ins Herzzwingen“ kann . Fremd war ihnen die Heiterkeit des schlummernden barberin ischen Fauns , der großen Gebilde. DieSilhouette ist ihr Fall , das scharfe Licht des Hogarth, dasSkurrile , wovon der „Tri stram Shandy“ erfüllt ist, die Skepsis .

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In ihren ärmeren Provinzen ist diese das Magistertum , womit Wieland , der neue Lukian und Ariost, die Deutschen er

götzt hat, oder Lichtenbergs Freude an der Entzauberungder Schwärmerei . In den höchsten Äußerungen, denen derFranzosen , glänzt der Witz mit einem Glanze , der allesdurchdringt. Seinen Ursprung hat er bei dem ehrlichenMontaigne , einem Graubart mit langer Nase und schiefemBlick , der im Bürgerkrieg sein Schloß nicht verrammelte,den groben Kumpanen zugeneigt war und gern von seinemHaus berichtete, seinen Scheuern , seinemVater, seinemWeib ,

seinen Pächtern , seinem dürren , kahlen Schädel, seinen Messcrn und Gabeln . Er hatte die Alten gelesen , verlangte nichtnach dem Jenseits und war gewillt, dem Tode , wenn er anklopfte , sich nicht zu sträuben . Auch vom Herzog de laRochefoucauld lernte die Schule der Spötter, dem halbblindenFrondeur, und von Jean de la Bruyere, der dem Witz in derunruhigen Gesell schaft sich fügte : „Der Witz ist entwederetwas Schöpferisches oder auch ein Nichts .“ Doch erst alsdas achtzehnte Jahrhundert dem Zenith sich näherte, i stdas Pandämonium des Witzes entfesselt , beginnt die unbeschränkte Grausamkeit des nach Leben gierigen Geistes . Erwird geschwächt , als im Hotel de Tours zu Paris , in derkleinen Rue du Paon, gegenüber einem Brunnen und einemObstladen , der schwindsüchtige j unge Offizier Marquis deVauvenargues eine verwahrloste Stube mietet, als in seinerMaxime : Habe Seel e !“ Pascals Schmerz wieder lodert. Undvollendet i st der Zusammenbruch , als Beyle, dem Tapfersten,Duclos „zu kalt“ erscheint, als ihn Mozart zu Tränen rührtund das Läuten der Glocken .

Im neunzehnten Jahrhundert gab es den Witz aus verborgenem Gefühl . Freien , schweb enden Sinn , der das dieEmpfindung Zerreiß ende überwinde, hatte er für Goethe bedeutet. Das „ schimmernde Fort und Überströmen einer

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warmen Gewitterwolke“ nennt ihn Jean Paul . Aber schonFriedrich Schlegel muß die Kraft des Witzes lyrischer beschwören : Wenn man nicht scherzt und tändelt mit denElementen der Leidenschaft , so ballt sie sich in dicke Massenund verfinstert alles .“ In der Rolle des Spaßmachers riefHeine auf dem Seinedampfer : „Fürchten Sie nichts , meineDamen , wir stehen unter dem Schutze des Gesetzes“ , verglicher Frau K. einem Pantheon , drin groß e Männer ruhen , sagteer dem Arzt, er habe keinen Geschmack wie Herr Scribe, undstarb er mit der Sentenz von Gottes Metier zu verzeihen . AberanWohlw ill schrieb er : Mein Leben war brütendes Versinkenin den düstren , nur von phantastischen Lichtern durchblitzten Schacht der Traumwelt * mein äußeres Leben wartoll, wüst, zynisch , abstoßend , m it einem Worte : ich machtees zum schneidenden Gegensatz meines inneren Lebens ,damit mich dieses n icht durch sein Übergewicht zerstöre .“

In Mérimée, dem abgehärteten Causeur, war die Scheu lächerlich zu werden . Anatole France , der w i tzigste Kopf im Frankreich von heute , hat die geduckte List des Epigonen , derschon zu dem unw itzigen Volksredner Jean Jaures übergeht.Die stärksten Geister verraten ihr schlechtes Gewissen , ineiner Welt Geist zu haben , deren Drang Zolas Tagesordnung :Ein Genie darf überhaupt nicht witzig sein“ kennzeichnet,und die Becque oder Barbey, die witzigen Schlemihle derLiteratur, als Sonderlinge haßte.D ie Gegenwart hat die Schriftsteller zu Spezialisten ge

macht und den Witz zum Gewerbe . Sogar Oscar Wilde, dasSchreckenskind , ist nicht ohne den verstimmenden Hintergrund zu denken , nicht ohne das Witzblatt „Punch“ , das ereinen Beweis für das Überleben des Thersites genannt hat.Daher die Exzentrizität von Oscars Solonummern , etwaj enes Spaßes aus Branntweinkneipen in Texas : Man bittet,auf den Klavierspieler nicht zu schießen , da er sein Mög

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Frau von Kalergis .

ber Marie von Mouehanoff - Kalergis hat ein englischerDiplomat geschrieben : „Eine Persönlichkeit gab _

es inBaden - Baden von so auffallender Art, daß ich versucht bin ,sie zu schildern . Es war Madame Kalergis, eine Kusinezweiten Grades von meinem Vater, von Geburt eine Deutsche! eine Nesselrode) , durch Heirat Griechin , der Erziehung nachRussin , im Herzen Polin ! die Nationalität ihrer Mutter). Siewar schön , vom blondesten Blond , von nahezu sechs Fußhoher Gestalt. An Verstand

'

glieh sie einem Staatsmann , anmusikalischer Begabung konnte sich keiner unserer Musikfreunde mit ihr messen . Eigenschaften , um derentw i llenihre Gesellschaft stets begehrt, ihr Pariser Salon von allenwissenschaftlichen , musikal ischen und politischen Größenbesucht war.“

Théophile Gautier hat in der Symphonie en blanc maj eurdiese Weltbürgerin gefeiert . Als eine der Schwanenfrauenvom Rheinstrom erschien sie dem romantischen Tizian, die,wie die nordischen Sagen erzählen , ihr Federgewand an einenZweig hängen und in noch liehterer Nacktheit dastehen , al seine Schwester Seraphitas, gleich dem Mond auf Gletschernschimmernd , als Madonna vom Schnee , als weiß e Sphinx ,unter der starren Wucht der Lawine begraben . So rätselhaftwar ihre unbewegte Ruhe ihm , daß er fragte, wer diesergnadenlosen Weiß e einen rosigen Hauch werde abzwingenkönnen . Im „Romanzero“ umschwärmte Heinrich Heine mitdem Aufgebot von Bildern , das er bei solchen Obsessionenfand , die große D iana und den stolzen Ban ihrer Glieder. Erreimte , sie zu verherrlichen , Pilaster und Alabaster, Tabernakel und Makel , er pries sie als Gott Amors kolossal e Domkirche, als Kathedrale der Liebe , als die Gräfin Bianca imFrankenland , um die sehnsuchtsvol l der weiß e Elefant von

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Siam traure . Niemand wagte es; der germanischen Slawineine andre Unvollkommenheit vorzuwerfen als ihre Kurzsichtigkeit. Beim Sprechen pflegte sie ihre großen blauenAugen zuzukneifen . Aber auch dieser kleine Fehler erhöhteden Eindruck ihrer Person .

Schon als Kind war Frau von Mouchanoff in die Unruhehineingeraten , die später ihr Lebenselement wurde . IhreEltern , Graf Friedrich Nesselrode, russischer Generalleutnantund Kommandant der Gendarmerie in Warschau , und GräfinThekla Nesselrode, geborene Nateez von Gorska , trenntensich . Die Mutter zog nach Paris , wo sie 1848 starb . Mitzehn Jahren wurde Marie nach Petersburg geschickt, insHaus ihres Onkels, des Reichskanzlers Grafen Karl Nesselrode , der in der ganzen Familie das hervorragendste Beispieldafür war, wie man , mit lauter deutschen Ahnen , eine Stütz edes Zarentums wird . Seine Gemahlin , eine Gurj ew , hattestrenge, altmodische Sitten . Mit den Töchtern , den nachmaligen Gräfinnen Chreptow ich und Seebach , wuchs dieblonde Mari e auf. Ihre ein bißchen wilde Lustigkeit, ihrmädchenhafter Reiz , ihr musikalisches Talent verschafftenihr manche frühe Huldigung ; aber auch Neid mischte sichein , denn ihren Kusinen war sie unbequem . Als man schon

davon sprach , daß sie als Pianistin sich eine Existenz werdesuchen müssen , meldete sich ein reicher Bewerber, ein Grieche,der kleine , häß liche Herr von Kalergis, dessen Name nochan die Besitzer des venezianischen Palazzo Vendramin erinnert, besuchte ein paar Abende den Salon der Tante und sahsich die drei Komtessen Nesselrode an . „Die große Blonde“ ,

sagte er, „gefällt mir am besten , und ich wünsche sie zuheiraten .

“ Dann folgte die bekannte Szene aus französischenSchauspielen , in der man j ungen Damen mitteilt, was übersie beschlossen worden ist. Marie wil l sich empfehlen , dahört sie ihre Tante rufen : Bleiben Sie , ich habe mit Ihnen

10*

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zu reden . Herr von Kalergis bittet um Ihre Hand. Er istein braver Mann, er hat ein stattliches Vermögen, und ichglaube Sie werden mit ihm glücklich sein .

“ Die kleine Brauthat keine Wahl . Vielleicht, daß die Plötzlichkeit sie auf fünfMinuten verwirrt. Aber sie denkt an Federn, Diamanten undKaschmire, die das Glück der Jungvermählten sind , und siefreut sich, so schnel l dazu zu kommen . „Stellt euch vor, ichbin verlobt !“ berichtet sie im Schlafzimmer ihren Kusinen ,die lachend entgegnen : „Ach, wie amüsant !“

In der Kapelle des Ministeriums des Äußeren wurden Herrund Frau von Kalergis vermählt. Nach ein paar Monatenwiederholte sich in Mari ens Ehe, was sich in der Ehe ihrerMutter erreignet hatte : die Trennung wegen unlösbarer Mißverständnisse . Im Januar 1 840 wurde eine Tochter geboren .

Herr von Kalergis zog zu seiner verehrten Mama nach London , wurde englischer Bürger und änderte seinen Namen inKalergi um . Er lebte bis zum Sommer 1863 . Seinem Todeging ein langwieriges Leiden vorauf. Er starb al lein . Frauvon Kalergis erkundigte sich in einem Briefe, ob denn füreinen priesterlichen Beistand in der Todesstunde gesorgtworden sei, und fuhr fort : „Nun wird diese arme , unsteteSeele im Schoß e Gottes Ruhe und Frieden gefunden haben .

Er war sehr wohltätig und hat wissentlich niemandem etwaszuleide getan . Seine Neigungen waren harmlos , seine Überzeugungen manchmal widersinnig, doch immer edel , undobwohl er unter seinem Mißtrauen gegen die Menschen gelitten hat, l iebte er die Menschheit und nahm am Leidenanderer teil .“ Zwei Jahre vorher hatte die nun VerwitweteHerrn von Mouchanotf , der im Rang eines Obersten standund Polizeimeister der Stadt Warschau war, kennen gelernt.Sie war damals „traurig , verdrossen , entmutigt“ . Die Toggenburgerei des Russen schien ihr kindlich . Sie glaubte, er werdeauf andere Gedanken kommen , wenn er erst das trostlose

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Verrates an dem Volke ihrer Mutter. Sie war immer eineFeindin der Russen gewesen . In Paris hatte S i e vor Zorngeweint, als sie mit Thiers und zwei russischen Damen sichüber Politik unterhielt, und bei einem Diner in Warschau ,das Herr von Mouehanotf ihr und seinen Freunden gab ,hatte sie den Russen voll Erbitterung eine Lektion erteilt

„Es ist töricht von mir, daß ich mich über Sie ärgere , meineHerren , denn Sie gehören keinem zivilisierten Lande an , undSie ahnen nicht, was die gute Gesellschaft ist, von der man

hier keine Spur findet.“ Sie hatte Papiere von Verschwörernbei einer Haussuchung in . ihrer Hutschachtel versteckt undmit den Jünglingen und Damen Warschaus sympathisiert,die in schwarzen Kleidern um das Unglück ihres Vaterlandestrauerten . Nun bedurfte es einer seelischen Reaktion , bevordie entnationalisierte Aristokratin zur Gegenseite gehörte . Siew arf sich noch später vor, daß sie durch ungerechtfertigteVerzweiflung , durch ein Jagen nach Chimären gefehlt habe .Aber sie beruhigte sich im Gefühlsaustauseh mit ihrer TochterMarie , die in Paris mit dem kaiserlichen und königlichenGesandtschaftsattaché Grafen Franz Coudenhove die Eheschloß , und ihrem stets korrekten und zuverlässigen Schw iegersohn . Sie hielt Marien vor, daß si e nun als ÖsterreicherinWerke über österreichische Geschichte lesen müsse : „ I l fauttouj ours se faire pardonner d ’etre étrangére dans un pays .“Als Coudenhove sich vom diplomatischen D i enst zurückzog ,erwarb er Ronsberg in Böhmen und errichtete dort ein Maj orat .Frau von Mouehanotf riet ihm dazu ; es sei am besten , wennder älteste Sohn reich und unabhängig sei, um durch diesenEinfluß seine Brüder zu fördern . Graf Coudenhove solle ausj edem seiner Söhne einen Spezialisten machen , nicht einenDilettanten . „Sie sind unzufrieden mit dem Ministerium ,

so dozierte sie, „Sie glauben vielleicht, daß es in Österreichsich nicht lohnt, sich mit dem politischen Leben zu befassen .

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FRAU VON KALERGIS 1 55

Aber Sie wissen nicht, ob Ihre Kinder derselben Meinungsein werden .

“ I n Wien war dem Paare der erste Sohn geboren worden . Es ist Heinrich Graf Coudenhove - Kalergis,

der Zögling von Kalksburg , der D iplomat und Japaner, derin Tokio Fräulein Mitsu Aoyama heiratete

,zwei seiner Söhne

Mitsn toro und Eij ro nannte, bevor er sie in Johann undRichard umtaufte , mit der Schrift : Über das Wesen desAntisemitismus“ an der deutschen Universität in Prag promovierte und im Mai 1906 verschied .

Frau von Kalergis - Mouchanotf hatte das halbe Europa ges ehen , den preußischen König und deutschen Kaiser Wi lhelm , den Kaiser Napoleon , den S ie wie den General Cavaignacentflammte, und bei dessen Paraden sie hoch zu Roß dahergesprengt kam , die Kaiserin Eugenie , die sie in Baden zuihrem Extrazug geleitete , den Baron Rothschild , bei dem siesonpierte, den Zaren Alexander, den Großfürsten Konstantinund später in Warschau den Kaiser Franz Joseph , den passionierten Bärenj äger. Sie war die Intima Gortschakotfs, siekannte seit der Petersburger Zeit Herrn von Bismarck, den„angenehmen Gesellschafter“ , dem sie schließlich auch seinerücksichtslose Größe verzieh ! obwohl sie von der Königinund Kaiserin Augusta wußte , wie sehr dieser der Staatsmannverhaßt war), und sie beklagte den stoischen General Moltke,als er seine j unge Frau verlor. Sie hatte Kaulhachs Glanzerlebt, und sie ließ sich im Alter von Leubach malen , zudessen spirituellsten Werken das Porträt dieser noch immerschönen , langsam verwitternden Frau gehörte . Sie ahnteBöcklin , der noch kein gewaltsamer Kolorist, sondern einelegischer Lyriker der Landschaft war, und Nietzsche , den

„charmanten Professor aus Basel“ , der sie nur zu „metaphysisch - pantheistisch“ dünkte . Sie, die Warschauer „Theatermutter

“, war die Schutzpatronin von Musikergenerationen .

Sie weinte beim ersten Akt des „Lohengrin“ , den König Max

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1 56 FRAU VON KALERGIS

von Bayern in München aufführen ließ , sie verkehrte mitWagner in Paris , wo er sich mit Rossini zankte , wurde dieFreundin des theatralischen Gesamtkünstlers, der ihr seineSchrift widmete Das Judentum in der Musik“ . Sie warbei den Proben zu den Meistersingern“ . Sie saß mitWagnerund Frau Cosima in Triebschen , wo sie die Skizze zumParsifal “ las und Wagner sich in sächsischem D ialekt gegendie Verleumdung wahrte , daß er ein „Cassanova“ sei. Siehörte in München den „Ring“ und wohnte bei Wagners inder Villa Fantasi e zu Bayreuth , das schon zu einem „neuenMekka“ sich Wagners , des Musikkaisers,

„Agentin im Slaw enlande“ nannte sie Liszt, dem sie schon

in Warschau nähergetreten war, als er die Fantasie : „Nochist Polen nicht verloren improvisierte , und dem sie alsleidenschaftliche Schülerin anhing . Sie wurde, als sie verwelkte , ein wenig stark , sie lahmte und ging auf Krücken .

Plus fée d’esprit que j amais“ , nannte der Abbé Liszt die weißeSchwanenfrau kurz vor ihrem Tode . „ I l est plus aisé d ’alleran devant de la mort que de supporter les peines de cettevie“ , äußert sie in einem ihrer letzten Briefe . Der Don Quiehotte Herr von Bülow saß , al s sie starb , im Nebenzimmer amFlügel und spielte der schon Verklärten die magischen Melodien des Polen Ch0 pin vor .

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einer zarten Schweizerin , Ruth Hofer, hatte sie ihn ertappt.Und dann fand man zweiundv ierzig Briefe , in denen der„\Niederaufriehter

“ des Gottesreichs seine Geliebte anredete :Mein Klumpen Gold“ oder schwor : „Der Herr hat D ich demersten Apostel der christl ich - katholischen Kirche gegeben ,und ihm gehörst Du .

“ So oft er von einer Scheidung hörte ,schrieb er der Unbekannten , sie solle zu ihm kommen erwerde für alle sorgen . Indezente Gesten sollte er biblischmaskiert haben . Und in seinerWohnung stöberte man einenHaufen französischer Bücher auf. Auch zweifelte man anseiner Mission , weil er einen Schlaganfall gehabt hatte . Danngeschah im Bethaus von Zion City die Katastrophe . Er wurdetobsüchtig . Ein paar Riesen mußten ihn überwältigen undin Fesseln wegführen . Er wurde entthront .Er war ein hysterisches Genie . In seinen Versammlungen

schmetterten Trompeten das Halleluj a dem großen Baalzu Ehren . In ein er Toga m i t weit herabfallenden Ärmelntrat er auf; er hatte ein Bäuchlein , obwohl er das Schweinefleisch verbot, er warf sich auf die Knie , er schnob undlachte wie die Besessenen der Evangelien , in die der Geistder Säue gefahren ist. Aber derselbe Mann ließ , um seinerB onbonfabrik einen Riesenabsatz zu sichern , den inspiriertenZahnarzt von Zion City erklären , es sei ein Irrtum , daß Cariesder Zähne vom Genuß von Süßigkeiten herrühre : „Gebeteuren Kindern Candy und genieß t sie selbst !“ Elias Dowiewar ein Prophet und ein Industriekapitän großen Stiles .

Das Mormonentum ist eine Sp ielart des Kommunismus ,und es ist nicht die j üngste . Im September 1 907 haben dieHeiligen der j üngsten Tage ihr achtzigjähriges Jubiläum gefeiert . Am 22 . September 1827 grub Joe Smith im HügelCumora bei Palmyra die „heiligen goldenen Tafeln“ aus ,

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PROPHETEN 1 59

deren Versteck ihm des Engels Finger sehon vier Jahre vorher bezeichnet hatte . Und auf die Nase setzte er sich dieWunderbrille „Urim und Thummim“

, die keine Gläser hatte,sondern durchsichtige Steine . Mit ihrer Hilfe las er, der desLesens unkun

'

dig war, die Tafeln und die Zukunft. D iese

„goldenen Tafeln“ sind ein Roman , dessen Autor ein verabschiedeter englischer Priester war, und dessen ManuskriptSmith von einem Buchdrucker Sidney Rigdon , einem seinerglühendsten Jünger, empfing. Sie beschrieben, wie Lehi , einJude , zur Zeit der Könige aus Jerusalem nach Amerika kam ,

wie sein Sohn Laman Stammvater der Rothäute wurdeund Nephi Stammvater der Christen , zu denen der auferstandene Heiland selbst gereist i st . Aber dann gerieten dieNephiten in Verfall . Mormon , dessen Name „mehr als gut“

heißen soll , war ihr Führer und ihr Held .

Bis zum Jahre 1847 haben Smith und seine Getreu en gegenihre Widersacher sich behauptet. Sie wurden verj agt, weilsie sehr boshaft waren . Eine ihrer Städte wurde zerstört,und nur nach ärgster Mühsal gelangten sie zum Großen Salzsee, von dessen Bezirk einst der Erzengel Gabriel mit seinerPosaune zumWeltuntergang blasen wird . D ie Rothäute botenihnen die Friedenspfeife an , und ein Häuptling zog mit seinemStock Runen in den Wüstensand , um die Fremden die Elem ente der Kanalbaukunst zu lehren . D ie heilige Schar gründete ihr Reich . Sie machte auf die Raubtiere Jagd , die inden Bergen lauerten, wich den Tomahawkschw ingern aus

und wehrte die Un ionstruppen ab . D ie Organ isation derneuen Gemeinschaft versprach , „glückliche Heimstätten aufErden“ zu schaffen sie ist schlau und tyrannisch . D ie

Mormonen zahlen ein Zehntel ihres j ährlichen Einkommensoder werden wegen Abweichungen aus der Kirche ausgestoßen“ , wurde noch 1895 verkündet. D ie Reichtümer derHeiden sind dem Volke Gottes geweiht, „das aus dem Hause

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1 60 PROPHETEN

I srael i st“ . Die Kolonie war eine Sammelstätte, in der man

sich auf die Ankunft des Herrn vorbereitete . Der Gemeim

besitz war nicht lückenlos . Den kleinen Besitzern , die ihresWeinstocks und ihres Feigenbaums auf bibli sche Art sichfreuten , wurden Zugeständnisse gemacht. „Binde das Kalbzu Hause an , und die Kuh wird sich nicht verirren ; wo einesMannes Besitz ist, da wird auch sein Herz sein“, wird inden Heiligen der Felsenberge“ eingeräumt . Schon in derheroischen Zeit gab es ein Zuchtmittel . Neben den hierarchischen Stufen , der höherenMelchisedeks und der niederenAarons, neben der Präsidentschaft, den Aposteln , den Patriarchen , den Ältesten war die Gilde der Dan iten“

, der „Engelder Zerstörung“ , al s Kriminalpolizei tätig . D ie Mitgliederdurft en mit den „Anßenstehenden

“ Geschäft e nicht abschließen . Die Widerspenstigen prügelte der Teufel . DieHand des Herrn wurde gegen sie erhoben , bis si e in SackundAsche Buße taten .

“ D ieVielweiberei wurde durch BrighamYoung geheiligt, dem der Engel offenbarte, die Kinder derGeister seien der irdischen Körper, der Tabernakel“ , bedürft ig , weshalb der Mormone sich möglichst vi ele Frauenansiegeln

“ solle . Viel leicht steckt eine monströse Freehheitin diesem Einfall des Mannes, der die Gemeinde in den Kapitalismus hinüberleitete , der unterschiedslos ein Faß Branntwein , einen Regenschirm und zwölf Milchkühe als Geschenkannahm und zwei Millionen Dollars , siebzehn Frauen , sechsundvierzig Kinder hinterließ . Vielleicht ist das Gebot dieSelbstpersiflage des Aposteltnms, dessen Grundsätze auf denTraum der buddhistischen Mönche hinausliefen : „Sie warenglücklich , saßen und wurden click .

In neuer Zeit haben es die Mormonen am Salzsee zu einemmaurischen Badehaus mit einem dreitausend Quadratmeterweiten Tanzpavil lon gebracht. Sie sind Großaktionäre undlassen die Missionäre für sich arbeiten

,die aus dem „Stän

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die mit Bibel und Schirm spazieren , dankt die SalvationArmy ihre Regel des direkten Angri ffs , der „Bearbeitung“

der Menschen . Psalmengesang unter freiem Himmel , Plakate an den Mauern mit der ri esigen Überschrift : „Come toJesus now“

: das alles war schon da . Es wurden auch schonin Freiheit dressierte Sünder herumgereicht , die sich zumEvangelium zurückgefunden hatten und laut erklärten : „Ja,meine Brüder, ich bin ein öffentli cher Sünder gewesen, nunist mir die Gnade des Herrn zutei l geworden .

“ Aber erstder General Booth hat das Verfahren der „Erweckung“ zurVollkommenheit gebracht.“ Bei den Methodisten war ursprünglich sein Amt. Dann verliebte Miß Catherine Mem ford ,

eine Antialkoholistin , sich in ih li , w eil er in einer frommenTeegesellschaft das Gedicht Der Traum des Sehnapshändl ers so begei stert vortrug . S i e heirateten , sie bekamen eineachtbare Zahl von Kindern , und sie gründeten die Heilsarmee, die „Halleluj a - Rotte“ , die mit wütender Inbrunst undTrommelw irbel um die Seelen versteckter Sünder rang . Ander Spitze ihrer Getreuen zogen sie in die Massenquartiereund „retteten“

. Kein Milieu wurde für den Bekehrungsaktverschmäht ; die Straße , die Stube , das Eisenbahncoupé warendie Stätte des religiösen Wunders . Fauchend wichen vorihren Psalmen , ihren Teemarken , ihrer Gymnastik , ihrenTraktätchen die Kreaturen der Hölle zurück .

Der gute Booth war der echte Geistliche für „dissentersfür die Schäflein der freien Kirchen , und sein Stil der fossile , j udäische Posaunen stil, mit dem vor Zeiten die MauernJerichos erstürmt wurden . Er kämpfte gegen den Stolz derAmoriter, den Neid der Hethiter, den Zorn der Pheresiter,die Schwelgerei der Girgasiter , die Wollust der Hevither,

die Habsucht der Kanan iter, die Lauheit der Jebusiter. InLondon , in Washington , in der Heimat der ChristianScience“ , der Gebetsheiler , ward sein barockes Eifern mit

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PROPHETEN 1 63

freudigem Hallo begrüßt. Wenn er vor der Höll e warnte,wenn er die „daughters of sharne“, die Töchter der Schande,mit väterlicher Geduld strafte , wenn er „vom weiß en Throne“

Gottes sprach und von den „goldenen Straßen“ des Himmels,da bediente er sich des Lexikons der großen Puritaner. Ersagte, wie er einst allein gestanden habe in der Finsternis ,wie der Teufel frohlockte, wie das Volk dahinstarb, bis erin den Ozean des Lasters hineinsprang. Und es waren dieMetaphern Bunyans , des Kesselflickers und Verfassers der

„Pilgerreise“ , der , wie um 1880 der Salutistcngeneral, um1680 mit Bildern von Lagern , Trompeten , Fahnen und Garn isonen sich in religiöse Ekstase versetzte und nach Macaulayden goldenen Himmel sich lärmend und glanzvoll dachtewie das alte London am Lord - Mayorstage. „Sind Sie in Ordnung ? Oh, oh , what are you doing ? Beeilen Sie sich? Kommen Sie zum Kreuz !“ Und wenn der Salutistcngeneral unterdem Tusch der Kapelle und schmetterndem Tirel i der Mädchen seinen Platz räum te, war es , als habe man die Karikatur eines Menschen aus Cromwells kriegerischem Jahrhundert geschaut.Der Tag, an dem die Fuhrerschaft aus den Händen des

Alten auf Bramwell Booth überging, hat die heroische Zeitder Sekte beendet. Die Mystik, di e Taine für wohltätig erachtete, weil die Überzeugung , die in ihr lebt, unterdrücktsich in Schwermut und Aufruhr verwandeln würde , verfliegt.Als eine ri esige Konsumgenossenschaft wird die SalvationArmy ihre ökonomische Macht behaupten . Shaws Heilsarmeestück Maj or Barbara“ und die Einleitung dazu , voneinem irischen Skeptiker mit dem Geschäftssinn eines Vollblutengländers geschrieben , ist die erste Kritik dieser neuenHeilsarmee, dieser Heilsarmee ohne William Booth .

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Eugen ie .

i e j unge Eugenie Guzman y Palafox und ihre SchwesterPaca wurden zuweilen von Monsieur Beyle, den Mon

sieur Mérimée eingeführt hatte, aufs Knie genommen . Erschmunzelte so onkelhaft, daß sein i tal ienischer Fleischerkopf trotz des dicken Bartes den kleinen Mädchen gefiel ,sprach ihnen vom Kaiser Napoleon und gab ihnen einenbunten Bilderbogen , die Schlacht bei Austerlitz . Bei Salamanca war ihr Vater verwundet, unter dem siebenten Ferdimand zum Granden erhoben worden . Die neuen und tönenden Titel eines Grafen von Teba und Montij o , Herzogs vonPenaranda, rollten hinter dem heraldischen Namen , den nundie Witwe , Maria Manuela Kirkpatrick , die Tochter desschottischen Südfruehthändlers , in London und Pari s , inspanischen und französischen Seebädern zur Schau trug . AlsEugenie dreizehn Jahre alt war, schrieb sie von Madrid anMonsieur Beyl e einen Brief, worin sie ihm mitteilte, daß ihrVaterland durch d en Karlismus sehr erregt sei, aber alle Wel tden Fri eden wünsche . Sie lerne j etzt malen , und sie undihre Schwester hofften , lachen und arbeiten zu können wiein früherer Zeit. Paca berichtete , ihre Altersgenossinnenseien dumm und hätten nur Sinn für Klatsch und Toiletten .

Dann zeigte sie, daß für sie selbst wie für Eugenie der historische Unterricht durch Monsieur Beyle nicht nutzlos gewesen war : Sie müssen j etzt sehr zufri eden sein, wo man

die Asche Napoleons heimbringen wird . Ich bin es auchund möchte wohl in Paris sein , um diese Herrlichkeit zuschauen .

“ In den August 1840 fä l lt eine Antwort Stendhalsan Eugenie . Wieder einmal war in Barcelona geschossenworden . Monsieur Beyle prophezeite seiner Schülerin , daßsie ihr Leben lang alle vier Jahre einen solchen „petit accident“ sehen werde . Er erinnerte

l

sie an Napoleons Einzug

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66 EUGENIE

Waldesdickicht von Fontainebleau und setzte ihr eine Laubkrone auf den Scheitel . D ie andre kam am letzten Dezember ;sie gehörte zum Kronschatz . Am 7 . Januar 1853 rannte manbei der Fürstin Lieven , die Montij o werde Kaiserin , und als

am 1 2 . Januar Madame Drouyn de Lhuys sie von den Tabourets der Min isterfrauen wies , stürzte der Kaiser auf siezu . Blaß , überreizt, hat sie ihr angenehmes Los empfangen .

Mit Fran von Montij o übersiedelte sie aus der Numero zwölfam Vendömeplatz ins Elysee . Bei der Ziviltrauung wolltedie Herzogin von Hamilton einen Skandal hervorrufen . Inder goldenen Karosse Napoleons und der Marie Louise , unterGlocken sehall, Geschützdonner und Meyerbeermnsik fuhrender Kaiser und die Kaiserin zur Notre Dame . Eugenie hatteeinen Reif von D iamanten und Saphiren , den ein StraußOrangeblüten mit einem langen Schleier krönte . Frau vonMontij o , die vergessen worden war, spei ste bei ihrer Freundin ,der portugiesischen Jüdin Gould . Monsieur Mérimée folgteihr bis Poiti ers . Nach einer Fehlgeburt gab Eugenie demdri tten Napoleon den Erben , dessen Geburt er weinend seinemHofe meldete.Über ihre Tage ergoß sich damals die unmäßige Helligkei t

des Korsos zum Bois de Boulogne , für die der Zola von „LaCurée“ die feineren Künste der Goncourts und der Pleinairisten belauscht hat . In welken Anachronismen lebte nochdie Gesellschaft des ersten Kaiserreichs und der Restaurationszeit . Eine Mumie , lag die Bagration auf ihrer Ottomane hingestreckt , in Gazeschleiern , im täuschenden Zwielicht schwerer, gelber Vorhänge , und das hochmütige Faubourg SaintGermain saß bei seinen hochmütigen D iners . Aber in denTuilerien begann der Glanz von neuen Göttinnen . Die Metternich, um die ein hitziger Krieg tobte , schuf die Mode derkurzen Röcke , schuf den Tanz „D iabl e ä quatre“ und laneierte den Damenschneider Worth. D ie Kaiserin , der die.

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EUGENIE 167

Reine Pesth“ und Madame Risquenville“ nur Folie war

,lud

das Spiritisti sche Medium Hume ein und hörte den PaterVentura . Sie brachte hochgehackte Stiefeletten ,Herrenkragen ,

Herrenman schetten , die türkischen Westen , die Entoutcas,die Garibaldibldse, die Basehliks und die grüne Farbe derEau du Nil . Sie schnitt an der Stirn ihr flammendes Blondhaar ab , das ihr die Kurtisanen neideten , W i e S ie der Span ierin die Schwärzung der Augenlider nachgeahmt haben .

Großäugig und kühl , in der Pose die sie auf dem Repräsentationsbild von Winterhalter einn immt, tändelte Eugenie mitdem Beispiel der MarieAntoinette . Sie war eine Schottindurchaus, keine d

Amaégui, zu der die romantische Jugendvon 1830 gebetet hätte, und auch keine fleischliche Isabella.

Von der komischen Oper und den Lustspielen Scribes , nichtmehr von Monsieur Beyle, hatte sie ihren Geist ; aber als eineaus dem Stamme der Bovary , gegen die sie das Tribunalaufbot, war sie bestrebt, I llusionen über ihre Natur zu erregen . Als die Bombe Orsinis vor demWagen geplatzt war,der das Paar zur Oper , zum Gastspiel der Ristori , hattetragen sollen , z errte sie den Kaiser , der mit den Verwundeten reden wollte, zum Theater und prahlte mit der Gefahr.Sie triumphierte als die schöne Frau mit dem Baby, sieschwärmte für Orsini , den „Mörder in Glaeéhandschuhen“

,

schluchzte um ihn , verlangte seine Begnadigung und wolltein die Conciergerie des Gefängnisses eilen . Daß sie nach

politischer Macht dürstete, hatte schon die Wöchnerin verraten , der man die dem Adler im Jardin des Plantes aus

gerupfte Feder holen mußte, womit der Pariser Friede unterzeichnet werden war. Und erraten hat es der preußischeBundestagsgesandte von Bismarck , der die Tuilerien sehrbeschäftigte und von Eugenie schrieb : „Ungemein graziösund lieblich und fabelhafte D iamanten“, aber an Manteuffeldas Urtei l eines französischen D iplomaten über Napoleon

1 1*

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168 EUGENIE

und seine Gemahlin berichtete : Der Mann da verdirbt uns ,er läß t einmal Frankreich wegen irgendeinerLaune auffliegen ,

die die Kaiserin bei ihrerFrühstückstafel vorbringt ;manmüßteihnen ein Kind machen , um sie zur Vernunft zu lenken .

Donna Eugenia beharrte , auch als das Kind da war, beiihrer Unvernunft. Sie gab mit einer Wendung ihrer vonheißen Troubadours bespähten Schultern die Signale derEintracht und der Zwietracht. Den Titel einer Regentinwollte sie schon im Orsinij ahr, da die Schmeichler sie alsMaria Theresia und Blanche de Castille feierten . Erfüll t hatihre Hoffnung das Jahr 1 87 0, dessen Krieg sie mit dem nun

wahrhaft andalusischen Schrei : C ’est ma guerre !“ erzwang .

Dann nahte der „petit accident von dem einst MonsieurBeyle ihr geschrieben hatte . Doch sie ward sich des Orakel serst bewußt, als der General Mell inet ihr sagte , daß die Gardedie Tuileri en nicht schützen könne . Sie tau sehte ihre violettgefütterte , mit Gold besetzte Pelerine von Worth gegen einenschwarzen Mantel ein , zog über ihr goldblondgefärbtes Haareine schwarze Kapuze von Virot und zerknitterte ein tränenfeuchtes Batisttueh . Sie floh , von den Gesandten Metternichund Nigra eskortiert, durch den Pavil lon de Flore und dieGaleri e du Louvre . Wie seltsam !“ flüsterte sie, als sie dasTableau von Gérieanlt sah , den „Schiffbruch der Medusa“.

Endlich waren die Irrenden am Straß entor. Mit derVorlescrinLebrun stieg si e in einen Fiaker, der nach dem BoulevardHaußmann raste . Ein zweiter Wagen trug sie nach der AvenueMalakoff zu dem Staatsrat Besson , vor dessen Wohnung sie,durch Chloralhydrat verheert , auf die Holztreppe niederstürzte , ein dritter nach der Avenue de l’lmpératrice, zu demamerikanischen Zahnarzt Evans , der si e nach dem SeebadDeauvi ll e transportierte . Unterwegs , in Riviére - Thibou ille,

bekam sie eine Stube in einer sch lechten Herberge. „C’est

vraiment trop dröle“ , schien ihr, und sie lachte krampfhaft .

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1 70 RENAN

wandt, predigt der Vorsitzende von j enen Magiern , die Gold ,Weihrauch und Myrrhen schenkten . Er weissagt ihnen einFiasko , falls sie wiederkämen : „Sie wären des allgemeinenStimmrechtes Opfer. Das allgemeine Stimmrecht ist augenscheinlich eine schöne Sache . I ch glaube, die drei Königehätten sich besser in der Bretagne vorgestel lt . Da hätte mansie denn sie waren echte Idealisten wohl gefeiert.Zweifel los . Man hätte sie einstimmig zu Herrschern j enesKönigreiches gewählt, dessen Glieder, dessen treue Untertanen wir alle sind , des Königreiches der ewigen Chimäre .Dann fügt es sich beim Ze rschneiden des Kuchens, daß sichdie Bohne in Renans Stück befindet, und Renan kommt zuEnde : „Mein Gott ! Wahrhaftig ! Da sehe ich j a , ein bißchenspät, daß ich , al s ich auf Balthasars Wohl trank , auf dasmeine getrunken habe . Wahrhaftig , das rührt mich ! Ichbin also König ! Mein Zeichen i st die Bohne ! Welch köstliches Königtum ist das der Bohne ! Vielleicht gab mir’s derZufall .

_Aber ich bin glücklicher, als wenn ich durchs all

gemeine Stimmrecht gewählt wäre ! Trinken wir denn aufdie Bohne ! Auf die Magier und den Wald von B roeéliande !“Wie Spuk läßt sich das an , mit einer solchen Szene stirbtder konventionelle Renan , ein anderer, der andere, wird wach .

Dieser andere ist Märtyrer in einem tieferen Leben als indem äußerlichen , das er herzlos - eifersüchtig sich ordnete .Ein sparsamer , braver , niemals übelwollender Bürger, i ster fortdauernd so verwelkt, daß er lange den Weg zu sichselbst verlor und einsam der Umwelt ein von schüchternerHöflichkeit verzerrtes Doppelgesicht z eig en mußte , daß er inder L iebeswärme seiner für ihn sterbenden Schwester keinGeschenk sah, daß ihn fröstelte, wie viele Bezirke der Verwandlung er auch wandelnd betrat. Niemand hat des gutenGreises Unglück geahnt, n iemand bemitleidete ihn , daß , wenner selten , ganz selten die dröhnenden Gottgloeken seiner Prä

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RENAN 1 71

existenz schwingen hörte , di e Leere ihm erwi derte . Als blas

phem ische Tändelei wurde verleum det, w as doeh seiner Seelegl ühendstes B lutgebet war, w as in weibischem Seufz en einigeMomente flacherte, um schnell ers tickt zu werden . Al s ein

Duldender, Heiliger hat er, der großnasige, kurze Bauernpriester, dessen Hände dem Kriti ker Georg Brandes verrieten„La science est roturiére“

, in sein em Arbeitszimmer gekauertund di e Besucher an gelächelt. Sogar bei den Goncourts sindseine Ausbrüche mi ßverstan den worden , und al s frivol - freigeistiger Gelehrter von Autorität und Jahr en maski ert , als

typische, wächs ern starre Panoptiknmfigur mi t bandgezier

tem Knopfloch ist er im Gedächtnis sein er Volk sgenossengeblieben , der ein armer, zerri ssener Verbannter w ar.

Siebzehn Jahre hatte der bretonische Student der Theologie, al s Auguste Comte sein Sy stem erbaute , das den Euthusiasmus mi t dem kah l en Verdammni snrteil beseitigte :

„L’

observation intéri eure engendre presque autant d ’

opini ons

divergentes qu ’il y a d ’

individus cro_

van t s’

_

v livrer.“ Der Zög

ling des Abbé Frilair hatte noch mi t Erinnerun gen an dieRaubvögel sein er Berge geg en weltli che und geistliche Vergewaltigung geschäumt. Der Zögling des schlauena anloup

kam in laschere Hän de und pries sich einen Begünstigt en ,

weil er der staatli chen D re ssur entgan gen w ar . Aber derSchutzb efohlene des Sankt Yves un d wi lden Sankt Ronan ,

das Knäblein , dessen Hemdchen di e alte Gode üb er denTeich legte, um zu prüfen, ob es lebenverheißend schwi mme ,wu rde durch die Epoche seiner Heimat, se inem Wesen entfremdet. Die Kathedral e Pabu - Tual , des grani tene VVah rzeichen von Trégu ier , schi en dem Heranwachsenden dieUrsach e seiner Verfälschung . Der Kampf, der di esem Seminaristen die Reinheit und die Unschul d des naturhatt en Ge

mütes raub te, war ohne starkes Echo , di e Niederlage ein esvon j eher Entwafi’

neten . Nur leise hat er geklagt , als ihn

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RENAN

wandt, predigt der Vorsitzende von j enen Magiern , die Gold ,Weihrauch und Myrrhen schenkten . Er weissagt ihnen einFiasko , falls sie wiederkämen : „Sie wären des allgemeinenStimmrechtes Opfer. Das allgemeine Stimmrecht is t augenscheinlich eine schöne Sache . I ch glaube, die drei Königehätten sich besser in der Bretagne vorgestel lt . Da hätte mansie denn sie waren echte Idealisten wohl gefeiert .Zweifellos . Man hätte sie einstimmig zu Herrschern j enesKönigreiches gewählt, dessen Glieder, dessen treue Untertanen wir al le sind , des Königreiches der ewigen Chimäre .Dann fügt es sich beim Zefé ehneiden des Kuchens, daß sichdie Bohne in Renans Stück befindet, und Renan kommt zuEnde : „Mein Gott ! Wahrhaftig ! Da sehe ich ja , ein bißchenspät, daß ich , als ich auf Balthasars Wohl trank , auf dasmeine getrunken habe . Wahrhaftig , das rührt mich ! Ichbin also König ! Mein Zeichen ist die Bohne ! Welch köstl iches Königtum ist das der Bohne ! Vielleicht gab mir’s derZufall . Aber ich bin glücklicher, als wenn ich durchs allgemeine Stimmrecht gewählt wäre ! Trinken wir denn aufdie Bohne ! Auf die Magier und den Wald von Brocéliande !“

Wie Spuk läß t sich das an , mit einer solchen Szene stirbtder konventionelle Renan , ein anderer, der andere, wird wach .

D ieser andere ist Märtyrer in einem tieferen Leben als indem äußerlichen , das er herzlos - eifersüchtig sich ordnete .Ein sparsamer , braver , niemals übelwollender Bürger, i ster fortdauernd so verwelkt, daß er lange den Weg zu sich

selbst verlor und einsam der Umwelt ein von schüchternerHöflichkeit verzerrtes Doppelgesicht z eig en mußte, daß er inder Liebeswärme seiner für ihn sterbenden Schwester keinGeschenk sah , daß ihn fröstelte , wie viele Bezirke der Verwandlung er auch wandelnd betrat . Niemand hat des gutenGreises Unglück geahnt, niemand bemitleidete ihn , daß , wenner selten , ganz selten die dröhnenden Gottgloeken seiner Prä

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72 RENAN

das grell nüchterne Paris und das Internat verschlangen

„der j unge Bretone ist schwer zu vemflanzen“, hat er

später geäußert und nach der unwiderruflichen Entchristlichung, von der er wie die Jahrhundertkinder bekannt hat

„Der Zusammenbruch meines Lebens hinterließ in mir einGefühl der Leere, ähnlich dem nach einem Fieberanfall odernach einer verratenen Liebe.“ Im Jahre 1 848 dann schriebder Lehrer am College Stan islas Ernest Renan das „Avenirde la Science“ , den Kanon der „Menschheitsw issenschaft“ .

Wie Auguste Comte die „néeessité sociale“ über die Instinkteund Träume der einzelnen ! ‘

S etzte, machte der j unge Bretoneeiner neuen Religion , der „natürlichen Religion“ , sich untertan . Er begrüßte d ie Revolution als Ende des Zeitalters derSpontaneität, dem Pedantenwahn einer bewußten B attonalisierung des Weltprozesses lieferte er sich aus . Die „Citéde D ieu éternelle“ hatten auch die politischen Utopistenvor ihm auf die Erde ziehen wollen . Aber er frevelte an

dem Wirklichkeitssinn des französischen Landes , wenn erNatur und Histori e als unsittlich , ihren Mechanismus alseinen ethischen Skandal verwarf. Sein Begehren zwar warnoch immer „ la eonquéte de l

idéal“ . In seinem Scheintriumph und in bleichen Ängsten behalf er sich mit derkargen Ausrede, die Ungerechtigkeit werde durch ein Lebenim Jenseits getilgt. Er wurde ein laizisierender Pfaffe .Indessen hat seine adelige Persönlichkeit diese Beruhi

gungsmittel nicht ertragen . Der tote Enthusiasmus in ihmzüngelte empor. Doppelt, durch vergeblichen Volksaufstandund nachher durch den brutalen Krieg, der ihm „die sittlicheDelikatesse der Ulanen und die unleugbare Vorzüglichkeitder preußischen Granaten“ beibraehte, strafte ihn das Schicksal. Das Reich der Vernunft wurde in Stücke gehauen , derrationale Optimismus zerprügelt. Als das zweite Kaisertumdie Staatsdemokratie ablöste, hat der W issen schaftspr0 phet

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RENAN 1 73

des „Avenir“ , der schon dort die Kaste der D enker von derMasse schied , zaghaft sich zurückgezogen . Er hat die einzigeNutznießung , die im verhängnisvollen Hegelschen Prinzipdes Werden s‘

f für ihn lag, beachtet und ausgeführt, das germanische, auf der Geschichte ruhende Recht müsse das revolutionäre, gallische , abstrakte Recht wiederum verdrängen .

Als durch die preußische Garde der liebe Gott der vaincudu j our“ ihm geworden war, als er seine zürnende SchriftLa réforme intellectnelle et morale“ hinau ssandte, war seineTheodizee gänzlich zermorscht, die Entthronung vollendet.Jedoch dieser Träumer rettete sich in eine Theodizee desFiehers und des Wahnwitzes, auch in seinem tragischen Irrtum ein enthusiastiseher Dulder, der vornehmer ist als dienamenlose Entgeistigung, wovon er sich abhebt. Es klingtwie der Klaggesang in den Gassen einer von Pompej is Untergang bedrohten Stadt, als nahe der Troß der Barbaren . Die

erschöpften Intellektuellen , sie , die vom Schatten eines Schattens leben , verabschieden sich , und im Abschied packen sie

die Hoffnung ein , daß die Menschheit trotz des j etzigenElends die I l lusionen auch künftig sich bereiten werde , dienotwendig sind, damit sie ihr Schicksal erfülle . Also blitztder Fatalismus auf, den Renan sich durch den Götzendienstder Vernunft umdunkelt hatte . Er sehnt sich in dasWeltall ,das unaufhörlich im Schmerz der Gestaltungen sei , überquellend wie ein weites Herz von ohnmächtiger und zielloserLiebe . Er predigt in Hymnen, obwohl in Hymnen des Schauders, vom Menschen , der wie ein Gobelinarbeiter an der Rückseite eines Teppichs webe, dessen Zeichnungen er nicht kenne,vom Menschen , der j auchzend sich unter den Wagen desDaseins werfe wie die blumenumflochtenen Inder unter denWagen ihres Jugurnath . Er feiert das Geheimnis von Lebenund Bewegung, die nur ein kleiner Lärm seien , „un intervallede bruit entre deux silences“ . Dann aber schmettern ihn

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1 74 RENAN

die groß enWahrheiten nieder. Er sagt, daß die Menge unreif sei und ein Zustand , wo sie sämtlich klar schauen , nudenkbar. Der entlaufene Kleriker will eine Aristokratie derWeisen konstruieren . Sie erhebt er zu einer „incarnationde la raison“ , zu einem unfehlbaren Papsttum . Er wünscht ,daß die Fürstenkaste der Zukunft sich durch Grausamkeitender Chemie verteidigen solle , spricht dialektisch von höherenMaschinen anstatt der existierenden Tiergattungen . Er keuchtaußer Atem Vermessenheiten von dem einen allwissenden ,allmächtigen Wesen , dem Ziel der gottschöpferischen Entwicklung , von der hierzu ö

'

rgan isierten Materie , die durchihren brennenden Schlund einen Strom von Wollust verschlucken müsse , der in Sturzbächen des Lebens sich ergösse . Aber darunter lispelt seine des hitzigen Plänkelnsüberdrüssige Gebrochenheit : Consolons - nous , pauvres victimes , un D ieu se fait avec nos pleurs .“ Er würde verzweifeln , wenn er nicht wüßte , daß er nur zwischen Spiegelnfechten muß , und daß er seinen fünften Akt überlebt. Innerlieh ausgewechselt, hält er noch stand , tüftelt er als MonsieurRenan , Zierde der Republik , die Kartenhäuser seiner Dialognes“ fertig . Sacht fällt er, dem Schlaf und der Genesung sich hinzugeben , die rationale Ausschweifung zu vergessen .

W as bleibt, ist keine Purpnrpracht der freudigen Instinkte ,wie sie ohne den Druck des Dogmatismus von 1849 hättesein können , sondern ein blasses Leuchten , ein Spötteln inHeimlichkeit. Die Frage nach dem Kaufpreis des Ganzenbeunruhigt ihn , der sich zum Seher der Gesellschaft dargeboten , als D iener der kollektiven Vernunft sich gezählt,die Himmel erstiegen hatte . Auch als er in den Dialogues“

einräumte , das Ziel der Menschheit, die Erzeugung der großenMenschen , sei das Werk der Wissenschaft, nicht aber derDemokratie , war er ein Flüchtling vom Markte . Jetzt ver

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76 RENAN

auf der Akropolis hat der Enthusiasmus Renans sich wiederhergestellt , sich beseligt.Vom Schicksale der Zentralisierten hat er sich befreit, in

dem er trotzend die Glocken seines unterirdi schen Ichs läutete und aussagte , was den Flachen unpassend tönen mußteLes vrais hommes de progrés sont ceux qui ont pour pointde départ un respect profond du passé .

“ Er lobte , gelbePapiere seiner Jugend sammelnd , mit Tränen des Alters dieentfärbten Wolken , die kalten Brunnen , den Nebel und dasMeer, die den Möwen gastl iche Küste ; als Möwe flog seineSeele nach dem fernen Gesfade zurück . In seinen geschmei

digen , klaren Stilmalereien härmte ein n ie sühnbares Leidum Erlösung , das Frostgefühl einer Waise , deren Kindheitan mächtigen Steinsarkophagen kn iete . Mit zitternden Händen griff er n ach seinen geschwärzten Heiligtümern , satt,verbergen zu müssen , daß er bei den Bretonen geboren war,dem schwermütigen Volke , welches zwischen Rausch undStarrheit schwanke wie alle Rassen des Traumes , die sich

im Sehnen nach dem Ideal verz ehren . Der Aufsatz über diePoesi e der Kelten verherrlicht die Bretonen als „nne racetimide , vivant toute en dedans , pesante en apparence, maissentant profondément et portant dans ses instincts religieuxune admirable délicatesse .“ Und mit diesen Träumen flossenandere , glänzendere zusammen , die Träume der griechischlateinischen Überlieferungen , denen der Lehrling deutscherGrübler und semitischer Gesetzgeber sich entfremdet hatte .Das i st der Höhepunkt seiner Konfessionen , j enes Gelübdevor der Statue der Athena , auf der Trümmerstadt der Pro

pyläen und des Parthenon , welches Ernest Renan währendseiner Reise von 1865 aufzeichnete . Die Inbrunst des durchdie „pambéotie

“ Erdrückten beugt sich liturgisch der wahrenund einfachen Größe , mit der die Zeustochter ihn begnadet.Abtrünnig dem Moralismus , fürchtet er sich noch , die neue

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RENAN 1 77

Philosophie des Nichts, das Letzte männlich hinzunehmen ,er fleht zu Athene , sie möge ihn gegen seine „fatales consei]léres“, die zersetzenden Einflüsterungen , wappnen , nochwill er nicht sich darein finden , daß Gutes und Böses ,Wonneund Schmerz nur sind wie Nuancen am Hals der Taube .Dann aber bricht, halb mit Grauen , halb mit unermeßlicher

Ekstase, das nihilistisch - deterministische Hochzeitsl ied durch ,wogend wie Fanfaren und in Weichheit hinschmelzend ,

dasGebet zum einzigen Gotte , dem Abgrund .

Als Gelegenheitsarabeske eines seriösen Gedankenwerkes

ist der „dilettantisme“ Renans auch da betrachtet worden ,wo man ihn nicht mit seniler Perversität in eins setzte . Gering sind seine Monumente : im „Antichrist“ die Begründungder neron ischen Ästhetik, das Lob des Kaisers , der die Magiedes Chri stentums aufdeckte , als er in der Arena die Christensklavinnen prostituierte ; das Lob aller Frauen, vom Frendenmädchen des Quai de Marseil le bis zur arischen Matrone ,das Prospero ausbringt, und das dramatische Brevier „L

Ab

besse de Jouarre“ . Hier ist das im Sinne des mnckerischen

Eutyphron pornographische Element zum sehrenden Trieberstarkt. Helleni scher Altarbrand glänzt auf : An j enemMorgen tauschten Himmel und Erde Küsse in L iebesversunkenheif die Asphodele waren wie trunken vom Tau , dieGril len schienen krankhaft betäubt von ihrem Sang, und dieBienen taumelten über dem Blütenmeer.“ Jetzt steht der

„ lächerliche Schmutzakt“ , der des Weltalls Ursprung ist, imZentrum , und ungemesseneWonne flattert : „Hätten die Menschen Gewißheit, daß die Welt in zwei bis drei Tagen endenmüßte, dann würde allenthalben die Liebe in Raserei losbrechen ; denn was die Liebe fesselt, sind die gänzlich notwendigen Bedingungen , welche die Erhaltung der menschlichen Art aufgezwungen hat.“ Der Tod im Liebesakt wirdgenannt ein Tod „in den Gefühlen der höchsten Anbetung

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1 78 RENAN

und in der vollkommensten Gebetshandlung“ . Ein Nimbuswird um das arme bretonische Bauernmädchen gebreitet,das im seligsten Liebesangenblicke sich bekreuzigt . Der

Royalist d ’

Arcy ist stets „mit denen , die nach dem Unbekannten streben“ . Die Äbtissin Julia gesteht , sie habe insich das Unbewußtsein getötet, und : „Wir beide haben genuggelebt , um zu lernen , daß auch die Desillusion eine guteGlücksbedingung i st.

An dem Geschwächten , der sechs Jahrzehnte seines Daseins der rational en Tyrannis geopfert hatte , um ein Jahrzehnt des nicht mehr betre genen Enthusiasmus zu ernten ,brauste die Zukunft vorbei . Aber mag nicht auch die Gestedes in Luft zerstiebenden Ariel : „Prius mori quam foedari“

durch ihre Schönheit rühren ?

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180 DER HERZOG VON PORTLAND

stotterte . Der Herzog schritt durch die symmetrischen Taxusalleen bis zu dem von Arbutussträuchern umstandenen D enkmal seines Bruders . Dort verweilte er, hinter einer Lärchegleichsam Schutz suchend , und sehen wie eine Fledermausflatterte er in seinem braunen Mantel durch die Alleen zurück .

Bald hernach erging aus einem unsichtbaren Raum derBefehl , den Architekten Nicholson in einer Kalesche von derBahnstation Worksop zum Schlosse zu bringen . Dann wurden zweitausend Maurer, Zimmerleute und Glaser geworben,die ein rätselhafter Wille in den Souterrains von WelbeckAbbey verteilte . D ie nachtschwarzen , schimmelbedeckten ,

triefenden Keller wurden eine Flucht von Prunksäl en . Aufanderthalb Meilen hin höhlte man die Erde aus . Eine Reitbahn , ein Museum , eine Bildergaleri e entstanden , und mitvielen tausend Kristallen , deren Blitz e in venetian ischen Spie

geln sich fingen , leuchteten die sechzehn Kronleuchter desBallsaals . Mit Marmor“ , so phantasierte 1 883 Vill iers del’

lsle Adam in j enem „Conte cruel“ , das den Herzog Richardvon Portland in einen neuen Lord Byron , in den Angebeteten der lilienblassen Hofdame Miß Helene H . und in denSehieksalsgefährten eines leprakranken Bettl ers vonAntiochiaverwandelt , „mit Marmor und glänzender Mosaik war derFußboden ausgelegt. Prunkgardinen mit kostbaren Fransenumgaben die magischen Säle , in denen die mit dickenWachs

kerzen besteckten , vergoldeten Lüster ein erlesenes orientalisches Mobiliar, Stickereien und Teppiche überschimmerten .

Gruppen tropischer Pflanzen hauchten süßen , betäubendenDuft aus , und Fontänen ri eselten in Porphyrschalen .

“ Unterdem Rasen des Parks , unter dem See vor der Schloß frontli efen Röhren , durch deren Geäst Luft und Sonnenlicht inden Abgrund sich senkte . Stumm gehorchte Nicholson denbizarren Ideen des Auftraggebers

,mit dem er niemals eine

Besprechung hatte ; nur Skizzen und Briefe empfing er von

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DER HERZOG VON PORTLAND 18 1

ihm , mit winzigen , kaum leserlichen Zeichen . Der Abschlußder Bauten war eine falsche, durch eine Steinschicht maskierte porte cochere, die nur, wenn man auf eine Spiralfederdrückte, aufsprang und , als wäre sie nie gewesen , ohne eineFuge in die Fassade zurückwich.

Fünfzehn Jahre lebte der Herzog John William von Portland in dieser unterirdischen Eremitage, mehr Jahre nochals Beckford , der D ichter des Kalifen Vathek, des Astrologen ,im elftausend Stufen hohen Turm zu Fonthill Abbey undBath lebte . Und wenn B eekford von Jägern mit Hetzpeitsehenund der gekoppelten Meute sich eskortieren ließ , so war fürdie Pächter und Bauern in Nottinghamshire zu einzelnenStunden die Straße um Welbeck Abbey verboten . Seltenwurde die Kutsche mit den scharlachroten Vorhängen inWorksop auf einen Güterwagen geladen und dieser dem Zugenach London angehängt. Der erste Kammerdiener sogar desHerzogs war in den Reiseplan nicht eingeweiht . Auch er lasseine Orders von Zetteln , die in einen Kasten der Schlafzimmertür, das Behältnis für die sorgsam zu bügelnden Zeitungen und das sorgsam zu waschende Metallgeld , rutschten .

Das Bett des Herzogs hatte die schweren Türen eines Sarkophags . Und in diesem Sarkophag ist er !nach einer Varianteseiner B iographié) gestorben . Kahl und klein , mit zusammenschrumpfenden Blutmalen lag er in den vergilbten Kissenund lächelte das spleenige Lächeln j enes Sonderlings aus derZeit von Pückler - Muskau , der in seinem Testament bestimmte,daß seine sterbliche Hülle in eins der Parkfenster gestelltwerden solle.

Nach dem Begräbnis meldete sich Ann Mary B ruce, dieSchwiegertochter des in Gott seligen Möbelhändlers ThomasB ruce, der in der stickigen Bakerstreet sein Magazin gehabthatte, und forderte das herzogliche Erbe . Sie wollte Indizien dafür haben , daß B ruce und der Herzog dieselbe Person

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182 DER HERZOG VON PORTLAND

gewesen sei und Ann May, die zweite Frau des Krämers , derLords Titchfield und B entinick gemeinsame Jugendgeliebte.

D ie Porträts, die man von John William und dem wollbär

tigen Thomas B ruce hatte, z eigten eine schwache Ähnlichkeit. Die verwitwete Ann Mary B ruce beteuerte , daß ihremSchwiegervater eine Scheinbestattung zuteil geworden sei ,und heischte mit der krankhaften Redseligkeit d er Quernlauten die Öffnung des Silbersarges . Aber die Kirchhofsverwaltung widersetzte sich . Und dann wurde Ann Mary B rucevon Verwandten überholt, die, im Bunde mit gewerbsmäßigenEidsehwörern und den Namen des menschenfreundlichenRomanciers Charles Dickens profanierend, ihr die Legendeaus den zusammengekrampften Zähnen ri ssen . Sie büßteden Rest ihrer Vernunft ein und wanderte in das I rrenhausvon Colney Hateh , hinter dessen Gittern und in dessen B auerbädern sie ihr schrilles Lied unermüdlich w eitersang.

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84 TAINE

die Pflege, die Hypertrophie des Wissens : „Von dem Bodenunseres Skeptizismus haben wir einen Tropfen vergifteterFlüssigkeit heraufgeholt, der ein Meltau für allen unserenGlauben sein wird .

“ Noch dem ganz Reifen ist‘

die Ge

schichte eine Totenstätte, die ihn an die steinerne Niobein Florenz mahnt. Die Aufzeichnungen des Stoikers MarcAurel sind sein „ livre de chevet“ . Mit fünfundzwanzig Jahrenempfiehlt er seinem Freunde Suckau , dem Kaiser eineStudie zu weihen . Aber so nahe er der Entmutigung , so sehrer gefährdet war, nie wurde das Gesetz seines Daseins angegriffen .

„ Im Grunde meinesWeséns“ , schrieb Hippolyte Taine einmal , als er Verwandte in Réthel besuchte, „finde ich etwasRéthelhaftes, den espri t de famille .“ Die Schwestern seinesVaters wurden in der kleinen Stadt geboren und starbendort, einzige Freundin war ihm seine Mutter. B ann sah erin seiner Kindheit, anstatt getünchter Mauern , geheimnisvolle Wälder um sich her. Einem Sammelbuche über dieArdennen gab er das Vorwort : „Alles , was man nachherphantasiert, hat dort seine Heimat, alles scheint sogardort zu sein , wie wenn der volle Tag der Morgenröte niemals gleichen könnte . Welcher berühmte Fluß hat den Wertdes kleinen Baches , in dem man zum erstenmal die Wallungender Flut ihreArabesken kräuseln und mit Silber sich befransensah , wo n iederhängende Weidenzweige daran rührten ?Welcher prächtige Park übertrifft an Reiz die ärmliche Wiese ,auf der man als kleines Kind stil l stand , um Winden undButterblumen zu pflücken ?“ Er beschrieb die dunklen Holzhauer der alten Wälder und ihr „ stummes , seltsames , animalisches Leben , voll wunderl icher Träume und Legenden“ .

Der Schüler zögerte im Schatten der Weiden von Saint - Germain , nahe der blinkenden Flut, und als er im Zwänge sichvergessen sollte , sträubte er sich mit einem haltlosen : Ich

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TAINE 185

l iebe so viele D inge in der Natur .“ U nd überraschender,

j äh , elementar, wied erholt sich dies Bekenntnis : „ Ich fühltemein Herz klopfen und meine ganze Seele vor Liebe zu demso schönen , so ruhevollen , so großen , so bestrickendenWesenerzittern , das Natur genannt wird .

“ Noch der Wanderer inden Pyrenäen „zittert“ vor dem Meer und den Bergen . Inseiner Sehülersch rift deutet er an , daß seine Transmutationgerade in die Zeit fiel, „worin das Leben mächtig ist unddie Aktivität unhemmbar“ . Unsere Geschichte“ , hat er miteiner Anspielung auf „Rouge et Noir“ geschrieben , „ i st dieGeschichte Juliens im Seminar.“ Er löckt gegen die Rutender gouvernementalen D isziplin und will nicht länger, vonschweren Händen niedergepreß t, im Ordnungsj oche kriechen ,er will nicht ersticken wie die anderen , sondern verlangtFreiheit. Wenn er bis dahin zufrieden war, ein I dyll für

„unsere glücklicheren Nachkommen“ zu ersinnen , die Wissenschaftler und Eigner sein versöhn en würden , entlud er j etzt,durch die ungewissen Vorbereitungen zur „ Intelligence“

schon berauscht, seinen Grimm in dem jugendlichen ManifestIch habe Blei in meiner Jagdtasche, und sobald es zu tödlichenWirkungen angesammelt i st, will ich die Ladung ins Antlitz der o ffiziellen Wahrheit schleudern .

Man hat sein philosophisches Buch als Ergänzung derSchriften von Comte und Stuart Mill betrachtet, vielleichtauch der „experimentalen Physio logie“ Claude Bernards.In Wirklichkeit hat der Professor Taine zu al ledem nuräußere Beziehungen . Er ist auch kein Michelet ! der, vonVictor Hugos d emagogischem Wein trunken , die Analyseverwarf und das „unbewußte Ahnungsvermögen“ des souveränen Volkes rühmte) . Er hört den Gesamtchor der Lebenden . Er hört nicht ein Fragment, sondern das Lied der „großenSeele“, die „groß e Stimme“ , die tausendfältig befehlend diekleine Stimme verstärkt, und die Natur, die er auch in ihrem

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86 TAINE

Wahnsinn und ihren Entartungen liebt . Der Denker Tainekniet vor dem Instinkt, der mehr sei als die Idee . Man betont, daß er das Milieu“ zur Geltung gebracht habe, und verschweigt , daß ihm selbst dieser Faktor nur einer von vierenwar, daß die herrschende Eigenschaft“ , das Dumpfe , Unerfüllte , als wichtigster Faktor zuletzt steht. Man betont, er habedas Genie entfernt ; aber er hat die „großen Typen“ gepriesen .

Und dieser leidenschaftliche Kult entstand nicht erst mitseinemWerk über die „Ursprünge des z eitgenössischen Frankreich“ und dem Hymnus auf die stolze Raubbestie Napoleon ,die sich plötzlich auf die

zahme Herde der Wiederkäuergestürz t habe , auf „den ursprünglichen Geist“ von j ungfräul ieb em Blut, von neuer Rasse , den Schöpfer im Ideal undim Unmöglichen . Sie brauste schon durch seine Adern ,als er in der „ I talienischen Reise“ auf die Seite des isol iertenMenschen trat, den die Ausdehnung unterbinde , als er denWiderhall tragischer, heldischer Unternehmungen nachfühlte , der in dem griechischen Epos hehe.

Die Künstler und Philosophen hat er als eine höhere Menschenart von der Masse geschieden . Aber oft hat selbst dieseBrücke geschwankt. Dann war ihm seine kritisch - historischeEhrfurcht die lächerliche Manie von Literaten , die Pedanteri evon Anatomen . Er starrte, während er von Tintoretto redenwollte , auf die unbeschreibliche Inspiration , die in den aktivenGehirnen vor sich geht, auf die außerordentlichen Momente ,die Jahre, Landschaften und Vorfälle wie ein Strahl überzucken , auf das Mysterium der imaginären Welt. „Eines istdem Menschen not,“ so verkündet dieser große und klareGeist, „der Respekt vor der lebendigen Quel le, die er in seinemInnern birgt. Jeder von uns behüte die seinige , er hindere,daß sie gestört oder verschüttet werde, und lasse sie strömen ;der Rest, Werke, Ruhm und Macht, kommt von selbst undim Überschwang .

“ Oder in der I talienischen Reise“ , in den

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1 88 TAINE

l e poitrinaire exalté , ä présent, l e luron positiviste.“ Denn

dieser positivistische Anatole Durand ist ebenso das Musterseiner Epoche, wie der René Chateaubriands, der JulienStendhals und der Moreau Flauberts ihre Epoche dargestellthaben . Man betrachte, wie Durands „éducation sentimentale“

durch den guten Herrn Graindorge gezeichnet wird : „MeinVater behauptete, daß ein französisches Kol leg eine Kasernei st und nichts weiter darin gelernt wird , als in den Gängen zurauchen und sich die Freundschaft der hübschen j ungenDamen zu wünschen , die in der Rue Cadet zwischen elf undzwölf Uhr nachts gelenkig tanzen .

“ Das ist die Begeisterungder B urands : „Der Exzeß ängstigt sie, sie kanalisieren ihreLaster. Sie sind Bourgeois , die sich vor allem nicht langweilen und noch weniger sich exponieren wollen .

“ Aber siehaben den Staat, die Durands ; im nächsten Monat werdensie als Supernumerare in das Finanzministerium eintreten ,fünf Stunden täglich Federn spitzen , von dem Platz e inesUnterchefs oder von Beurlaubungen träumen „ et seront äla hauteur de leur siécle“ . Einmal j edoch entschlüpft Tainedem Gehrock des Herrn Graindorge, die Szeneri e von Krinolinen , rosigen Sofakissen und Dinertischen verschwindet ,und trauernd klagt er : „Zwischen zwanzig bis dreißig Jahrenerwürgt der Mensch mit vieler Pein sein Ideal ; dann lebter ruhig oder wähnt, ruhig zu leben , aber diese Ruhe ist dieRuhe einer Kindesmörderin , welche die Erstgeburt ihresLeibes getötet hat .“ Doch die Journal isten hielten das Buch„Leben und Meinungen des Herrn Frederie Thomas Graindorge“ für ein Feuilleton und m einten wohl , es sei keinesvon den besten .

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Der Deutsche .

rst aus Entwürfen und sehen verborgenem Nachlaß hatman die Schriften Heinrichs von Stein zusammengestellt

und auf den tiefen Sinn gebracht, der in den schweren Augenseines edlen , alle Merkmale der oberdeutschen Rasse tragenden Kopfes leuchtete . Er war unter der Gemeinde , die Wagnerum sich versammelte, unter den Ideologen , die sich währendder achtziger Jahre mit dem Traum von einer deutschenKultur trugen , die rührendste Gestalt . Aber er bleibt auchvorbildlich für al le Schwächen des deutschen Denkertnms

und für seine vergebliche Mühsal .Rasch strömte sein Leben dahin . Er stammte aus einem

altfränkischen Adelsgeschlecht, dessen Überlieferung er imBewußtsein hegte, als er in sein Tagebuch schrieb : „Wie absurd in unseren Tagen sich der Waffendienst auch ausnimmt,ich hätte doch einen ausgezeichneten Offizier abgegeben .

Er fing mit einem geläuterten Christentum an , woriner seine spirituale Sehnsucht zu beruhigen gedachte ; dannriß er sich los und eilte den Naturwissenschaften zu . Indühringian ischem Geist war die erkenntnistheoreti sche Dissertation „Über Wahrnehmung“ gehalten , die er an der Berliner Universität verteidigte ; 1878 erschien , unter dem Pseu

donym Armand Pensier, sein Erstlingswerk , die „LyrischePhilos0 phie

“, die der Verleger in die „ldeale des Materialis

mus“ umtaufte. Er reiste nach I ta lien und lernte Malvida

von Meysenbug kennen, die zart e alte Dame, die Generationen hindurch ihrem Glauben an die „unablässige Entfaltunginneren Reichtums“ sich widmete . Fran Förster- Nietzscheerklärt , daß ihr Gatte, der Teutomane Bernhard Förster, vonStein das Wort Goethes gebraucht habe : „Nnn genießt er imAndenken der Nachwelt den Vorteil, als ewig Tüchtiger undKräftiger zu erscheinen ; denn in der Gestalt, wie der Mensch

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1 90 B ER DEUTSCHE

die Erde verläß t, wandelt er unter den Schatten , und sobleibt uns Achill al s ein ewig strebender Jüngling gewärtig .

Auch Malvidas opfermütige Wachsamkeit wurde für Steinerregt. Ihre geistige Mutterschaft begleitete ihn zu Wagner,der ihn anzog , seit er die Meistersinger“ gehört hatte .Durch Vermittlung des Fräuleins von Meysenbug trat erals Erzieher für Siegfried Wagner in das Haus Wahnfried

ein . Im Herbst 1 880 wurde er aus der Nähe des Meisters ,aus Italien , durch seinen Vater nach Halle abberufen ; er verziehtete auf das wertvollste Gut, dessen er teilhaft ig gewor

den war, und kehrte zurück, um einige Jahre lang in dumpfem , fieherhaftem Schaffen sich zu erschöpfen . Seit demHerbst 1 882 wechselte er, in Schopenhauers und WagnersZeichen , Briefe mit Nietzsche , den er in Leipzig aufgesucht,aber nicht getroffen hatte . Sein Ungemach wiederholte sichgegenüber der Natur des mitternächtlichen Wanderers“ , derdas Ereignis seiner „großen Loslösung“ hinter sich hatte ,immer neuer Friedlosigkeit entgegengehetzt. Das M ißver

ständn is gewährt im Wechsel von Neigung und Flucht, inn igem Bedürfnis in Steins Seele und angstvollem HochmutNietzsches ein unsagbar deprimierendes Schauspiel. B erAutorder Fröhlichen Wissenschaft“ schickte an den Hallenser Dozen ten Bogen , deren Empfang dieser mit der Sendung derzwö lf historischen D ialoge „Helden und Welt“ erwiderte, dieer nach dem Beispiel der Renaissaneeszenen des Grafen Gobineau ersonnen hatte. Und Nietzsche äußerte : „Wi e kannman nur ein deutsches B uch lesen ! Ah , Verzeihung l I chtat es selber eben und habe Tränen dabei vergossen .

“ ImMai 1884 dankte Stein dem Eremiten , den es in Genua undVenedig fröstelte , für deri dritten Tei l des Zarathustra mitden unvergänglichen , in einer Sprache voller Inbrunst nachgedichteten W elthymnen des Giordano Bruno .

Die Einladung nach Sil s —Maria erfüllte Steins kühnste Hoff

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von Byrons Worten . O love, 0 glory !“ Sein Weib war dieSchicksalsj nngfrau, d ie ihn zur Eile mahnte , sein Besitz warder Schmerz , den er als den ernstesten und vollkommenstenEinblick in die Systematik des Alls feiert. Er büßte eineSchuld, die er nie begangen hatte, er wurde ausgelöscht, damit sich an ihm der stolz e und leise Spruch bewahrheite,womit Gobineaus Michelangelo die Marchesa Colonna tröstetCe qui va disparaitre, ne disparaitra pas tout entier.

Die Schrift en Heinrichs von Stein sind keine bloß e Phi losophie ; denn er sträubte sich dagegen , daß die Welt in Formeln zu fassen sei . Er erlag als Philosoph dem Zwange derKunst und sah in einer Wolke dureheinanderfahrender Vögel ,im w indbewegten Gezweig eines Baumes , in der wohlum

grenzten , tiefblauen und schön beruhigten Meeresfläehe eininnerliches W iss en von der Welt . Die metaphysische Deutung des Priesters , die ethische des Philosophen , die ästhetische des Musikers sind ihm in eins zerflossen . Alles Heilsollte die sinnlich - übersinnliche Schönheit des Unendlichenschenken , dem er mit dem Gelöbnis : „Der Drang ist unendlich“ und mit unendlichem Empfinden sich überantwortete .Das „ innere Licht“ , das Außerordentliche durchscheint dieFiguren seiner Gespräche, die Figuren Schillers und desarmen Winckelmann , dessen Ekstase Stein glühender nochals der Platoniker Walter Pater geschildert hat. Er wollte,daß der Mensch über sich selbst hinaus gelange . Sein Heldenbegriff durfte nicht anders denn tragisch sein ; er faßteihn , in Wagners Sprache , als drangreiches Wähnen und betonte den heroischen Charakter dieses Wahnes. Im D ialogbuch spricht er die Erkenntnis aus , daß nur im Ich der Zugang zum „gewaltigen , dunklen Hintergrund der Dinge“ demMenschen offen stehe.Aber hier i st zugleich das Moment, das Steins Philosophieuntauglicher als die Nietzsches gemacht hat. Er hatte nicht

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DER DEUTSCHE 1 93

den Trotz seines älteren Genossen , an Lehren zu glauben ,die „wahr, aber tödlich“ sind ; er bog den „Amor fati“ , dieLiebe zum tötenden Schicksal , in Quietismus um . Zu wuchtigwar für seine leidenden Sinne das Mysterium , das der starreHebbel als Notwehr des Alls ausgelegt hat, das Gesetz , welches das Ich, „eh

’ es tiefer dringt“ , vernichtet. Darum interpretierte er die Orestestragödie trostsüchtig als das Gleichn is der Möglichkeit, aus einer allumfassenden Gewalt, auseinem Element des Elends aufzutauchen , und las aus Shakespeares „trugvoller Magie

“, aus diesem freiesten , wildesten

Menschentum , daß es die Ahnung des guten Menschen“

verkünden wolle . Er nahm den Helden als den Heiligen ,strebte nach Versöhnung, Erlösung , Seligkeit ; das Heilige ,die Freude, der Glaube an die Erlösten wogen ihm sein verlorenes Leben auf. Er heftete sich an den Wagner der Spätzeit, den Wagner des „Parsifal“ , von dem Nietzsche abfiel.

Er pries die Liebe, das Mitleid als Kulturmacht, als Trägerj ener Regeneration , die der Mann in Bayreuth gefordert hatte .Er opferte sich , opferte auch die Konsequenzen der neuenMetaphysik und hinterließ der Zeit eine Botschaft, die j eglichen Einwand zum Schweigen bringt : „Was in euch bangeatmet, wird in anderen freier atmen . Es mußte aber einmal zum Atmen ansetzen und eine Brust zuerst bewegen ,

und das geschieht nicht ohne Not und Drang.“ Er hat sichverzehrt, damit sein Schmerz als „geheimnisvoll weiter wirkendes Werk“ hier und da auf gleichen Pfaden gehendeMenschen befreie .

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Reklame .

er Heilige der Reklame ist noch immer Phineas TaylorBarnum , das Genie des Jah rmarkts . I n Bethel wurde

er als Sohn eines Farmers geboren , und als sein Erzeugerstarb , mußte er sich Schuhe leihen , um am Leichenkonduktteilnehmen zu können . Die Amme Washingtons verhalf ihmzur Entdeckung seiner speziellen Talente . Es war eine Negerin mit Namen Joice Heth , die hundertnndsechzig Jahre seinsollte . In Wirkli chkeit hatte sie den General Washingtonniemals gesehen , denn sie war nur halb so alt . Barnum j e

doch machte etwas aus ihf. D ie ganze neue Welt erfüllteer mit ihrem Ruhm , allerorts hörte man sein betäubendesFeldgeschrei , und in Gedanken an Washingtons Amme erhoben sich die Newyorker monatelang aus ihren Betten .

Als Joice starb , bekam sie einen Nachfolger in d er Persondes italienischen Stelzenkün stlers Vivalla . Damals erfandBarnum den Trick des Wettkampfs , von dem noch heuteall e Zirkusdirektoren leben : er engagierte einen Amerikaner,der mit Vivalla nach festgesetzten Bedingungen und um tan

send Dollars sich zu messen hatte. Ein freudiges Hallo began n , eine unbekannte Möglichkeit war geschaffen . Aber derOrganisator Barnum ersti eg den Gipfel erst, als er ScuddersKuriositätenkabinett kaufte . Mit diesem Museum menschlicher Abnormitäten bereiste er die Zonen , und überal lhintrug er Verblüffung , den Irrsinn der Sensation . D ie Prachtexemplare waren der Zwerg General Tom Thumb, das tätow ierte Ehepaar, die Meerj ungfrau von den Fidschiinseln , derPudelmensch, der Mensch mit dem steinernen Schädel , derGlasfresser, derExpansion smen sch, der Mann mit der Gummihaut und die Dame mit dem Vollbart . Als die „AssociationBarnum“ sie war bereits zur Fima Barnum und Bai leyumgewandelt vor zehn Jahren Mitteleuropa abgraste, hatte

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1 96 REKLAME

dann schleppte man ihn weg . Auch zu den Rothäuten drangSarah Bernhardt vor. Sie begrüßte den IrokesenhäuptlingSonne der Nacht“ , der Lumpen, Spirituosen, Nadeln undZwirn , Schweinefett und Schokolade verkaufte . Sie triebauf Eisschollen , feuerte eine Mitrailleuse ab und ging durchdie Schl ächtereien von Chicago . B rillan tendiebstahl, Bahnattentat, Einsturz einer Brücke sofort nach dem Passierendes toll gehetzten Zuges ,W ildwestdemonstrationen des Publikums in der Stadt Mobile, eine Darstellung der „Kameliendame“ , wobei die papierne Rückwand z erreiß t, durch dieSarah und ihre Begleiter die Köpfe stecken , wagehalsige

Kletterpartien unter den Gießbächen : das Register ist vollständig. Und alles überwachte Mr. Jarrett, der groß e Im

presario mit dem silberhaarigen Agamemnonk0 pf. Er hattemit irgendeinem Menschen Streit wegen eines Kontraktes fürdieselbe Jenny Lind und sagte , indem er auf sein rechtesAuge wies : „Sehen Sie sich dieses Auge gut an, Herr, es liestIhre unansgesproehenen Gedanken .

“ Der Mensch feuerteseinen Revolver ab , um Mr. Jarretts Gesicht z u zerschmetternaber er streifte ihm nur die Wange, die davon eine Narbebehielt. Zur Antwort schoß Mr. Jarrett seinen Gegner indie Stirn .

Das Hauptvermächtn is des alten Phineas Taylor war industriell und gal t dem gesamten amerikanischen Volke . EinTeil davon lautet : There is nothing like printer’s ink“ ,

„Nichts geht über die Druckersehwärze.

“ Ein anderer Teilbetrt die Reklame mitten in der Straße, zwischen den pa

p iernen Wänden , die er auf die Häuser kleben ließ . EinesTages , als die Leute spärlicher sein Museum besuchten , ger i et er auf den erlösenden Einfall . Für einen Dollar täglichstellte er einen Arbeitslosen an und gab ihm fünf Z iegelsteinein die Hand . Die Ziegel mußte der Mann in wechselnderReihenfolge auf den Boden legen und dazu ein idiotisches

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Gesicht schneiden dann hatte er in das Museum hineinzu

gehen . Bald seharten sich um ihn Hunderte, bald Tausendevon Gaffern , und bald strömten sie ihm durch die Museumspforte nach . Aus dieser Idee Barnums sind die merkwür

digen Straßenfiguren und lebendigen Schaufensterstaffagenhervorgegangen, die in Amerika wie in Europa durch ungewöhnliches Exterieur die Beachtung der Passanten fordern .

Die Sandwichmen , die, vom und hinten mit Plakaten behangen , auf dem Fahrdamm promenieren . D ie Stelzenläufer,die man in Newyork und Brooklyn sieht. Die in strohgelbe Paletots gekleideten , in Gruppen aufmarschierendenHerren mit den papiernen Riesenblumen im Kn0 pfloch. D ie

Damen mit den bedruckten , dem Winter trotzenden Sonnenschirmen . Und in d en Schaufenstern die Männer, die imKostüm römischer Gladiatoren steif wie Puppen dasitzen,andere, die beständig Hosenträger, Patentknöpfe und Kragenprobieren , Frauen , die an ihrer eigenen Haut die Kunst derMassage zeigen , oderFräulein , die verpflichtet sind , an Schreibmaschinen die Automaten mit rosigen Lippen zu spielen .

Später als Barnums Heimat ist der alte Kontinent, denseine lärmenden Horden überfielen , zur Entfaltung einerautochthonen Reklame gelangt . Aber es gibt doch auch hierVorläufer mit überraschend frühem Datum . Nicht in Deutschland

,wo alles schleppte, und wo einer der Kühnsten der

gothaische Zuckerfabrikant Adolphi war, der 1 837 Reklameverschen für seine Bonbons aus gothaischem Rübenzuckerdichtete

,im Geschmack etwa der folgenden Reime : Der

Zucker mahnte sonst an Sklaverei . Wie sollte das nichtschmerzen und betrüben ? Gottlob , es ist damit vorbei , dieFreien leben und die Zuckerrüben !“ Ein halbes Jahrhundertbrauchte es , ehe diese patriarchalische Methode überwundenund das D eutschland des Kö lnischen Wassers , der Hühneraugenringe , der von Plakaten überschwemmten Rheinufer

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und der Lichtreklamen geboren worden war. In Frankreichwar die Entwicklung weniger langsam . Aber schon in dendreißiger Jahren hat in dieser Nation der Lieferanten undGeschäftsreisenden Balzacs prophetisches Genie den „CésarB irottean“ geschaffen , den Reklameroman der P arfümindustrie. Da ist der alte, würdige Held , der sein Vermögen durchzwei Spezialitäten , die Sultaninnen - Pasta und die „Eau Car

m inative“ , begründet hat. In allen Provinzen verbreitet erseine gelben , roten und blauen Reklameaffichen , auf denender Vermerk : „Preisgekrönt vom Institut“ nicht fehlt. Dasorientalische Kennwort rechnet mit der Zeit, die nur vomOrient spricht es ist die.Erfindung eines Psychologen derReklame und die offizielle Garantie kommt dem Zuge derchemischen Wissenschaft, die gerade al lmächtig zu werdenbeginnt, entgegen . Dann erfindet Birottean eine dritte Essenz ,ein Haarwuchsmittel , dessen Ausbeutung er, der Morschende,

seinem Gehilfen und Schwiegersohn Popinot überträgt. ImAnfang läßt Balzac, der sich schon ganz wie Flaubert zuweilen über die menschliche Dummheit amüsierte , ihn diesesHaaröl „Huile Comagéne nennen , nach dem lateinischen

„coma“ , „das Haar“ , und dem Stammwort für „erzeugen“,

und er macht dazu den Witz : Das Wort steht in RacinesTragödie ,Berenice‘, wo ein König von Comagenien vorkommt, ein Liebhaber j ener um ihres Haares willen einstso berühmten , schönen Königin , der sicherlich , um ihr zuschmeicheln , sein Königreich also genannt hat. Wie geistreich die genialen D ichter sind ! Sie geben sich mit den geringsten Kleinigkeiten ab.

“ Jedoch ein anderer entscheidetüber Namen und Schicksal des Haaröls , ein pariserischerBarnum im kleinen , den Balzac mit ganzer Liebe umfängt,Gaudissart, der König der Reisenden“

, der j ugendliche D ik

tator des Article de Paris“ . Er nennt das Öl Huile Cé

phalique“, und er überbietet alles , was B irottean geleistet

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Die Hollenmaschine .

er Pastor Manßbarth in Bremerhaven schrieb gerade ,im fahlen Licht des Sehneehimmels, neben seinem eiser

nen Ofen sitzend , die Predigt über die Botschaft Jesu Christian Johannes den Täufer : „Blinde sehen , Lahme geben , Aussätzige werden rein , Taube hören , Tote stehen auf

“, als Haus

und Möbel von einem furchtbaren Donnerschlage wankten .

Dem Pastor entfiel die Feder, und wie ein Symbolum äng.

stigten ihn nun die Worte, die er soeben zu Konzept gebracht hatte : „Da setzt der Feind an .

“ Durch die klaffendenScheiben pfiff der Dezemberw ind . Mit ratloser Hast stürzteder Pastor die Treppe hinab zum Haustor, dessen Glockeblechern tönte, hinaus auf die von Menschen wimmelndeStraße. Dem Hafen waren alle Gesichter zugekehrt. Eineschwarze, ferne Rauchwolke stieg empor, und schon kamenBoten des Unheils , die Wahnwitzigen ähnel ten , herbeigelaufen . Blutüberströmt glitten einige nieder, andere tanzten wieim Veitstanz , andere bellten , ohne daß ihrer schnarrendenKehle ein sinnvoller Laut gelang .Vor dem Speicher der Kantfahrteigesellschaft sah sich derPastor von der zitternden Hand eines Fremden berührt , derihm zuschrie : „Gehen Sie nicht hin ! Der Dampfer Poseidonist in die Luft geflogen !“ An der Kaimauer erblickte er eintiefes Loch , dessen Umkreis mit Glas, Sand , Stücken menschlichen Fleisches und Fetzen menschlicher Gewandung besäetwar. Hart vor dem Ufer lag das von Dämonen entzweigerissene Schiff . Die hölzernen Kammern waren zerschmet

tert, die geborstenen Türen aus den Angeln gehoben , Glasspl itter über den ganzen blntberonnenen Rumpf verstreut,Eingeweide klebten am Navigation szimmer, Bahren wurdenzu der Landungsbrücke geschleppt. Auf dem Eis des ‚ Vor

hafens ächzte eine Frau , die ihre Beine verloren hatte und

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DIE H ! LLENMASCHINE 20 1

nun mit ihren Stümpfen dastand ; in den Armen hielt sieden dunklen Schal , worein vorhin ihr Kind gewickelt war,und streichelte ihn ohne Bewußtsein . Von einer Familie,die einem nach Kalifornien reisenden Sohn das Geleit hattegeben wollen , war niemand übriggeblieben . Den Leichnameines Inspektors erkannte die Witwe am goldenen Trauring .Der Pastor Manßbarth vernahm von wunderbaren Erret

tungen . Nur die Knöpfe des W interrockes fehlten einemBürger, nur die Vorderzähne einem zweiten , einen Lastträgerhatte die Explosion auf Strohsäcke geworfen , einen Matrosenan die Schiffswand , über der er mit dem Oberleib schwebtedie Toten , die sich um ihn häuften , hatten ihn durch ihrGewicht vor dem Sturz bewahrt. In einer Wiege schafftendie Samariter einen Mann zum Lazarett, der nach der Zerstörung die Tür seiner Kab ine verschlossen und einen Revolver gegen seine Stirn abgefeuert hatte . D ie Tür war gesprengt und die mit noch fünf Kugeln geladene Waffe demManne weggeholt worden . Der Pastor Manßbarth ging , dieSterbenden zu trösten .

Durch die Stadt eilte das Gerücht, daß man der Ursacheder Katastrophe auf der Spur sei . Eine ruchlose Tat sei

hier geschehen . D er Hafenmeister und der Kapitän entsannensich , daß noch in der letzten Minute vor der Abfahrt unterhü und hott ein Frachtwagen herangetrieben worden war,den der Geschäftsführer eines Spediteurs in Bremerhavenzum Dampfer beförderte ; dieser Angestellte und der Kutscherwaren tot, das zur Seite geschleuderte Pferd hatte die Beineoberhalb der Hufen gebrochen und verendete an der Kaimauer. Bald wußte man , daß vier Kisten und ein Faß sichauf dem Wagen befunden hatten . Ein Heizer berichtete,die Kisten seien eben , von einem Tau umschlungen , vomDampfkran an Bord gezogen worden , und die Arbeiterhätten das Faß mit ihren rauhen Fäusten herabgestoßen ; da

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202 DIE H ! LLENMASCHINE

habe er einen j ähen Ruck verspürt, und vor seine Augenhehe sich Nacht gelagert. D ieser Transport also hatte dieExplosion bewirkt . Kein Zweifel war möglich, daß eineHöllenmaschine im Innern gewesen war ; und erstarrendfragte man sich, wer sie habe durchschmuggeln wollen . Allewiesen auf den geheimnisvollen Passagier, der wie einer, derirdischer Strafe zu entgehen trachtet, unten im Dampfer sichzu töten versucht hatte . Noch eine halbe Stunde nach derExplosion hatte er dem Kapitän sich genähert. Er trankaus einer Sehnapsflasche und zeigte wirre, sich abstumpfendeGeschwätzigkeit dann begab er sich in seine lichtlose Kajüte ,auf deren Sofa er, hemdärmelig , mit verschwollenen , blutbefleckten Wangen , die Kugel im Schädel , entdeckt wordenwar. Thomas hatte er sich i n der Liste genannt, Amerikaseine Heimat, Dresden sein Domizil und das Hotel du Nordsein Quartier vor der Einschiffung ; man ermittelte , daß erim Hotel Stadt Bremen gewohnt hatte.Morgens kam er wieder zu sich , und die Personen des Ge

richts erschienen , um ihn seines grauenhaften Anschlages zuüberführen . Mit höhnischer Grimasse murmelte er irgendetwas von zerrüttetem Vermögen vor sich b in ; dann konntesein Geständnis protokoll iert werden . Er räumte ein, in

j enem Faß habe er Dynamit und ein Uhrwerk verborgen ,nach dessen Abschnurren der Sprengstoff sich habe en tzünden sollen . Die Kisten seien sehr hoch versichert gewesen .

Er habe geplant, in Southampton den Dampfer zu verlassenund dem Untergang zu überantworten ; wegen der Torheitder Arbeiter oder wegen irgend eines D efekts habe sich dasDynamit zu früh entflammt. Nun gehe er selbst drauf,aber es sei kein Grund , sich seines Schadens zu freuen . ImLazarett entstand eine wilde Erregung . D ie Kranken drohten ,den Mörder zu lynchen . Es ist wie in der Hölle“ , äußerteein Richter zu Pastor Manßbarth ; und auch in der Stadt

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Der B laubart.

weh ,“ so klagten die Mädchen in der Bretagne, „derböse Blaubart hat die liebliche Gwennola umgebracht,

wie er alle seine Frauen getötet hat. Der reißende Wolf istnicht schlimmer als der wilde Baron , der Bär ist sanfter al sder höllische Baron de Rais .“ Doch j ubelnd schlossen dieMädchen von Pléeur : „D ie Nachtigall erfüllt den Hain mitihren zärtlichen Tönen , die Finken und Amseln singen wiederihre süßesten Lieder. Gilles de Lava] i st nicht mehr ! DerBlaubart ist tot !“ Der Abbé Bossard hat Jahre darauf verwendet, diesen Refrains eine r Sage zu lauschen und zu beweisen , daß der „Barbe - Bleue“ der Feengeschichten vonPerrault der schwarze Marschall von Frankreich sei, der aufseinen Burgen die Kinder mordete . Ein zweites Zeugnisbringt der gelehrte Abbé her, die alte Bal lade von Gilles deLaval , den der blonde Teufel in Gestalt der Blanche d

Her

minie verflucht : Du soll st der Blaubart sein , der fürchterlieb ste der Menschen .

“ Über Tiffauges war, an einer morschen Steintreppe , das Blaubartzimmer zu sehen . In derKirche des heiligen Nikolaus sollten die sieben Frauen unterschwerer, siebenmal geritzter Steinplatte ruhen . Bei La Verriere, im Lande des Gilles , wachsen rings um eine Kapellesieben Bäume gen Himmel . In Machecoul , der Feste , aufder Prelati , der Alchimist, saß und des Laval dürre Schaffnerin , die Meffraie, der Aasgeier, hatte man lange noch Blaubarts Degen aufbewahrt, in Camptocé einen Stein , B laubartsSchädel . Anatole France indessen , der Lateiner, schütteltden Kopf. Er sagt in seinem Märchenbuch „Les sept femmesde Barbe - Bleue et antres contes m erveilleux“ nebenbei , Perranlts Unhold und der geharnischte Dämon hätten ein ganzverschiedenes Antlitz . Man dürfe ihre Personen nicht verwech

seln . Dann nennt er den B laubart .Herrn Bernard de Mont

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B ER BLAUBART 205

ragoux, gibt ihm einen Zeithintergrund , wie nur dieser letztehistori en des Gaules ihn zu ersinnen vermag , und kehrt seinSchicksal ins Gegenteil . Aus dem blutberonnenen Oger wirdfast ein Humanist, ein mißhandeltes , verleumdetes , edelmütiges Wesen .

Schon ein anderer Dichter aus französischem Kulturbereich,der zu mild war, um an den Oger noch zu glauben

,hat in

unseren Tagen den Blaubart zu erlösen versucht. Aber zwitterbaft ist Maeterlincks Welt, in der Gotik und Latinismus sichbegegnen . Er nnterfing sich nicht, mit dem Spuk in deräuß ersten Form der Entscheidung abzurechnen , und flüch

tete in ein dämmermattes, von den blendenden Kataraktender Amethyste, Saphire, Perlen , Smaragde, Rubinen undDiamanten erhelltes Libretto für Dukas . Halberstickt schallt,wenn Maeterlinks Ariane mit goldenem Schlüssel die siebenteTür öffnet, die versunkene Weise der „Sept filles d

Orla

monde“ herauf. Lebend verlassen die lächelnde Selysette,die fahl eYgraine, Melisande im sonnengoldnen Haar, Behangere mit den großen Augen und die fremde Alladine ihr Gefängn is und steigen zum Licht, das durch die Bresche sprüht.Zweimal nur betritt der Blaubart selbst die Bühne ; in einerraschen Szene des Jähzorns und als ein von den BauernGebändigter, der stumm in Arianens Norablick seine Be

gnadigung liest. Nie haben die D eutschen ein solches Bedürfn is gefühlt, den bretonischen Ritter, der si e wie inWahlverwandtschaft anzog , durch neochristliche Empfindsamkeit

zu entsühnen . Sie wollten ihn al s Mörder. Sie ließen demStofi

’ seine Konturen und das Barbarische , das der deutschenGier entgegenkommt, Sinnliches und Geistiges zu vermählen .

„Aus den uralten Tiefen ,“ singt Tiecks Marcello , „ in denenSehnsucht, Schmerz und Wollust brannte“ . Hugo vonWolfs«brunn , der Blaubart des Romantikers , i st einWüterich durchaus, ein grimmiger Verächter, dem das Dasein als ein Puppen

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206 DER BLAUBART

spiel gilt, den Argwohn zerfriß t, und der, im Text des

„Phantasus“ und auf Pergers naivem Stich , recht wie einböser, zerrupfter Raubvogel verscheidet. Eulenberg hat d iesedeutsche Blaubart - Atmosphäre in seinem trotzigen Gemütewiederum erlebt . In seiner hingestammelten , schwelendenVision atmet, was unserer gemeinsamen Jugend am teuerstenwar : der Schauer der Nacht, Wirrnis und Einsamkeit.France i st der Antipode dieses Zustandes . Er ist der Testa

mentsvollstreeker des bon sens , der Schüler des irdischenRabelais . Zwar versagt er sich das rationalistische H ilfsmittel , den Blaubart überhaupt zu leugnen und ihn für einePersonifikation der Sonne -z u erklären . Sein Blaubart i stnicht der falsche Meyerbeer- Brü l ler der O ffenbachiade, deralle Frauen liebt und sich keiner exklusiv widmen kann! „Barbe - Bleue ö gué , jamais veuf ne fut plus AberWitz und Ernst sind in dieser Fabel von Bernard de Montragoux gemischt, der Blaubart heißt, w eil seine rasierteWangebläulich schimmert, und der aus Schüchternheit der Sklavevon Kreaturen wird . Er mordet nicht, der gute cocn sentimental . Nur durch die Fresken eines mit rotem Porphyr

gepflasterten Kabinetts sie stell en die unglücklichen Frauenaus Ovids Metamorphosen dar ist das Geraune von verbotenen B ingen entstanden . Der aus Khn0 pffs Bildern herschwankende Mädchenreigen des Genters , die ChoristinnenYolanthe et Cie ., die Popolanis Maschine elektrisiert , sind beiFrance ein Haufe draller Megären oder von Schwestern derBoulotte . Die Jahrmarktsgauklerin Colette brennt Herrn vonMontragoux durch, Jeanne , das VVeinfaß , plumpst in denBrunnen , Gigonne, die hinkende Bauernmagd , will des KönigsKebse sein und erliegt der Gelbsucht. Blanche , der ein Ohrfehlt , wird von einem ihrer Buhlen erstochen , die dummeAngele von einem Mönch entführt. Alix , die sechste, verweigert die ehel iche Pfl icht . Und die siebente der Sage ist

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Rimbaud .

n der preuß isch - holländischen Grenze leistete Jean - ArthurRimbaud Werbedienste für dieselbe batavische Armee,

aus der er in den Urwäldern Javas desertiert war. Er legtesich einen fal schen Namen bei , und da er von Stuttgart herdas Deutsche notzüchtigte, glaubten viele gute deutsche Jungenden Worten des hohläugigen Lügenschmieds. Das Geld , dasman ihm auszahlte blieb in den Spelunken von Sankt Paulikleben . Statt auf einem Schiff nach dem Orient fuhr er alsDolmetscher des Zirkus Loisset nach Kopenhagen und Stock !

holm , und sein heiseres Geschrei übertönte Trompeten undPauken . Der französische Konsul , bei dem er bettelnd vorsprach , schickte ihn mit der Eisenbahn zurück nach derHeimat, nach Charlevil le . Er stand mit seinem verbeultenKoffer vor der Tür seiner Eltern , gab mit unsicherer Zärtlichkeit seiner Schwester I sabelle und auch seiner gefürchtetenMutter die Hand , träumte, träumte und bekam eines Tagesden Reisévorschuß , nach dem er in verdrossenem Lungerngegiert hatte . Er kletterte durch die Schneelasten der V0gesen , passierte in Goeschenen das Dorf der italienischenTunnelarbeiter, schritt über die weiß en Höhen des SanktGotthard , Rauhreif im Bart und in den Augenbrauen , mitabgestorbenen Ohren , mit geschwollenem Hals , traf unterden Weinbergen von Giornico Trupps von Ziegen , grauenKühen und schwarzen Schweinen , ging an Bord in Genuaund wurde von Ägypten nach den glühenden Marmorfelsen

Zyperns verschlagen . Sechs Monate war er Aufseher derFirma Thial und Co . Keine Erdkrume war in der Nähe,kein Quel lwasser, kein Strauch . Krank fiel Rimbaud um ,

krank wurde er übers Meer zurücktransportiert , und wiederum erblickte er, als er eines Morgens die entzündeten

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RIMBAUD 09

Augen erhob , den Kirchturm und die Mairie von Charlevill edurch die Eisblumen des Fensters .Im regnerischen März reiste er von neuem nach Alexan

dria und von neuem nach dem zyprischen Marmorland. Erwurde beim Bau des Hauses auf dem Berge Troodos angestellt, das für den Gouverneur bestimmt war. Dann suchteer schweifend die Küste des Roten Meeres ab . In Aden , demGlutherd, meldete er sich als W arenagent bei Mazeran , Vianney und B ardey . Sie entsandten ihn nach dem äthiopischenHarrar, j enseits des Dschebel Ahmar und der Somaliwüste .

Dort handelte er mit Kaffee, Duftessenzen , Gold , Straußenfedern , Gummi , Leder und Elfenbein, hat die in Charlevil le ,ihm Fachschriften für Wagenbauer, Gerber, Schlosser,Töpfer,Glasbläser, Telegraphisten und Zimmerer zu besorgen , hatvergebens , schuftete für die ausgedörrten Schikaneure in Aden ,warf ihnen den Krempel hin und schuftete knirschend weiter.Europa versank ihm . Monate entschwanden , ohne daß ereine Zeitung anrührte . Er las den Koran . In seiner Faktoreiwar um ihn eine braune , sanfte Abessinierin , die er von demMissionar Pére Francois und den französischen Nonnenunterrichten zu lassen gedachte ; sie war europäisch gekleidetund rauchte gern Zigaretten . Er machte Bekanntschaft mitMenelik, dem König von Schoa, und rüstete eine Karawanemit Tausenden von Flinten aus, die er dem j akobitisehe

'

n

Häuptling abliefern wollte . Sein Kompagnon Labatut starb ,Fehlschläge reizten ihn selbst. Von Aden aus erbot er sich,dem Temps Artikel über den Krieg der Italiener zu schreiben .

Paul Bourde, ehemals sein Mitschüler, antwortete ihm ineinem Briefe, worin er ihm sagte, er sei , wohl ohne es zuwissen , in Pari s eine Art l iterarischen Gottes ; er fluchte, denndie Literatur war ihm ein Vomitiv. Bald belohnte sich seinewütende Zähigkeit. Bald traute ihm der Enkel Salomos undder Königin von Saba , bald hatte er Vermögen , und es schien ,

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2 10 RIMBAUD

als ob der knabenhafte D ithyrambus aus seinem Höllenpoemin Erfüllung gehe : „ Ich werde mit eisernen Gliedmaßenwiederkehren und mit dunkler Haut, und von meinem Antlitz wird man l esen , daß ich ein Men sch der starken Rassebin . Gold werde i ch mein eigen nennen . Die Frauen pflegendie erschöpftenWildlinge, die in den sonnigen Ländern waren .

Ich werde an den Schicksalen des Staates teilnehmen , ichwerde gerettet sein .

“ Da spürte er mit Unruhe gichtigeSpannungen , wie sie auch sonst Europäer im gewaltsamenKlima von Harrar befal l en . Im Februar, in der Regenzeit,schwoll ihm das rechte Knie an , und ein marternder Schmerzdurchzuckte ihn mit der Wucht eines Hammerhiebs . Erversuchte zu Pferd zu steigen ; aber er fühlte sich j edesmalzerschmettert. Er hinkte . Sein Bett stand zwischen demKassenschrank und einem Fenster, von dem er die Wageim Hofe beobachten konnte . Sein Knie war nun schwer wi eein Steinklotz . Im März entschloß er sich , die Faktorei zusperren . Sechzehn Neger trugen ihn in einer mit einem Vorhang zugedeckten Sänfte durch die bergige Ode nach Zeilah,

und überall bez eugten die Somalis mit Grimassen ihm ihreDankbarkeit. Am zweiten Tag ereilten Regengüsse ihn unddie Karawane ; sechzehn Stunden lag er im Freien , ohneSchutz . Der Dampfer nach Aden schwamm drei Tage aufdem Meer. Gräßlich war die Ausladung . Der englische Spitalarzt, der den Stöhnenden hin und her riß , konstatierte eineSynovitis , die Amputation des Beines zur Folge haben werde .D ie Amputation geschah im Hospital der heiligen Emp

fängn is zu Marseille . Als dem Patienten das Bewußtseindämmerte , saß neben seinem Bett die Mutter, und al s dieschreckensvolle Wunde zu vernarben anfing , hörte er, daßseine despotische Trösterin wieder abgereist war. Tag undNacht weinte er vor sich hin . Er redete sich ein , daß ihm ,

dem Skelett, wegen Umgehung der Heerespflicht in Frank

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2 1 2 RIMBAUD

der August zur Neige ging , begehrte er nach dem Hospitalin Marseil le .Zweimal holperte die Kutsche, in die man ihn packte , überdie Chaussee zur Bahn ; das erstemal brauste der Schnellzug davon , als das Gebäude mit der scheppernden Glockeund den kümmerlichen Dahlien hi nter dem Staket eben inSicht war. Der Moment des Abschieds nahte . Schluchzendwidersetzte sich der Todeskandidat ; die Schwester begleiteteihn . Er lehnte auf den harten Kissen des Waggons , unterdem verstümmelten Bein seinen arabischen Burnus : mit demlinken Ellbogen schob er sich bis zum Fensterkreuz . Erschlummerte ein wenig . Sei ne Augen waren geöffnet, seinemageren Hände hingen herab , seine Haut übersäeten roteFlecke . Unterwegs verirrten ein j unges Ehepaar sich in dasCoupé und Bürgersleute mit lärmenden kleinen Kindern . Inden Städten feierte man Sonntag. Über die glitzernde Seineschossen die Ruderboote. Abends war man in Pari s . Der

Todeskandidat wollte dort die Nacht zubringen . Weil esregnete , nannte er dem Fiaker sofort die Gare de Lyon alsZiel . Er betrachtete durch die trüben Scheiben die leerenBoulevards . Auf der Fahrt nach Marseill e lähmte ihn völl igeAnkylose . Noch ein Viertelj ahr war er im Hospital zur beil igen Empfängnis . In seinen Phantasien rief er : AllahKerim ! Allah Kerim !“ Er prophezeite , er schwärmte vonAmethystsäulen , von Marmorengeln , von den tropischenLandschaften seiner „ I lluminations“ . „Rimbaud , Jean - Nicolas , 37 Jahre , Kaufmann , geboren in Charleville , auf derDurchreise durch Marseille , gestorben am 10 . November189 1 , 10 Uhr morgens“ , notierte der Doktor Nicolas im Spitalbuch .

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Die Beredsamkeit.

ie ist Jahrhunderte hindurch als etwas sehr Erhabenes ,als ein Triumph schulgerechter Bildung gepriesen werden .

Man nannte sie,

Rhetorik und erinnerte sich dabei an diepolitische Blüte des Altertums oder an Bossuet, der von derKanzel donnert und in purpurn wallenden Sätzen den Todder Königin Henriette von England oder des Prinzen Condébetrauert. Erst in unserem Zeitalter hat ein Deutscher, hatHeinrich von Kleist die Beredsamkeit, die Macht, mit Vokalen und Konsonanten die Menschen zu begeistern und zubetö

ren , auf ihren natürlichen Ursprung zurückgeführt. DieAbhandlung steht in den vermischten Schriften , worin derkönigli che Dramatiker so viele gleich Blitzen aufzuckende Erkenntnisse angedeutet hat, und trägt den Titel : „Über dieallmähliche Verfertigung der Gedanken heim Reden .

“ Der

Versuch beseitigt die ganze Lehre von der rhetorischen Kunst.Er gibt nicht zu , daß klare Ideen aus der „Werkstatt derVernunft“ das erste seien und dann sich eine logische Formulierung nach schönen Gesetzen schafften . Vielmehr erscheint die Beredsamkeit als eine Sichtung verworrener Vorstellungen , denen durch das Einmischen unartikulierter Töne ,durch in die Länge ziehende Verbindungswörter, durchAppositionen , die nicht nötig waren , Zeit gelassen wird . sichüber sich selbst klar zu werden . Der Redner bedarf einesFeindes, der ihm die Rede zu entreißen droht, und dessenvermeintlicher Widerstand seine Fähigkeit anspannt, wie dieeines Generals in der Schlacht . „ Ich glaube ,“ liest man beiKleist, „daß mancher große Redner in dem Augenblick, daer den Mund aufmachte, noch nicht wußte, was er sagenwürde . Aber die Überzeugung, daß er die ihm nötige Gedankenfülle schon aus den Umständen und der darausresultierenden Erregung seines Gemütes schöpfen würde,

14

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2 14 DIE BEREDSAMKEIT

machte ihn dreist genug,den Anfan g auf gutes Glück zu setzen .

Man sieht, wie wenig diese Ketzereien dem rhetorischenIdeal entsprechen , das einst in den Kirchen herrschte, dasheute noch in den Parlamenten sich findet, dessen Stundeaber längst geschlagen hat.

!

Der Redner mit den tönendenPerioden ist eine überlebte Merkwürdigkeit . Langsam versinktselbst bei den Franzosen die Sonne des Pathos. Es hatte unterihnen seine höchste politische Gewalt in den Tagen Mirabeaus . Doch eben dieser interessante Bändiger der Massenwar anders als seine Genossen , anders , als ihn die Nachgeborenen sich träumen ließ en . In falschen Farben hat ihnHugo gemalt. Er erzählte won einem Mirabeau , der auf derTribüne wie im Käfig umhergerannt sei, schäumend , ächzend ,mit der Schnlterbewegung eines Elefanten , mit gesträubterMähne, die Hände krampfhaft auf die Marmorplatte gepreßt .In Wahrheit i st der Redner Mirabeau ! und nur dieser, imKontrast zu dem physischen Individuum) kalt und beherrschtgewesen . Niemals rannte er umher, er stand stil l auf seinemPlatz . Nur die letzten Worte seiner Sätze trug er schwerund langsam , mit Lungenaufwand vor, weil er so Mußehatte, an den nächsten Satz zu denken oder mit dem Augedie kleinen Zettel zu überfliegen , die ihm von Freunden hingehalten wurden , und die er eilends benutzte. Er wirktedurch seine Ruhe, die von außen den Eindruck der Leidenschaft hervorrief. Nur einmal hat er vom Rhetorentum sichüberrumpeln lassen . Kleist schildert in seinem Versuch auchdie Szene vom 23 . Juni 1 789, die Geburtsstunde der Revolution , Mirabeaus berühmte, nur durch einen Zufall entscheidende Rede gegen den Zeremonienmeister des Königs .„Vielleicht,“ so meint des Dichters Argwohn , „daß es auf

diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe war oder einzweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich denUmsturz der Ordnung bewirkte.“

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2 16 DIE BEREDSAMKEIT

des schönen Wortes willen Politik treibt.In Frankreich ist dieses schöne Wort bis heute ein volks

tümliches Mittel geblieben . Wenn der Hugenott Fontanemeinte , j ede englische Dame könne einen Roman schreiben ,j eder Deutsche ein Sonett machen oder eine Sonate spielen ,so wird es keinen französischen Abgeordneten oder Ministergeben , dem nicht das schlechte Pathos zu Gebote steht. Einriesenhaft es Fossil unter ihnen ist der Professor Jean Jaures .Als er die Ecole Normale besuchte, setzten ihn seine Mits chüler auf den Ofen und riefen ihm zu : „Woran denkst du ?An nichts ! Dann rede !“ Und Jaures legte los . Eines Tageshielt er in der Klasse des Pf ofessors Bou troux einen Vortragüber Kant, und der Strom seiner Beredsamkeit war unabsehbar. Plötzlich , als es still e war, sagte Boutrouxmit seinemtraurigen , dünnen , bescheidenen Stimmchen : „Nun wollenwir von der reinen Vernunft sprechen !“ Mokanter Geistbrachte Herrn Jaures um seinen Erfolg . D ie Schule Gambettas wird aussterben wie die Schule Gu izots, der pompösim Stile Racines sprach . Die Depntiertenkammer ist nüch

tern geworden , ihre Rhetorik geschäft lich, die dreisten Rednerstören das Arbeitsprogramm .

D ie englische Rednerschule war vom französischen Wesenso völlig verschieden wie die Finsternis vom Licht, wie derHimmel von der Hölle . Cromwell, der Vater der parlamen

tarischen Regierungen , sprach mit gewolltem Verzicht aufKunst. Ich vermag nicht“ , sagte er, „mit Worten spielendauf Ihr Gefühl z u wirken , um damit Tatsachen zu verdnn

keln .

“ Hart, stolz , unnahbar war die Stimme Pitts . Gladstone sprach , nach Lothar Bucher, „wie mit einem Heiligenschein“ . I n der neuesten Zeit i st die Beredsamkeit Chamberlains aufgekommen , der die Zwanglosigkeit des Alltags ,die D ialektik eines Handlungsreisenden hatte

,wenn er den

gemeinen Mann“ über das britische Imperium unterrich

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DIE BEREDSAMKEIT 2 1 7

tete, über Zölle und Kolonien , über Baumwolle , Tabak , Teeund Brot. Es ist die Beredsamkeit der Kontore und derStraßen , die sich das Reich der Politik erobert.In D eutschland war die politische Rhetorik eine Sache der

Bildung für die Redner der Paulskirche, Lassalle und dieZelebritäten dei ersten deutschen Reichstagsperiode. Aberes kamen stolp ernde Redner auf, Redner ohne Sinn fürSchönheit. Am 1 0 . Februar 1885 sagte der Kanzler von Bismarck , asthmatisch, in der Fistellage, nach Worten ringendIch kenne dieses Geschäft auch ziemlich genau aus eigenerErfahrung . Ich verkaufe meinem Mühlenpächter das Holzzur Bereitung von Zellulose für 1 3 Mark weniger 25 Pfennigdas Raummeter es wird nach Raummetern gehandelt. Siehaben Festmeter genommen , dann kommt das Raummeterstatt auf 1 3 Mark auf etwa 1 0 Mark in Sachsen .

“ GegenLasker zielte seine Bosheit : „Es ist wirklich mit diesen beredten Herren , wie mit manchen Damen , die einen kleinenFuß haben und immer zu enge Schuhe anziehen und dieFüße vorstrecken und sehen lassen . So , wenn einer das Unglück hat, beredt zu sein , da hält er zu lange Reden und zuoft.“ Und dieser Mann , der mit den Parlamentariern kämpfte,war ein Redner nur durch die Bannkraft seiner Augen .

„Die Regierung der Redner“ , so schließt der Skeptiker deGourmont, „i st die Regierung der Menschen , die nur denken ,wenn sie sprechen . Die Rede ist Literatur und , wenn siedurch mäßig denkende Menschen ausgeübt wird , niedereLiteratur. Sonderbare Welt, in der Richelieu , der nicht beredt ist, in den Kommissionen ein obskures Mandat bekleidet,während Trouillot sich spreizt und Worte macht. Bonapartemit der trockenen Tonart, der für j ede Idee j e ein Wort hat,würde nicht verstanden ; die Kammer würde sich leeren .

Doch der lakonische Bonaparte hatte seine Revanche am18. Brumaire , als er die Redner verjagte.

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Lutet ia

as Etablissement Kosmopolis, die Stadt der Boulevards ,des Asphalts , der blökenden Hupen , der grel l singenden

Bremsen , der ohne Plan durcheinanderlaufenden Menschenmassen , der Camelots, die schon um drei Uhr nachmittagssich die Kehlen heiser schreien , der geschminkten Mädchen ,der zarter bemalten Damen , der elsässischen Kellner, derStummelsucher, der Bauernj ungen in Zuavenuniform , derAlgerier, die Teppiche verkaufen , der Inder im Turban undder Mulatten . Die Stadt der Apéritifs und der Restaurants,in denen niemand sitzen .bleibt, und die nach der D inerstunde unverzüglich die Lichter auslöschen , das weiß e , teureCafé Anglais wie die wohlfeilen Bouillons ! in denen manzwischen Spiegeln und brauner Holzschnitzerei ißt, vonruhigen Frauen in Häubchen bedient) .Kein Zweifel , daß diese Boulevards sich recht unangenehm

amerikanisiert haben . Noch zwar haben sie ihre italienischungenierten Pissoirs , die meist nur die Andeutung einesWandschirms sind . Noch werden sie manchmal von lothringischen Karren mit zwei hohen Rädern durchquert, andenen drei Pferde hintereinander ziehen . Noch sind auchden Omnibussen , die von der Madeleine zur Bastille fahren ,drei dampfende B osse vorgespannt. „Es sind die letzten“ ,

erklärt Monsieur Gaston in der Taverne Pousset, der einenso unwahrschein l ich schwarzen Schnurrbart und unwahrscheinlich dicke Brauen hat. An den Ecken stehen , mit dengefäl ligen Herren , die erotische Almanache aus ihren Taschenholen und empfehlend Toutes les positions“ dazu sagen ,Poliz isten , deren Stäbe den Verkehr dirigieren . An demblutroten Haus des Matin“ zeigt die Queeksilbersäule einesenormen Thermometers die Höhe der nationalen Flugspende,und von transparenten Glastafeln ‚ starren die neuesten De

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220 LUTETIA

Luxembourg . Sie waltet auf der Place Vendöme, derenSäule den bronzenen Imperator verewigt, in den Massendes Arc de I’Etoile, den man schon von den Tuilerien aus

hochragen sieht wie ein festliches Tor zum Elysium , und andem in violettes Halblicht versenkten Napoleon sgrabe, woder fröstelnde Invalide, am unterirdischen Eingang kauernd ,mit schwacher Stimme sagt : „Regardez les dern iéres parolesde l ’empereur.“ Und sogar eine klassizistische Attrappe wiedas Pantheon oder das kaum vollendete, mit seinem schneeweiß en Kalksandstein über der Rue Lafitte vom Montmartreberg schimmernde Sacré Coeur gewinnen in dieser hellenLuft einen Anschein von Größe .

Ihr drittes Gepräge : eine Stadt der Poesie im Niedergangund im Schmutz , eine unergründ lich lockende Cour des miracles . Wohl ist fast alles dahin , was noch in den neunzigerJahren der elegische Schauer von Paris war. Zum Friedhofvon Montmart re, wo das Grab Heinrich Heines in der Avenuede la Cloche noch immer das bekränzte Ziel der deutschenRomanschriftstellerinnen ist, führt j etzt die makadamisierte

Avenue Rachel , in der die Chauffeure warten . Der groß eBlocksberg, dessen Abhang von der Place Blanche bis zumBoulevard Rochechouart sich dehnt, ist nun eine internationale Messe des Vergnügens . Die Cabarets und Bälle, dieallnächtlich aufflammen , sind wie ihre Fassaden verkitscht,und stöhnend gedenkst du der Friedrichstraße . Aber gehe,neben dem Moulin , die steile Rue Lepic hinauf, mit demStilleben ihrer Zinkbüffets, ihrer Wäschereien , ihrem provinzialen Kleinbürgertum und den lärmenden Schulj ungenin schwarzen Kitteln . lm Halbrund kommst du zur Höhe .Und über der Terrasse links siehst du in e inem Garten dengrünen Tanzsalon des Moulin de La Galette, siehst zwei

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LUTETIA 22 1

echte , verwitternde Montmartremühlen , und ganz oben aufdem Berg, vor Sacré Coeur, kaum noch von ersten Zinskasernen bedroht, die niedrigen Häuschen , ländlich, als seiestdu meilenfern von Paris . Unten in der Rue des Martyrs istdie Feuerwehr gerufen worden . In den Fenstern einer MaisonMeublée liegen träge Jünglinge in blauen Seidenhemdenund Mädchen mit offenen Blusen ; und auf dem Karrendes Händlers , der dort seine Ware ausschreit, zappeln dieschwarzgelben Schildkröten .

Am Nachmittag darauf bist du im Quart ier Latin . Nichtvor der Seinelandschaft zögerst du diesmal , auch nicht beiden Kästen der Trödler und Buchhändler, die heute , weildie Sonne lacht, ihre Raritäten hervorgesucht haben . Durchdie Rue Bonaparte eilst du bis zur grauen Kirche von SaintGermain des Prés, in das Herz des Marais , durch die Ruede Buci in die Rue Saint André des Arts . In diesen engenSackgassen , hinter diesen Fronten mit den schmiedeeiser

nen Balkonen haben die Akademiker gewohnt, und dieseMegären

,die in abgenutzten Peignoirs aus den Gewölben

kommen , sind die Nachmieterinnen der Vicomtes . Rechtsvom Boul ’ Mich ’

, der nun trostlos banal isiert i st, verlierstdu dich in den Straß en von Saint Séverin , um das Kirchleinvon Saint Julien le Pauvre , nahe der Place Maubert, demKarussell der B irnen . In der Rue de la Bücherie mit zerbröckelnden Mauern , von einer unförmigen Kuppel überwuchtet, der Eckteil dessen , was vor langen Jahrhundertendas Gebäude der medizinischen Fakultät von Paris war.

Dunkle Höhlen grenzen an physiognom ielos neue Straßenin der Verlängerung der Rue de Fonarre, die nach den Strohlagern der Scholaren heißt, in der Rue Dante, wohnt dereitle , kleine Rentier Emile Loubet .Und überall wiederholt sich derselbe Kontrast bourgeoiserNüchternheit und einer Romantik , die nicht sterben will.

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222 LUTETIA

Du wendest dich wieder zum Boul’ Mich’ nach links , da woer friedvol ler wird und das Idyll des Luxembourgparks ihnbegleitet, bis du vor dem Bullier anlangst und dem Denkmaldes Marschalls Ney . Die Avenue de I’Observatoire empfängtd ich, mit dem Portal der Sternwarte am Ende, die Rue Cassini , die Rue Saint Jacques mit der Trikolore an der schweigenden Krankenhausfassade des Hospitals Cochin und dielange Zeile des Boulevard Arago . Du suchst die Bievre, dasschmale Flüßchen der Gerber, den von allen Tinten gefärbtenWasserlauf, der einst die häßlich - schöne Ader des malerischenParis war und geweiht durch die Misanthropie von Huysmans .Die Bievre ist nicht mehr, ..die Sanitätspolizei hat sie zugemauert, und willst du ihren tri sten Reiz noch schauen , so

mußt du bis dicht vor Gentil ly, ins Arbeiterrevi er, in s B laehfeld , bis zur Poterne des Peupliers . Aber während du in derabgelegenen Rue des Gobelins umhergehst, da, wo die Werkstätten der Gerber versteckt sind, entschädigt dich eine Überraschung . Im Hintergrunde eines Hofes erhebt sich einSchloß mit zierlichem Rundturm , das Schloß der KöniginBlanche , das nach der Mutter des heiligen Ludwig getauftund j etzt das Magazin ein es Lederfabrikanten ist, ein Doréim verzauberten Bezirk der Armut. Mit dem Autobus fährstdu durch die Rue Menge, von der Médardkirche ab , b in

über aufs rechte Ufer, bis unter die spärlichen Bäume derPlace du Chätelet. Dämmerung umschattet die alte TourSaint Jacques , die gerade von einem Brettergerüst entstehti st, und die Markthallen . Auf der großen Treppe von SaintEustache , auf der zuweilen Pau l Verlaine , der betrunkeneSünder, betend n iederfiel‚ gegenüber dem altmodischen Hanse ,dessen Emblem der Mohr mit dem weißen Stehkragen ist,streichelt ein Priester schnurrende , rotgelhe Katzen . In derRue des Innocents lauert mit ersten Lichtern der Caveau .

Um Saint Merri Nonnen in weißen Hauben, zollschmale

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Die Nabobs.

inst galten sie als schnaubende Leviathanemit gefräßigenKinnbacken , dieVanderbilt, Mackay, Gerry, Sloane , Astor ,

Goelett und Wi lson . Sie unterdrückten die alteingesessenenFamilien , die tugendhaften Knickerbockers , die behaupteten ,ihre Ahnen seien schon mit der „Mayflower

“ in Amerika gelandet. „Wie die Juden des Mittelal ters“ hatten , nach Toequevilles Wort, j ene Puritaner sich in dunklen , schäbigen Kontoren verborgen . Nur untereinander hatten sie verkehrt.Anfangs hielten sie die geräuschvollen Parvenus mit Hochmut nieder. Gehen Sie auf den Ball der Vanderbilts ? “

sagte Frau Rensselaer zu Frau Livingston . „D ie Menschenwerden tolle Summen verschwenden . Es wäre christlichund barmherzig, wenn wir uns einen Moment bei ihnenz eigen würden .

“ Dann aber war es mit den Knickerbockersaus, die Parvenus herrschten über Newyork und bauten sichin der Fünften Avenue ihre Prunkhäuser aus Granit, Mar

mor, Porphyr und Onyx . In den neunziger Jahren begannensie , sich wie die Fürsten j enseits des Ozeans aufzuspielen .

Die Vanderbilt vergaßen die Taverne ihres Patriarchen Aaronvan der Bilt, den schlichten Sinn des rauhen Cornelius Vanderbilt, des Kommodore , der nnorthographisch schrieb, dieBibel las und, als er sterben sollte, sich Salz unters Bettstreuen ließ , um zu gesunden . Die Astors schämten sichihres Stammvaters John Jacob Astor, der Musikinstrumentefeilbot und durch den Kauf der Manhattan insel ein Terrainreich gründete , das j etzt größ er ist als der Staat Delawareund doppel t so groß wie Neu - Mexiko und Arizona zusammen . D ieselben Astors fanden einen gerissenen Stammbuchforscher, der si e zu Sprossen Heinrichs des Vierten machte ,des Shakespearekön igs. D ie Wappenschilder besorgte man

sich , indem man die europäischen Muster eines Karossiers

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DIE NABOBS 225

nachmalte. Wie die Feudalen Europas s chufen die Milliardäre Vermögenstrusts. Der Kommodore legte von den 450 Millionen , die er besaß , 1 82 fest, William Astor 180 von 500 ,und auch Jay Gould räumte seinen Erben nur Zinsen undKapitalsvermehrung ein . Die Milliardäre heiligten das Erstgeburtsrecht, und mit Titanen stirnen betrogen sie die Steuerbehörde .Dann stürzten sie sich auf Europa . Sie unternahmen

große systematische Züge, die Fäuste in den Taschen , mitsteinernem , undurchdringlichem Phlegma . Hauptländer undResidenzen grasten sie ab . Sie kauften sich eine Vergangenheit und ihren Kindern eine ungewisse Zukunft. Zwar ihreSöhne haben nicht immer den Wert der Genealogie er

kannt. J . Alfred Morgan erkor eine Tochter des chinesischenOpiumhändlers Ah - Fong zur Fran , John H . Flangler, einViz ekönig des Petroleums , die Sängerin Mandeliek, der j ungeTerry die Sibyl Sanderson , Horatio Bigelow die LadnerinMarie Reece, Howard Gould Miß Clemmons , eine Schulreiterin von der Truppe Buffalo Bill . Aber durch ihre Töchterwurden die Nabobs die Schwiegerväter der englischen , derfranzösischen und ungari schen Aristokraten . Nicht gänzlichfehlen unter diesen Bündnissen die Satyrspiele der Enttäuschung : Miß ClaraWard aus Detroit undAnna Gould Marquisede Castellane und Princesse de Sagan . Man muß d ie „Transatlantiques“ , den Roman von Abel Hermant, l esen , wennm an den Witz dieser Soziologie begreifen will . Mit Cheerup !“ und seiner ganzen Bande zieht Jerry Shaw, Hermants

stiernackiger Multimillionär, in Paris ein , um die Eheseiner Frau Tochter D ianamit dem Marquis Urbain de Tiercézu flicken . Bei der Trauungsfeier in Newyork erteilt er, unterB e Profundis und Tarara boom de Ay, dem Reporter der

„World“ die Auskunft : „ I ch mische mich nicht mehr inmeine Geschäfte, sie gehen von allein . Allein gehen sie so

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226 DIE NABOB S

gar besser.“ Mit Ruhe feil scht er, mit Ruhe stillt er seinemenschliche Neugier. Er hat das Glück eines Cowboy, undMarc, sein Sohn , fischt sich im Trubel eine mazedonischePrinzessin . Da ist Jerrys fischblütige Gattin , Mrs . Dorri tShaw, die für 1 2 000 Dollars ihr Porträt malen läßt, von demder Verzollung wegen ein Arm wieder fortgekratzt wird .

Da sind der zwölfj ährige Berti e Shaw , der amerikanische

„Oberst“ , die gymnastische Biddy, Clelia Shaw, die für Montmartre, die „Perversität“ und den zerlumpten Lyriker PolPic schwärmt, und eine Landsmännin der Shaws , die Millionenerbin Susanne Ford , Prinzessin von Béril, die sich aufder Liebesreise nach ihrem„,hundertsten Point“ höchst sonderbar beträgt. Ein Narr ist Jerry Shaw , aber wie ein Typusder Kraft steht er am Schluß im tosenden Geheul von Picadilly. Seitdem hat er von seiner scherzhaften Imperatorenwucht manches eingebüßt. Heute, wo die Sinclairs das Piedestal untergraben , ist nicht mehr Newyork , Jerrys Heimat,das Zentrum , sondern Chicago . In Kanada hat der Eisenbahnriese James Hill debütiert, in Kalifornien Clark , derKupfermagnat. Gesprengt ist die Fünfte Avenue, die Reiheder Auserlesenen , si e sind bedroht wie die Pharaonen Ägyptens . Die innere Débäcle der Milliardäre hat begonnen , deraltersschwache John D . Rockefeller, der sich an Tolstoi wandteund durch ihn sich das Evangelium predigen ließ , schreibtredselige , ungeheuer ehrbare Memoiren .

W as aber ist, wenn den Nabobs der Untergang naht, ihreBilanz , was ihre Bedeutung für die Menschheit? Erst BernardShaw hat den Reim darauf gefunden . Er hat die Dollarmillionäre bedauert und nachgewiesen , daß sie Gefangeneder Milliarden waren , daß der Neid auf sie sich nicht lohnte .Zürnend hatte Wells , der englische Utopist, von ihrer „Verantwortungslosigkeit

“ gesprochen . Shaw spricht von ihrerenormen Verantwortung, der nicht . die Möglichkeit gegen

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Gide .

evor André Gide seine Memoiren schreibt ! ein Unternehmen , dessen erwartungsvoller Zuschauer er j etzt schon

ist) , wird man äußere Tatsachen seines Lebens kaum nennenkönnen . Seine Geschichte ist die Geschichte seiner Bücherund , was er von sich erzählt, um der Literatur willen erzählt.Das ist der Fall mit der feinen Antwort an den Barrés der

„Déracinés“ , den unduldsamen Lehrer des provinziellen Heimatsgefühls : „ In Paris bin ich geboren , mein Vater stammt ausUzes, aus der Normandie meine Mutter wo soll ichWurzelfassen , Herr Barrés?“ In ..den „Lettres ä Angele“ , den fürdie Zeitschrift L

Ermitage“ gearbeiteten Kritiken und Stu

dien , die Eintragung über Mallarmé und die Gespräche inder Rue de Rome : „Die nach uns kommen und die seit dreiJahren den Weg gefunden haben , sind außerstande, sich deutlich genug vorzustellen , wie richtungslos damals ein j unger,nach Kunst und geistiger Erregung verlangender Geist beiseinem Eintritt in die literarische Welt war Zu wemsollte er geben , wem, ihr Götter, huldigen ? Man suchte Mallarmé auf. Es war abends . Von einer groß en Stil le wurdeman dort empfangen . An der Tür erstarb aller Straßenlärm .

Mit sanfter, musikalischer, uh vergeßlicher und nun ach ! fürimmer unhörbarer Stimme begann Mallarmé zu reden .

“ Dannnoch das „ In memoriam“ für Oscar Wilde , die Kapitel überdie Begegnungen in Paris 1 89 1 , Algier 1 895 ! im Hotel, wohinGide von Blida und B iskrah bei gräß lichem Wetter zurückgekehrt ist) , Berneval 1897 ! Sebastian Melmoth) und abermals Paris . Der Rest ist verschleierte Selbstanalyse, Andeutungen einer durch den Zwang des kalvinistischen Glaubens dunkel gemachten Jugend

,körperlichen Leidens und

einer langsamen Wiedergeburt . konnte er,“ so sagtGide im Nachwort zu den Paludes“

, „die Bücher verbannen ,

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GIDE 29

die Vorhänge wegreiß en , die blinden Fensterseheiben auf

stoß en und mit ihnen alles, was zwischen uns und das andere sich legt und die Natur trübt, zerschlagen .

Der Protestanti smus ist der Ausgang dieses blutleeren,zarten Intellekts, und noch als er ihm fremd geworden ist,erkenn t er in sich ihm wieder. Von ihm hat er die moral ischeBesorgnis, die fast alle besten Geister der französischen Rassenicht anficht, die Sorge um das schwierige Ding „Gewissen“,aber auch den sich selbst verbrennenden Drang nach Unabhängigkeit. In Nietz sche, dem Protestanten , der gegen dieangeborene

.

geistige Verfassung sich empört, begrüßt er seinenErwecker. Zu Sils - Maria hat er eines Winters, ehe noch dieÜbertragung von Henri Albert vorlag, am Originaltext herumbuchstab iert. „lch habe schon bemerkt,“ so erklärt er1 898, „daß wir Nietzsches harrten, als wir von ihm nochnicht wußten . Denn der Nietzscheanismus hat lange vorNietzsche begonnen . Er ist zugleich eine Kundgebung übermächtigen Daseins, die sich schon in den Werken der größtenKünstler geoffenbart hatte, und eine Richtung, die j e nachden Epochen Jansenismus oder Protestanti smus getauftwurdeund von j etzt ab Nietzscheanismus heißen wird, weil Nietzschegewagt hat, alles, was noch murmelnd in ihr verborgen lag,bis zum äußersten zu formulieren .

“ Der Protestant AndréGide wird auch nach der Befreiung der Sinne der lockendenIdee untertan sein . Wohl verwünscht er, al s die Morgenröteaufsteigt, die „bittere Nacht des Gedankens, des Studiumsund der theologischen Ekstase“ . Wohl nennt er !Nietzsche :

„Geist i st Leben , das selber ins Leben schneidet“) die IdeenParasiten , die das Menschenhirn verzehren , Krebskeime oderblutsaugende Fledermäuse, die um so schwerer lasten , jeschwächer ihr Opfer ist. Aber es bleibt der Wahlsprueh :

„Devouons - nous ä l’

idée“ und das traurig - beitem, tapfereGeständnis : „Viel leicht wird man uns schelten, daß wir trotz

15

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230 GIDE

allem das Leben des Gedankens für wirkl icher erachtet undj eglichem anderen Leben vorgezogen hab en .

Es ist, um eine Generation verj üngt, die Ironie von AnatoleFrance !den Gide gegen Barrés verteidigt hat), nur, daß statteines humanistischen Epikuräers ein tiefer bohrender Metaphysiker von christlicher Struktur, ein Hedoniker aus Vorsatz das Wort führt . D ieser Denker ist mißtrauisch gegendie Meinungen von gestern , weil er in seine künftigen Meinungen verliebt ist. D ieser Kritiker, der der Verwandlungbedarf, hält Ansichten für eine „Vorwegnahme des Todes“ .

In einer Conférence für die Hörer der Libre Esthétique inBrüssel hat er die „Apologie de l

influence“ unternommen ,die gegen die Furcht der Kle inen , ihre Persönlichkeit zu verlieren, mit artiger D ialektik die literarische Notwendigkeitder Beeinflussung lehrt . In der Anarchie des Geschmacks ,die selbst in Frankreich , dem Lande der schützenden Geschmacksnormen , seit 1900 umgeht, ist er einer der geistigstenSucher, ein Sucher mit vielen Vorbehalten und von rühmenswerter Kälte des Urteils . Noch heute macht die Präzisionstaunen , mit der er zur Zeit der „Lettres ä Ange le“ überCurel, gegen Hauptmanns „Weber“ , über Maeterlinck undgegen Stirner geschrieben hat damals , als er schon FrancisJammes lobte und Nietzsche . Unter den durch Barrés verdorbenen Franzosen von 1 9 14 i st er einer der paar Höchstgebildeten , mit der Szenerie des Münchner Hofgartens vertraut wie mit der Wissenschaftslehre Fiehtes, Goethes Briefenan die Stein und dem zweiten Teil des „Faust“ , dessen Türmerlied er in deutscher Sprache dem Kapitel „Lyncéus

“ der„Nourri tures terrestres“ voranschickt.

Seine Produktion ist zögernd , nnnaiv, eine Verkleidungvon Philosophemen : lyri sche, epische und dramati sche Abhandlungen, „traités“ . Mit ideologischer und sogar noch einwenig jünglingshafter Selbstschilderung fängt er an . Sein

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GIDE 23 1

Erstling sind die anonymen „Cahirs d’

André Walter“ . Indiesen Tagebüchern der „vie intem“ i st alles melan choli

sches Wissen und stolz e Scheu : I:rzweifelt wie der Prediger Salomonis, über dem wir lat e grübelten , den Kopfvon zu hohen Gedanken erregt, vewirrt von der Eitelkeitdes Begehren s und das Herz vonunendlicher Liebe zerbrochen , die in Tränen und Gebetel lahinfloß .

“„Oh l’émo

tion ,“ so gestand dieser Zwanzigj ährge die asketischen Skrupel seines Alters ein , „ob l

émotiog uand on est tout präsdu bonheur, qu

’on n ’a plus qu’

a tol l er et qu ’on passe .“

Es folgen nach frühz eitigem Veatummen der Lyrik , inder Gide mit der Schule des Vers bre geht die metaphysisch - sensuellen Hymnen des „byage d

Urien“ und der

„Nourritures terre stres“ , dann die .nz l eicht voltairischen ,

ganz leicht an France erinnernden sarkastischen Menschheitsgleichnisse „Paludes“ und Le Ibméthée mal enchainé“ .

Nirgends die Farbe des Wirklichen , üerall gedämpfte , künstliche Beleuchtung und die biblische, hellen isierenden undgälischen Personennamen derAllegoe : Nathanael ,Ménalque,Alain , Paride , Agloval, Bohordin , h gaire‚ Hermogéne, Aleide, Maglo ire, Evariste , verbundenmit den Vornamen derZivilisationsmenschen von heute . Di e dritte Reihe eröffnetder Philoctéte“ ,

die im „Roi Candate“ und im „Saül“ fort

gesetzte Reihe der Dramen , auch sifii laß , kühl, Spiegel desSpiegels und mit dem Vunsch, sich durch dieReflexio ne Wendung seit dem

zum Roman , zur gen Obj ektivität. D ie

it, mit unvergeßlichenSchwer

a heile«‚

ischen .

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232 GIDE

Gérard Lacase wird im umgrünten Landhaus zu_

Quatre

fourche der indiskrete Zeuge einer gewaltsamen Begebenheitoder ihres grotesk— tristen Epilogs . Beim Schein flackernder

Kerzen sieht er um Mitternacht I sabelle, Fräulein von SaintAnréol, die, mit der Schuld am Morde ihres Geliebten beladen , einst von hier en tflohen ist und nun wieder auftaucht,um von ihren melodramatischen Eltern ein paar Banknotenzu erraffen . Eine romantische Szene, auf die dann ernüch

fernde Ironie ni ederfäl lt. Aber im siebenten Kapitel dieAlten sind tot hat Gérard mit dem Fräulein von SaintAuréol im subhastierten Park ein Gespräch . Romantischhebt er an, dann gewahrt er, daß sie, die Agentenmätresse,die bald die Geliebte eines Kutschers sein wird, eine andereist als das Bild seiner Träume , und er brüskiert sie, währenddurch den Frühlingstag die Axthiebe der Holzhauer dröhnen .

Kaum hat Régnier oder ein Lyriker sonst im heutigen Frankreich eine beseeltere E legie geschrieben .

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234 CLAUDEL

Augen,dessen Silhouette seine Bücher ziert , und er suchte ,

schwer und verträumt, seine Pfl icht al s Geschäftsträger derfranzösischen Republik für das Königreich Böhmen zu leisten .

Dann kam er nach Frankfurt und Hamburg .Vom weißen Lichte der katholischen Mystik sind seineWorte , seine Gestal ten überflutet. Seine Hymnen loben miteifersüchtig brennender Liebe Gott, sie loben die HeiligenPaulus, Petrus und Jakobus , sie

_

loben das Pfingstfest unddas Heilige Sakrament. Doch bereits der „Art poétique“

war der Dogmatik des Christentums gehorsam . Ein Zitataus dem Briefe Augustins an Marcellinus leitet erkenntnistheoretische D eduktionen !

e in , die der Vergänglichkeit dieEinheit in Gott, Gott als Zweck entgegenstellen . Die Erbsünde wird scholastisch erklärt und die Substitution des Heilands . Eine Ästhetik des Kirchenbaues preist die Kathedralen , die alte , gute Notre Dame zu Poitiers, die Gotteshäuser von Rouen und Chartres , die Notre Dame zu Paris,in der man , von der Kloake umgeben wie Jeremias von derZisterne , den Geschmack des Todes empfinde und auchdie leuchtende Kuppel von Sacré Coeur. Des „protestantischen Blasphems

“ wird gedacht, das den Priester gezwungenhabe, im hellen Tag statt in geheimnisvoller Dämmerung dieHostie zu zeigen und ein verzücktes Gebet schwebt zuGott empor, den zu erfassen die Seel e mehr außer sich bringeals der Besitz eines Kaisertums oder eines Weibes .Indessen nicht nur dieser Unterton orientiert über Claudels

Dichtertheologie. Stolz begrüßt sie zu Anfang die j ungfräuliche Welt. „Mit j edem Atemzug , den wir tun ,“ so frohlocktder heidnisch - christliche Autor, „i st sie ebenso neu wie damals , als der erste Mensch die erste Luft in sich einsog .

Die Gottesidee wird zur Idee der Allkraft, die „die großenWagen des Mondes und der anderen Götter“ l enkt ; die denStößen der Winde gebietet, den Wanderungen der Makrelen

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CLAUDEL 235

und der Schwäne,dem immer gleichen , immer erhabenen

Chor der Jahresz eiten . Verlesen wird das Brevier einerkosmischen Religion : „Wenn die Arbeiterin in der Federnfabrik an der Uhr der Pointe - Saint - Eustache sieht, daß esMittag ist, durchdringt der erste Strahl der tiefstehendenSonne den Laubwald von Virginien , und im Schein desaustralischen Mondes tummelt sich das Geschwader derPottfische. Es regnet in London , es schneit in Pommern ,während Paraguay lauter Rosen i st und Glut auf Melbournelastet.“ Das Blachfeld von Waterloo i st der Kunst diesesRhapsoden n icht mehr als der indische Perlenfiseher, derplötzlich neben seinem Boot auftaucht, und ihr Herzschlagist der Herzschlag alles Geschaffenen .

Paul Claudel proklamiert den unendlichen Rhythmus , derdie Metren überwunden hat. „ In eine gemeinsame Folge“,

so redef in dem Drama La Ville“ Ivors den Dichter Coeuvrean , „ sind Klang und Sinn der Worte gefügt, und so fein istihr Austausch , so verborgen ihre Musik , daß die dem Geistlauschende Seele inne wird , wie der reine Gedanke der wohlgefälligen Berührung sich nicht entzieht. Zu solchen Vermählungen werden wir von dir, 0 Coeuvre, geladen .

“ Das

i st die kadenzierte Prosa Claudels, die einiges von WaltWhitman hat und mehr noch von der Feierlichkeit derBibel . Zeile auf Zeile verschwendet sie zarte, glänzende, un

geheure Metaphern . „Wie wenn man im Herbst durch Lachenkleiner Vögel geht, so wirbeln Schatten und Bilder unterdeinem weckenden Fuß Also spricht der Päan „Die Musen“ ,

in dessen regellosen Strophen die Odyssee, die Aeneide,die D ivina Commedia hoch einherwandeln , zu dem Mann ,der in der Hölle war, zu Dante.Von den Gedichten Stéphane Mallarmés, an den seine

„Vers d’

Exil“ sich anlehnen , i st der zwanzigjährige Claudelerfüllt worden . Das „Bateau ivre“ von Rimbaud mag ihm

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236 CLAUDEL

eine Offenbarung gewesen sein . Nun , da er gereift i st, kannman an Victor Hugo denken !der j a auch in dem jungenRimbaud nachgewirkt hat) . Gleich dem Verbannten v on

Guernsey nennt er sein Symbol tonte la lyre“, durch derensieben Saiten der Himmel mit seinen Sternen zu sehen istund die Erde mit ihren Feuern. Und wie man den VaterHugo sich in seinem Glaspavil lon über den Wogen des Kanals vergegenwärtigt, schaut man den Konsul Claudel imFenster seines chinesischen Häuschens : „Wenn der Abendkommt, strecke ich , wie die Gemahlin eines Gottes, die stummihr Lager besteigt, mich lang und bloß aus , das Antlitz derNacht zugekehrt . Jetzt ab er entwinde ich mich seufzendmeinem Schlaf, der so bewußtlos ist wie der des erstenMenschen , und erwache in Gold gebadet.“ Verfeinert i stdieser lichtgierige, dithyrambische Rausch , bis zu den Grenzen des Geistes und dennoch tieri sch - vegetativ, dem Mysterinm des Lebens überlassen .

Die Dramen Claudels haben ihren Ursprung in demselbenphantastischen Schweifen , in derselben phantastischen B enommenheit. Jedes von ihnen ist ein riesenhafter Vers ,durchzittert von lyrischen Ausbrüchen . Und deshalb habensie al l e die Mängel der Inspiration ; von der sie getragensind . Ihre Personen sind !bis auf die von keineIndividuen , sondern gespannte Zustände. Verkörperungeneiner Menschheitsgeschichte, die niemals war, sind „Teted

Or“ und „La Ville“ , metaphysisch - erotische Kri sen„L

Echange“ und „Partage de Midi“. Nur zwei , „Le Repos“ ,

die chine sische Kultsage , und die Legende „La Jeune FilleViolaine“ , die in der „Annonce“ noch plasti scher gewordenist, scheinen außerhalb des Hirnes, das sie erzeugt hat, darstellbar.Auch seinen Schauspielen hat Claudel eine Teleologi e mitgegeben . Jeder Mensch, meint er, hat in der Weltordnung

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Novotny oder : Das verirrte Herz .

on der Insel kam mit dem Schall der Militärmusik derDuft der Robinien, den zarten Nebel , der den Fluß um

sehleierte, zerriß die Sonne, die Mauer drohen im städtischenPark und die Goldspitzen auf den Pavi llons der Brückeleuchteten . Über den Kai schoben sich, in weichem Idiomredend , mit den Begrüßungen der großen Wel t die Scharender Spaziergänger. Wie j eden Sonntag hielten die Damendes Zuckerfabrikanten Vavra Cerele, der Bassist Taborskyging maj estätisch am Arm sei ner Frau , die ihm um Haupteslänge überragte, die Schwestern Dobromil nickten , ganz inTrauer, die bleichen Stirnen von korngelbem Haar umkränzt‚ ihren Bewunderern zu . B ern Böller der fernenSchanze entrollte der Mittagsschuß , ein Rauchwölkehen

zerflatterte.

Jaromir Novotny, der Assistent bei der Postsparkasse ,stand unter seinen Freunden, an einen der Straßenbahnmasten gelehnt. Sein häßliches Gesicht war grau, und ersuchte den Boden . Da rief einer : Die Jebava .

“ Aus demTheaterportal trat in malvenfarbenem Kleid die Sängerin .

Mit starken Schritten ging sie auf den Bassisten zu und hobdie rechte Hand , an der ein Ring blitzte , gegen die Sonne .Jaromir Novotny wartete, bis sie mit den Taborskys ihmzur Seite war, dann folgte er ihr langsam . Die Militärkapelle spielte die j ubelnde Introduktion der „VerkauftenB raut“ , die Führer der Elektri schen marterten ihre Glocken ,um die Gleise frei zu halten . D er Postassistent hörte in alldem Lärmen nur die dunkel erbebende Stimme der Jebava.

Er dachte : „Herodias !“ und er sah den braunen Ambratonihres Nackens , sah si e von einem Diadem beschwert undvon roten Flammen umzüngelt. Er dachte : „Dämonisches

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NOVOTNY 239

Weib !“ Und fast hätte er diese Worte laut wiederholt. Danahm die Jebava Abschied . Einen Moment nur vermeinteNovotny, daß ihr Blick auf ihm ruhe. Ihre ovalen Augenwaren halb geschlossen , träg und lauernd , seltsam niedrigwölbten die schwarzen Brauen sich, und die breiten Backenknochen mahnten an eine Raubkatze . Aber der träge Blicklag schon auf dem Trupp der Offiziere, die zum In selsteg

schlenderten . Langsam ging die Jebava über den Platz zurück . Novotny blieb am Kai

,bis der Korso sich leerte und

die Soldaten mit dem kleinen Pferd , dem Wagerl und derPanke nach der Kaserne zogenAn diesem Sonntag schrieb er der Sängerin den ersten

j ener Briefe, die dann Monate nachher in der ganzen Stadtso große Wirrnis verursachten . Er nannte sie bei ihremVornamen Vlasta, und er huldigte ihr mit einer Zärtlichkeit,für die er von Mächa, dem D ichter der Jünglinge, teureWorte lieh j edoch der Sinn war eine Drohung . Um zehnUhr schlich er aus seiner Stube, die in einer Altstadtgasse,nicht weit vom Ufer, sich befand . Hastig ließ er den Briefin den nächsten Kasten gleiten . Vor dem Einkehrgasthaus

prügelten sich ein Bursche und eine Frau, die ein B äue

rinnentuch und hohe Stiefel hatte, ein Orchestrion schmetterteden Marsch der letzten Ausstellung . In den Büschen umdas Kaiserdenkmal lungerten Pärchen ; Wachmänner mitHahnenkämmen an den Hüten verscheuchten sie . Der

steinerne Baldachin , die Spitzsäule, die Figuren der Ritterund Bergleute verschwammen in der lauen Nacht. JaromirNovotny eilte zum Haus der Jebava. Aus dem dritten Stockwerk, da, wo der Vorhang war, schimmerte Licht. Er starrtehinauf, bis ihn Müdigkeit überwältigte .Am Montag saß er hinter seinem verglasten Schalter, seineFeder kritzelte Rezepisse, in die linke Ecke der grünenScheine setzte er den Stempel , und eine haardünne Kurve

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240 NOVOTNY

gal t al s seine Unterschrift. Nach sechs Stunden war er frei .Er lief zum Theater. Warmer Regen träufelte aus den sichlösenden Wolken . Ungeduldig spähte Novotny, bis Cho o

risten und Choristinnen hinein waren und unter dem Schirmdes Dramatikers Tupec die Jehava sichtbar wurde. Halbgeschlossen waren ihre Augen , rätselhaft wie sonst ihreMienen , die Novotny gierig erforschte. Sie beachtete ihn nicht.Er rettete sich in ein Lächeln, das verlegen und höhnisch war.Dann aß er in einer kleinen, armseligen Speisewirtschaft,und dann schri eb er in seiner Stube den zweiten und inwachsendem Zorn den dritten Brief an die Jehava, der ersagte, daß sie die Geliebte des Dramatikers sei .So trieb seine gereizte Entbehrung es vier Wochen lang,

j eden Abend ; nur des Sonntags verschafft e er sich hinfort zurOper regelmäßigen Einlaß . Denn immer sang die Jehavaund , wie ein Adler schwebend , erfüllte ihre Stimme den inmattgoldene Dämmerung versunkenen Raum . Stunden danach beugte Novotny sich , von eifersüchtigem Gram hin undhergeworfen , über einen neuen Brief, der die Jehava nochmaßloser :umwarb und noch heftiger beschimpfte. Zweimalwagte er bei ihr einzudringen . Das erstemal kehrte er um ,

weil er über dem Mezzanin, auf den knirschenden Steinstufen , einen bartlosen Rittmeister von den W indischgrätzdragonern traf, der sich eine Zigarette anzündete . Das zweitemal war das schmale Gangfenster ihrer Wohnung hell , undWasser plätscherte in eine Badewanne.Als der August begann , wurde das Theater gesper1t . Manstrich das Portal mit Ölfarbe, die Arbeiter rauchten davorihre Pfeifen , Novotny irrte niedergeschlagen durch die wieallj ährlich verödeten Gassen . An den Bäumen des Kaistrocknete das Laub . Im Garten der Insel blie s und tromo

melte, wenn der Himmel sich mit Sternen bedeckte, dieFinanzermusik. Stromaufwärts keuchten mit roten und grü

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242 NOVOTNY

tobte, al lein zu sein . Ein Durchhaus war seine erste Zuflucht. Die Gehilfen eines Blumenhändlers schnitten Rosen ,ein Friseur entließ mit seiner Verehrung einen Politiker desLandes , die Mägde holten aus der Ressource schäumendesPilsner. Jaromir Novotny fluchte den Glücklichen , sein Amtwar Rache . Wie von ungefähr strebte er dem Theater zu .

Vor dem Portal glotzten di e Lichter eines harrenden Autos .Eine groß e Frauengestal t schwang sich hinein , und feierlichsetzte ein Herr sich neben sie, dem unter dem Zylinder eineelegische Mähne quoll . Otakar Zdarsky war es , der in Wienund Mo skau mit Lorbeer gekrönte Geiger, ein Ruhm derNation , der Komponist des „Weißen Berges ein Bauer, dersich am heimischsten auf s

'

einem Gute fühlte, j edoch durchdie wahllosen Abenteuer eines ungeordneten Virtuosendasein s die Öffentlichkeit beschäftigt hatte . Ein Stampfen desMotors, und schon sank Novotny zurück in einsame, kalteFinsternis .Das war an einem Dienstag . Am Freitag derselben Wochemeldeten die Zeitungen die B ruderschlacht bei S livnitza,und man las, daß die Theaterkreise durch die Briefe einesanonymen Verleumders erregt seien . Viele Persönlichkeitenseien in diese wahnsinnigen Schmähungen verstrickt, diemit besonderer Absicht gegen Frau Zdarska und ihren Gatten sich wendeten . Schon im Juni habe die Sängerin Briefedes gleichen Ursprungs empfangen , und das Sicherheitsdepartement hege einen sehr bestimmten Verdacht. Novotnyhatte sich bei seinem Amtsvorstand mit Krankheit entschuldigt. Am Sonntag sah er, übernächtig und verwahrlost, denEquipagen des Hochadels zu , deren Pferde vor der Rampedes Theaters auf und ab trabten . Menschen umringten ihn ,und plötzlich schri e Zdarsky ihm ins Gesicht : „Da ist derSchurke !“ Der Postassistent stolperte über den Säb el einesWachmannes . Dann war er am Ufer. Er sprang die Treppe

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NOVOTNY 243

zu dem unterirdischen Lokal hinab , das nur einen halbenMeter höher als der trübe Fluß lag. Der Invalide Voj techHraba, der mit dem Besen eine Nobelzelle reinigte, vernahm den Sturz eines Körpers.