Nura Mahalbašić, BA BA Eingliederung in die österreichische Gesellschaft. Eine empirische Untersuchung bosniakischer MigrantInnen der ersten und zweiten Generation. Masterarbeit Zur Erlangung des akademischen Grades eines Master of Arts der Studienrichtung Global Studies an der Karl-Franzens-Universität Graz Begutachterin: Ao.Univ.-Prof. Dr.phil Karin Maria Schmidlechner-Lienhart Institut: Institut für Geschichte Graz, Mai 2019
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Nura Mahalbašić, BA BA
Eingliederung in die österreichische Gesellschaft.
Eine empirische Untersuchung bosniakischer MigrantInnen der ersten
und zweiten Generation.
Masterarbeit
Zur Erlangung des akademischen Grades eines Master of Arts der
Studienrichtung Global Studies an der Karl-Franzens-Universität Graz
Begutachterin:
Ao.Univ.-Prof. Dr.phil Karin Maria Schmidlechner-Lienhart
Institut:
Institut für Geschichte
Graz, Mai 2019
Ehrenwörtliche Erklärung
Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe
verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den Quellen wörtlich oder
inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in
gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen inländischen oder ausländischen Prüfungsbehörde
vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der
eingereichten elektronischen Version.
Graz, Mai 2019 ……………………………………….
Nura Mahalbašić
Danksagung
Ich möchte mich bei all jenen bedanken, die mich im Laufe der Erstellung dieser Masterarbeit
tatkräftig unterstützt haben.
Zuallererst möchte ich mich bei Frau AO. Univ.-Prof.in Dr.in phil. Schmidlechner-Lienhart für
die Betreuung meiner Masterarbeit, für die freundliche und engagierte Unterstützung und die
hilfreichen und konstruktiven Rückmeldungen bedanken.
Ein großes Dankeschön möchte ich meinen InterviewpartnerInnen aussprechen, die mir ihre
freie Zeit zur Verfügung gestellt haben und mir einen tiefen Einblick in ihre persönlichen
Erfahrungen gegeben haben. Ohne diese Bereitwilligkeit hätte diese Masterarbeit nicht
zustande kommen können.
Ich möchte mich besonders bei meinem Bruder bedanken, der mir mit seinen motivierenden
Worten und Taten immer zur Seite stand. Danke, dass du stets ein offenes Ohr für meine Sorgen
und Probleme hast!
Zu guter Letzt möchte ich meinen Eltern für ihre Unterstützung während meines gesamten
Studienverlaufes vom Herzen danken. Durch sie wurde mir dieses Studium erst ermöglicht.
Danke, dass ihr mir bei Schwierigkeiten jeglicher Art immer zur Seite steht. Ohne euch wäre
Die aufgestellten Thesen zu dieser Arbeit werden im Folgenden aufgelistet:
1. Für die erste Generation erweist sich die Eingliederung in die österreichische Gesellschaft
als schwieriger, als für die zweite Generation!
2. Die erste Generation pflegt eine stärkere Beziehung mit dem Herkunftsland als die zweite
Generation. Dies hat die Eingliederung der ersten Generation negativ beeinflusst!
3. Die zweite Generation besitzt eine höhere Bildung und einen höhergestellten Beruf als die
erste Generation!
Diese Arbeit gliedert sich in einen theoretischen, einen faktischen und einen empirischen Teil.
Im ersten Kapitel des theoretischen Teils wird Migration zunächst allgemein erläutert. Hierbei
wird eine detaillierte Definition des Begriffes der Migration bereitgestellt und im Anschluss
wird ein kurzer Einblick in die Geschichte der Migration geliefert. In weiterer Folge beschäftigt
sich dieses Kapitel mit der Migrationsforschung. Abschließend werden unterschiedliche
Formen der Migration dargestellt, wobei besonderen Wert auf die erzwungene Migration bzw.
Flucht gelegt wird. Im zweiten Kapitel des theoretischen Teils steht die Integration im
Mittelpunkt. Zu Beginn wird der Begriff der Integration allgemein erläutert. Darauffolgend
werden unterschiedliche Konzepte und Theorien der Integration vorgestellt. Neben der
Assimilationstheorie werden auch die Konzepte des Multikulturalismus und des
Transnationalismus näher beleuchtet.
Im ersten Kapitel des faktischen Teiles dieser Arbeit wird auf Bosnien und Herzegowina näher
eingegangen. Zuerst werden die Auslöser des Zerfalls von Jugoslawien dargestellt. Weiters
wird der Bosnienkrieg behandelt. Hier werden die drei Ethnien, welche in den Krieg involviert
waren, vorgestellt. Schließlich wird auch auf die Situation von Flüchtlingen während und nach
dem Bosnienkrieg eingegangen. Das zweite Kapitel des faktischen Teils beschäftigt sich mit
Österreich als Aufnahmeland. Es wird ein kurzer Einblick in die Migrationsgeschichte und -
politik von Österreich geliefert. In weiterer Folge werden die Bestimmungen zur Einreise von
bosniakischen Flüchtlingen in den 1990er Jahren dargestellt. Das Kapitel wird mit der
rechtlichen Situation der bosniakischen Flüchtlinge abgeschlossen. Hierbei wird vor allem auf
den Zugang zum Arbeitsmarkt und die Integrationsmaßnahmen eingegangen.
3
Im empirischen Teil dieser Masterarbeit wird einleitend auf die ausgewählte Methode
Rücksicht genommen. Hierbei werden vor allem die theoretischen Grundzüge der empirischen
Sozialforschung und des Leitfadeninterviews dargelegt. Im Kapitel Forschungsverlauf wird auf
die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten Leitfadeninterviews eingegangen. Es wird ein
Überblick über die Interviewsituation und die InterviewpartnerInnen geliefert. Im letzten
Kapitel der empirischen Untersuchung wird eine Auswertung der Interviews vorgenommen.
Hierbei werden die zwei Generationen separat voneinander untersucht. Schließlich wird in
einem letzten Unterkapitel ein Vergleich zwischen Generationen gezogen, bei welchem vor
allem auf die Unterschiede zwischen den Generationen Bezug genommen wird.
.
4
2. Theorie
2.1 Migration
Dieses Kapitel setzt sich mit dem Thema der Migration auseinander. Neben wichtigen
Begriffen und Definitionen von Migration, wird auch auf die Anfänge der Migrationsforschung
eingegangen. Zum Abschluss dieses Kapitels werden einige Migrationsformen vorgestellt.
2.1.1 Definition und Geschichte
Migration ist ein sehr vielfältiger Begriff, welcher keine eindeutige Definition zulässt. In der
Wissenschaft kann man viele unterschiedliche Definitionen finden. Eine abschließende
Klärung des Begriffes Migration wurde von den ForscherInnen noch nicht gefunden. Migration
vollzieht sich in unterschiedlichen Facetten und ist somit kein homogener Prozess. 2 Der
Ursprung des Wortes liegt im lateinischen Wort - migrare - und bedeutet Ortswechsel. Bei der
Migration handelt es sich also ganz allgemein um eine räumliche und soziale Ortsveränderung,
welche durch weitere zahlreiche Kriterien näher bestimmt wird. Solche Kriterien sind u.a.
Entfernung, Dauer, Zweck, Freiwilligkeit bzw. Unfreiwilligkeit.3
Nach der Internationalen Organisation für MigrantInnen ist Migration:
„The movement of a person or a group of persons, either across an international border, or
within a State. It is a population movement, encompassing any kind of movement of people, whatever its length, composition and causes; it includes migration of refugees, displaced
persons, economic migrants, and persons moving for other purposes, including family
reunification.“4
Die Migration wird auf Grund der Entfernung in die Binnenmigration und in die
grenzüberschreitende Migration unterteilt. Aus der nationalen Perspektive kommt es zu einer
internationalen Migration erst durch die Überschreitung einer Staatsgrenze. Bei den zeitlichen
Kriterien der Migration unterscheiden wir permanente, kurzfristige und nicht-permanente
Migrationen. Bei der permanenten, bzw. dauerhaften Migration, handelt es sich um eine
2 HÖLLMANN André, Flucht ins ungeliebte Land. Die Asyl- und Migrationspolitik der europäischen Union. Marburg 2014, 33. 3 Hoesch, Migration und Integration. Eine Einführung. Wiesbaden 2018, 16. 4 IOM, International Organisation for Migrants, Key Migration Terms. In:
Amerika lieferte eine weitere Periode von Bewegungen. Viele Millionen Arbeitskräfte
emigrierten aus den wirtschaftlich stagnierten Orten des nördlichen, östlichen und südlichen
Europas. Auch die an Hunger leidenden Iren fuhren zwischen 1850 und 1930, bis zur großen
Depression, in die Vereinigten Staaten von Amerika. Es bestehen noch sehr viele weitere
Beispiele von Migrationen der Menschen, die jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen
würden. Wichtig zu erwähnen ist, dass Migration in Verbindung mit großen globalen
Phänomenen steht, wie Krieg, Revolution und Aufstieg und Fall von Reichen. Des Weiteren
kommt es auch bei politischen Transformationen und wirtschaftlichen Expansionen, aber auch
bei Konflikten, Verfolgung und Enteignung zur Migration10
2.1.2 Anfänge der Migrationsforschung
Aufgrund von unterschiedlichen ökonomischen, ökologischen, sozialen, kulturellen, aber auch
religiös-weltanschaulichen Rahmenbedingungen kam es innerhalb unserer Geschichte zu
vielen Migrationen. Da Migration sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart mehrere
Lebensbereiche durchdringt, benötigt die Migrationsforschung grundsätzlich inter- und
transdisziplinäre Forschungsansätze. Diese große Spannweite der Migrationsforschung kann
zum Beispiel an den wanderungsbestimmten Motivationen erkannt werden. Diese können in
unterschiedliche Bereiche unterteilt werden, so u. a. z.B.: wirtschaftliche, beruflich-soziale oder
umweltbedingte Bereiche.11
In diesem Kapitel werden einige historische Theorien vorgestellt, die für die
Migrationsforschung von Bedeutung waren und es teilweise noch immer sind. Seit Beginn des
19. Jahrhunderts haben WissenschaftlerInnen versucht, Wanderbewegungen der Bevölkerung
in Theorien zu fassen. Hierbei lassen sich im Groben zwei Theorieschulen voneinander
unterscheiden. Die erste Theorieschule fokussiert sich auf ökonomische Aspekte und betrachtet
die Migration in Zusammenhang mit Arbeitsmarkt, Angebot und Nachfrage von Arbeitskräften.
Die zweite Theorieschule bezieht sich eher auf politische, soziologische und/oder kulturelle
Aspekte der Migration.12
10 KOSER Khalid, International Migration. A very short introduction. New York 2007, 1-3. 11 BADE Klaus, Sozialhistorische Migrationsforschung. Göttingen 2004, 27f. 12 HAHN Sylvia, Historische Migrationsforschung. Frankfurt am Main 2012, 29f.
7
Die erste Theorieschule beschäftigt sich vor allem mit der Frage, warum Menschen ihr
Herkunftsland verlassen. Ernest George Ravenstein versuchte statistische Regeln für die
Richtung und Entfernung von Wanderungen aufzustellen. Er war ein Demograph, welcher in
seinem Werk Gesetze der Wanderung die Binnenwanderung zur Zeit der Industrialisierung und
Urbanisierung in England untersuchte. 13 Ravenstein´s Gesetze beeinflussten die
Migrationsforschung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Durch sein Werk wurde Migration
nach Distanz, zeitlichen Dimensionen und Geschlecht neu klassifiziert. Ravenstein sah die
große Nachfrage an Arbeitskräften in den industriellen Zentren Europas als wichtigsten Grund
für die Migration dieser Zeit.14 Durch seine Analyse von zahlreichen statistischen Daten zu
Migrationsbewegungen in den europäischen und nordamerikanischen Ländern kam Ravenstein
zum Schluss, dass die Mehrheit der MigrantInnen nur eine kurze Entfernung in Kleinstädte
zurückgelegt hatte und bei diesen die weiblichen Migrationen überwogen. Weiter kommt es
zum Wachstum der Städte auf Kosten der Entvölkerung der ländlichen Regionen. Rabenstein
war auch der Überzeugung, dass die Migration durch die voranschreitende Entwicklung von
Infrastruktur und Industrie zunehmen wird.15 Die Theorie von Ravenstein wurde durch die
Gravitationsmodelle, welche die Wanderung zwischen Regionen vorhersagen wollen,
fortgeführt. Sie sehen die Ursache von Migrationsbewegungen in unterschiedlichen regionalen
Lohnniveaus.16
Auch in der Habsburgermonarchie konnte man Wanderbewegungen der Bevölkerung von
ärmeren in reichere Orte der Monarchie beobachten. Dieser Ansatz kann als eine frühe Form
des uns heute sehr bekannten Push-and-Pull-Modells betrachtet werden. Unter dem push-
Faktor versteht man unterschiedliche Bedingungen in den Herkunftsregionen, wie zum Beispiel
Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, politische Konflikte usw., welche die Menschen dazu
veranlassen das Gebiet zu verlassen. Gebiete, die diese schlechten Bedingungen nicht
aufweisen und eine prosperierende Wirtschaft aufzeigen können, werden Anziehungsorte (Pull-
Faktor) für MigrantInnen. Seit den 1960er Jahren wird dieses Modell in der historischen
Migrationsforschung als Erklärungsansatz verwendet, jedoch stößt es in der gegenwärtigen
Migrationsforschung auf viel Kritik. Diesem Modell wird u.a. vorgeworfen, sich ausschließlich
auf Angebot und Nachfrage von Arbeitskräften und den Lohndifferenzen der unterschiedlichen
Länder zu fokussieren. In den 1980er Jahren kamen die neoklassischen ökonomischen Theorien
13 STELTZIG-WILLUTZKI Sabina, Soziale Beziehungen im Migrationsverlauf. Brasilianische Frauen
in Deutschland. Hamburg 2011. 46f. 14 HAHN, Historische Migrationsforschung, 2012, 30-34. 15 HAN Petrus, Soziologie der Migration. 3. Auflage. Stuttgart 2010, 37-38. 16 STELZIG-WILLUTZKI, Soziale Beziehungen im Migrationsverlauf. 2011, 46f.
8
in den Vordergrund der Migrationsforschung. Für George J. Borjas war der Einbezug von
mehreren Faktoren wie zum Beispiel finanzielle Möglichkeiten, Alter, Beruf oder politische
Hintergründe in seine Untersuchungen von großer Bedeutung. Vertreter der New Economics of
Migration lehnen den neoklassischen ökonomischen Ansatz ab und sind der Meinung, dass die
These der Lohndifferenzierung als Antrieb der Migration infrage gestellt werden muss. Die
Vertreter, wie Oded Stark und Michel J. Piore, sind überzeugt, dass vielmehr Faktoren, wie
Unsicherheit, Verarmung, Risikovermeidung und die Familie bei der Migration zu
berücksichtigen sind.17
Die Weltsystemtheorie, die auf Immanuel Wallerstein zurückgeht, hat in den 1980er Jahren die
Migrationsforschung stark beeinflusst. Bei dieser Theorie steht das weltweite kapitalistische
Wirtschaftssystem im Vordergrund, welches in drei Zonen aufgeteilt wird: „die core area (das
hoch entwickelte Zentrum), die periphery (die wirtschaftlich rückständige Peripherie) sowie
die semiperiphery, eine Zwischenzone.“ 18 Diese Theorie besagt u.a., dass Arbeitskräfte,
aufgrund schlechter Verbindungen zwischen dem Zentrum und der Peripherie, oft gezielt
engagiert werden. Weiters kommt es zu einer Erneuerung des Migrationspotentials und auch
die Rolle des Staates soll berücksichtigt werden. Migration wird hier als ein System zur
Versorgung des Mangels an Arbeitskräften gesehen. Neben diesen ökonomischen
Migrationstheorien, die sich vor allem auf Arbeitsmärkte und Arbeitskräfte fokussieren, kam
es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert zu einer neuen wichtigen Ausrichtung der
Migrationsforschung. Vor allem SoziologInnen und PolitikwissenschaftlerInnen beschäftigten
sich mit der Eingliederung der MigrantInnen in den Aufnahmegesellschaften19 Dieser Teil der
Migrationsforschung wird in detaillierter Form im 4. Kapitel dieser Arbeit behandelt.
2.1.3 Migrationsformen
In diesem Unterkapitel werden einige unterschiedliche Formen der Migration vorgestellt. Hier
muss jedoch erwähnt werden, dass nicht alle Formen der Migration berücksichtigt werden
können und deshalb nur eine Auswahl bereitgestellt wird.
Die Binnenmigration ist die Bewegung und Relokalisierung von Menschen innerhalb
Staatsgrenzen. Menschen migrieren von einem Teil des Landes in einen anderen, mit der
Hoffnung auf ein besseres Leben.20 Obwohl die Binnenmigration quantitativ bedeutender ist,
wird sie von der Migrationsforschung in einem weitaus geringeren Rahmen behandelt als die
grenzüberschreitende Migration. Die Binnenmigration wird auf das Dreifache der weltweiten
internationalen Migration geschätzt. Die Gründe einer Migration sind bei der Binnenmigration
und der grenzüberschreitenden Migration sehr ähnlich. So kommt es bei beiden Varianten zu
Flucht, Vertreibung, Familien-, Arbeits-, Bildungs- und Heiratsmigration.21 Mit dem Aufstieg
der globalen Wirtschaft und der steigenden Bedeutung von urbanen Zentren, konnten vermehrte
Bewegungen von ruralen Gegenden in Städte beobachtet werden.22
Nach dem World Urbanization Prospect 2018, leben mehr als 55% der Weltbevölkerung in
urbanen Zentren. Seit 1950 stieg die Zahl der Bewohner urbaner Zentren von 751 Millionen
auf 4,2 Billionen. 23 Ein wichtiges Beispiel der Binnenmigration liefern uns die
innenchinesischen Bewegungen. Nach dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas in den 1980er
Jahren stieg der Anteil der BinnenmigrantInnen von 15,2 Millionen Menschen im Jahr 1987
auf 221 Millionen im Jahr 2010. Ungefähr drei Viertel der chinesischen Binnenmigration
umfasst ArbeitsmigrantInnen. Aufgrund von Lohnunterschieden und Arbeitsangeboten
wandern die Menschen in die wirtschaftlich prosperierenden Zentren, in welchen heute mehr
als die Hälfte der chinesischen Bevölkerung beheimatet sind. Von diesem Phänomen sind neben
China auch viele andere Länder, wie Brasilien und Indonesien, betroffen.24
2.1.3.2 Grenzüberschreitende Migration
Neben der Binnenmigration ist ein zweiter wichtiger Migrationstyp die grenzüberschreitende
oder internationale Migration. Genauso wie die Binnenmigration, führt auch die
grenzüberschreitende Migration zum Wachstum der Bevölkerung in urbanen Zentren der Welt.
20 HANLON Bernadette/ VICINO Thomas J., Global Migration. The Basics. New York 2014, 3. 21 HOESCH, Migration und Integration. 2018, 56. 22 HANLON/ VICINO, Global Migration. 2014, 3. 23 UNITED NATIONS, World Urbanisation Prospects. The 2018 Revision. In:
Diese Art von Migration ist für diese Arbeit von großer Bedeutung, da im empirischen Teil der
Arbeit, zum Teil Menschen untersucht werden, die in Folge des Bosnien Krieges 1992-1995
nach Österreich geflüchtet sind. Diese Personen waren vor allem de-facto Flüchtlinge bzw.
erhielten subsidiären Schutz, aufgrund des im Jahr 1967 zusätzlich abgeschlossenen Protokolls
im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention.
2.2 Integration
2.2.1 allgemein: Was ist Integration?
Nach Hoesch36 ist der Begriff der Integration sehr diffus und wird häufig in unterschiedlichen
Kontexten verwendet. Hierbei ist es wichtig zu definieren, in welchem
Verwendungszusammenhang der Begriff Integration verwendet wird. Hoesch unterscheidet
zwischen wissenschaftlich-theoretischen Konzepten sowie konkreten integrationspolitischen
Ansätzen und Modellen. Des Weiteren meint sie, dass vor allem im politischen Kontext die
Unbestimmtheit des Begriffes zu Missverständnissen führt, welche oft bewusst in Kauf
genommen werden.
Integration stammt aus dem lateinischen Begriff integrare, das so viel bedeutet wie (Wieder-)
Herstellung einer Einheit. Laut Duden bestehen vier verschiedene Möglichkeiten der Definition
von Integration. Die erste Möglichkeit sieht die Integration als eine Wiederherstellung eines
Ganzen. Zweitens kann Integration als die Eingliederung in ein größeres Ganzes verstanden
werden. Drittens ist Integration ein Zustand, in dem sich etwas befindet, nachdem es integriert
worden ist. Die vierte und letzte Möglichkeit ist für diese Arbeit irrelevant und bezieht sich auf
die mathematische Berechnung eines Integrals.37
Der Begriff Integration setzte sich im öffentlichen, politischen und auch wissenschaftlichen
Diskurs durch. Es kann als Vergesellschaftung von Migrant_innen verstanden werden und
umfasst eine Vielzahl von Konnotationen, welche von Assimilation bis Multikulturalismus
reichen können. Der Integrationsbegriff etablierte sich in den europäischen Ländern
36 HOESCH: Migration und Integration. 2018, 79. 37 DUDEN, Das große Fremdwörterbuch. 1994, 643.
14
grundsätzlich und steht für einen durch die Einwanderung verursachten sozialen Wandel,
dessen Folgen schwer einzuschätzen sind.38
Im Zentrum soziologischer Forschung stehen die Formen und Mechanismen von Integration.
Integration kann im wörtlichen Sinn als gegenseitige Abhängigkeit von Teilen eines Ganzen
verstanden werden und beschreibt die Funktionsfähigkeit von Gesellschaften. Durch sich
verstärkende internationale Migrationsbewegungen begann sich die soziologische Forschung
verstärkt mit Integration zu beschäftigen. WissenschaftlerInnen unterscheiden bei der Analyse
von Integrationsprozessen zwei unterschiedliche Formen: die System- und die
Sozialintegration. Unter Systemintegration wird das Geschehen auf der Makroebene sowie die
Beziehung zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen verstanden. Die Sozialintegration umfasst
die Beziehungen zwischen Individuen und den damit verbundenen Prozessen.39
Im Laufe dieses Kapitels werden die wichtigsten theoretischen Ansätze und Konzepte der
Integration vorgestellt. Es ist wichtig zu erwähnen, dass der Begriff Integration in
unterschiedlichen Kontexten und Theorien unterschiedlich aufgefasst werden kann.
Angefangen bei den unterschiedlichen Assimilationstheorien, beschäftigt sich das Kapitel mit
den Konzepten des Multikulturalismus und des Transnationalismus. Darüber hinaus wird auf
die Kritik der verschiedenen Konzepte eingegangen.
2.2.2 Integrationskonzepte bzw. -ansätze
Im Laufe der Geschichte wurden unterschiedliche Theorien in Bezug auf die Integration
entwickelt. Bei diesen Theorien unterscheiden sich die Ziele genauso wie die Zielgruppen von
Integration stark voneinander. Integration kann zum Beispiel das Ziel der Angleichung der
Verhaltensweisen, der Werte oder Praktiken an die Aufnahmegesellschaft verfolgen. Hierbei
wären die eingewanderten Personen die Zielgruppe der Integration. Integration kann aber auch
als ein Prozess aufgefasst werden, in welchem sowohl die Herkunfts- als auch
Aufnahmegesellschaft ihren Beitrag zu leisten haben. Die Integration stellt sich als ein Problem
38 AUMÜLLER Jutta, Assimilation. Kontroversen um ein emigrationspolitisches Konzept. Bielefeld 2009, 44f. 39 TELTEMANN Janna / WINDZIO Michael, Soziologische Migrations- und Integrationsforschung. In:
Debora B. MAEHLER / Heinz Ulrich BRINKMANN (Hgg.), Methoden der Migrationsforschung. Ein interdisziplinärer Forschungsleitfaden. Wiesbaden 2016, 175.
15
des Zusammenhalts der gesamten Gesellschaft dar und zielt auf Phänomene, wie z. B. soziale
Mobilität und gleiche Zugangschancen zum Bildungssystem.40 Die unterschiedlichen Theorien
der Integration werden in diesem Kapitel genauer behandelt. Dadurch wird ein Überblick über
die unterschiedlichen Auffassungen von Integration geliefert.
2.2.2.1 Assimilationstheorien
Was genau bedeutet Assimilation? Der Begriff kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so
viel wie „Ähnlichmachung“, „Angleichung“ und „Anpassung“. Im Kontext der Migration und
Integration wird unter Assimilation die Anpassung der Minderheitsgesellschaft bzw. der
Herkunftsgesellschaft an die Maßstäbe, Normen und Verhaltenskodizes der
Mehrheitsgesellschaft bzw. der Aufnahmegesellschaft verstanden.41 Unter Assimilation kann
außerdem eine Reduktion bzw. ein Verschwinden von Unterschieden zwischen zwei Gruppen
verstanden werden. Es ist ein Prozess, in dem kulturelle und soziale Divergenzen und
Identitäten zwischen verschiedenen Ethnien verschwimmen und letztendlich auch
verschwinden. Die Migrationsforschung versucht durch empirisch-analytische Methoden
herauszufinden, inwieweit Assimilationsprozesse tatsächlich stattfinden und welche Bedeutung
sie für die Integration haben.42
Im europäisch-historischen Kontext war das Konzept der Assimilation vor allem im 19. und 20.
Jahrhundert ein Versuch, kulturell homogene Nationen zu schaffen. Dabei stand die
Assimilation für kulturelle Unterdrückung von ethnischen und nationalen Minderheiten sowie
der Versuch, Minderheiten zur Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft zu zwingen.43 Hoesch44
ist der Meinung, dass vor allem im politischen Kontext der Begriff der Assimilation einen etwas
anrüchigen Ruf besitzt, da man eine einseitige und unreflektierte Anpassung seitens der
MigrantInnen fordert. Die Assimilationstheorien haben sich aber im Laufe der Zeit
weiterentwickelt. Das folgende Kapitel hat deswegen die unterschiedlichen Ausprägungen
bzw. Theorien der Assimilation zum Gegenstand.45
40 HOESCH: Migration und Integration. 2018, 82. 41 Ebd., S. 82. 42 HANS Silke, Theorien der Integration von Migranten. Stand und Entwicklung. Wiesbaden 2016, 27. 43 HECKMANN Friedrich, Integration von Migranten. Einwanderung und neue Nationenbildung.
In der Soziologie wird der Begriff Assimilation durch frühe Arbeiten US-amerikansicher
Migrationssoziologen eingeführt. Schon im Jahr 1890 wurde eine wissenschaftliche
Abhandlung über die Einwanderung und speziell die Assimilation von Richmond Mayo-Smith,
dem damaligen Professor für Politische Ökonomie und Sozialwissenschaften an der Columbia
Universität in New York veröffentlicht. In dieser vertritt Mayo-Smith die Meinung, dass
Integration durch die sprachliche, politische und ideelle Amerikanisierung von Einwanderern
stattfinden kann. Der Begriff Assimilation war um 1910 in den USA eingebürgert und wurde
bis dahin unsystematisch mit Amerikanisierung gleichgesetzt. Erst mit der Chicago School in
den 1920er Jahren kam es zu einer wissenschaftlichen Systematisierung des Begriffs.46 Hierzu
entstanden wichtige Untersuchungen von Wissenschaftlern wie William I. Thomas, Florian
Znaniecki sowie Robert T. Park und Ernest W. Burgess.47
Das Thema der Einwanderung wurde in den Vereinten Staaten von Amerika um einiges früher
behandelt als im deutschsprachigen Raum. Die Zentren der wissenschaftlichen Forschung
waren vor allem die urbanen Zentren Chicago und New York. Die Geschichte der USA war
von Anfang an mit großen Einwanderungsbewegungen verbunden. Dadurch wurde dieser
Themenkomplex in der amerikanischen Soziologie schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts
behandelt. Im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Diskussion stand die Frage, wie sich
Einwanderer an die Bedingungen der neuen Aufnahmegesellschaft anpassen würden. Dabei
gingen die WissenschaftlerInnen vor allem davon aus, dass es zu einer Assimilation im Laufe
der Zeit kommen würde.48
Die deutsche Sozialwissenschaft hat zu dieser Zeit noch lange keine wissenschaftliche
Systematisierung des Begriffs. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts findet sich der
Begriff Assimilation in deutschen Wörterbüchern. Eine vergleichbare Migrationsforschung zur
Amerikanischen entsteht im deutschsprachigen Raum erst in den 70er Jahren mit der
Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften.49
46 AUMÜLLER, Assimilation. 27ff. 47 HAHN, Historische Migrationsforschung. 2012, 34. 48 HANS, Theorien der Integration von Migranten. 2016, 28. 49 AUMÜLLER, Assimilation. 2009, 31f.
17
Im Zentrum der Chicago School Forschungen standen die Arbeiten von Robert E. Park, Ernest
W. Burgess und anderen wichtigen Soziologen. Die Chicago School of Sociology war von einer
evolutionistischen Orientierung mit einem sozialökologischen Ansatz geprägt. Sie versteht
unter Assimilation eine natürlich erfolgende Anpassung an eine neue, sich ständig wandelnde,
mit begrenzten Ressourcen, sich weiterentwickelnde Umgebung. Zwischen 1910 und 1930
konnte sie unter Leitung von William I. Thomas und Robert E. Parks an Einfluss gewinnen.
Die Chicago School war davon überzeugt, dass eine Großstadt nicht nur räumliche Verdichtung
bedeutet, sondern vielmehr einen sozialen Organismus darstellt.50
Der zentrale Standpunkt der Chicago School ist, dass Assimilation für die Einwandernden von
großer Bedeutung ist und ein Anreiz zur Assimilation an die Mittelschicht der amerikanischen
Gesellschaft besteht, weil damit u.a. eine soziale Aufwärtsmobilität im Beruf und Bildung
ermöglicht wird. Es geht vor allem um die Frage, wie und wie schnell sich Assimilation bei
unterschiedlichen Bedingungen vollzieht. Dieses Phänomen der Assimilation verbreitet sich
über Generationen und schreitet immer weiter fort. Dadurch, dass diese Theorie einen
geradlinigen Weg über Generationen hinweg darstellt, wird sie auch Straight Line-Theorie
genannt.51 Da es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer rasanten Migrationseinwanderung in
Chicago kam, konnten die Soziologen der Chicago School (Robert E. Parks, Williams und
Ernest W. Burgess) die räumlichen Ansiedlungsstrukturen gut untersuchen. Im Gegensatz zur
europäischen bildete die US-amerikanische Migrationssoziologie einen kontinuierlichen
Forschungsschwerpunkt auf der räumlichen Segregation und Ghettoisierung. Park und Burgess
entwickelten infolge dieser Untersuchungen ein Modell der Stadtökologie, welches besagt, dass
die Ausdehnung der Stadt aufgrund von Einwanderung in einer strukturierten Art und Weise
stattfindet.52
Robert E. Park war einer der berühmtesten Vertreter der Chicago School. Er schaffte es
gemeinsam mit Burgess die Begriffe Assimilation und Akkulturation, welche bis dahin noch
gleichgesetzt wurden, voneinander abzugrenzen.53 So etwa ist Akkomodation ein Prozess der
Anpassung. Es ist ein Ausgleich in sozialen Beziehungen, damit Konflikte reduziert und der
Wettbewerb kontrolliert werden kann. Somit entsteht eine geregelte Beziehung zwischen
50 Ebd., S. 48. 51 HANS, Theorien der Integration von Migranten. 2016, 29. 52 AUMÜLLER, Assimilation. 2009, 49. 53 Ebd., S. 51.
18
Personen unterschiedlicher Herkünfte und Interessen. Ein weiteres wichtiges
Unterscheidungsmerkmal ist die Zeitdauer. Zu einer Akkommodation kann es sehr schnell
kommen, indem man z. B. einen Konflikt beilegt. Der Prozess der Assimilation findet jedoch
meistens unbewusst und ungesteuert statt.54
Nach der Auffassung von Park ist die Assimilation bzw. Integration von Zuwanderern ein
melting pot, in welchem alle zugewanderten Gruppen in einen neuen Typus des Amerikaners
verschmelzen. Park definiert gemeinsam mit Burgess die Assimilation als einen Prozess der
Verschmelzung, in welchem Personen Erinnerungen, Empfindungen und Einstellungen von
Anderen akquirieren, sich Erfahrungen und Geschichten teilen und somit in ein gemeinsames
kulturelles Leben eingebunden werden. Im Laufe der Zeit stellt Park fest, dass eine Übernahme
der Kultur noch lange keine Assimilation bedeutet. Er führt an, dass Assimilation nur in einem
Umfeld stattfinden kann, in welchem keine Diskriminierung und kein Rassismus
vorherrschen.55
Als Beobachter von räumlichen und sozialen Entwicklungen in nordamerikanischen
Einwanderungsstädten entwickelten Park und Burgess eine Systematik zu
Anpassungsprozessen von Einwanderern. Im von ihnen entwickelten Modell Race Relation
Cycle wird Assimilation als ein progressiver und irreversibler Prozess verstanden, in welchem
man nach mehreren Stufen eine vollständige Eingliederung bzw. Angleichung an die
Aufnahmegesellschaft erreicht.56 Dieser zwangsläufige und irreversible Prozess der Anpassung
an eine neue Umgebung verläuft in fünf Phasen: Kontakt, Wettbewerb, Konflikt,
Akkomodation und Assimilation.57
Laut Park und Burgess beginnt dieser Prozess mit einem ersten Zusammentreffen zweier oder
mehrerer Kulturen. Durch eine bestimmte Menge an Ressourcen kommt es früher oder später
zu einem Wettbewerb, welcher sich in der dritten Phase in einen Konflikt und Diskriminierung
weiterentwickeln kann. Mit der Akkommodation wird der Konflikt in der vierten Phase beendet
und es kommt zu einer gefestigten gesellschaftlichen Struktur, in welcher ungleiche
54 Ebd., S. 52. 55 Ebd., S. 51. 56 Ebd., S. 48. 57 HOESCH, Migration und Integration. 2018, 84.
19
Beziehungen nicht ausgeschlossen sind. In der letzten Phase wird der Prozess durch die
Assimilation abgeschlossen und es folgt eine Vermischung mit der Mehrheitsgesellschaft.58
Solche Prozesse mit zeitlicher Abfolge sind in der Assimilationstheorie häufig anzutreffen. So
entwickelten auch die beiden Soziologen Milton M. Gordon und Shmuel N. Eisenstadt
Phasenmodelle für ihre Assimilationstheorien.59
Assimilation nach Gordon:
Im Gegensatz zu Park und Burgess, versucht Gordon mit seinem Konzept die unterschiedlichen
Bereiche, in welchen Assimilation stattfindet, zu beschreiben. In seinem Werk Assimilation in
American Life aus dem Jahr 1964 behandelt Gordon diese Teilprozesse der Assimilation. Für
Gordon bestehen auf der gesellschaftlichen Ebene drei verschiedene Möglichkeiten der
Integration. Die erste Möglichkeit ist eine einseitige Assimilation der Eingewanderten an die
Mehrheitsgesellschaft. Der Melting Pot stellt die zweite Möglichkeit dar und beschreibt die
gegenseitige Assimilation der beiden Kulturen. Die dritte und letzte Möglichkeit ist das Modell
Salad Bowl. Hierbei mischen sich die unterschiedlichen Kulturen, wobei die ethnischen
Unterschiede erhalten bleiben. Für Gordon war die einseitige Assimilation für die USA der
1960er Jahre am wahrscheinlichsten, obwohl alle drei Optionen theoretisch möglich gewesen
wären.60
Gordon geht es bei seinen Untersuchungen nicht um das kulturelle Verhalten der einzelnen
Individuen, sondern er legt seinen Fokus auf die Analyse der sozialen Struktur von Gruppen.
Hierbei interessiert er sich nicht für Prozesse innerhalb der Gruppen, vielmehr beobachtet er
die Positionierung des Individuums innerhalb eines sozialen Bezugsfeldes. Dieses Bezugsfeld
wird durch Faktoren, wie ethnische, religiöse oder nationale Zugehörigkeit, aber auch durch
den sozialen Status, Beruf, Bildung usw. bestimmt. Anders als Gordon, sieht Park die soziale
Platzierung als eine implizite Voraussetzung im Vergesellschaftungsprozess von Zuwanderern.
Für Gordon ist Assimilation ein sozialer Prozess und muss von der Akkulturation bzw. der
kulturellen Anpassung des Einzelnen differenziert werden. Im Prozess der Assimilation
58 AUMÜLLER, Assimilation. 2009, 54. 59 HOESCH, Migration und Integration. 2018, 84. 60 HANS, Theorien der Integration von Migranten. 2016, 30.
20
unterscheidet Gordon die Verhaltensassimilation, welche sich auf die Individuen als Akteure
bezieht und die strukturelle Assimilation, welche die gesellschaftlichen Voraussetzungen für
die Assimilation in den Mittelpunkt stellt.61
Gordon unterscheidet in seinem Modell von Assimilation sieben Teilprozesse. 1. Unter
Akkulturation versteht er die Veränderung von kulturellen Verhaltensweisen, bei welcher es zu
einer Annäherung an die Aufnahmegesellschaft kommt, z. B.: Sprache. 2. Die strukturelle
Assimilation kennzeichnet einen Eintritt in die Gruppen bzw. Institutionen der
Aufnahmegesellschaft. Dabei spielen für Gordon vor allem die Primärbeziehungen eine
wichtige Rolle. 3. Die „Martial Assimilation“ bezieht sich auf die Entstehung von
interethnischen Beziehungen bzw. Partnerschaften. 4. Bei der indentifikativen Assimilation
entsteht bei der Einwanderungsgesellschaft ein Zugehörigkeitsgefühl zur
Mehrheitsgesellschaft. 5. Die bürgerliche Assimilation bedeutet, dass keine Wert- oder
Machtkonflikte entstehen, wenn Eingewanderte am öffentlichen Leben teilnehmen. So zum
Beispiel bei der Forderung nach der Gleichstellung von religiösen Minderheiten. Die letzten
beiden Teilprozesse weisen auf das Fehlen von Vorurteilen und Diskriminierung bei der
Mehrheitsbevölkerung gegenüber Minderheiten hin.62
Das Modell von Gordon ist kein linearer Stufenprozess, allerdings stellt es eine Fülle an Feldern
bereit, in welchen Assimilation stattfindet. So können sich die einzelnen Prozesse unabhängig
voneinander weiterentwickeln. Für Gordon ist die strukturelle Assimilation von ganz
besonderer Bedeutung für die Assimilation, da sobald diese stattgefunden hat, alle anderen
Teilprozesse im Laufe der Zeit folgen werden. Im Falle des Eintrittes der Akkulturation kommt
es nicht unbedingt zu einer strukturellen Assimilation.63
Assimilation nach Eisenstadt:
Auch der Soziologe Shmuel N. Eisenstadt analysiert in seinem Werk The Absorption of
Immigrants aus dem Jahr 1954 Migrationsbewegungen mit einem starken Fokus auf der
jüdischen Migration in Israel. Durch seine empirischen aber auch historischen Untersuchungen
stellt Eisenstadt fest, dass die Anpassungsprozesse von historischen und sozialen Kontexten
61 AUMÜLLER: Assimilation. 2009, 59. 62 HANS, Theorien der Integration von Migranten. 2016, 30. 63 AUMÜLLER, Assimilation. 2009, 60f.
21
abhängen und auch unterschiedliche Resultate in unterschiedlichen Kontexten herauskommen
können. In seinem Werk bezieht sich Eisenstadt auf den Begriff Anpassung. Eisenstadt versteht
unter Anpassung, dass MigrantInnen ihr Verhalten auf die geforderten Rollen im
gesellschaftlichen System anpassen. Anpassung umfasst drei Aspekte: das Erlernen von
unterschiedlichen gesellschaftlichen Rollen; Entwicklung sozialer Beziehungen mit den
Einheimischen; Entstehung einer positiven Identifikation mit der sozialen Struktur und dem
Wertesystem der Mehrheitsgesellschaft.64
Nach Eisenstadt benötigt die Integration in eine neue Gesellschaft eine große
Anpassungsleistung der Eingewanderten. Absorption wird als ein komplexes soziales
Phänomen analysiert, bei welchem gesellschaftliche Bereiche eine wichtige Rolle spielen.
Wichtig zu erwähnen ist, dass Assimilation für Eisenstadt nicht unbedingt einen linear
verlaufenden Prozess darstellt. Somit wendet er sich vom melting pot und einer
gesellschaftlichen Konformität ab.65
Assimilation nach Hartmut Esser:
Im deutschen Sprachraum beschäftigte sich Hartmut Esser als einer der ersten Soziologen
systematisch mit Migration und Integration. Nach Esser wägen die MigrantInnen die Kosten
und Nutzen bzw. die Vor- und Nachteile ab, bevor es zu einer assimilativen oder nicht
assimilativen Handlung kommt. Wenn sich eine Investition für die MigrantInnen nicht auszahlt,
werden sie diese unterlassen, so zum Beispiel werden MigrantInnen die deutsche Sprache eher
nicht erlernen, wenn sie in wenigen Wochen vorhaben, das Land wieder zu verlassen. Ob es
also zu einer Integration der MigrantInnen kommt, ist zuerst von deren Bereitschaft der
Investition abhängig. Diese Bereitschaft wird durch die Faktoren wie Alter, Aufenthaltsdauer
und Bildung der MigrantInnen bedingt.66
Esser unterscheidet zwischen der Systemintegration und der Sozialintegration. Bei der
Systemintegration handelt es sich um den Zusammenhalt und das gleichgewichtige
Funktionieren einer Gesellschaft, egal ob diese homogen oder heterogen bestehen.67 Nach
Esser kommt es zu einer Systemintegration der gesamten Gesellschaft dann, wenn sich die
64 Ebd., S. 66f. 65 Ebd., S. 69f. 66 HANS, Theorien der Integration von Migranten. 2016, 31. 67 ESSER Hartmut, Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 2. Die Konstruktion der Gesellschaft.
Frankfurt/ Main 2000, 286.
22
verschiedenen Gruppen relativ spannungsfrei zueinander befinden. Hierbei handelt es sich vor
allem um Beziehungen in Waren- und Arbeitsmärkten, über das Medium des Geldes oder auch
in rechtlichen Angelegenheiten. Hierbei wird keine Loyalität zum Aufnahmeland erwartet und
es sind keine kulturellen Gemeinsamkeiten notwendig. Für die Systemintegration muss die
Sprache des Aufnahmelandes nicht verstanden werden und diese Menschen können sich auch
nur in der ethischen Gemeinde bewegen. Es wird deutlich, dass zwischen der System- und
Sozialintegration keine zwingende Beziehung besteht und sie nicht in jeder inhaltlichen Sache
miteinander verbunden sind.68
Die Sozialintegration bezieht sich auf die AkteurInnen innerhalb eines Systems. Hierbei können
sich die AkteurInnen nicht nur in die Aufnahmegesellschaft integrieren, sondern auch in die
Herkunftsgesellschaft. Hierzu differenziert Esser vier verschiedene Typen der
Sozialintegration. Je nachdem, ob sich MigrantInnen an der Herkunfts- oder
Aufnahmegesellschaft orientieren, bestehen vier Möglichkeiten der Sozialintegration.
MigrantInnen sind marginalisiert, wenn sie sich weder in die Herkunfts- noch in die
Ankunftsgesellschaft integrieren. Bei der Mehrfachintegration handelt es sich um eine
Integration sowohl in der Herkunfts- als auch in der Aufnahmegesellschaft. Dieser Typ der
Sozialintegration tritt nach Esser jedoch sehr selten auf, da hohe Qualifikationen hierfür
vorhanden sein müssen. Der dritte Typ der Sozialintegration ist die Segmentation, bei welcher
es zu einer Integration in der Herkunftsgesellschaft kommt, aber nicht in der
Aufnahmegesellschaft. Wenn es ausschließlich zu einer Integration in der
Aufnahmegesellschaft kommt, spricht man von der Assimilation.69
Abb. 1: 4 verschieden Typen der Sozialintegration nach Esser. 70
Nach Esser ist die Sozialintegration in die Aufnahmegesellschaft nur durch die Assimilation
möglich. Assimilation bedeutet bei Esser allgemein „Angleichung“ der unterschiedlichen
Gruppen in bestimmten Bereichen (z. B.: Sprachverhalten). Er meint hierzu:
„Dabei ist immer von einer Angleichung in gewissen Verteilungen der verschiedenen Gruppen auszugehen, weil ja auch die einheimische Bevölkerung nicht homogen ist.
[…] Es kann selbstverständlich soziale Ungleichheiten auch bei Assimilation geben,
aber diese Ungleichheiten dürfen sich zwischen den ethnischen Gruppen nicht
unterscheiden.“71
In anderen Worten kann man sagen, dass für Esser Assimilation nicht bedeutet, dass alle
Unterschiede der Menschen aufgelöst werden müssen und dass eine einseitige Anpassung an
die Gesellschaft stattfindet. Vielmehr sollen die systematischen Unterschiede und Merkmale
zwischen den Gruppen verringert werden.72
In der Sozialintegration bestehen vier Dimensionen der Assimilation: kulturelle, strukturelle,
soziale und identifikative. Alle vier Dimensionen stehen im Zusammenhang und können sich
förderlich auf die jeweils andere Dimension auswirken. Bei der kulturellen Dimension handelt
es sich um das Erlangen von Wissen und Kompetenzen, mit welchen die AkteurInnen
interagieren können (z. B.: Sprache). Die strukturelle Dimension kennzeichnet sich durch die
Platzierung innerhalb der Gesellschaft (z. B.: Bildungsabschlüsse, Berufspositionen). Die
soziale Dimension bezieht sich auf soziale Beziehungen wie Freundschaften oder
Partnerschaften. Bei der identifikativen Dimension kommt es zu einer Bindung der
AkteurInnen an die Gesellschaft. Hierbei kommt es zu einer Werterhaltung, mit der er sich als
identisch mit der Aufnahmegesellschaft begreift.73
Esser ist der Meinung, dass ethnische Gruppen das Recht haben, ihre Religion und Kultur zu
praktizieren, jedoch sollen sie diese im Privaten und ohne staatliche Unterstützung ausüben.
Genauso möchte er die Privilegien der einheimischen Gruppen abschaffen. Er verweigert die
staatliche Unterstützung für spezielle Gruppen und gewährt diesen individuelle Rechte. Dieser
Punkt ist ein wichtiger Unterschied zu den Theorien des ethnischen Pluralismus und
Multikulturalismus, welche im vierten Kapitel näher betrachtet werden.74
71 ESSER, Soziologie. 2000, 288. 72 Ebd., S. 289. 73 HANS: Theorien der Integration von Migranten. 2016, 33. 74 HOESCH, Migration und Integration. 2018, 92.
24
Die Theorie von Esser unterscheidet sich in mehreren Punkten von den anderen theoretischen
Ansätzen. So ist Esser´s Theorie allgemeintheoretisch fundiert, die einzelnen
Assimilationsdimensionen werden ganz genau erläutert und der Begriff der Assimilation wird
von Esser in einer anderen Weise verwendet. Zwar ist diese Theorie im deutschen Sprachraum
sehr bekannt, wird aber international kaum angewendet.75
Kritik am klassischen Assimilationsansatz:
Die Straight-Line-Theorie zählte bis in die 1960er Jahre zu einem dominanten Konzept in der
Analyse der Integration. Sie geriet jedoch immer stärker in Kritik, da sie als ethnozentrisch und
normativ angesehen wurde und implizit die Angleichung der Minderheiten and die Kultur der
oft als höherwertig angesehenen Mehrheit verlangte. KritikerInnen betonten weiter, dass
keinesfalls immer eine geradlinige Entwicklung der Angleichung über die Generationen
hinweg stattfindet. Assimilation bedeutet deswegen nicht zwingend eine Verbesserung der
Lebenschancen und einen sozialen Aufstieg. 76 Viel Kritik wurde aufgrund der New
Immigration in der USA aus asiatischen und südamerikanischen Ländern in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts geäußert. Denn die neuen ImmigrantInnen folgten anderen
Inkoorporationsmustern als ihre europäischen VorgängerInnen in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts. Eine unumkehrbare Assimilation im Laufe mehrerer Generationen schien hier
nicht mehr der Fall zu sein, da sich die asiatischen und südamerikanischen MigrantInnen anders
verhielten und sich nur ein Teil assimilierte.77
Aufgrund der Kritik und darauffolgenden Abwendung des Blickes von diesen
Assimilationstheorien, kam es im Anschluss zur Entwicklung neuer Konzepte der Assimilation.
Im folgenden Kapitel wird diese neue Assimilationstheorie genauer behandelt.
Neoassimilation:
Aufgrund der starken Kritik an den klassischen Assimilationstheorien entstanden ethnisch-
pluralistische Erklärungsmodelle. In den 1990er Jahren kam es aber zu einer Rehabilitation des
Assimilationsparadigmas in einer veränderten Form. Für die TheoretikerInnen der neuen
75 HANS, Theorien der Integration von Migranten. 2016, 34. 76 Ebd., S. 34. 77 HOESCH, Migration und Integration. 2018, 85.
25
Assimilationstheorien ist die Assimilation ein notwendiges Konzept, um gesellschaftliche
Angleichungen und fortdauernde Unterschiede zwischen Gruppen zu analysieren. Diese neue
Richtung wird auch New Assimilationism oder Neoassimilation genannt. Die meisten Vertreter
dieses Konzeptes distanzieren sich jedoch von den klassischen Konzepten der Assimilation. Sie
versuchen diese kritisch zu erfassen und sie auf deren Brauchbarkeit für die zeitgenössischen
Einwanderungsgesellschaften zu untersuchen.78
Alba und Nee zählen zu den bekanntesten Vertretern des Neoassimilationismus und sehen den
Untergang der klassischen Assimiliationstheorien in der politischen Wahrnehmung der 1970er
Jahre. Damals setzte man die klassischen Assimilationstheorien oft mit der Dominanz der
„weißen“ Mehrheitsgesellschaft gleich. Vor allem wurde die Linearität des
Assimilationsprozesses in den klassischen Konzepten kritisiert und dessen angebliche
Unumgänglichkeit bei der Assimilation. 79Alba und Nee möchten mit ihrer Arbeit Assimilation
Theory for a new Era die Theorie der Assimilation wiederbeleben. Die beiden Soziologen
erkannten, dass in den 1970er und 1980er Jahren das Konzept der Assimilation von vielen
WissenschaftlerInnen als veraltet und überholt angesehen wurde. Trotz der großen Kritik an
den klassischen Assimilationstheorien sind Alba und Nee überzeugt, dass „this social science
concept offers the best way to understand and describe the integration into the mainstream
experienced across generations by many individuals and ethnic groups, even if it cannot be
regarded as a universal outcome of American life“.80 In ihrer Arbeit definieren sie das Konzept
der Assimilation neu, um es für die Untersuchungen der neuen Immigration nützlich zu
machen.81
So wird das neue Konzept der Assimilation wie folgt definiert:
„the decline, and at its endpoint the disappearance, of an ethnic/racial distinction and
the cultural and social differences that express it. This definition does not assume that one of these groups must be the ethnic majority; assimilation can involve minority
groups only, in which case the ethnic boundary between the majority and the merged
minority groups presumably remains intact.“82
78 AUMÜLLER, Assimilation. 2009, 83f. 79 Ebd., S. 86. 80 ALBA Richard / NEE Victor, Rethinking Assimilation Theory for a New Era of Immigration. In: International Migration Review. Immigrant Adaptation and Native-Born Responses in the Making of
Americans. Vol. 31, Nr. 4, The Center for Migration Studies of New York 1997, 827. 81 Ebd., S. 827. 82 Ebd., S. 863.
26
Assimilation bedeutet also, dass im Laufe der Zeit die ethnischen Unterschiede der Gruppen an
Relevanz verlieren und es keine Rolle mehr für die Position der Individuen in der Gesellschaft
spielt. Assimilation kann hierbei Veränderungen bei der Mehrheitsgesellschaft hervorrufen.83
In ihrer 2003 veröffentlichten Monografie Remaking the American Mainstream beschäftigen
sich die beiden Soziologen mit der neuen Assimilationstheorie. Sie beziehen sich auf die neue
ethnisch diverse und dynamische Bevölkerung der USA und versuchen ihr Konzept der
Assimilation an die neuen Umstände anzupassen. Alba und Nee sind der Überzeugung, dass
das Assimilationsmodell für einen Großteil der US-amerikanischen Einwanderer noch immer
Anwendung finden kann, so zum Beispiel bei der Bildung und Beruf der zweiten Generation
oder im Wohnverhalten der Zugewanderten.84
Alternative Modelle zur Assimilation empfinden die beiden als eingeschränkt. So ist die
Pluralisierung in der Reichweite eingeschränkt, da der Bezug zur Herkunftsgesellschaft ab der
zweiten Generation verloren geht. Des Weiteren sehen sie auf längere Zeit keine Attraktivität
in den ökonomischen Möglichkeiten der ethnischen Ökonomien. In der neuen
Assimilationstheorie von Alba und Nee ist die Akkulturation unmaßgeblich. Weiter verläuft
hier Assimilation nicht geradlinig und führt nicht immer zu einem allgemein gültigen Ergebnis
im Eingliederungsprozess.85Der theoretische Ansatz von Alba und Nee unterscheidet sich von
den klassischen strukturfunktionalistischen Ansätzen und auch von Esser´s Ansatz des Rational
Choice. Die beiden Soziologen stützen sich auf den Neoinstitutionalismus und sind der
Meinung, dass die Institutionen das Handeln der Menschen beeinflussen. So spiegelt sich das
in formellen Regelungen, Wertvorstellungen, Bräuchen und religiösen Traditionen wider.
Akteure handeln nicht nur aus Nutzen, wie das der Fall bei Esser´s Theorie ist, sondern
Assimilation entsteht in vielen Fällen aufgrund von Handlungen mit unbeabsichtigten
Konsequenzen.86
Durch die Assimilation entwickelt sich die Mehrheitskultur, welche bei Alba und Nee als
American Mainstream bezeichnet wird. Dieser Mainstream befindet sich im ständigen Wandel
und unterscheidet sich dadurch von der core culture von Gordon. Der Begriff composite culture
83 HANS, Theorien der Integration von Migration. 2016, 35. 84 AUMÜLLER, Assimilation. 2009, 90. 85 Ebd., S. 91. 86 HANS, Theorien der Integration von Migranten. 2016, 36.
27
beschreibt eine Kultur, die durch unterschiedliche kulturelle Vorstellungen entsteht und sich
durch die Einbindung neuer Gruppen immer im Wandel befindet. Ein Beispiel für diese
Entwicklung kann man in der gestiegenen Zahl der interethnischen Ehen und der immer größer
werdenden asiatischen Kultur und Küche sehen.87
Alba und Nee führen mehrere Mechanismen an, mit welchen sie die unterschiedlichen
institutionelle Mechanismen, Humankapital von Einwanderern und soziale Netzwerke.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Neoassimilation nicht als unausweichlich gesehen
werden kann, sondern andere Mechanismen der Integration tragen ihren Teil dazu bei. Neben
dem Handeln der einzelnen Individuen ist auch die Auflösung bzw. Verringerung von
ethnischen Grenzen für die Neoassimilation von Bedeutung. Durch die Kombination von
verschiedenen Kulturen und Gesellschaften ist Assimilation nicht nur mit der Herkunftskultur
gleichzusetzen, vielmehr wird die Mehrheitskultur in das Konzept einbezogen.88
Segmentierte Assimilation:
In ihrem 1993 erschienenen Artikel The New Second Generation: Segmented Assimilation and
Its Variants beschäftigen sich Alejandro Portes und Min Zhou mit der wachsenden zweiten
Generation von Einwanderern in den USA und ihren Perspektiven der Eingliederung, welche
sich stark von der ihrer Eltern unterscheiden. Die wissenschaftlichen Untersuchungen zu den
neuen Migrationen nach dem 1965 eingeführten Immigration Act behandelten fast
ausschließlich die erste Generation der MigrantInnen. Stark außer Acht gelassen wurde die sich
durch Familienzusammenführungen immer schneller entwickelnde zweite Generation. Mit
ihrem Konzept der segmentierten Assimilation möchten Portes und Zhou die unterschiedlichen
Möglichkeiten der Anpassung der zweiten Generation in den Fokus bringen.89
87 AUMÜLLER, Assimilation. 2009, 92f. 88 HANS, Theorien der Integration von Migranten. 2016, 36f. 89 PORTES Alejandro/ ZHOU Min, The New Second Generation: Segmented Assimilation and Its
Variants. In: The Annals of the American Academy of Political and Social Science, Vol. 530, Pluralism at the Crossroads. Sage Publications. Nov. 1993, 74f.
28
Portes und Zhou haben die These Second Generation Decline von Gans aufgegriffen, in
welcher davon ausgegangen wird, dass die Nachkommen von MigrantInnen mit einer
schlechten sozialstrukturellen Position einer Abwärtsmobilität ausgesetzt sein können, weil sie
entweder nicht im Niedriglohnsektor arbeiten wollen oder weil man ihnen keine Arbeit gibt
und sie somit nicht arbeiten können.90
Die segmentierte Assimilationstheorie greift das Konzept der Generationen aus der Perspektive
der Minderheiten auf. So wurden Haitianer in Miami und junge Mexikaner in Kalifornien für
die empirischen Untersuchungen herangezogen.91 Die zweite Generation befand sich oft in
einem Konflikt, welcher durch die Erwartungen der Eltern einerseits und durch die schwierigen
Bedingungen ihres Umfelds andererseits ausgelöst wurden. So fand sich die zweite Generation
nicht selten auf einer schlechteren Position als die erste Generation.92. Neben den individuellen
Entscheidungen und dem familiären Milieu spielen auch politische Beziehung zwischen den
Ländern, die wirtschaftliche Situation sowie die Größe und Struktur der ethnischen Community
im Aufnahmeland eine wichtige Rolle für die Entwicklungsrichtung der zweiten Generation.93
Die segmentierte Assimilation sieht die geradlinige Assimilation an die weiße Mittelschicht in
den USA und den sich dadurch entwickelnden sozialen Aufstieg als eine veraltete und nicht
mehr dominante Form der Assimilation an. Durch die segmentierte Assimilation werden zwei
weitere mögliche Wege der Assimilation aufgezeigt. Die erste Möglichkeit bezieht sich auf die
downward assimilation und bezeichnet eine Assimilation an den Kulturen der innerstädtischen
Unterschichten, welche sozialen Abstieg und Armut als Folge hat. Bei der zweiten Möglichkeit
orientieren sich die MigrantInnen an den Werten, der Identität und den sozialen Netzwerken
der eigenen ethnischen Community. Dadurch wird eine dauerhafte Armut und ein sozialer
Abstieg verhindert.94
90 COSKUN Canan, Identitätsstatus von Einheimischen mit Migrationshintergrund. Neue styles?
Wiesbaden 2015, 21. 91 AUMÜLLER, Assimilation. 2009, 98. 92 HANS, Theorien der Integration von Migranten. 2016, 37. 93 PORTES/ ZHOU, The New Second Generation. 1993, 82f. 94 HANS, Theorien der Integration von Migranten. 2016, 37.
29
Portes und Zhou sind der Meinung, dass „Children of nonwhite immigrants may not even have
the opportunity of gaining access to the middle-class white society, no matter how acculturated
they become“.95 Falls sich diese MigrantInnen an eine der innerstädtischen bekannten Kreise
anpassen, kann es zu einer dauerhaften Unterordnung und Benachteiligung kommen. Oft bleibt
diesen MigrantInnen keine andere Wahl, um an gewisse materielle und moralische Ressourcen
sowie an ein soziales Sicherheitsnetz zu gelangen.96
Die segmentierte Assimilation von Portes und Zhou wurde unterschiedlich kritisiert. Einige
WissenschaftlerInnen sind der Meinung, dass die schlechte Situation der zweiten Generation
nicht auf die Generationenzugehörigkeit zurückzuführen sei, vielmehr sehen sie die
Verschlechterung der strukturellen Bedingungen der Gesellschaft zu dieser Zeit als
ausschlaggebenden Faktor. Des Weiteren wird die Fremdenfeindlichkeit zu dieser Zeit höher
betrachtet als am Anfang des 20. Jahrhunderts. Einige kritisierten, dass zu viel Wert auf die
Generationenzugehörigkeit gelegt wurde, ohne angemessene empirische Verifizierung.97
Zusammenfassend ist es wichtig hervorzuheben, dass die segmentierte Assimilation die
Heterogenität der Einwanderungsgesellschaft ins Auge fasst und die Anpassung an eine weiße
Mittelschicht nicht als einzige Möglichkeit der Assimilation sieht. Des Weiteren ist die
Trennung von Assimilation und sozialer Mobilität in der segmentierten Assimilationstheorie
konzeptuell getrennt und es bleibt empirisch zu erforschen, inwiefern und inwieweit diese
miteinander in Verbindung stehen.98 Der ethnische Pluralismus bzw. Multikulturalismus wird
im folgenden Kapitel behandelt.
2.2.2.2 Multikulturalismus
In den 1970er Jahren kam der Begriff des Multikulturalismus erstmals in die Öffentlichkeit und
zwar eingeführt vom ehemaligen kanadischen Präsidenten Pierre Trudeau. Erst am Anfang der
1990er Jahre etablierte sich der Begriff auch im deutschsprachigen Raum. Mit dem Auftreten
des Multikulturalismus kam es zu einem Paradigmawechsel, weg von der Homogenität hin zur
95 PORTES/ ZHOU, The New Second Generation. 1993, 96. 96 Ebd., S. 96. 97 AUMÜLLER, Assimilation. 2009, 101f. 98 HANS, Theorien der Integration von Migranten. 2016, 39.
30
Heterogenität.99 In den bisher behandelten Assimilationstheorien wird in unterschiedlicher
Ausprägung eine Anpassung der Minderheit an die Mehrheitsgesellschaft erwartet. Die starke
ethnozentrische Konzeption der Assimilation führte ab den 60er und vor allem in den 80er und
90er Jahren zur Forderung nach Alternativen und zur Anerkennung von ethnisch-kultureller
Vielfalt. Man forderte eine pluralistische und multikulturelle Gesellschaft mit entsprechender
Politik. Die zentrale Idee des Multikulturalismus besteht in der Anerkennung und
Wertschätzung von Diversität sowie der Gleichwertigkeit der Kulturen.100
Ein wichtiger Antrieb für die Multikulturalismus-Debatte und die darauffolgende
Beschäftigung mit der Entwicklung neuer Ansätze war das ethnic fever, welches in den 1960er
Jahren in den USA stattfand. Zu dieser Zeit konnte man erkennen, dass viele
Anpassungsbemühungen der Minderheiten nicht erfolgreich waren und so entstanden
radikalisierte soziale Bewegungen, welche politische Macht forderten, weil sie nur damit eine
soziale und gesellschaftliche Integration für möglich empfanden. Die eigenen Wurzeln,
verstärkte Gruppenidentität und Abgrenzung zur Mehrheitsbevölkerung traten in den
Mittelpunkt. Auch Gordon beschäftigte sich in seiner Arbeit mit unterschiedlichen ethnischen
Gruppen, jedoch sehen im Unterschied zu Gordon die VertreterInnen der Pluralismustheorie
keine Existenz einer Core Society. In anderen Worten kann gesagt werden, dass für die Theorie
des Multikulturalismus kein dominierender Mainstream besteht.101
Multikulturalismus geht davon aus, dass die Diversität der Kulturen, wenn gegenseitige
Akzeptanz und Toleranz bestehen, ein Gewinn für die gesamte Gesellschaft bedeuten können.
Außerdem bestehen bei der pluralistischen Theorie ethnische Subgesellschaften, welche zu
einem hohen Grad institutionalisiert sind. Die kulturelle Diversität wird durch wenig Kontakt
zu anderen ethnischen Gruppierungen gesichert. In wirtschaftlichen und politischen
Angelegenheiten kooperieren die unterschiedlichen Gruppen jedoch stark miteinander. Das
bedeutet, dass eine solche multikulturelle Gesellschaft auf der Ebene der Systemintegration als
integriert gesehen werden kann, wobei es gleichzeitig fraglich ist, inwieweit eine
Sozialintegration bestehen kann.102
99 LÖFFLER Berthold, Integration in Deutschland. Zwischen Assimilation und Multikulturalismus.
München 2011, 105. 100 HANS, Theorien der Integration von Migranten. 2016, 39. 101 HOESCH, Migration und Integration. 2018, 94. 102 SCHELLER Friedrich, Gelegenheitsstrukturen, Kontakte, Arbeitsmarktintegration. Ethnospezifische Netzwerke und der Erfolg von Migranten am Arbeitsmarkt. Wiesbaden 2015, 42.
31
Nach Löffler103 ist Multikulturalimus ein Gesellschaftsmodell, welches auf dem kulturellen
Pluralismus basiert. Menschen mit unterschiedlicher Kultur, Abstammung, Sprache, Religion
usw. leben gleichberechtigt zusammen. Durch den Austausch unter den verschiedenen Kulturen
sollen Konflikte, welche aufgrund von unterschiedlichen Werten entstehen können, bewältigt
werden. Bei der Theorie des Multikulturalismus behalten die Zugewanderten ihre Orientierung
zur Heimat. Ein Beibehalten der Bindung zur Heimatkultur kann auf unterschiedliche Weisen
erklärt werden. So kommt es dazu, wenn eine stark ausgeprägte Minderheitenkultur im
Aufnahmeland und gleichzeitig eine schwach ausgeprägte Kultur der Aufnahmegesellschaft
besteht. Ein weiterer Grund für eine Bindung zur Heimatkultur ist eine relativ große Distanz
zwischen der Heimat- und Aufnahmekultur, wobei zusätzlich der Zugang zur Aufnahmekultur
erschwert wird. Daraus ergibt sich eine ausschließliche Anpassung der Zugewanderten auf der
strukturell-funktionalen Ebene und als Resultat entsteht eine multikulturelle Gesellschaft. Im
Laufe der Zeit kann sich eine bikulturelle Orientierung, sowohl zur Heimat als auch zur neuen
Aufnahmekultur, entwickeln. Hierbei sind die Kulturen gleichstark und der Zugang zur
Mehrheitsgesellschaft muss möglich sein. Eine multikulturelle Gesellschaft beruht auf
gegenseitigen Respekt vor dem Unterschieden und jede ethnische Gruppe hat das Recht,
gleichberechtigt zu leben, ohne von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen zu werden.104
Im Folgenden werden einige Prinzipien des Multikulturalismus zusammengefasst, in welchen
vor allem normative Entwürfe des Zusammenlebens von unterschiedlichen Kulturen behandelt
werden. Das erste Prinzip besagt, dass im Multikulturalismus eine Politik der Anerkennung von
kulturellen Unterschieden besteht. Jeder Mensch hat das Recht zu entscheiden, welcher Kultur
er angehören möchte. Gleichzeitig besteht keine Pflicht zu Identifikation mit einer bestimmten
ethnischen Gruppe. Des Weiteren wird betont, dass alle Kulturen und ethnischen Gruppen
gleichberechtigt sind und sie gegenseitige Toleranz zeigen müssen. Im Einzelnen unterscheiden
sich die liberale und die radikale Abzweigung des Multikulturalismus. Die Ersteren bestehen
auf ein Minimum von Grundregeln basierend auf den Menschenrechten, der Demokratie und
der Gleichheit. Der radikale Multikulturalismus ist der Auffassung, dass ein Minimum an
Grundregeln, das Prinzip der kulturellen Gleichwertigkeit verletzen würde.105
103 LÖFFLER, Integration in Deutschland, 100. 104 Ebd., S. 100. 105 Ebd., S. 101.
32
In einem weiteren Prinzip wird festgehalten, dass in multikulturellen Gesellschaften ein
Minimalkonsens geschaffen werden muss. Im liberalen Multikulturalismus setzt sich der
Minimalkonsens aus der Verfassung, Gesetzen und einer gemeinsamen Sprache zusammen.
Der Konsens ist für den Zusammenhalt der Gesamtgesellschaft, für das Setzen von Grenzen,
für das Recht der kulturellen Unterschiede und kulturellen Gleichwertigkeit von Bedeutung.
Die Minderheiten dürfen nur diejenigen Teile ihrer Kultur pflegen, welche nicht im
Widerspruch zu dem Minimalkonsens stehen. Wo genau die Grenzziehung zwischen
Unterschiedlichkeit und Einheit sich befindet, ist oft umstritten. Die ethnische Vielfalt wird als
vorteilhaft und produktiv angesehen. Obwohl daraus ein Zuwachs an Konflikten resultiert, wird
die Pluralisierung oft als ein Wachstum an Demokratie gedeutet. Durch die
Diskriminierungserfahrungen von zugewanderten Minderheiten besteht die Bestrebung nach
einer gesellschaftspolitischen Strategie, die sich der Minderheit zuwendet. Demzufolge verfolgt
ein weiteres Prinzip das Ziel, den randständigen Minderheiten mehr Aufmerksamkeit,
Aufwertung, Anerkennung und Gleichstellung zuzusprechen.106
Kritisch aufgefasst wird beim Multikulturalismus der fasst ausschließliche Blick auf die
ethnischen Gruppen. Dadurch werden die Ebenen der eingewanderten Individuen und ihre
Anpassungsprozesse in den Hintergrund gerückt. Ferner wird der Ansatz als zu normativ
angesehen, da er keine Erklärungen für die Integration der Migrant_innen zur Verfügung stellt.
Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt ist die Voraussetzung des Konzeptes, dass ethnische
Pluralität mit Integration vereinbar ist. Es wurde nicht hinterfragt, ob und unter welchen
Umständen oder Voraussetzungen dies zustande kommen kann.107
2.2.2.3 Transnationalismus
Viele MigrationsforscherInnen sind der Meinung, dass die erwähnten Integrationstheorien eine
nationalstaatlich verfasste Gesellschaft vorsehen und mit einem methodologischen
Nationalismus in Einklang stehen. Sie sehen diesen Aspekt aufgrund der sich immer stärker
globalisierenden Welt als unangemessen an. Des Weiteren sind sie der Auffassung, dass
Migration häufig temporärer und zyklischer Natur ist und sich MigrantInnen nach kurzer Zeit
106 Ebd., S. 101ff. 107 HANS Silke, Assimilation oder Segregation? Anpassungsprozesse von Einwanderern in Deutschland. Wiesbaden 2010, 40.
33
im Ausland in ihr Heimatland zurückbegeben oder anderswohin weiterziehen.108Infolge dieser
Erkenntnis entwickelt sich der Begriff des Transnationalismus, welcher vor allem auf
Beobachtungen von Migrationsbewegungen zwischen den USA und Mittelamerika sowie
Südostasien gründet. Transnationale Migration bezeichnet grenzüberschreitende Praktiken von
MigrantInnen, welche sich nicht mehr in das System von Ein- bzw. Auswanderung, Integration
und Remigration einordnen lassen.109
Viele qualitative Arbeiten beschäftigen sich mit der Migration von Mexikanern, Kariben und
Philippinern in die USA. Diese Migration wir nicht als abgeschlossen angesehen, sondern es
entsteht ein staatenübergreifender sozialer Raum, in welchem Prozesse des Austausches und
gegenseitiger Einflüsse erzeugt werden.110
Wie kam es zu dieser Entwicklung der transnationalen Migration? Hierfür werden
unterschiedliche Gründe genannt. Zum einen wird die Ausbreitung der kapitalistischen
Produktionsweise und das Wachstum von globalen wirtschaftlichen Transaktionen genannt.
Konkret handelt es sich hierbei vor allem um die Eliminierung von Arbeitsplätzen in der
Industrie und die Erschaffung neuer Dienstleistungsbereiche, was einerseits zur Landflucht
führte und andererseits zu starken Migrationswellen aus dem Ausland.111
Des Weiteren wird die Verbindung der MigrantInnen zu ihren Heimatländern durch die bessere
Infrastruktur, Kommunikationstechnik und stärkere soziale und politische Interaktionen
erleichtert. So nutzen viele MigrantInnen die Möglichkeiten von billigen Reisen für Besuche in
ihre Heimatländer. Weiter erleichtern billigere Tarife für Telefonie und Internet die
Kommunikation. Durch dauerhafte Verbindung mit den Herkunftsländern und einen
regelmäßigen Austausch kommt es so zu einer transnationalen Migration. Transnationalität
wird oft durch Zwei- oder Mehrsprachigkeit, Kontakte über die nationalen Grenzen hinaus,
Pendelbewegungen, grenzüberschreitende ethnische Unternehmen, aber auch durch
Geldüberweisungen gekennzeichnet. Menschen, die sich in dieser Situation befinden, haben oft
das Gefühl, sich an mehreren Orten und in mehreren Ländern zu Hause zu fühlen.112
108 Ebd., S. 40. 109 KEMPF Andreas Oskar, Biographien in Bewegung. Transnationale Migrationsverläufe aus dem
ländlichen Raum von Ost- nach Westeuropa. Wiesbaden 2013, 29. 110 FUHSE Jan, Transnationalismus, ethnische Identität und interethnische Kontakte von italienischen
Kontakten in Deutschland. In: Ludger PRIES / Zeynep SEZGIN (Hgg.), Jenseits von Identität oder
Integration. Grenzen überspannende Migrantenorganisationen. Wiesbaden 2010, 143 111 KEMPF, Biographien in Bewegung. 2013, 29. 112 HANS, Assimilation oder Segregation? 2010, 41.
34
Die Vertreter des Transnationalismus sind der Auffassung, dass klassische Migrationskonzepte
und die Betrachtung der Migration als dauerhaften Ortswechsel den neueren oben erwähnten
Entwicklungen nicht mehr gerecht werden können. In der ihrer Meinung veralteten Sichtweise
kam es zuerst zu einer Wanderungsentscheidung, worauf die Wanderung an sich und
schließlich ein langwieriger Integrationsprozess folgten. Migration wurde als Wanderung von
einem geschlossenen Container verstanden. Für die klassische Migrationsforschung stand die
Assimilation der MigrantInnen in der Aufnahmegesellschaft im Vordergrund. Durch die
Beobachtung einer starken Bindung der MigrantInnen zur Herkunftsgesellschaft entstand eine
neue Perspektive in der Forschung. In diesen Forschungen waren die Netzwerke der
MigrantInnen sowohl in der Ankunftsgesellschaft als auch in der Herkunftsgesellschaft von
großer Bedeutung.113
Wie man hier erkennen kann, bewegt sich der Transnationalismus auf unterschiedlichen
Ebenen. So bilden staatliche und ökonomische Prozesse die Makro-Ebene, welche
Voraussetzungen für transnationale Migrationen schaffen. „So ermöglichen internationale
ökonomische Ungleichheiten und andererseits politische Migrationsregime die Herausbildung
von transnationaler Migration.“ 114 Die Mikro-Ebene wird von den Makro-Strukturen
beeinflusst und kann sich unterschiedlich auf die individuellen Migrations- und
Remigrationsentscheidungen auswirken. Für Viele jedoch befinden sich die entscheidenden
Prozesse und Strukturen auf der Meso-Ebene. Diese Ebene wird durch die sozialen Netzwerke
gekennzeichnet. Individuelle Migrationsentscheidungen sind so in die sozialen Netzwerke
eingebunden.115
Neben den persönlichen Netzwerken gehören auch die Migrantenorganisationen zu wichtigen
transnationalen Faktoren der Meso-Ebene. Auf der einen Seite helfen die
Migrantenorganisationen mit unterschiedlichen Leistungen den MigrantInnen in der
Aufnahmegesellschaft. Auf der anderen Seite besteht auch oft ein finanzieller, politischer und
kultureller Bezug zur Herkunftsgesellschaft.116
113 KEMPF, Biographien in Bewegung. 2013, 30f. 114 FUHSE, Transnationalismus, ethnische Identität und interethnische Kontakte von italienischen
Kontakten in Deutschland. 2010, 144. 115 Ebd., S. 144. 116 Ebd., S. 145.
35
Kritisiert wird bei dem Konzept des Transnationalismus die Annahme von vielen
ForscherInnen, dass dieser Ansatz nur eine beschreibende Seite hat und die Verhaltensweisen
der MigrantInnen nach ihrer Migration nicht erklärt. Weiter wird die Existenz dieses Konzeptes
in Frage gestellt. Man ist sich nicht einig in der Frage, ob Migration vorwiegend in dieser
transnationalen Form von statten geht oder ob es nur einen sehr geringen Teil der
internationalen MigrantInnen betrifft. Es wird außerdem die Frage nach der Integration in die
Gesellschaften von transnationalen MigrantInnen gestellt. Hierbei sind sprachliche und
kulturelle Anpassungen, soziale Beziehungen und das Arbeitsumfeld von großem Interesse.
Hans ist der Meinung, dass es zumindest auf der lokalen Ebene zu einer bestimmten Form der
Integration kommt. Des Weiteren sieht sie spätestens in der zweiten Generation dieser
MigrantInnen eine mögliche Bewegung zurück in die auf nationalstaatliche Gesellschaft
zugeschnittene Integrationstheorien. Das Infrage stellen von Auffassungen und Annahmen von
regulären Integrationsforschungen wird von Hans als Stärke der transnationalen
Migrationsforschung gesehen.
36
3. Fakten
3.1 Bosnien & Hercegovina
In diesem Kapitel wird die Entstehung des großen Flüchtlingsstroms während und nach dem
Bosnienkrieg behandelt. Im ersten Unterkapitel wird veranschaulicht wie sich die
Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (SFRJ) auflöste und wie sich der Konflikt
auf dem Balkan entwickelte. Ein Überblick über den Krieg in Bosnien und Herzegovina von
1992 bis 1995 samt dem Friedensvertrag von Dayton wird im zweiten Unterkapitel
bereitgestellt. Im dritten und letzten Unterkapitel wird die Situation der Flüchtlinge während
und nach dem Bosnienkrieg dargestellt. Neben den Ursachen der Flucht wird auch auf den
Verlauf der Flucht und die Hilfsmaßnahmen unterschiedlicher Organisationen eingegangen.
3.1.1 Das Ende Jugoslawiens
Nach dem Tod von Josip Broz Tito in den 80er Jahren kam es zum Niedergang der
multiethnischen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ). Aufgrund von
strukturellen Mängeln im wirtschaftlichen und politischen Sektor und aufgrund von
Machtambitionen einzelner Politiker, welche nationalistische Prozesse für ihre Ziele
instrumentalisierten, kam es zur Regression in Jugoslawien. Schon in den frühen 1980er
Jahren kam es in Jugoslawien zu einer wirtschaftlichen Krise. Jugoslawien hatte große
Auslandsschulden und war von einer Hyperinflation stark betroffen. Dadurch kamen die
ökonomischen Antagonismen zwischen den reicheren und ärmeren Republiken immer mehr
zum Vorschein. Die reicheren Republiken weigerten sich, große finanzielle Mittel in die
damalige Hauptstadt und das politisches Zentrum Belgrad zu schicken und so entstanden
machtpolitische und nationalistische Spannungen.117
117 KLADNIK Tomaž, Die Streitkräfteformierung der Republik Slowenien. Slowenische Unabhängigkeit. In: Jörg ASCHENBRENNER/ Günter DEUTSCH (Hgg.), Militäroperationen und
Partisanenkampf in Südosteuropa. Vom Berliner Kongress zum Ende Jugoslawiens. Wien 2009, 384.
37
Im Jahr 1987 wird Slobodan Milošević zum neuen Chef der serbischen Kommunisten
gewählt. Er verfolgte das Ziel Jugoslawien zentralistisch zu rekonstruieren. Dabei sollte die
Macht der Teilrepubliken reduziert und die Macht von Belgrad ausgebaut werden. Gegen
diese Politik von Milošević setzten sich sowohl die slowenische als auch die kroatische
Führung ein. Diese verfolgten eine Transformation des jugoslawischen Systems nach
westeuropäischem Vorbild. Zunächst wurden in Slowenien politische und wirtschaftliche
Reformen umgesetzt, ehe auch Kroatien ab 1989 an diesen Vorhaben teilnahm. Serben
gingen gegen diese beiden Teilrepubliken mit einer Wirtschaftsblockade vor. Im Frühjahr
1990 kam es in Slowenien und Kroatien zu den ersten freien Wahlen. Die gewählten Parteien
setzten sich für eine Konföderation aus souveränen Republiken ein. Durch die Wahlen
Anfang 1990 entstanden mehrere Machtzentren, die die Funktionsfähigkeit der
jugoslawischen politischen Institutionen beeinträchtigten.118
Diese Geschehnisse verleiteten Milošević seine Politik zu ändern und das Ziel die SFRJ
zentralistisch zu rekonstruieren aufzugeben. Im Zentrum seiner Politik standen jetzt die
serbischen Interessen auf dem ganzen jugoslawischen Gebiet zu verteidigen. Es kam zur
Unterstützung von ideologisch und logistisch wichtigen nationalistischen Kräften. Ein
Beispiel hierfür waren die Kniner Serben, welche ihr Gebiet im dalmatinischen Hinterland
abschotteten. Im August 1990 wurde eine erste Maßnahme zur Durchsetzung der
Autonomieforderung der Serben in Kroatien vorgenommen. Durch blockierte Straßen und
ein durch Waffen aufrechterhaltenes Zutrittsverbot, kam es zum ersten separatistischen Akt
beim Zerfall der SFRJ.119Auch die zu Beginn des Jahres 1990 in Kroatien gegründete neue
Regierung mit der Partei HDZ unter Präsident Tuđman verbesserte die Situation nicht, ganz
im Gegensatz. Es kam zur Umbenennung der Amtssprache von serbokroatisch zu kroatisch,
die kyrillischen Ortstafeln wurden entfernt und in der Verfassung wurden die Serben von
einem Staatsvolk zu einer Minderheit abgestuft. All diese und weitere Taten der kroatischen
Führung wurde seitens der Serben als stark diskriminierend empfunden. Die angebotenen
politischen Dialoge seitens der kroatischen Führung wurden aufgrund mangelnden
Interesses von den Kniner Serben abgelehnt.120
118 JUREKOVIĆ Predrag, Eskalation und Kämpfe im ehemaligen Jugoslawien. In: Jörg
ASCHENBRENNER / Günter DEUTSCH (Hgg.), Militäroperationen und Partisanenkampf in
Südosteuropa. Vom Berliner Kongress zum Ende Jugoslawiens. Wien 2009, 386f. 119 Ebd., S. 388f. 120 Ebd., S. 390.
38
Im Herbst 1990 wurde von der slowenischen und kroatischen Regierung ein
Verfassungsentwurf für eine jugoslawische Konföderation vorgelegt. Hierdurch sollten die
Republiken wirtschaftlich miteinander verbunden sein, dürfen jedoch eine autonome Politik
führen. Dieser Verfassungsentwurf wurde sowohl von der mazedonischen Führung als auch
vom bosniakischen Präsidenten von Bosnien und Herzegowina, Alija Izetbegović
unterstützt. Die serbisch-montenegrinische Führung lehnten den Entwurf jedoch ab und
bestanden auf einen zentralistisch regierten Staat, welcher jedoch für die anderen Parteien
inakzeptabel war. Nach dieser Ablehnung verfolgten die slowenische und kroatische
Führung eine Unabhängigkeit ihrer Republiken. Für die serbische Führung war die serbische
Frage in Kroatien und später Bosnien und Herzegowina von sehr großem Interesse.
Milošević wollte aus der SFRJ ein von Serbien dominiertes Restjugoslawien gründen. Auch
die Jugoslawische Volksarmee (JVA) ergriff immer öfter Partei für die serbische Seite, was
das Fortschreiten der Umwandlung der JVA in eine rein serbische Armee darstellte.121 Die
immer stärker werdende Spannung wurde auch von Seiten der Kroaten nicht übersehen. Der
damalige Präsident Kroatiens Franjo Tuđman rüstete gemeinsam mit seinem
Verteidigungsminister auf. Durch den Aufbau der Armee und umfangreiche Waffenkäufe
bereitete sich Kroatien auf die zu erwartenden Kämpfe vor.122
Zusammenfassend kann man sagen, dass neben der sich während der Staatskrise
Jugoslawiens entwickelnden Feindbilder, den sich gegenseitig anschließenden Interessen,
auch die Unfähigkeit zu Kompromissen und die Bereitschaft, vor allem auf der Seite von
Milošević, die eigenen Interessen mit Gewalt durchzusetzen, die Hauptgründe für den
Zerfall Jugoslawiens und die folgenden Nachfolgekriege waren.123
(Hgg.), Militäroperationen und Partisanenkampf in Südosteuropa. Vom Berliner Kongress zum Ende Jugoslawiens. Wien 2009, 393. 123 STEINDORFF Ludwig, Der Krieg in Bosnien-Herzegowina. Mehr als Konkurrenz der
Erinnerungen. In: Marijana ERSTIĆ / Slavija KABIĆ / Britta KÜNKEL [Hgg.], Opfer - Beute - Boten der Humanisierung? Zur künstlerischen Rezeption der Überlebensstrategien von Frauen im
Bosnienkrieg und im Zweiten Weltkrieg. Bielefeld 2012, 181.
39
3.1.2 Der Bosnienkrieg
Bosnien und Herzegowina war eine Teilrepublik in der ehemaligen Sozialistisch Föderativen
Republik Jugoslawien. Die Grenzen von Bosnien und Herzegovina basieren größtenteils auf
den Ländergrenzen des 18. Jahrhunderts. Bosnien und Herzegowina war damals und ist auch
heute immer noch sehr stark von Multinationalität geprägt. Im Land sind drei Nationalitäten
bzw. Ethnien vertreten, serbisch-orthodoxe, kroatisch-katholische und bosniakisch-
muslimische BosnierInnen. Ab den 1970er Jahren haben vor allem muslimische
BosnierInnen Bosnien und Herzegowina als ihr Heimatland und sich selbst als Staatsvolk
angesehen. Bei der Volkszählung im März 1991 haben sich 43,5 % als Muslime, 31,2 % als
Serben und 17,4 % als Kroaten in Bosnien und Herzegowina geäußert.124
Die geographische Ansiedlung der drei Ethnien war über das ganze Land ungleichmäßig
verteilt. Dies ging so weit, dass in fast allen Gemeinden Bosnien und Herzegowinas
zumindest zwei der drei Ethnien vertreten waren und öfters benachbarte Dörfer
unterschiedliche Ethnien besaßen. Die muslimischen BosnierInnen waren vor allem im
Westen um Bihać, in Zentralbosnien, im nördlichen Neretvatal bis Mostar und auch in
Ostbosnien angesiedelt. Im städtischen und modernen Leben war eine nationale
Differenzierung nicht sichtbar. Es entwickelte sich auch eine friedliche Koexistenz der
Religionen, bis zum Zerfall der SFRJ.125
Ende 1990 kam es zu den ersten freien Wahlen in Bosnien und Herzegowina, bei welchen
die Parteien der drei vorhandenen Ethnien vertreten waren. Nachdem die bosniakische
Bevölkerung eine Mehrheit darstellte, wurde Alija Izetbegović zum Präsidenten der
Republik gewählt. Nachdem es am 27. Juni 1991 zur Ausrufung der ersten serbischen
autonomen Region in Bosnien kam, verschärften sich die Spannungen zwischen den
Volksgruppen. Die serbischen Gebiete in Bosnien und Herzegowina wollten sich der
Regierung in Sarajevo nicht unterstellen und wurden weitgehend verselbstständigt.
Nachfolgend wurden weitere serbisch dominierte Gebiete als autonom proklamiert, welche
sich im weiteren Verlauf zur Republik Srbska vereinten.126
124 Ebd., S. 182f. 125 Ebd., S. 184ff. 126 Ebd., S. 186.
40
Auch die Proklamation der Unabhängigkeit der Republik Bosnien und Herzegowina am 5.
April 1992 kennzeichnete eine wichtige Zäsur im Konflikt zwischen den Volksgruppen. Die
serbische Armee, welche schon langfristige Operationen vorausgeplant hatte, konnte mit der
Unterstützung durch die ehemalige Bundesarmee, innerhalb von wenigen Wochen mehr als
die Hälfte des Territoriums, das von den Vereinten Nationen anerkannt wurde, unter ihre
Kontrolle bringen.127
Steindorff gliedert den Bosnienkrieg in drei Hauptphasen ein: Die erste Phase wurde von
den serbischen Kräften in Nordostbosnien mit dem Massaker an MuslimInnen in Bijeljina
eingeleitet. Diese Phase dauerte bis Ende 1992 und schließt auch die Umschließung von
Sarajevo und die serbische Kontrolle von siebzig Prozent des bosnischen Territoriums. Das
Ziel der serbischen Führung war die militärische Kontrolle, welche mit einer ethnischen
Säuberung verbunden war. Diese sollte zu ethnisch sauberen und getrennten
Siedlungsgebieten führen. Bei den ethnischen Säuberungen vor allem in Nordwestbosnien
lässt sich ein ähnliches Muster erkennen:
„Es begann mit der Beschießung und Umzingelung von Dörfern und Stadtteilen, die Bevölkerung wurde herausgetrieben. Ältere und Kinder wurden beim Abtransport
ausgeplündert, mussten einen teueren ´Fahrschein´ lösen und vielleicht auch noch
eine Erklärung über die Abtretung ihres Vermögens unterschreiben.“128
Die schnelle serbische Eroberung von mehr als siebzig Prozent des Territoriums war auch
der relativ langsamen Aufrüstung der bosniakischen Seite geschuldet. Aufgrund besserer
Organisation von paramilitärischen Verbänden, konnte es im Mai 1992 zur Gründung einer
offiziellen und regulären Armee auf der bosnisch-muslimischen Seite kommen. Erst ab 1993
konnte der serbische Vormarsch in Bosnien stufenweise verlangsamt werden.129
Die zweite Phase beginnt im Frühjahr 1993 und kennzeichnet den bosniakisch-kroatischen
Krieg. Zu ersten Spannungen dieser beiden Ethnien kam es bereits im Juli 1992, nachdem
die Republik Herzeg Bosna ausgerufen wurde. Bosniakische und kroatische Verbände
handelten aber bis Ende 1992 noch als Verbündete gegen die serbischen Angriffe.130
127 ETSCHMANN Wolfgang, Der Krieg in Bosnien und Herzegowina 1992 - 1995. In: Jörg ASCHENBRENNER / Günter DEUTSCH (Hgg.), Militäroperationen und Partisanenkampf in
Südosteuropa. Vom Berliner Kongress zum Ende Jugoslawiens. Wien 2009, 403. 128 STEINDORFF, Der Krieg in Bosnien-Herzegowina, 2012, 188. 129 ETSCHMANN, Der Krieg in Bosnien und Herzegowina 1992-1995, 2009, 403. 130 STEINDORFF, Der Krieg in Bosnien-Herzegowina, 2012, 190.
41
1993 kam es zu den ersten Auseinandersetzungen in Zentralbosnien zwischen Kroaten und
Bosniaken. Der Konflikt verschlimmerte sich rasant. Ein wichtiges Symbol dieses
Bürgerkrieges zwischen den beiden Volksgruppen wurde die berühmte Brücke von Mostar,
welche am 9. November 1993 zerstört wurde. Während dieser Kämpfe kam es zu einer
Schwächephase, welche die serbischen Kräfte ausnutzten und eine vollständige
Umschließung von Sarajevo erreichten, welche bis zum Kriegsende andauerte.131
Massaker, Vergewaltigung, Zerstörung von religiösen Objekten, Zwangslager, genauso wie
Flucht und Vertreibung waren auch in den Kämpfen zwischen der bosniakischen und
kroatischen Seite fast alltäglich. Das Ausmaß der Gewalt kann man jedoch keinesfalls mit
den Taten der serbischen Kräfte vergleichen. Die Auseinandersetzungen zwischen der
bosniakischen und kroatischen Seite findet sein Ende im Frühjahr 1994.132
Am 18. März 1994 kam es zum Washingtoner Abkommen, welches mit starkem
Engagement der Russischen Föderation und der Vereinigten Staaten erreicht werden konnte.
Hierbei handelt es sich um ein Abkommen, welches für die Gründung der bosniakisch-
kroatischen Föderation sorgte. Nach Steindorff wird hier die dritte Phase des Bosnienkrieges
eingeleitet, welche auch einen Wendepunkt im Krieg darstellt. Mit der Rückgewinnung von
Westslawonien, der ganzen „Krajina“ im Westen und Südwesten und dem Aufbrechen der
Belagerung von Bihać, verringerte sich die militärische Überlegenheit der serbischen Seite.
Bosniakische und kroatische Truppen konnten einen breiten Gebietsstreifen im Südwesten
für sich gewinnen. Am 12. Oktober 1995 kam es schließlich zu einem Waffenstillstand. Auf
diesen folgten Friedensverhandlungen, welche auf dem Luftwaffenstützpunkt Dayton in
Ohio stattfanden. In den Verhandlungen wurde die Friedensordnung von Dayton erarbeitet,
die am 14. Dezember 1995 in Paris von allen drei Parteien unterschrieben wurde. Eine
Verfassungsordnung wurde im Vertrag von Dayton festgeschrieben. Bosnien und
Herzegovina wurde in drei Teile geteilt, wobei auf die Föderation 51%, auf die Republika
Srbska 48% und auf den Distrikt Brčko 1% des Territoriums fielen.133
131 ETSCHMANN, Der Krieg in Bosnien und Herzegowina 1992-1995, 2009, 404Ff 132 STEINDORFF, Der Krieg in Bosnien-Herzegowina, 2012, 191-196. 133 Ebd., S. 193ff.
42
Der Bosnienkrieg dauerte insgesamt 3 Jahre und beeinflusste die Bevölkerungsverhältnisse
stark. Man geht von bis zu 150.000 Kriegsopfern und ein paar Millionen Flüchtlingen
während dem Krieg aus.134 Das folgende dritte und letzte Unterkapitel beschäftigt sich mit
den Folgen des Krieges in Bosnien und Herzegovina, wobei vor allem auf Flucht und
Vertreibung eingegangen wird.
3.1.3 Die Flucht
Im Laufe der Geschichte gab es immer Menschen, die auf irgendeine Art und Weise dazu
gezwungen waren, aus ihrer Heimat zu flüchten. Die Gründe für eine Flucht sind meistens
von Menschen verursacht. Im 20. Jahrhundert wird die Zahl der Flüchtlinge zwischen 200
und 250 Millionen Menschen geschätzt. 135 In Folge des Balkan- und vor allem
Bosnienkrieges kam es aufgrund von gezielten militärischen Angriffen gegen die jeweils
andere Ethnie, bei welchen auch Zivilisten nicht ausgenommen waren, zu einer der größten
Massenflucht auf dem Balkan. Sobald ersichtlich war, welche Kriegspartei das Gebiet für
sich gewinnen konnte, kam es zu einer rasanten Fluchtbewegung. Menschen hatten große
Angst ihr Leben zu verlieren. Es gab auch einige direkt verfolgte PolitikerInnen,
Intellektuelle und andere MeinungsführerInnen, die das Exil aufsuchten. Des Weiteren kam
es zu einer starken Abwanderung von jungen Menschen, die sich einerseits als StudentInnen
und geistige Eliten herausstellten und andererseits die Einberufung in die Armee fürchteten.
Daraus resultierte, dass 2,3 Millionen Menschen und somit mehr als die Hälfte der
Bevölkerung Bosnien und Herzegowinas während dem Krieg innerhalb des Landes, in die
Nachbarländer und in die Länder Westeuropas flüchteten.136 Die UNHCR hat mit Hilfe von
großen Hilfsorganisationen ab 1992 Vertriebene und Flüchtlinge im ehemaligen
Jugoslawien statistisch erfasst. Hierbei wurden jedoch viele Menschen nicht erfasst, die mit
Hilfe von Verwandten und Freunden ihre Flucht selbst organisierten und politisches Asyl
beantragten. In diesem Fall erweisen sich die Statistiken als unvollständig.137
134 Ebd., S. 200. 135 MÜLLER Johannes, Das Flüchtlingsproblem in seiner weltweiten Dimension. In: Johannes MÜLLER (Hg.), Flüchtlinge und Asyl. Politisch handeln aus christlicher Verantwortung.
Frankfurt am Main 1990, 13. 136 FALKENSTEIN Florian, Südosteuropa. In: Peter J. OPITZ (Hg.), Der globale Marsch. Flucht und Migration als Weltproblem. München 1997, 84-86. 137 Ebd., S. 85.
43
Im Verlauf des Bosnienkrieges kam es zu vielen Vertreibungen, bei welchen Menschen unter
sehr schlechten Bedingungen eine neue und vorläufige Unterkunft finden mussten. Für die
internationale Gemeinschaft war das Flüchtlingsproblem ein zentrales Anliegen auf dem
Balkan. Die Unterstützung der Flüchtlinge vor allem während dem Krieg erwies sich als sehr
schwierig. Auf der einen Seite stellte die quantitative Belastung ein Problem dar und auf der
anderen Seite auch die Umstände und Rahmenbedingungen. Viele Flüchtlinge wurden
während dem Krieg nahezu instrumentalisiert. Sie wurden als Waffen benutzt, indem sie als
Geiseln festgehalten wurden und dem Interesse der jeweiligen Kriegspartei dienten. Die
Betreuung der Flüchtlinge wurde den Hilfsorganisationen sehr oft von den Kriegsparteien
verboten, nur mit dem Schutz der Blauhelme, welche der UN untergeordnet waren, konnten
einige wenige Hilfsaktionen durchgeführt werden.138
Auch nach dem Krieg waren die Bestrebungen groß den Vertriebenen auf irgendeine Art
und Weise zu helfen. Eines der wichtigsten Ziele des Vertrages von Dayton war es die
Rückkehr von Vertriebenen und Flüchtlingen zu ermöglichen. Im Annex 7139 wurde ein
umfangreiches Angebot an Maßnahmen geschaffen, welches humanitäre und politisch-
rechtliche Probleme zu lösen versucht. Hierbei spielt vor allem die Organisation des UN-
Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) in Kooperation mit der Organisation für
Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) eine bedeutende internationale Rolle. Weiters
wurde eine eigene Kommission für Vertriebene und Flüchtlinge in Bosnien und
Herzegowina eingerichtet.140 Um noch immer vorhandene Probleme der Vertreibung zu
lösen, arbeitet die UNHCR eng mit dem Ministerium für Menschenrechte und Flüchtlinge
in Bosnien und Herzegowina zusammen. Hierbei wird u.a. der Zugang zu Rechten,
Beschäftigung, Sozialfürsorge, Gesundheitswesen, Pensionen, Sicherheit und Unterkunft für
Betroffene angestrebt. Ein bestehendes regionales Wohnprogramm konnte mit dem
Wiederaufbau von zerstörten Häusern und mit sozialen Wohnprojekten vielen Vertriebenen
und Zurückgekehrten verbesserte Lebensbedingungen ermöglichen.141
138 Ebd., S. 87f. 139 Agreement on Refugees and Displaced Persons 140 LUGERT Alfred, Die zivilen Aufgabenbereiche des Vertrages von Dayton. In: Jörg
ASCHENBRENNER/ Günter DEUTSCH (Hgg.), Militäroperationen und Partisanenkampf in Südosteuropa. Vom Berliner Kongress zum Ende Jugoslawiens. Wien 2009, 520. 141 UNHCR, Bosnia and Herzegovina. Factsheet. In: http://www.unhcr.org/see/wp-
Nach dem Krieg garantierten die Kriegsparteien die Rückkehr aller Flüchtling, was im
Artikel 4 des Dayton Vertrages festgeschrieben wurde. Weiters sind die Kriegsparteien dazu
verpflichtet Entschädigungszahlungen an die Menschen auszuzahlen, die ihr Eigentum
verloren haben. Die Umsetzung hat den Parteien jedoch große Schwierigkeiten bereitet. Bald
nach dem Krieg kam es zu Rückwanderungen und Rücksiedlungen, welche nicht immer
freiwillig erfolgten. Flüchtlingslager wurden aufgelöst und Nachbarstaaten begannen mit
Zwangsrückführungen.142
Laut UNHCR sind bis Ende 2010 449.000 Menschen aus dem Ausland und 580.000
Menschen aus dem Inland in ihre Heimat zurückgekehrt. 470.000 davon sind zurück an ihren
ursprünglichen Herkunftsort gesiedelt, obwohl sie dort der ethnischen Minderheit
angehören. Für die UNHCR sind Rückkehrer aber nicht unbedingt Menschen, die sich auch
an diesem Ort ständig aufhalten.143
Während der Zeit der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien war eine starke
Entvölkerung der ländlichen Gebiete bemerkbar. Dieser Prozess hat sich durch den Krieg
weiter verstärkt und es folgte ein rasantes Wachstum der großen Zentren. Die ethnische
Säuberung, bzw. Homogenisierung, wurde auch nach dem Krieg weitgehend beibehalten.
Es bestehen einige wenige Ausnahmen, bei denen die Menschen in ihren ursprünglichen
ethnisch gemischten Ort zurückkehrten. So zum Beispiel kehrten einige Serben in das Gebiet
der Föderation zurück. Der bosniakische Anteil der Bevölkerung im Gesamtstaat Bosnien
und Herzegowinas ist nach dem Krieg aufgrund einer hohen Rückkehrquote gestiegen. Im
Vergleich dazu sind viele ausgewanderte Kroaten und Serben in Kroatien und Serbien
geblieben oder wanderten im Anschluss an den Krieg dorthin aus.144
Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit den bosnischen bzw. bosniakischen Flüchtlingen
die während dem Bosnienkrieg als Flüchtlinge nach Österreich gewandert sind. Hierbei wird
auf die Situation der Flüchtlinge in Österreich und auf die Möglichkeiten der Entwicklung
eingegangen. Des Weiteren wird auch die gesellschaftspolitische Situation in Österreich zu
dieser Zeit behandelt.
142 FALKENSTEIN, Südosteuropa. 1997, 97f. 143 STEINDORFF, Der Krieg in Bosnien und Herzegovina. 2012, 201. 144 Ebd., S. 208ff.
45
3.2 Österreich als Aufnahmeland
Im Zentrum dieses Kapitels steht Österreich als Aufnahmeland. Es wird ein Einblick in die
Migrationsgeschichte und -politik Österreichs im Laufe der Zeit gegeben. Im Anschluss wird
auf die gesellschaftspolitische Situation Österreichs in den 1990er-Jahren eingegangen sowie
auf die Einreise von Flüchtlingen. Im weiteren Verlauf rückt die rechtliche Situation der
Flüchtlinge in Österreich in den Fokus. Hierbei wird neben neu geschaffenen Gesetzen, vor
allem das Aufenthaltsrecht von AusländerInnen, behandelt. Schließlich wird noch ein kurzer
Überblick über die Arbeitsmarktintegration von Zugewanderten geliefert.
3.2.1 Migrationsgeschichte und -politik
Aufgrund von zahlreichen Migrationsbewegungen war Österreich schon immer ein
Einwanderungs- und Auswanderungsland. Bereits im 18. Jahrhundert zeichnete sich dieses
Phänomen in der Region südlich von Wien ab. Diese Region zählt zu den ältesten
Industrieregionen der österreichisch-ungarischen Monarchie. Aufgrund der ausgeprägten
Industrie kam es sehr schnell zu Arbeitsmigrationen, vor allem aus Böhmen, Mähren, Schlesien
und Ungarn. Industrialisierung und Migration waren überall in Europa miteinander verknüpft.
Es ist wichtig festzustellen, dass Migration in Österreich kein Phänomen der letzten Jahrzehnte
darstellt.145 Im 19. Jahrhundert verließen viele Menschen Österreich aus wirtschaftlichen und
politischen Gründen. Eine der wichtigsten Destinationen wurde die USA. Auswanderung war
bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts die dominierende Form der
Migrationsbewegungen. 146 Zu der Zeit des Nationalsozialismus kam es zu einer erhöhten
Einwanderung nach Österreich. Hierbei waren neben „volksdeutschen“ Umsiedlern viele
Fremd- und Zwangsarbeiter vertreten.147
145 SCHMIDINGER Thomas, Migration und Integration. In: Herbert LANGTHALER, Integration in
Österreich. Sozialwissenschaftliche Befunde. Innsbruck 2010, 33f. 146 MÜNZ Rainer/ LEBHART Gustav, Zuwanderung nach Österreich. Herkunft, Struktur und politische Rahmenbedingungen. In: Buchender, Reiner (Hrsg), Migranten und Flüchtlinge. Eine
familienwissenschaftliche Annäherung. Wien 1999, 71. 147 MÜNZ Rainer, Österreich. Marginalisierung von Ausländern. Eine österreichische Besonderheit? In: Klaus BADE (Hg.), Einwanderungskontinent Europa. Migration und Integration am Beginn des 21.
Jahrhunderts. Beiträge der Akademie für Migration und Integration. Band 4. Osnabrück 2001, 61.
46
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam es in Europa und Österreich zu der größten
Zuwanderung im 20 Jahrhundert. Aufgrund von Vertreibung und Flucht während des
nationalsozialistischen Regimes suchten viele Betroffene eine neue Heimat. Österreich nahm
zu dieser Zeit ungefähr 520.000 Flüchtlinge und Vertriebene auf. Zwar wurden sie auf Dauer
aufgenommen, zu einer sofortigen Einbürgerung der meisten Betroffenen kam es allerdings
nicht, wie das der Fall in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR war. Aus diesem Grund
war Österreichs Ausländeranteil in den 1950er-Jahren mit 4,6 % im Vergleich zum restlichen
Europa sehr hoch. Im Jahr 1953 sank die Zahl der Ausländer von 320.000 auf 100.000, da es
zu einer Einbürgerung der meisten Vertriebenen kam.148
In den 1950er-Jahren wurden aufgrund von Kräftemangel in Westeuropa ausländische
Arbeitskräfte vor allem aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien angeworben. In
Österreich erfolgte die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften im Vergleich zu
Deutschland und der Schweiz relativ spät. Österreich hatte mit den Volksdeutschen ein
ausreichend großes Reservoir an Arbeitskräften für die Industrie und das Gewerbe. Des
Weiteren kam es in Österreich im Vergleich zu Deutschland und der Schweiz zu einem
verspäteten Wirtschaftsaufschwung. Schließlich einigten sich die Gewerkschaft und
Wirtschaftskammer im Jahr 1961 47.000 ausländische Arbeitskräfte im Jahr 1962 zu
engagieren. Dieses Anwerben von Arbeitskräften wurde als eine temporäre Zuwanderung ohne
Migration gesehen, die als solche Gastarbeiterpolitik bis in die 1980er Jahre beibehalten
wurde.149
Es entwickelte sich ein Migrationssystem, in welchem die Unternehmen neu eingeschulte
Arbeitskräfte über einen längeren Zeitraum behalten wollten und gleichzeitig bestand der
Wunsch bei den ArbeiterInnen so lange wie möglich in Österreich tätig zu bleiben. So wurde
die Rückkehr der Arbeitskräfte aufgeschoben und eine Rotation der Arbeitskräfte wurde nicht
erreicht.150
148 MÜNZ Rainer/ LEBHART Gustav, Zuwanderung nach Österreich. Herkunft, Struktur und politische
Rahmenbedingungen. In: Buchender, Reiner (Hrsg), Migranten und Flüchtlinge. Eine
familienwissenschaftliche Annäherung. Wien 1999, 71f. 149 PERCHINIG Bernhard, Zuwanderung und Integration in Österreich revisited. In: Johannes
MINDLER-STEINER (Hg.), Integration nach vor Denken. Öscherreichs Umgang mit dem (noch)
Fremden. Wien 2016, 46. 150 Ebd., S. 47.
47
Nachdem es ab dem Jahr 1973 keinen großen Bedarf mehr an weiteren Arbeitskräften gab,
entschlossen sich die westlichen Staaten Restriktionen einzuführen, welche den Zuzug von
weiteren MigrantInnen stoppen sollte. Obwohl kaum neue ArbeitsmigrantInnen zugelassen
wurden, sank die Zahl der Zuwanderung nicht. Der Grund dafür liegt vor allem im
Familiennachzug.151
In den 1980er Jahren begann sich die Sozialforschung mit dem Thema der Migrationspolitik zu
beschäftigen. Dies trifft nicht nur für Westeuropa ein, sondern auch für die USA und Kanada.
Im öffentlichen Diskurs wird Migration in den meisten westlichen Industriestaaten als ein
Thema gesehen, das viele politische Auseinandersetzungen mit sich zieht. Oft wird ein hohes
Bedrohungspotential von Migration für westliche Gesellschaften und deren Souveränität
gesehen. Die Gegenseite argumentiert, dass Migration nur ein marginales Phänomen ist.152
Die österreichische Migrationspolitik war seit den 1960er-Jahren sehr stark
arbeitsmarktorientiert. Deshalb lag der Schwerpunkt der österreichischen Migrationspolitik
nicht auf langfristigen bevölkerungspolitischen, strategisch wirtschaftlichen und
sicherheitspolitischen Aspekten, wie das damals der Fall bei vielen traditionellen
Einwanderungsländern war. Aus diesen Gründen förderte Österreich kaum die Integration von
MigrantInnen.153
Ende der 1980er-Jahre kam es zu einer weiteren Zuwanderungswelle. Auslöser dafür war der
Fall des Eisernen Vorhanges und die Aufhebung der Ausreisehindernisse für BürgerInnen
ostmittel- und osteuropäischer Länder. Nur wenige Jahre später kamen die Auswirkungen der
Ex-Jugoslawien Kriege sowie die damit verbundenen ethnischen Säuberungen und ethno-
politsche Repressionen zum Vorschein.154
151 MÜNZ Rainer/ SEIFERT Wolfgang/ ULRICH Ralf/ FASSMANN Heinz: Wanderungsmuster. Stellung von Einwanderern und Migrationspolitik in Deutschland und Österreich. In: Hartmut
KAELBLE/ Jürgen SCHRIEWER (Hgg.), Gesellschaften im Vergleich. Forschungen aus Sozial- und
Geschichtswissenschaften. 2. Auflage. Frankfurt am Main 1999, 278. 152 BIRSL Ursula, Migration und Migrationspolitik im Prozess der europäischen Integration? Unter Mitarbeit von Doreen Müller. Opladen 2005, 17. 153 BIFFL Gudrun, Die Entwicklung des österreichischen Migrationssystems. In: Arbeitsmarktservice
Österreich (Hg.), AusländerInnen in Österreich. Migrationspolitik und Integration. Wien 1998, 6. 154 MÜNZ/ LEBHART, Zuwanderung nach Österreich. 1999, 72f.
48
Ab dem Jahr 1992 war die Zunahme der Einwanderungen in Österreich vor allem von
Kriegsflüchtlingen aus Bosnien bestimmt. Darunter flüchteten in erster Linie Frauen, Kinder
und ältere Menschen nach Österreich. Bis ins Jahr 1994 stieg die Zahl der AusländerInnen in
Österreich um 8,9 % (700.000 Menschen).155
Infolge dessen verschärfte sich die Diskussion in Österreich um das Thema der Zuwanderung.
Die Position gegen die Zuwanderung entwickelte sich vor allem in der Freiheitlichen Partei
Österreichs. Im Jahr 1993 leitete die FPÖ ein Volksbegehren ein, welches jedoch von nur 7,4
% der Wahlberechtigten unterstützt wurde. Die beiden Großparteien stellten sich dieser
Ausländerfeindlichkeit entgegen. 156 Trotzdem waren die 1990er-Jahre von zahlreichen
Debatten und parteipolitischen Auseinandersetzungen geprägt, welche mit der Zeit die meisten
europäischen Länder anlangte. Hierzu ist wichtig anzumerken, dass die westeuropäischen
Länder weitgehend von Fluchtbewegungen ausgeschlossen blieben, welche aufgrund von
Armut, Krieg, politischer Verfolgung sowie Umweltkatastrophen in Afrika und Asien
hervorgerufen wurden. Nur ein geringer Anteil der gesamten Flüchtlinge auf der Welt schaffte
es nach Europa.157Trotzdem zielte die Migrationspolitik zu dieser Zeit auf politische Kontrolle
und Steuerung der Migration. Aus diesem Grund stand sie im Spannungsfeld von
und humanitären Bedenken. Ferner spielten neben objektiven Faktoren auch diffuse Ängste vor
Überfremdung und sozialen Konflikten eine Rolle. Die Zuwanderung wurde in den westlichen
Ländern maßgeblich von der Migrationspolitik, welche vor allem den Aspekt Kontrolle im
Mittelpunkt hatte, beeinflusst.158
Immer häufiger kam es zu Auseinandersetzungen, bei welchen oft die starke Konzentration von
Migrationsgruppen vor allem in Städten zum Thema wurde. Aufgrund der sich immer stärker
entwickelnden polyethnischen Strukturen, dem Einfluss von politischen Parteien und der
Unterstützung von Medien entwickelte sich bei vielen Einheimischen ein negatives Bild von
der Zuwanderung bzw. dem Fremden159.
155 MÜNZ/ SEIFERT/ ULRICH/ FASSMANN, Wanderungsmuster. 1999, 299. 156 PERCHINIG, Zuwanderung und Integration in Österreich revisited. 2016, 52. 157 BIRSL, Migration und Migrationspolitik im Prozess der europäischen Integration? 2005, 84. 158 MÜNZ/ SEIFERT/ ULRICH/ FASSMANN, Wanderungsmuster. 1999, 279f. 159 BADE Klaus, Einwanderungskontinent Europa. Migration und Integration am Ende des 20. Jahrhunderts. In: Klaus BADE (Hg.), Einwanderungskontinent Europa. Migration und Integration am
49
Laut Bade verfestigte sich schon in den 80er Jahren die Meinung, dass für die Integration von
Zugewanderten und deren Akzeptanz eine Zuwanderungsbeschränkung notwendig sei.
Außerdem wurde in den Migrationsdiskussionen Migration als Gefahr dargestellt, für welche
unbedingt Abwehrmaßnahmen geschaffen werden müssten.160
Zusammenfassend kann man sagen, dass sich die europäischen Länder und darunter vor allem
Österreich nach einer verstärkten Zuwanderung in den späten 80er- und 90er-Jahren nach
Wegen gesucht haben, die Zuwanderung zu stoppen und zu kontrollieren. Ein Fokus auf die
Integration der Zugewanderten wurde zu dieser Zeit noch nicht gesetzt. Wie sich diese
Migrationspolitik der späten 80er- und frühen 90er-Jahre auf die gesetzlichen Bestimmungen
in Österreich auswirkte und welche Rechte den Eingewanderten zugesprochen wurden, wird
im 3. Unterkapitel Rechtliche Situation der Zugewanderten näher erläutert.
3.2.2 Einreise nach Österreich
In dem Zeitraum zwischen 1987 und 1994 kam es zu einem starken Anstieg der
Wanderungsströme nach Österreich. Dafür verantwortlich waren vor allem die politischen
Umbrüche in Europa, die Kriege im ehemaligen Jugoslawien und die steigende Nachfrage nach
Arbeitskräften. Die Zahl der in Österreich lebenden AusländerInnen stieg von 326.000 auf
713.000 Menschen. Ein Fünftel des Zuwachses basierte auf der Aufnahme von
Kriegsflüchtlingen aus Bosnien und Herzegowina. Zu Beginn des Krieges im Jahr 1992 wurden
bosnische Flüchtlinge aufgrund des Passgesetzes von 1974, des Fremdenpolizeigesetzes von
1954 und des Asylgesetzes aus 1968 ohne bürokratische Schwierigkeiten aufgenommen.161 Sie
benötigten keinen Sichtvermerk, um einzureisen. Mit dem Andauern des Konfliktes wurde die
Einreise schrittweise erschwert und so mussten BosnierInnen im Jahr 1995 für die legale
Einreise nach Österreich ein Visum vorzeigen.162 Obwohl es zu Verschärfungen diesbezüglich
kam, war eine Einreise der Flüchtlinge oft möglich, wenn sich eine dritte Person dazu bereit
Ende des 20. Jahrhunderts. Beiträge der Akademie für Migration und Integration. Band 4. Osnabrück
2001, 24. 160 Ebd., S. 24f. 161 PERCHINIG, Zuwanderung und Integration in Österreich revisited. 2016, 49. 162 WEBER Thomas, Vergleich der Temporär Protection-Gesetzgebung acht europäischer Staaten für
Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina vor Umsetzung der Eu-Richtlinie über vorübergehenden Schutz. In: Hannes TRETTNER (Hg.), Temporary protection für Flüchtlinge in Europa. Analysen und
Schlussfolgerungen. Wien 2005, 95.
50
erklärte, etwaige Kosten zu übernehmen. Dadurch konnten viele in Österreich lebende Familien
ihren Verwandten die Einreise nach Österreich ermöglichen.163
Abb 2: Wanderungssaldo 1961-2017 nach Staatsangehörigkeit.164
Durch die im Rahmen des Aufenthaltsgesetzes eingeführte Quotenregelung im Jahr 1993
verringerte sich der Wanderungssaldo zwischen 1994 und 2000 auf ungefähr 10.000 Personen
pro Jahr. 165 Jedes Jahr wurden neu festgelegte Quoten eingeführt, welche vor allem auf
Niederlassungsbewilligungen für eine dauerhafte Immigration abzielten. So heißt es im
Aufenthaltsgesetz §2(1) von 1993:
„Die Bundesregierung hat, im Einvernehmen mit dem Hauptausschuß des
Nationalrates, für jeweils ein Jahr mit Verordnung die Anzahl der Bewilligungen
festzulegen, die höchstens erteilt werden dürfen. Sie hat dabei die Entwicklung eines
geordneten Arbeitsmarktes sicherzustellen […] und auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe,Ordnung und Sicherheit Bedacht zu nehmen.“166
163 PERCHINIG, Zuwanderung und Integration in Österreich revisited. 2016, 49f. 164 STATISTIK AUSTRIA, Grafiken. In:
Die Gesamtzahl der Zulassungen wurde auf die einzelnen Bundesländer aufgeteilt und musste
nicht ausgeschöpft werden. Des Weiteren waren bestimmte Personen von dieser Bestimmung
ausgenommen, wie zum Beispiel in Österreich geborene ausländische Kinder, genauso wie
ausländische EhepartnerInnen von österreichischen StaatbürgerInnen.167 In Wien durften im
Jahr 2002 3.215 Erstniederlassungsbewilligungen ausgestellt werden. Von diesen 3.215
Personen waren 840 für Schlüsselkräfte und deren Familienmitglieder vorgesehen. Die
Quotenregelungen betreffen nicht nur die Arbeitsmigration, sondern auch die sogenannte
Familienzusammenführung. Für diesen Zweck standen 2002 4.490 Plätze zur Verfügung,
welche mehrere Jahre Wartezeit zur Folge hatten.168
3.2.3 Rechtliche Situation der Zugewanderten
Der rechtliche Rahmen von zugewanderten Personen unterscheidet sich in großem Ausmaß von
den der österreichischen StaatsbürgerInnen. Wie sich die Zugewanderten in die Wirtschaft und
Gesellschaft eingliedern, wird sehr stark von den rechtlichen Rahmenbedingungen
beeinflusst.169 Als der Krieg in Bosnien und Herzegowina im Jahr 1992 begann, erklärte sich
Österreich nicht bereit, den ankommenden Flüchtlingen einen Flüchtlingsstatus nach der
Genfer Konvention zuzuschreiben, stattdessen implementierte Österreich ein System des
temporären Schutzes.170 Aufgrund der Annahme seitens der österreichischen Behörden, dass
die bosnischen Flüchtlinge nach dem Ende des Konflikts Österreich verlassen würden, führte
die Regierung einen eigenen befristeten Schutzstatus mit einem befristeten Aufenthaltsstatus
für diese Flüchtlinge ein (=De-facto-Flüchtlinge).171
167 MÜNZ/ LEBHART, Zuwanderung nach Österreich. 1999, 79. 168 ECHSEL Katharina, Aufenthaltsrechtliche Situation von Migrant_innen in Österreich. In:
Arbeitsgruppe Migrantinnen und Gewalt (Hg.), Migration von Frauen und strukturelle Gewalt.. Wien 2003. 35f. 169 GÄCHTER August, Rechtliche Rahmenbedingungen und ihre Konsequenzen. In:
Arbeitsmarktservice Österreich (Hg.), AusländerInnen in Österreich. Migrationspolitik und
Integration. Wien 1998, 10. 170 KÖNIG Alexandra/ PERCHINIG Bernhard/ PERUMADAN Jimy/ SCHAUR Katharina, Country
Report. Austria. International Centre for Migration Policy Development. ITHACA Research Report
N.1/2015, 21. 171 PERCHINIG, Zuwanderung und Integration in Österreich revisited. 2016, 49.
52
Geflüchtete Personen bekommen subsidiären Schutz, wenn ihnen durch schwerwiegende
Menschenrechtsverletzungen ein großes Elend droht, wie zum Beispiel Folter, Todesstrafe,
unmenschliche Behandlung oder Bestrafung. Des Weiteren wird subsidiärer Schutz notwendig,
wenn das Leben der Betroffenen durch einen bewaffneten Konflikt gefährdet ist.172 Laut der
United Nations High Commissioner for Refugees dehnt sich der temporäre Schutz auf
Menschen aus, die aus anderen persönlichen Gründen Schutz suchen. 173 Subsidiäre
Schutzberechtigte haben das Recht auf eine temporäre Aufenthaltsberechtigung, jedoch kann
die rechtliche Stellung von susbidiären Schutzberechtigten und Asylberechtigten nicht
gleichgesetzt werden.174 Während ihres temporären Aufenthaltes mussten den Flüchtlingen die
grundlegenden Menschenrechte gewährt werden. Im Falle eines längeren Aufenthaltes musste
den Betroffenen ein besserer Rechtsstatus zuerkannt werden. Der vorübergehende Schutz sollte
im europäischen Kontext vor allem Staaten entlasten, die an eine Konfliktregion angrenzen und
einen ersten Zufluchtsort darstellen.175
Der temporäre Schutz wurde in Österreich von den Landesregierungen organisiert und umfasste
die Unterbringung in öffentlichen Unterkünften, Gesundheitsversicherung, Taschengeld und
die Unterstützung von Familien, die Flüchtlinge in ihr Heim aufgenommen hatten. Dies führte
dazu, dass in allen Bundesländern unterschiedliche Konditionen vorherrschten.176 Sofern die
subsidiären Schutzbedürftigen aus Bosnien keine Verwandten in Österreich hatten, wurden sie
aus finanziellen Mitteln des Bundes finanziert. Im Jahr 1993 betrug die Zahl der BosnierInnen,
die vom Staat finanziell unterstützt wurden, 47.000. Drei Jahre später sank die Zahl auf 18.000,
weil der Zutritt zum österreichischen Arbeitsmarkt für Kriegsflüchtlinge aus Bosnien
Aufgrund der steigenden Zuwanderung in den 1990er-Jahren wuchs die Überzeugung, dass
neue Regelungen bezüglich Migration und Zuwanderung notwendig seien. Somit kam es auch
zu Beginn des Jahrzehnts zu neuen Regelungen im Aufenthaltsrecht. Des Weiteren wurde ein
neues Fremdenrecht geschaffen. Hierbei ist es wichtig zu erwähnen, dass eine Quotenregelung
eingeführt wurde, welche eine Höchstzahl von zu vergebenden Aufenthaltsgenehmigungen pro
Jahr bestimmte.178
Österreich war eines der ersten europäischen Länder, das die Zuwanderung mittels eines
eigenen Gesetzes versuchte zu regeln. Beim Aufenthaltsgesetz handelt es sich um ein
Einwanderungsgesetz, welches aus Rücksicht auf die damalige öffentliche Meinung anders
benannt wurde. Ziel dieses Gesetzes war es, die neu entstandenen Wanderungen nach
Österreich zu steuern, Kriterien für den Aufenthalt von Fremden zu regeln und etwaige
Möglichkeiten der Umgehung der Vorschriften zu unterbinden.179 Die Bundesregierung konnte
mit dem Aufenthaltsgesetz bestimmter Gruppen ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht
gewähren.180 So heißt es im AufG §12 (1):
„Für Zeiten erhöhter internationaler Spannungen, eines bewaffneten Konfliktes oder sonstiger die Sicherheit ganzer Bevölkerungsgruppen gefährdender Umstände kann die
Bundesregierung mit Verordnung davon unmittelbar betroffenen Gruppen von
Fremden, die anderweitig keinen Schutz finden, ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet gewähren.“181
Das Aufenthaltsgesetz ist im Juli 1993 erstmals in Kraft getreten. Durch dieses Gesetz
benötigten die MigrantInnen ein gültiges Reisedokument und einen Sichtvermerk, um nach
Österreich legal einwandern zu können. 182 Im Aufenthaltsgesetz ist vorgesehen, dass eine
Aufenthaltsbewilligung grundsätzlich dann erteilt werden kann, wenn die Erstantragsstellung
im Herkunftsland beantragt wurde. Um eine Zuwanderungserlaubnis zu bekommen, benötigten
die Menschen neben den oben genannten Voraussetzungen einen Nachweis über eine
178 PERCHINIG, Zuwanderung und Integration in Österreich revisited. 2016, 53. 179 FASSMANN Heinz/ MÜNZ Rainer, Einwanderungsland Österreich? Historische Migrationsmuster, aktuelle Trends und politische Maßnahmen. Wien 1995, 88. 180 WEBER, Vergleich der Temporär Protection-Gesetzgebung acht europäischer Staaten für
Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina vor Umsetzung der Eu-Richtlinie über vorübergehenden Schutz. 2005, 101. 181 RECHTSINFORMATIONSSYSTEM DES BUNDES, Aufenthaltsgesetz. Fassung vom
29.07.1993. In:
https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10005817&FassungVom=1993-07-29 (am 12.02.2019). 182 RECHTSINFORMATIONSSYSTEM DES BUNDES, Bundesgesetzblatt für die Republik
Wohnmöglichkeit und einen gesicherten Lebensunterhalt. Im Falle des nicht Vorhandenseins
eines dieser Kriterien, konnte die Aufenthaltsbewilligung abgewiesen, entzogen bzw. nicht
erneuert werden. Eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung wurde nur dann ausgestellt, wenn
mindestens vier Mal der Antrag verlängert wurde und mindestens fünf Jahre Aufenthalt in
Österreich nachweisbar waren. 183 Potenzielle ZuwandererInnen wurden jedoch in mehrere
Gruppen aufgeteilt. So waren BürgerInnen aus EU- und EWR-Staaten von diesen Regelungen
ausgenommen. Im Auswahlverfahren hatten ausländische EhepartnerInnen und minderjährige
Kinder von bereits in Österreich ansässigen In- bzw. AusländerInnen Vorrang.184
Im Falle von bosnischen StaatsbürgerInnen wurde eine Verordnung laut AufG § 12(1) erlassen,
bei welcher BosnierInnen, die legal oder vor dem Inkrafttreten des AufG nach Österreich
eingewanderten waren, eine befristete Aufenthaltsgenehmigung erhielten. Die
Aufenthaltsrechte wurden immer wieder verlängert, bis im Jahr 1998 das Bosniergesetz in Kraft
trat.185
Dieses Aufenthaltsgesetz war ein erster Schritt in Richtung einer koordinierten und stark
restriktiven Migrationspolitik. Die vorgenommenen Maßnahmen dienten der Verhinderung von
unkontrollierten Einwanderungen und dem Schutz des österreichischen Arbeitsmarktes.186 Wie
Abbildung 2 im Kapitel 3.2.2 zeigt, konnte die Zuwanderung nach Österreich aufgrund der
Einführung des Aufenthaltsgesetzes stark eingedämmt werden.
Das Paßgesetz (1966) und das Fremdenpolizeigesetz (1990), welche die wichtigsten
Rechtsquellen für den Aufenthalt von Ausländern in Österreich sind, wurden vom
Fremdengesetz im Jahr 1993 abgelöst. Im Fremdengesetz wird deutlich zwischen
AusländerInnen, die sich länger in Österreich befinden, und Touristen unterschieden. Eines der
Ziele dieses Gesetzes war die Vorbeugung von illegalen Aufenthalten in Österreich.187
183 MÜNZ/ LEBHART, Zuwanderung nach Österreich. 1999, 80. 184 FASSMANN/ MÜNZ, Einwanderungsland Österreich? 1995, 88f. 185 WEBER, Vergleich der Temporär Protection-Gesetzgebung acht europäischer Staaten für Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina vor Umsetzung der Eu-Richtlinie über vorübergehenden
muss geprüft werden, ob es für diesen Job nicht schon einen arbeitslos gemeldete/n InländerIn
gibt.191 So heißt es im § 4 (1) des Ausländerbeschäftigungsgesetzes:
„Einem Arbeitgeber ist auf Antrag eine Beschäftigungsbewilligung für den im Antrag angegebenen Ausländer zu erteilen, wenn die Lage und Entwicklung des
Arbeitsmarktes die Beschäftigung zulässt (Arbeitsmarktprüfung), wichtige öffentliche
und gesamtwirtschaftliche Interessen nicht entgegenstehen […]“. 192
Bei der Arbeitserlaubnis handelt es sich um eine Bewilligung für zwei Jahre. Diese Erlaubnis
muss von den AusländerInnen selbst beantragt werden. Voraussetzung ist eine vorherige
Beschäftigung von mindestens einem Jahr. Der Befreiungsschein erlaubt eine Beschäftigung
innerhalb des gesamten Bundesgebietes. Für diese Erteilung muss eine fünfjährige
Beschäftigung innerhalb von acht Jahren nachgewiesen werden. Eine Verlängerung des
Befreiungsscheines erfordert eine zweieinhalbjährige Beschäftigung innerhalb der
Gültigkeitsdauer.193
Im Zuge der Novellierung im Jahr 1990 wurde ein neues Instrument der Steuerung einer
absoluten Obergrenze für die Beschäftigung von AusländerInnen eingeführt. Nach dieser
Regelung durfte die Gesamtzahl der unselbstständig beschäftigten und arbeitslosen
AusländerInnen einen bestimmten Anteil der österreichischen Arbeitskräftepotentials nicht
überschreiten. Diese Ausländerquote wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales
festgelegt. Im Jahr 1995 betrug die Quote 9 % des österreichischen Arbeitskräftepotentials
(=295.000 Personen). Ausgenommen von diesen Restriktionen waren EWR- bzw. EU-
BürgerInnen. 194 Bosnische Flüchtlinge erhielten keinen Zugang zum österreichischen
Arbeitsmarkt mit einer Aufenthaltsberechtigung gemäß §8 AsylG 1991. Erst durch einen
Aufenthaltstitel nach dem AufG konnte es zu einer Beschäftigungsbewilligung kommen.195
191 ALI-PAHLAVANI Zohreh, Chancen für MigrantInnen am Arbeitsmarkt in Österreich. 2003, 44f. 192 RECHTSINFORMATIONSSYSTEM DES BUNDES, Aufenthaltsgesetz. Fassung vom 14.05.2019. In:
65 (am 13.02.2019). 193 ALI-PAHLAVANI Zohreh, Chancen für MigrantInnen am Arbeitsmarkt in Österreich. 47ff. 194 FASSMANN/ MÜNZ, Einwanderungsland Österreich? 1995, 87. 195 WEBER, Vergleich der Temporär Protection-Gesetzgebung acht europäischer Staaten für
Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina vor Umsetzung der Eu-Richtlinie über vorübergehenden Schutz. 2005, 119f.
Für bosnische Flüchtlinge gab es zuerst keine Ausnahme von der Ausländerquote für
Beschäftigungsbewilligungen. Nachdem sich die Lage in Bosnien und Herzegowina aber nicht
verbesserte, wurde mittels Verordnungen und Erlässen des zuständigen Sozialministeriums
BosnierInnen ein bevorzugter Arbeitsmarktzugang erlassen. Infolge dieser
Arbeitsmarktzulassung kam es zu einer hohen Integration von BosnierInnen in den
Arbeitsmarkt.196
3.2.3.2 Integrationsmaßnahmen
Während in den 1990er-Jahren auf der rechtlichen Ebene viele Verschärfungen durchgeführt
worden waren, welche ab und zu von den Höchstgerichten erleichtert wurden, entstanden zu
dieser Zeit die ersten Integrationsinitiativen. Unterschiedliche Faktoren, wie die
Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, menschenrechtliche, karitative und
interkulturelle NGOs, aber auch Universitäten gaben den ersten Anstoß. Diese Parteien
orientierten sich im Gegensatz zu der damaligen Innenpolitik an die
Gleichstellungsparadigmen, welche in der Europäischen Union immer dominanter wurden. In
den Flächenbundesländern waren vor allem Nichtregierungsorganisationen an der Entwicklung
der Integrationsarbeit beteiligt. Im Jahr 1992 wurde der Wiener Integrationsfond gegründet
unter der Initiative der damaligen Kulturstadträtin Ursula Pasterk. Dieser Integrationsfond
wurde die erste städtische Integrationseinrichtung in Österreich. Der Wiener Integrationsfond
beschäftigte sich vor allem mit sozialpolitischen Aspekten und der schlechteren ökonomischen,
rechtlichen und sozialen Situation der MigrantInnen. Den MigrantInnen wurde vor allem die
Beratung im Bereich des Aufenthaltsrechts angeboten. Außerdem entstanden Vernetzungs- und
Beratungsstellen in den Wiener Bezirken.197
Integrationshilfe wurde in Österreich zunächst nur InhaberInnen von Aufenthaltstiteln und
anerkannten Flüchtlingen zugesprochen. Erst seit dem Fremdengesetz von 1997 wurde
Integrationshilfe auch für subsidiäre Flüchtlinge eingeführt. Seit 1994 wurde vor allem die
Arbeitsmarktintegration von BosnierInnen stark gefördert.198
196 Ebd., S. 120. 197 PERCHINIG, Zuwanderung und Integration in Österreich revisited. 2016, 53ff. 198 WEBER, Vergleich der Temporär Protection-Gesetzgebung acht europäischer Staaten für
Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina vor Umsetzung der Eu-Richtlinie über vorübergehenden Schutz. 2005, 135.
58
Eine Harmonisierung des Aufenthaltsrechts und Arbeitsmarktzugangs wurde zu dieser Zeit
nicht erreicht. Anstatt einer grundlegenden Gesetzesänderung wurden einige wenige Erlässe
herbeigeführt. Ein solcher Erlass bezieht sich auf die bevorzugte Vermittlung von Ausländern
auf dem Arbeitsmarkt, die sich bereits seit acht Jahren in Österreich befinden.199
Durch die Bund-Länder Aktion konnten bosnischen Flüchtlingen Deutschkurse, Stipendien,
Spezialsprachkurse für bestimmte Berufsgruppen, Berufsqualifizierungsberufe und
Schulungsmaßnahmen in Berufssparten finanziert werden. Diese Integrationsmaßnahmen
wurden vor allem von Hilfsorganisationen und unterschiedlichen Institutionen der Gemeinden
durchgeführt. Es wurde versucht, die bosnischen Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu
integrieren, was sich jedoch als sehr schwierig erwies. Erst nachdem sich die Situation in
Bosnien nicht verbesserte und Österreich seine Politik diesbezüglich hinterfragte, kam es zu
einer Veränderung. Im Hinblick auf die finanzielle Entlastung der öffentlichen Hand, entschloss
sich die Regierung die restriktive Haltung in Bezug auf die Vergabe von
Beschäftigungsbewilligungen zu lockern.200
In den 1990er-Jahren entwickelte sich zumindest auf der inhaltlichen Ebene in allen
Bundesländern ein liberal grundiertes Integrationsverständnis. Dieses forderte eine
weitgehende Gleichstellung von MigrantInnen. Es kam zu einer Abwendung des
Assimilationsparadigmas und Integration wurde immer mehr als Bringschuld der Gesellschaft
wahrgenommen.201
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Österreich sowohl ein Ein- als auch
Auswanderungsland ist. Durch die Gastarbeiterbeschäftigung, die sich verändernde politische
Situation in Europa Ende der 1980er-Jahre und der Flüchtlingszustrom aus dem ehemaligen
Jugoslawien stieg die Zuwanderung in hohem Ausmaß. Infolge dessen wurden neue Gesetze
implementiert, welche die starke Zuwanderung nach Österreich eindämmen sollten. Durch die
Quotenregelung wurde dieses Ziel zwischen 1992 und 1994 weitgehend erreicht. In Österreich
setzten sich zu dieser Zeit viele Stimmen für eine koordinierte und stark restriktive
199 MATZKA Manfred, Integration in Österreich. In: Andreas KOHL, Österreichisches Jahrbuch für
Politik. Wien 2001, 88. 200 HADOLT Bernhard / HERZOG-PUNZENBERGER Barbara / SITZ Angelika, Die österreichische
de facto-Aktion für Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina. 1999. In: http://paedpsych.jku.at/dev/wp-
content/uploads/2016/05/Herzog-Punzenberger-et-al-1999-Flu%CC%88chtlingsregime-O%CC%88sterreich-De-facto-Aktion.pdf (am 09.02.2019), 37. 201 PERCHINIG, Zuwanderung und Integration in Österreich revisited. 2016, 57.
Die qualitative Forschung ist in unterschiedlichen Disziplinen und Fächern vertreten. Obwohl
noch immer starke Kritik gegen die qualitative Forschung besteht, hat sie sich in den
Wissenschaften, vor allem in der Sozialwissenschaft durchgesetzt. Die qualitative Forschung
beleuchtet die Lebenswelten aus der Sicht der handelnden Personen. Dadurch soll die soziale
Wirklichkeit besser dargestellt und verstanden werden. Gleichzeitig versucht sie auf bestimmte
Abläufe und Strukturmerkmale zu verweisen.205 Kruse sagt, dass die qualitative Forschung
singbezogene Muster sucht, mit welchen sie Regelmäßigkeit erklären kann. Die quantitative
Forschung versucht verteilungsbezogene Typiken zu finden. Die qualitative und quantitative
Forschung stehen für ihn nicht als Konkurrenten gegenüber, sondern verhalten sich
komplementär zu einander. Der Prozess der qualitativen Sozialforschung soll dynamisch und
offen sein, um so empirisch rekonstruierte und gegenstandsbezogene Konzepte zu erhalten.206
4.1.3 Leitfadeninterviews
Leitfadeninterviews haben sich im Laufe der Zeit als eines der am häufigsten verwendeten
Interviewmethoden in der qualitativen Sozialforschung etabliert. Diese Form des Interviews
befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen Offenheit und Strukturierung. Sowohl die
methodologische als auch forschungspraktische Ebene sind davon betroffen. Im Vorfeld des
Gespräches wird ein Interviewleitfaden erstellt, welches das Interview strukturiert und in eine
bestimmte Themenrichtung leitet.207 Ein Leitfaden besteht entweder aus mehreren offenen
Fragen in fester Reihung oder aus mehreren Aufforderungen zum Erzählen. Eine weitere
Möglichkeit besteht aus einer Kombination dieser beiden Optionen. Neben verbalen Elementen
können auch unterschiedliche Stimuli für einen Leitfaden verwendet werden. So können
Befragte aufgefordert werden ein Bild oder einen Film zu kommentieren, eine Stellung zu
beziehen oder ein Problem aufzuarbeiten.208
205 FLICK Uwe/ KARDORFF Ernst von/ STEINKE Ines, Was ist qualitative Forschung? Einleitung
und Überblick. In: Uwe FLICK/ Ernst von KARDORFF/ Ines STEINKE (Hgg.), Qualitative
Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg 2015. S. 13f. 206 KRUSE Jan, Qualitative Interviewforschung. Ein integrativer Ansatz. 2. Auflage. Weinheim/ Basel 2015. S. 44ff. 207 Ebd., S. 209. 208 HELFFERICH Cornelia, Leitfaden- und Experteninterviews. In: Nina BAUR/ Jörg BLASIUS (Hgg.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden 2014. S. 559-574. S. 565.
62
Leitfadeninterviews können unterschiedlich stark strukturiert werden. Trotzdem kennzeichnet
eine mehr oder weniger offene Strukturierung der Durchführung der Gespräche das
Leitfadeninterview. Hierbei besteht die Gefahr durch bestimmte Leitfragen den Redefluss des
Interviewten zu unterbrechen und somit das Interview zu steuern. Diese Problematik wird oft
auch als „Leitfadenbürokratie“ und „Pseudoexploration“ bezeichnet. 209 Der Leitfaden
kennzeichnet sich durch eine systematisch angewandte Vorgabe zur Gestaltung des
Interviewgespräches. Zwar ist eine maximale Offenheit des Interviews erwünscht, jedoch aus
Gründen des Forschungsinteresses oder der Forschungspragmatik, kann das Interview bewusst
methodologisch eingeschränkt werden. Für viele Forschungsfragen ist es notwendig das
Interview in einem gewissen Ausmaß zu steuern. So heißt es bei Helfferich: „Die Erstellung
eines Leitfadens folgt dem Prinzip ´So offen wie möglich, so strukturierend wie nötig´.“210 In
anderen Worten bedeutet das, dass die Aufforderung zur Offenheit eine Ideallinie ist, welche
Orientierung verschafft, jedoch muss sie nicht vollständig eingehalten werden. Schon alleine
die soziale Kommunikationsstruktur des Interviews schränkt das ein, was wie gesagt werden
kann. Somit können die Äußerungsmöglichkeiten der Befragten nie ganz unbeeinflusst bleiben.
Ein vollkommener Verzicht auf Strukturierung erweist sich als schwierig und nicht als sinnvoll
für das Forschungsinteresse. Bereits die Information über den Zweck der Forschung, kann bei
den Befragten die Offenheit der Äußerungsmöglichkeiten einschränken. Auch die
Ankündigung des Forschungsvorhabens, die Fragenformulierung und die Aufforderungen zum
Erzählen vermitteln schon Vorannahmen.211
Durch eine starke Strukturierung kann eine mögliche Vielfalt der Äußerungen von Interviewten
eingeschränkt und somit verhindert werden. Wenn das Interview in eine bestimmte Richtung
gelenkt wird, können somit auch subjektiv relevant aufgefasste Aspekte, welche in eine andere
Richtung führen würden, nicht erfasst werden. Für eine starke Strukturierung des Interviews
spricht die Tatsache, dass dadurch wichtige und interessante Aspekte für die Forschung
angesprochen werden. Obwohl diese Aspekte vielleicht für den Interviewten nicht als relevant
aufgefasst werden und sie es von sich aus auch nicht erwähnt hätten, teilt der/die Befragte seine
Gedanken dazu. Festzustellen ist, dass je konkreter das Forschungsinteresse ausgerichtet ist,
desto mehr Strukturierung und mehr Vorgaben verträgt das Interview. 212
209 KRUSE, Qualitative Interviewforschung. 2015, S. 209f. 210 HELFFERICH, Leitfaden- und Experteninterviews. 2014, S. 560. 211 Ebd., S. 562. 212 Ebd., S. 566.
63
Kruse ist der Auffassung, dass obwohl ein Dilemma zwischen Strukturierung und Offenheit in
Interviewleitfäden besteht, muss kein Widerspruch in einer thematischen Vorgabe („etwas
bestimmtes Wissen wollen“) und dem Raum für subjektiv relevante Aspekte vorherrschen.
Somit besteht die Möglichkeit einer Kompromisslösung, bei welcher offen strukturiert wird.
Die Art und Weise wie strukturiert wird ist hierbei von großer Bedeutung. Es soll einerseits
eine flexible und dynamische Handhabung von Strukturierung und Offenheit und andererseits
offene Fragestellungen ermöglicht werden. Wichtig bei den thematisch abgegrenzten
Fragestellungen ist, dass sie eine schließende Wirkung vermeiden. 213 Interviewleitfäden
müssen nicht - wie bei einer standardisierten Befragung - einem vorgegebenen Verlauf folgen.
Je nachdem, wie das Gespräch verläuft, kann die Abfolge der Leitfragen verändert werden.
Fragen, die in einer vorhergehenden Frage ausgiebig behandelt wurden, können ausgelassen
werden. Auch die Veränderung, Ergänzung und Vertiefung von Fragen, die sich im Laufe des
Interviews ergeben, sind möglich. Durch diese unterschiedlichen Möglichkeiten kann die
Befragung variiert und der Interviewsituation gut angepasst werden.214
4.2 Forschungverlauf
In dem Unterkapitel Forschungsverlauf wird auf die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten
Leitfadeninterviews eingegangen. Hierbei wird auf die InterviewpartnerInnen, ihre Akquisition
und die Interviewsituation eingegangen. Es wird ein Überblick über die im Mittelpunkt dieser
Arbeit stehenden Personengruppen geliefert.
4.2.1 Interviewsituation
Im Zeitraum von Januar bis März 2019 wurden 13 Interviews mit Personen bosniakischer
Herkunft geführt. Insgesamt wurden 3 Familien befragt, welche allesamt in den 1990er-Jahren
aufgrund des Bosnienkrieges nach Österreich geflüchtet sind. Sowohl die erste Generation, die
Eltern als auch die zweite Generation, die Kinder, erklärten sich bereit, ein Leitfaden gestütztes
Interview zu geben. Es wurden für die zwei Generationen leicht unterschiedliche Leitfäden
entwickelt. Diese können im Anhang dieser Arbeit betrachtet werden. In der ersten Generation
wurden 3 Männer und 3 Frauen und in der zweiten Generation wurden 7 Frauen befragt. Am
Anfang stellte sich die Suche als schwierig heraus. Mit Hilfe einer Freundin konnte die erste
213 KRUSE, Qualitative Intervieforschung. 2015, S. 212f. 214 WEISCHER, Sozialforschung. 2007, S. 273f.
64
Familie, die sich nach sehr kurzer Zeit dazu bereit erklärte, teilzunehmen, gefunden werden.
Die zweite Familie konnte über den Cousin eines Verwandten erreicht werden. Er hatte
Bekanntschaften mit einer Familie aus Kärnten. Die dritte Familie konnte wiederum über eine
Freundin kontaktiert werden. Interessant zu erwähnen ist, dass alle drei Familien im ländlichen
Bereich der Steiermark und Kärntens leben.
Alle Interviews wurden mit einer kurzen Einführung in den Themenbereich der Arbeit
begonnen. Gleich darauf wurde die volle Anonymität garantiert. Deshalb sind die Namen der
InterviewpartnerInnen in den Darstellungen verändert worden. Im weiteren Verlauf des
Interviews orientierte sich die Interviewende am Leitfaden. Hier ist wichtig zu erwähnen, dass
für die erste und zweite Generation jeweils unterschiedliche Leitfäden erstellt wurden.
Trotzdem überschneiden sich mehrere Fragen. Im Folgenden werden alle
InterviewpartnerInnen kurz vorgestellt.
4.2.2 InterviewpartnerInnen
Familie 1:
Omer ist 52 Jahre alt und wurde in Bosnien und Herzegowina (damaliges Jugoslawien)
geboren. Zurzeit befindet er sich in Krankenstand, davor arbeitete er viele Jahre als Bauarbeiter
in ganz Europa. Nachdem er eine längere Zeit in Zagreb verbrachte und seine Frau
kennenlernte, beschloss er im Jahr 1993 mit seiner Frau aufgrund der schlechten
Lebensbedingungen nach Österreich weiter zu flüchten. Gemeinsam haben die beiden 2
Töchter.
Maida ist 51 Jahre alt und wurde in Bosnien und Herzegowina (ehemaliges Jugoslawien)
geboren. Im Jahr 1993 flüchtete sie gemeinsam mit ihrem Mann nach Österreich. Sie
absolvierte in Bosnien vor dem Krieg eine Ausbildung zur Religionslehrerin. Das Diplom
wurde ihr in Österreich nach einer gewissen Zeit anerkannt. Dadurch konnte Sie ihren gelernten
Beruf auch in Österreich ausüben. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Naila ist 25 Jahre alt und die ältere Tochter von Omer und Maida. Sie studiert an der Universität
in Klagenfurt sowohl Erziehungs- und Bildungswissenschaften als auch Slawistik. Sie wurde
in Österreich geboren und möchte später im Bildungsbereich tätig werden.
65
Naza ist 18 Jahre alt und die zweite Tochter von Omer und Maida. Sie besucht zurzeit die 8.
Klasse der Höheren Technischen Lehranstalt mit dem Schwerpunkt Biomedizin und
Gesundheitstechnik. Sie wurde in Österreich geboren und möchte nach dem Schulabschluss
Medizin studieren. Falls das nicht möglich wird, möchte sie im technischen Bereich bleiben.
Familie 2:
Enis ist 51 Jahre alt und wurde in Bosnien und Herzegowina (ehemaliges Jugoslawien) geboren.
Er besuchte in Jugoslawien die Universität, musste diese jedoch aufgrund des Krieges
abbrechen. Im Jahr 1992 flüchtete er gemeinsam mit seiner Frau aus Belgrad nach Österreich.
In Österreich arbeitete er als Maler und schloss im Jahr 2000 die HTL ab. Jetzt arbeitet er in
einer Firma im Labor der Entwicklung und ist als Programmierer tätig.
Mineta ist 48 Jahre alt und wurde in Bosnien und Herzegowina (ehemaliges Jugoslawien)
geboren. Sie hat vor dem Krieg eine kaufmännische Ausbildung gemacht. Nachdem sie im Jahr
1992 nach Österreich kam, hatte sie unterschiedliche Jobs. Sie schloss im Rahmen eines
Praktikums unterschiedliche Fortbildungen und Einkaufslehrgänge ab und wurde dann von
ihrer Firma weiter beschäftigt. Mit ihrem Mann gemeinsam haben die beiden zwei Töchter.
Elma ist 25 Jahre alt und ist die älteste Tochter von Enis und Mineta. Sie wurde in Österreich
geboren und studiert zurzeit an der Universität Graz Englisch und Deutsch auf Lehramt.
Dadurch, dass sie Kindern Schwimmunterricht gibt und sie das leidenschaftlich gern macht, hat
sie sich dazu entschlossen, Lehrerin an einer NMS oder an einem Gymnasium zu werden.
Ina ist 22 Jahre alt und wurde in Österreich geboren. Sie macht zurzeit auf dem WIFI die Lehre
mit Matura. Sie arbeitet nebenbei als Bürokauffrau in einer Firma in der Steiermark. Sie
interessiert sich für Arbeitsrecht und könnte sich vorstellen in Zukunft Beratungen in der
Arbeiterkammer zu geben.
Familie 3:
Nezir ist 59 Jahre alt und wurde in Bosnien und Herzegowina (ehemaliges Jugoslawien)
geboren. Im Jahr 1995 flüchtete er im Rahmen der Familienzusammenführung nach Österreich.
Davor stand er als Soldat im Bosnienkrieg in Einsatz. Nachdem er in Österreich ankam, begann
er in einer Firma für Holzverarbeitung zu arbeiten. Sein Abschluss in einer technischen Schule
in Bosnien wurde in Österreich leider nicht anerkannt.
66
Seida wurde in Bosnien und Herzegowina (ehemaliges Jugoslawien) geboren und ist 52 Jahre
alt. Sie flüchtete im Oktober 1992 nach Österreich und verbrachte die anfängliche Zeit bei
Familienmitgliedern. Sie war für eine längere Zeit Hausfrau und kümmerte sich um deren
Kinder. Im Jahr 2009 begann sie in einem Restaurant als Küchenhilfe zu arbeiten. Mit ihrem
Mann zusammen haben sie 3 Töchter.
Nadia ist 29 Jahre alt und wurde in Bosnien und Herzegowina (ehemaliges Jugoslawien)
geboren. Sie ist die älteste Tochter von Nezir und Seida. Im Jahr 1992 kam sie gemeinsam mit
ihrer Mutter nach Österreich. Sie absolvierte die HLW in Kärnten und arbeitet zurzeit in einer
Firma, die Antriebssysteme für Motoren baut. Dort ist sie in der Export- und Zollabteilung
beschäftigt.
Almasa ist 20 Jahre alt und wurde in Österreich geboren. Sie hat die HLW abgeschlossen und
ist seit kurzem in der Buchhaltung einer Firma tätig. Nebenbei besucht sie einen Abendkurs für
Personalverrechnung an der Wirtschaftskammer.
Emina ist 17 Jahre alt, wurde in Österreich geboren und ist die jüngste Tochter dieser Familie.
Sie besucht zurzeit die Schule und möchte in Zukunft in einem abwechslungsreichen Bereich
tätig sein. Ihr Wunschberuf ist Polizist, dafür muss sie jedoch die österreichische
Staatsbürgerschaft annehmen.
4.3 Auswertung
4.3.1 Erste Generation
Die Flucht
Alle InterviewpartnerInnen der ersten Generation sind zwischen 1992 und 1995 aufgrund des
Krieges in Bosnien und Herzegowina nach Österreich geflüchtet. Zwei der drei männlichen
Familienmitglieder der ersten Generation hatten Glück zum Zeitpunkt des Kriegsausbruches
nicht in Bosnien und Herzegowina gewesen zu sein. Omer arbeitete zu dieser Zeit mit seinem
Vater in Zagreb und musste nicht aus einem Kriegsgebiet flüchten. Enis lebte in Belgrad, war
Soldat und Student. Nachdem sich der Krieg in Bosnien weiterentwickelt hatte, beschloss Enis
mit seiner Frau aus Belgrad zu fliehen. Später stellte sich heraus, dass er rechtzeitig Serbien
verlassen hatte, da einige seiner Kollegen wenig später eingesperrt oder verschwunden waren.
67
Der dritte Interviewpartner Nezir war Soldat und konnte im Verlauf des Krieges nicht flüchten.
Erst im Jahr 1995, wo der Krieg ein Ende fand, konnte er im Rahmen der
Familienzusammenführung nach Österreich kommen.
Im Gegensatz zu den männlichen musste keine der weiblichen InterviewpartnerInnen im Krieg
dienen. Trotzdem befanden sich zwei der drei Interviewpartnerinnen in Kriegsgebieten. Maida
erzählte von den glücklichen Umständen, welche es ihr ermöglichten rechtzeitig das
Kriegsgebiet zu verlassen:
„Ich bin rechtzeitig nach Österreich gekommen. Zuerst von Bosnien nach Kroatien, von
dort über Slowenien nach Österreich. Das war noch die Zeit, wo man über die Brücke des Flusses Sava gehen konnte. Zwei Tage nachdem ich die Brücke überquert habe,
wurde die Brücke gesprengt. Ich habe Glück gehabt, dass ich rechtzeitig rüber
gegangen bin.“ (Maida: Familie 1)
Seida konnte beim Ausbruch des Krieges nach Kroatien flüchten. Mineta flüchtete kurz vor
dem Ausbruch des Krieges nach Belgrad zu ihrem Mann, welcher dort studierte. Die
Entscheidung nach Österreich zu flüchten, geschah bei zwei Familien aufgrund der Tatsache,
dass sie Familienmitglieder in Österreich hatten, bei denen sie auch unterkommen konnten. Nur
die erste Familie flüchtete nach Österreich, da die Lebensbedingungen in Zagreb sehr schlecht
waren. Diese Familie hatte als einzige keine Verwandten in Österreich.
Für die zweite Familie ergaben sich bei der Grenze zu Österreich Schwierigkeiten. Der
jugoslawische Reisepass hatte bis zu diesem Tag Gültigkeit gehabt, jedoch erreichten Enis und
Mineta die österreichische Grenze erst gegen Mitternacht. Die Einreise wurde ihnen zuerst
verweigert, nachdem aber ein Mädchen für sie gedolmetscht hatte, wurde ihnen die Einreise
schließlich gewährt.
Neubeginn in Österreich
Die anfängliche Zeit in Österreich erwies sich für alle drei Familien als schwierig. Sowohl die
Wohn- als auch die Beschäftigungssituation war sehr schlecht. Auf Grund der Tatsache, dass
die erste Familie keine Verwandten in Österreich hatte, kamen sie in ein Aufnahmezentrum. Es
war eine Pension, in welcher 20 Familien untergebracht worden waren. Jede Familie bekam ein
Zimmer mit Toilette. Die zweite Familie hatte sowohl Verwandte in Wien als auch in Graz
Umgebung. Sie entschlossen sich nach drei Wochen zu ihrem Onkel nach Graz zu ziehen. Dort
lebten sie in einer Zweizimmer Wohnung, mit jeweils 8 Personen in einem Raum. Im Fall der
dritten Familie war nur Seida mit ihrer Tochter in Österreich. Sie konnte bei der Familie ihres
Mannes unterkommen.
68
Alle InterviewpartnerInnen empfanden die nicht vorhandenen Sprachkenntnisse als große
Barriere. Obwohl den meisten ein Sprachkurs angeboten wurde, empfanden sie diesen nicht als
ausreichend. Einige konnten an einem Sprachkurs gar nicht teilnehmen, da sie auf ihre Kinder
aufpassen mussten. Des Weiteren stand für die Familien die Sicherung der finanziellen
Situation im Vordergrund. Für Familie 1 und 2 erwies sich der Erhalt einer Arbeitserlaubnis als
sehr schwierig. Omer bekam seine Arbeitserlaubnis erst vier Jahre nachdem er in Österreich
ankam. Obwohl er gleich nach 3 Wochen eine Arbeit in einer Autowerkstatt gefunden hatte,
stellte ihm das Arbeitsamt keine Arbeitserlaubnis aus. Auch im Fall von Familie 2 gab es
anfängliche Schwierigkeiten mit der Arbeitserlaubnis. Die erste Arbeit bekamen Enis und
Mineta auf einem Erdbeerfeld, jedoch wurde diese Arbeit illegal verrichtet. Mineta arbeitete
weiters als Putzfrau in einem Gasthaus und sie beschreibt ihre damalige Situation so:
„Als ich dort angekommen bin, war dort eine Slowenin, das war wie Sklavenarbeit. Ich
habe um sieben Uhr anfangen müssen, erst ihre Wohnung putzen, dann ihre Küche, dann das Gasthaus, dann die ganze Wäsche, ich habe nicht nach Hause dürfen, bis
nicht alles gebügelt war. Das heißt, ich bin oft bis elf am Abend geblieben. Ich habe
Tausend Schilling wieder schwarz verdient. Ich habe gewusst, ich muss arbeiten. Wir
wollten unbedingt von seinem Onkel raus und wir haben uns ein Zimmer gefunden. Allein das Zimmer hat 3500 Schilling gekostet.“(Mineta Familie 2)
Seida arbeitete in ihrer anfänglichen Phase in Österreich nicht, da sie auf ihr Kind aufpasste.
Durch die kleine finanzielle Unterstützung vom Staat über 1500 Schilling konnte sie gerade so
über die Runden kommen. Als Nezir im Jahr 1995 nach Österreich kam, erhielt er die
Arbeitserlaubnis sehr schnell und konnte bald eine Arbeit in einer Firma für Holzverarbeitung
antreten. Es wird ersichtlich, dass die männlichen InterviewpartnerInnen im Fall von Familie 1
und 3 dafür zuständig waren, einen Job zu bekommen, wobei die weiblichen
InterviewpartnerInnen in den ersten Jahren für die Kinderbetreuung zuständig waren. Im Fall
von Familie 3 waren beide InterviewpartnerInnen in der anfänglichen Zeit berufstätig. Weiters
ist wichtig zu erwähnen, dass alle drei Familien sich sehr gut aufgenommen gefühlt haben. Sie
haben viele positive Erlebnisse mit ÖsterreicherInnen gehabt. Auf diese Tatsache wird in Frage
4 näher eingegangen.
Schwierigkeiten
Wie bereits erwähnt, stellten sich mitunter die neue Sprache, das fremde Land und die neue
Umgebung als die größten Schwierigkeiten heraus. Dadurch, dass die Kommunikation
erschwert war, gab es auch Schwierigkeiten mit der Eingliederung. Für die meisten
InterviewpartnerInnen war es schwierig, die Sprache zu erlernen, da sie einerseits die
69
angebotenen Kurse als unmaßgeblich sahen und andererseits hatten viele
InterviewpartnerInnen wichtigere Sorgen. So wurden die anfängliche finanzielle Situation und
die Arbeitslosigkeit als größte Probleme angesehen. Auch Nezir befand sich in einer
schwierigen finanziellen Situation, weswegen er auch ab und zu illegal arbeiten ging. Er wollte
seine Einnahmen etwas erhöhen und stieß dabei auf Betrüger. Er arbeitete auf einer Baustelle.
Nachdem die Arbeit abgeschlossen war, gab ihm der Chef ein Kuvert. Als Nezir es öffnete sah
er, dass er nicht einmal die Hälfte des vereinbarten Honorars erhalten hatte. Da er weder die
Sprache gut konnte und auch die Arbeit illegal verrichtet wurde, konnte er gegen diesen Vorfall
nichts unternehmen. Dadurch, dass viele keine Arbeitserlaubnis hatten, mussten sie andere
Wege zur finanziellen Absicherung finden. Diese verliefen oft im illegalen Bereich, welcher
die strukturelle Integration der geflüchteten InterviewpartnerInnen erheblich erschwerte.
Als weitere Schwierigkeit erwies sich zum Beispiel für Seida die starke Sehnsucht nach ihrer
Familie, die in Bosnien geblieben war. Weiters vermisste sie ihr eigenes Land, die eigenen
Landsleute und einfach alles in Verbindung mit ihrer Vergangenheit in Bosnien und
Herzegowina. Nezir meinte auch, dass sie eine lange Zeit im Ungewissen waren. Sie wussten
nicht, ob sie bleiben oder doch nach Bosnien zurückkehren sollten. Auch Maida hatte lange die
Hoffnung, dass der Krieg nicht lange andauern wird und dass sie zurück in ihre Heimat kehren
kann. Eine solche ungewisse Phase kann die Eingliederung in eine neue Gesellschaft
erschweren und verlangsamen. So ist ein Flüchtling weniger dazu bereit, eine neue Sprache zu
erlernen, wenn er/sie vorhat, das Land bald zu verlassen215 Wie hier ersichtlich ist, hatten alle
drei Familien in ihrer anfänglichen Phase Schwierigkeiten in Österreich. Obwohl diese
Probleme ihr Leben stark beeinflussten, waren sich alle InterviewparterInnen einig, dass die
positiven Dinge überwogen haben. Im folgenden Abschnitt werden die erfreulichen bzw.
positiven Erlebnisse der InterviewpartnerInnen dargestellt.
Positive Erlebnisse
Im Prinzip empfanden alle InterviewpartnerInnen die Aufnahme in Österreich als an sich
positiv. Dies vor allem auf Grund der Tatsache, dass in Österreich kein Krieg herrschte und
dass die Grundversorgung und eine kleine finanzielle Unterstützung seitens der Regierung
gesichert wurden. Alle drei Familien wurden von den ÖsterreicherInnen herzlich
215 Vgl. Kapitel 2.2.2.1 Assimilation nach Esser.
70
aufgenommen. Jede/r InterviewparterIn konnte sich auf irgendeine Art und Weise über Hilfe
seitens der ÖsterreicherInnen erfreuen. So erzählt Enis über seine Erlebnisse:
„Also zum Beispiel, wir haben in der West-Steiermark bei einem Obsthändler
gearbeitet. (…) Wir waren schon so um halb fünf spätestens fünf am Feld und haben gearbeitet. Das Feld ist neben der Bundesstraße und am Abend war dort immer ein
LKW geparkt und der Fahrer hätte sonst um dieses Feld einen Kilometer gehen müssen,
so ist er durch das Feld gegangen. (…)Am dritten, vierten Tag ist der LKW Fahrer zu mir gekommen, weiß nicht warum zu mir, aber er hat mir dann 120 Schilling in die
Hand gedrückt. Also klingt nicht so viel, für mich war das verdammt viel. Dann habe
ich gefragt für was und er einfach so und aufteilen auf Vier. Das bleibt bis zum Ableben
in Erinnerung. Später zum Beispiel, wenn meine Eltern nach Österreich gekommen sind, haben wir ein uraltes Haus zum Wohnen bekommen. Am ersten, zweiten Tag wo
wir dort eingezogen sind, klopft jemand an der Tür und ich sehe einen Polizisten. Da
habe ich mir schon gedacht, was habe ich verbrochen. Dabei hat er nur gefragt wie es uns geht, wie wir uns eingelebt haben und so weiter. Im selben Haus, ist einer der
Nachbarn mit einer Erdbeertorte gekommen, abgegeben als Willkommensgeschenk.“
(Enis Familie 2)
Nezir erzählte, dass er in seiner Arbeit von seinen Kollegen sehr gut aufgenommen wurde:
„Zum Beispiel wo ich angefangen habe zu arbeiten, sie haben mich wirklich sehr gut
aufgenommen. Ich war der einzige Ausländer und sie halfen mir, mich zu Recht zu
finden. Wenn ich etwas nicht wusste, erklärten sie es mir manchmal sogar mehrmals.“
(Nezir Familie 3)
Für die Familie 1 erwies sich der Chef einer Touristenvilla als enorm hilfsbereit. Er gab ihnen
eine Wohnung, richtete diese samt Küche ein und ermöglichte es Omer und Maida in seiner
Villa auszuhelfen. Weiters kontaktierte er den Bürgermeister und verlangte von ihm, dass er
einen Brief in das Innenministerium schreibt und um eine Aufenthaltsbewilligung für die
Familie ansucht. Auch die anderen InterviewparterInnen hatten positive Erlebnisse, die ihnen
geholfen haben sich in der Gesellschaft zu positionieren. Dadurch dass die Ausführung aller
Erlebnisse den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, werden an dieser Stelle keine weiteren
Erfahrungen dargestellt. Eine detaillierte Ausführung aller Interviews können den angefügten
Transkriptionen entnommen werden.
Soziale Beziehungen
Alle Interviewten konnten in ihrer Zeit in Österreich Freundschaften und Bekanntschaften
schließen. Bemerkenswert ist, dass alle drei männlichen InterviewpartnerInnen als erste Quelle
für das Schließen von Bekanntschaften und Freundschaften den Arbeitsplatz erwähnten.
71
So lernte zum Beispiel Enis viele Personen über seine Arbeit kennen und verstand sich sofort
mit ihnen. Hierzu schreibt er:
„Damals habe ich wirklich gute Erfahrungen sogar mit FPÖ Wählern gehabt. Damals gab es einen Obsthändler, der war Parteivorsitzender in dieser Gemeinde. (…) Ein
anderer Kollege ist auch ein Parteimitglied und mit ihm habe ich mich auch super
verstanden, er ist mittlerweile verstorben. Er hat mir die Sprache ziemlich gut beigebracht, nach der Arbeit haben wir immer wieder Bier getrunken.“ (Enis Familie
2)
Interessant festzuhalten ist, dass Enis seine Arbeitskollegen als eine Art Pflichtbekanntschaft
ansah. Er versteht sich mit seinen Kollegen sehr gut, aber dadurch, dass man gezwungen war,
in Kontakt zu treten, sieht er diese Bekanntschaften nicht als richtige Freundschaften an. Erst
nachdem er angefangen hat Basketball zu spielen und dort Menschen mit gleichen Interessen
kennengelernt hat, konnte er richtige Freundschaften schließen. Durch diese Erfahrungen
begann er sich schließlich richtig ohne Zwang und Pflicht zu integrieren.
Im Gegensatz zu den männlichen führten die weiblichen InterviewpartnerInnen vor allem
Bekanntschaften und Freundschaften aus dem privaten Umfeld an. VermieterInnen,
NachbarInnen und Familien von Freunden ihrer Kinder. Unterschiede können auch in der
Auswahl von Freunden festgestellt werden. Die dritte Familie ist mehr mit bosnischen bzw. ex-
jugoslawischen Personen befreundet. Nezir begründet dies so:
„Aber die meiste Zeit verbringen wir mit unseren bosnischen und kroatischen Nachbarn. Wir sprechen nicht über Politik und dann ist alles gut. Ich glaube dadurch,
dass wir die gleiche Mentalität haben und wir uns gegenseitig immer helfen wollen,
kann es sein, dass wir deswegen mehr Zeit mit unseren bosnischen und kroatischen
Nachbarn verbringen. Wenn jemand etwas braucht, sind wir immer zur Stelle und es fällt einem auch leichter, seinen Mann zu fragen als einen Österreicher“(Nezir Familie
3)
Nach Esser ist eine Person segmentiert, wenn sie sich bei der Integration in die Richtung der
Herkunftsgesellschaft orientiert. Seiner Meinung nach, kommt es sehr selten zu einer
Mehrfachintegration. Wenn man dieser Theorie folgt, wäre Familie 3 höchstwahrscheinlich in
der Segmentation angesiedelt. Jedoch darf man nicht außer Acht lassen, dass sowohl Nezir als
auch Seida soziale Beziehungen zu ÖsterreicherInnen pflegen. So zum Beispiel empfindet
Seida ihre Vermieterin als gute Freundin:
72
„So zum Beispiel meine Vermieterin, sie ist wie eine Mutter für mich. Ich hatte einmal
starke Bauchschmerzen und die Rettung kam und sie rannte mir hinterher, um zu sehen was passiert war. Sie mag auch bosnische Pita und ich mache ihr öfters Pita und dafür
bringt sie mir dann auch unglaublich viele Dinge, um sich zu bedanken.“ (Seida
Familie 3)
Einen scharfen Kontrast zu Familie 3 stellt die Familie 2 dar. Hier wird eine stärkere Tendenz
bzw. Orientierung in Richtung der Aufnahmegesellschaft sichtbar. Mineta stellt fest, dass sie
sich nur deshalb so gut integrieren konnte, weil sie Abstand zur bosnischen Community
gehalten hat:
„Was positiv ist bei uns bzw. was gut für unsere Integration war, wir gingen nie in diese
bosnischen Clubs. Zu jener Zeit, als ich in diesem Geschäft gearbeitet habe, sind viele
Bosnier in das Geschäft gekommen, aber ich habe die Einstellung gehabt, nur weil er meine Sprache spricht, muss er nicht mein Freund sein. Viele haben uns nach Hause
eingeladen, wollten mit uns Bekanntschaften machen, aber das wollte ich nicht.
Vielleicht hätten wir das gemacht, wenn wir ganz alleine hier gewesen wären, aber wir
hatten eine große Familie hier.“(Mineta Familie 2)
Dadurch, dass sie ausreichend Kontakt mit ihrer bosnischen Familie hatte, sah sie keine
Notwendigkeit neue bosnische Kontakte zu knüpfen. Deshalb sind auch ihre zwei besten
Freundinnen Österreicherinnen. Einzig die Familie 1 äußerte sich nicht konkret zu ihren
Präferenzen bei der Wahl ihrer sozialen Beziehungen.
Entwicklung und Veränderung
Auf die Frage hin, ob sich im Laufe der Zeit etwas in Österreich verändert hat, kamen
unterschiedliche Antworten. Familie 3 war sich einig und meinte, dass sich nicht viel verändert
hat. So ist Seida der Auffassung, dass auch nach einer langen Zeit in Österreich sie sich niemals
als Österreicherin sehen wird. Aufgrund ihres Nachnamens und der Sprache wird sie immer
Ausländerin bleiben. Sie vermisst nach wie vor ihre Heimat und fühlt sich in Bosnien noch
immer daheim. Nezir kommentierte die Sicht des Aufnahmelandes auf die bosnische
Community und meinte, dass die ÖsterreicherInnen immer ein Bild vom ungebildeten Bosnier
hatten, schon seit der Gastarbeiter Migration in den 1970er-Jahren. Es dauerte sehr lang sie von
dem Gegenteil zu überzeugen und ihnen zu zeigen, dass es sehr viele Bosnier mit einer hohen
Bildung und entsprechenden Qualifikationen gibt.
Die männlichen InterviewpartnerInnen der ersten und zweiten Familie waren sich einig, indem
sie sagten, dass sich im Laufe der Zeit einiges verändert hat. So sieht Omer die positive
Entwicklung im Laufe der Jahre in der harten Arbeit und dem Fleiß der von den Flüchtlingen
investiert wurde:
73
„Es hat sich Vieles in der Zwischenzeit verändert. Wir sind ein geschicktes Volk, wir arbeiten
sehr hart und alles was wir heute haben, haben wir durch harte Arbeit erreicht. Es wird dir
niemand etwas gratis geben. Alles was wir haben, haben wir durch harte Arbeit und Fleiß
bekommen. Man muss von früh bis spät arbeiten. Ich habe 20 Jahre in einer Firma überall in Europa gearbeitet, bis ich etwas erreicht habe.“ (Omer Familie 1)
Enis betont die persönliche Entwicklung, die er in den Jahren geschafft hat. Er hat seine
Deutschkenntnisse um einiges verbessert, er ist nicht mehr abhängig und auf Unterstützung
angewiesen. Durch seine persönliche Entwicklung kann er mit jedem auf Augenhöhe reden.
Durch diese Entwicklung konnten Barrieren überwunden werden, die eine Eingliederung in die
Gesellschaft verhindert oder erschwert haben.
Die weiblichen InterviewpartnerInnen der ersten und zweiten Generation deuteten auf die sich
verschlimmernde Situation für AusländerInnen hin. Maida betonte die sie persönlich
betreffende Diskriminierung von muslimischen Frauen mit Kopftuch. Sie ist der Meinung, dass
sie in ihren anfänglichen Jahren in Österreich nur positive und respektvolle Begegnungen hatte.
Flüchtlinge mit und ohne Kopftuch wurden freundlich aufgenommen, die Menschen waren
einsichtig und hilfsbereit. Im Laufe der Zeit hat sich aber diese Situation für sie deutlich
verändert:
„Bis jetzt war fast immer alles in Ordnung. Jetzt merke ich schon, dass durch die
medialen Einflüsse, seit dem 11. September 2001, und der schlechten Darstellung von
Islam und Muslimen, merke ich schon Unterschiede. (…) Aber was dieses Klima betrifft, kann ich sagen, ich habe einige Überraschung erlebt. Zum Beispiel aufgrund meines
Kopftuchs habe ich Bemerkungen gehört, so auf dieser Ebene merke ich schon, dass es
Schwierigkeiten gibt. (…) Ich merke auch früher bin ich oft mit Verständnis, Ehre und
Würde empfangen, wenn ich irgendwo hinkam, jetzt schauen sie manchmal bei Lidl oder irgendwo anders in der Öffentlichkeit, schauen sie mich an als wäre ich vom Mars
gefallen. So wie als hätten sie nie eine Frau mit einem Kopftuch gesehen. Früher war
es ganz normal, überhaupt nicht bemerkbar, aus meiner Sicht und jetzt schauen sie mit Verachtung.“ (Maida Familie 2)
Sie führt auch weitere Beispiele an, wo Freundinnen von ihr aufgrund des Kopftuches gefeuert
wurden oder keinen Job finden konnten. Auch für Mineta hat sich die Situation im Laufe der
Jahre verschlimmert. Sie persönlich spricht von einer Spannung im Arbeitsfeld und glaubt
dadurch, dass sie sich im Arbeitsleben etablieren konnte, sehen sie ihre Kollegen als
Konkurrenz und einen Störfaktor an:
74
„Ich habe immer mehr arbeiten müssen, ich habe immer gedacht, damit ich dazu
gehören kann, muss ich mehr leisten. Wir hatten vor ein paar Jahren eine Krise in der Firma gehabt, Wirtschaftskrise. Ich fühle mich oft persönlich betroffen, wenn über
Ausländer schlecht geredet wird, wenn es terroristische Anschläge gibt und das lassen
die Kollegen mich spüren. Das sind deine Leute, obwohl wir mit diesen Terroristen, trotz des gleichen Glaubens, nichts zu tun haben.“(Mineta Familie 2)
In diesem Abschnitt kann man erkennen, dass sich die Situation der bosniakischen Flüchtlinge
im Laufe der Zeit nicht nur positiv entwickelt hat. Vor allem die weiblichen
InterviewpartnerInnen fühlen sich heutzutage von Kollegen und fremden Personen unfair und
nachteilig behandelt. Inwiefern diese negativen Ereignisse das alltägliche Leben der
InterviewpartnerInnen beeinflussen ist schwer zu sagen, jedoch wird ihnen damit trotzdem ein
Gefühl der Nichtzugehörigkeit vermittelt, welches sie von der Aufnahmegesellschaft
distanzieren könnte. Vor allem die medialen Einflüsse spielen in diesem Kontext eine große
Rolle.
Freizeit
Wenn es um Freizeit geht, sind sich die meisten InterviewpartnerInnen einig, dass relativ wenig
Zeit dafür vorhanden ist. Nichtsdestotrotz haben alle Personen unterschiedliche
Freizeitaktivitäten.
Familie 1 verbringt ihre Freizeit am liebsten im Garten, dort pflanzen sie Gemüse und Obst an.
Weiters verbringen sie viel Zeit mit der Familie. Omer schaut in seiner Freizeit auch gerne
bosnische Nachrichten, seine Frau Maida liest dagegen gerne Bücher, sowohl auf Deutsch als
auch Bosnisch.
Familie 2 ist in ihrer Freizeit sportlich unterwegs. Während Enis sich mit Basketball, Fußball
oder Radtouren beschäftigt, schwimmt Mineta zwei bis drei Mal pro Woche. Weiters kann man
festhalten, dass Mineta in ihrer Freizeit gerne liest, vor allem auf Deutsch. Am Anfang wollte
sie die deutsche Sprache erlernen und später wurde es zu einer Angewohnheit. In letzter Zeit
hat sie aber das Gefühl, dass sie besser Deutsch als Bosnisch kann:
„Jetzt kommt das Interessante. Ich weiß, dass mein Deutsch nicht so gut ist, aber ich
habe das Gefühl, dass ich besser Deutsch kann als Bosnisch. Es sind viele Worte, viele
Vokabel habe ich vergessen. Keine Ahnung. Vielleicht spielt das auch eine Rolle. Mit 19 bist gerade aus der Schule weg und was kann man in diesem Alter und dann,
ja.“(Mineta Familie 2)
75
Enis stellt fest, dass er früher öfter Bücher gelesen hat. Vor allem Fachliches, da seine Frau in
den 90er-Jahren in einer Zoohandlung gearbeitet hat. Später las er auch öfters Bücher seiner
Kinder, die sie in der Schule durchgenommen haben.
Familie 3 verbringt ihre Freizeit damit, Familie und Nachbarn zu besuchen. Des Weiteren
schauen sie gerne bosnische und jugoslawische Fernsehprogramme. Ab und zu schauen sie
auch deutsche Fernsehprogramme. Seida hört gerne Musik, wobei sie weder die bosnische noch
die deutsche Musik präferiert.
Dieser Abschnitt erweckt den Anschein, dass die Familie 3 mit ihrem Herkunftsland stärker
verbunden ist als die Familien 1 und 2. Wichtig zu bemerken ist auch, die starke Bemühung
von Familie 2, die deutsche Sprache zu erlernen. Hier scheint eine größere Orientierung hin zur
Aufnahmegesellschaft zu bestehen. Trotzdem haben sie ihre bosnischen Traditionen nicht
aufgegeben, was man an diesem Beispiel von Enis erkennen kann: „Zum Beispiel wenn wir
Lamm grillen, das ist so eine typisch bosnische Spezialität, das ganze Lamm auf Spieß, sie
(seine Freunde) können nicht warten bis wir das Nächste ausstechen und grillen.“(Enis Familie
2) Bei Familie 1 kann man festhalten, dass Omer eine größere Tendenz in Richtung
Herkunftsgesellschaft zeigt, wobei seine Frau Maida eine neutralere Position innehat.
Wurzeln und Herkunft
Auf die Frage hin, was sie eigentlich mit Bosnien und Herzegowina verbinden, wurde mit
Heimat, Wurzeln, Kindheit, Jugend und Familie geantwortet. Fünf der sechs
InterviewpartnerInnen würden gerne eines Tages nach Bosnien und Herzegowina zurückkehren
wollen. Omer und Maida würden nach Bosnien und Herzegowina zurückkehren, wenn die
ökonomische Situation dort besser wäre. Sie wünschen sich einen Job und ein solides
Einkommen. Jedoch hat Maida das Gefühl, dass sie sich aufgrund ihrer Kinder trotzdem gegen
eine Rückkehr nach Bosnien entscheiden würde. Auch Enis ist der Meinung, dass wenn seine
Kinder in Bosnien eine Zukunft hätten, würde er zurückkehren. Für Nezir und Seida haben die
ökonomischen und familiären Gründe für einen Verbleib in Österreich eine geringere
Bedeutung. Einzig Mineta ist sich sicher, sie möchte nicht nach Bosnien und Herzegowina
zurückkehren.
Die Frequenz der Besuche in das Herkunftsland unterscheiden sich bei allen
InterviewpartnerInnen. Es lässt sich trotzdem feststellen, dass die Häufigkeit der Besuche bei
Familie 1 in den letzten Jahren stark zurückgegangen ist. So sagt Maida:
76
„Nicht so oft wie früher. Früher öfters, wo die Mama von mir und meinem Mann am
Leben war und wo die Kinder kleiner waren. Es ist schwieriger geworden Zeit zu finden, die für alle in Ordnung geht und die Kinder alleine lassen ist auch nicht optimal. Man
macht sich sorgen, wie werden sie da alleine sein, obwohl sie groß sind. Wir fahren ein
oder zwei Mal im Jahr.“(Maida Familie 1)
Für Seida ist Bosnien und Herzegowina ihre Heimat, dort liegen ihre Wurzeln, dort ist sie
geboren und aufgewachsen. Sie fühlt sich in Bosnien wohl und vermisst die bosnische
Mentalität. Das ist auch einer der Gründe, warum Seida sehr oft nach Bosnien fährt.
Fast alle InterviewpartnerInnen haben mit Verwandten und Freunden aus Bosnien und
Herzegowina regelmäßigen Kontakt. Einzig Mineta hat keinen Kontakt nach Bosnien, da sie
keine Familienmitglieder und Freunde dort hat:
„Kontakt, nur wenn ich runter fahre. Meine Eltern und Geschwister sind nach Amerika ausgewandert, in Bosnien hat mein Mann seine Eltern in Bosnien und die besuchen wir
dann. Ich habe auch keine Freundinnen unten, die ich früher gehabt habe. Sie sind alle
überall auf der Welt, wenn wir uns kontaktieren, dann auf Facebook.“(Mineta Familie
2)
Es besteht eine starke Bindung zum Herkunftsland bei allen InterviewpartnerInnen. Vor allem
die Tatsache, dass alle in Bosnien geboren und aufgewachsen sind, hat starke Spuren
hinterlassen. Alle sehen Bosnien und Herzegowina als ihr Heimatland oder als eines ihrer
Heimatländer an. Es ist wichtig zu betonen, dass die Bindung zum Herkunftsland nicht bei allen
gleich intensiv ist. Die stärkste Bindung zum Herkunftsland scheint Seida zu haben. Diese
Behauptung lässt sich gut mit dieser Aussage begründen:
„Ja, ich würde sehr gerne zurück. Ich kann die Pension kaum erwarten. Ich gehe dann sofort zurück. Das ist schon ein Wunsch von mir. Ich vermisse Bosnien, ich bin dort
geboren, meine Wurzeln liegen dort und dort bin ich aufgewachsen. In Österreich fühlt
es sich anders an, die Mentalität ist anders, alles ist anders. Es sind nicht alle Österreicher gleich, genauso wie die Bosnier nicht alle gleich sind. Manche haben Herz
manche nicht. Aber Bosnien ist Bosnien.“(Seida Familie 3)
Obwohl eine starke Verbindung zum Herkunftsland besteht, darf die Verbindung zu Österreich
nicht unterschätzt werden. Alle leben schon länger in Österreich als sie das in Bosnien getan
haben. Des Weiteren hat sich jede Familie ein Leben in Österreich aufgebaut. Im folgenden
Abschnitt Zugehörigkeitsgefühl wird deshalb die Frage „Wo fühlen Sie sich daheim?“
behandelt.
77
Zugehörigkeitsgefühl
Familie 1 und 2 empfinden Österreich als ihre Heimat und sie fühlen sich hier Zuhause. Familie
1 führt an, dass sie in Österreich mehr Zeit ihres Lebens verbracht haben, sie haben ein Haus
gebaut und ihre Kinder leben in Österreich. Familie 2 sieht Österreich als ihr Zuhause, da sie
in Österreich arbeiten und ihre Freunde und Kinder hier leben. Ganz anders sieht die Antwort
bei Familie 3 aus. Nezir fühlt sich in Bosnien daheim und sieht Österreich als vorübergehend:
„Hier in meiner Nähe ist eine Autowerkstatt. Dort gehe ich ziemlich oft hin. Der Chef
der Werkstatt fragt mich wie lange ich schon in Österreich bin. Ich habe ihm gesagt,
dass ich schon siebzehn Jahre hier bin. Er fragte mich dann, ob ich die Staatsbürgerschaft angenommen habe, weil ich schon so lange hier bin. Ich antwortete
mit Nein. Er war ganz verwundert und fragte aber warum nicht. Wenn ich die
Staatsbürgerschaft annehme, dann muss ich mich aus Bosnien ausschreiben und wenn ich dann nach Bosnien fahre bin ich ein Ausländer und hier bin ich trotzdem auch ein
Ausländer. Ich wäre dann mein ganzes Leben ein Ausländer, denn ich werde nie ein
Österreicher werden. Ich könnte zehn Staatsbürgerschaften annehmen und ich wäre
noch immer ein Ausländer. Sie (die Österreicher) werden mich nie als Österreicher annehmen. Unten bin ich geboren, untern bin ich aufgewachsen und dort gehöre ich
auch hin.“ (Nezir Familie 3)
Auch Seida ist der gleichen Auffassung und ist sich sicher, dass sie sich in Bosnien daheim
fühlt. Dieser Abschnitt verstärkt den Verdacht, dass Familie 3 einen stärkeren Bezug zum
Herkunftsland Bosnien und Herzegowina hat als Familie 1 und 2.
Verbindung der Kinder zum Herkunftsland
Alle InterviewpartnerInnen sind sich einig, dass ihre Kinder eine schlechtere Verbindung zum
Herkunftsland haben. Es wird argumentiert, dass die gleiche Verbindung gar nicht aufgebaut
werden kann, da sie in Österreich aufgewachsen sind und hier die meiste Zeit verbracht haben.
Familie 1 hat im Bezug auf dieses Thema eine Veränderung im Laufe der Zeit bemerkt:
„Früher als sie kleiner waren, sind sie immer mit uns nach Bosnien gefahren, jetzt wo sie älter
geworden sind, wollen sie nicht mehr so oft mitfahren. In den letzten zwei Jahren wollten beide
nicht mitfahren nach Bosnien.“ (Omer Familie 1). Welche Gründe diese Wandlung hatte,
konnten sie mir jedoch nicht nennen. Maida meinte, dadurch, dass sie in Österreich geboren
und aufgewachsen sind und sich hier ein Leben aufbauen, haben sie sich an Österreich mehr
gewöhnt.
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Enis ist es sehr wichtig seinen Kindern Bosnien und Herzegowina näher zu bringen. Obwohl er
sich bewusst ist, dass eine Verbindung wie er sie hat unmöglich ist, möchte er trotzdem, dass
sie das Land zumindest teilweise lieben lernen. Gleichzeitig hat Mineta den Eindruck, dass ihre
Kinder gar keine Verbindung zu Bosnien haben, wenn man die Großeltern nicht in Betracht
zieht.
Bei Familie 3 sind sich die Eltern einig, ihre Kinder lieben Bosnien, sie fahren sehr gerne in die
Heimat, jedoch eine Präferenz für Bosnien und Herzegowina im Vergleich zu Österreich sehen
sie nicht: „Sie lieben es hier aber auch. Sie haben immerhin in Österreich viel mehr erlebt, im
Kindergarten, in der Schule und so weiter.“ (Seida Familie 3)
In diesem Abschnitt lässt sich erkennen, dass im Laufe der Generationen die Verbindung zum
Heimatland geringer wird. Die Intensität der Verbindung der zweiten Generation zum
Heimatland, in diesem Fall Bosnien und Herzegowina, ist auch abhängig von der ersten
Generation. Je größer der Bezug der Eltern zum Heimatland ist, desto größer ist der Bezug von
der zweiten Generation. Natürlich kann man diese Aussage nicht generalisieren, aber im Fall
dieser Untersuchung lässt sich erkennen, dass die zweite Generation der 3. Familie die größte
Verbindung zu Bosnien und Herzegowina aufweist.
Bildung und Beruf
Die strukturelle Eingliederung der ersten Generation stellte sich als ein langwieriger Prozess
heraus. Obwohl die Mehrheit der InterviewpartnerInnen eine Ausbildung in Bosnien und
Herzegowina abgeschlossen hat, wurde nur Maida das Diplom anerkannt:
„Ich habe Glück gehabt, dass ich das arbeite, da wo ich mich geschult habe in Bosnien,
dass mein Diplom anerkannt wurde. Nicht jeder hat so ein Glück gehabt. Ich bin Gott
dankbar und auch diesem Land, dass ich das machen kann, was ich gelernt. Ich bin Religionslehrerin für Islam. Ich bin dankbar, dass mir das ermöglicht wurde und das
alle Religionsgemeinschaften und Bekenntnisse ihre Religion frei ausüben dürfen und
in Schulen unterrichten dürfen.“(Maida Familie 1).
Nach dem Ankommen in Österreich erschwerte die lange Wartezeit auf eine Arbeitserlaubnis
die strukturelle Eingliederung der bosniakischen Flüchtlinge. In der anfänglichen Zeit wurden
sogar illegale Möglichkeiten genutzt, um die finanzielle Absicherung zu gewährleisten.
Wichtig zu erwähnen ist, dass die männlichen InterviewpartnerInnen früher in das Arbeitsleben
eingestiegen sind. In zwei von drei Familien fing der Mann früher an zu arbeiten, was durch
die Kinderbetreuung erklärt wurde: „Ich war die meiste Zeit Zuhause und bekam später zwei
79
weitere Töchter. In der Zwischenzeit sind die Kinder groß geworden und ich begann zu
arbeiten. Ich habe nicht viel gearbeitet, jetzt arbeite ich.“(Seida Familie 3)
Bemerkenswert ist, dass sich im Laufe der Zeit alle drei Familien strukturell in die
österreichische Gesellschaft integriert haben. Enis beschreibt seinen Weg folgendermaßen:
„Ja, dann habe ich als Maler über die Firma immer wieder gemalt und dort habe ich
viele Kontakte gehabt. Dann habe ich geschaut ob es bei irgendeiner Firma einen Job
gibt. In einer Firma werden Generatoren produziert und dann habe ich im Jahr 2001 eine Stelle bekommen. Das war keine Arbeit irgendwo als Berechner, sondern als
einfacher Mitarbeiter. In der Zwischenzeit habe ich die HTL abgeschlossen und bin aus
diesem Prüffeld in die Entwicklung gekommen. Allerdings am Anfang eher
handwerklich unterwegs, weil dort einer der Kollegen gekündigt hat, er wollte etwas anderes machen. Ich war im Labor in der Entwicklung. Ein paar Jahre später haben
sie zusätzliche Leute gebraucht und sie haben gewusst dass sie zusätzliche Leute
brauchen und haben mich gefragt ob ich programmieren kann.“(Enis Familie 2)
Weiters ist die Bereitschaft zur Fort- und Weiterbildung bei der ersten Generation
erwähnenswert. Vier der sechs InterviewpartnerInnen haben in ihrer Zeit in Österreich
Möglichkeiten zur Weiterentwicklung gesucht. Sowohl Maida (Familie 1) als auch Nezir
(Familie 3) besuchten weiterbildende Kurse für ihre Berufe. Enis absolvierte die Abend HAK
und konnte dadurch beruflich aufsteigen. Seine Frau Mineta wollte sich auch nicht mit ihrem
Job in der Zoohandlung zufrieden geben und schloss eine Ausbildung zur
Wirtschaftsassistentin ab: „Ich wollte mehr, ich wollte Deutsch lernen, ich wollte wieder in die
Schule gehen, wir wussten, dass wir in Österreich bleiben werden und wenn ich das machen
will, dann muss ich in die Zukunft investieren.“ (Mineta Familie 2)
Abschließende Bemerkungen
In einer abschließenden Frage wurden noch die letzten persönlichen Bemerkungen der
InterviewpartnerInnen festgehalten. Es besteht eine große Dankbarkeit aufgrund der damaligen
Aufnahme. Die bosniakischen Flüchtlinge bekamen dort Hilfe, wo sie es am nötigsten gehabt
haben. Die InterviewpartnerInnen sind sich bewusst, dass sie Glück gehabt haben, einen
Neuanfang in Österreich gewährt zu bekommen. Obwohl es eindeutig Schwierigkeiten in der
anfänglichen Phase gegeben hat, konnten sie sich durch harte Arbeit und Fleiß
weiterentwickeln:
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„Es lag an uns diesen Weg zu gehen, man hätte sich auch mit weniger zufriedengeben
können, hätte weiter im Verkauf bleiben können, mein Mann als Malermeister weiter machen können. Es ist unsere Entscheidung und es wird keiner zu dir kommen und
sagen, willst du weiter studieren oder willst du einen besseren Job.“(Mineta Familie 2)
Alle InterviewpartnerInnen konnten im Laufe der Zeit hilfsbereite und freundliche Menschen
kennenlernen, die sich teilweise auch zu guten Freunden entwickelten. Genau diesen Kontakt
zu ÖsterreicherInnen empfinden manche InterviewpartnerInnen als ausschlaggebend für eine
gute und schnelle Integration in die Gesellschaft.
4.3.2 Zweite Generation
Kindheit in Österreich
Im Großen und Ganzen haben die Interviewpartnerinnen positive Erinnerungen an ihre
Kindheit, welche vor allem in Verbindung mit Familie und Freunden geweckt wurden.
Trotzdem haben vier der sieben Interviewpartnerinnen ausgesagt, dass sie in irgendeiner Art
und Weise gemobbt wurden. In zwei der Fälle handelt es sich um kleinere Vorfälle, bei welchen
die Betroffenen mit Beschimpfungen konfrontiert wurden. Beide Interviewpartnerinnen sind
sich aber einig, dass diese Vorfälle keine Auswirkungen auf sie hatten. So meint Nadia: „Klar
gab es ab und zu Schimpfwörter wie Jugo und so, aber das war jetzt nicht irgendwie, dass es
mich negativ geprägt hätte oder so. Aber das sind Kinder gewesen, aber für mich war das kein
Problem, ich habe trotzdem Anschluss gefunden.“(Nadia Familie 3)
Ina empfindet diese Situationen folgendermaßen:
„Sicher werden Scherze über deinen Nachnamen gemacht und so das ist das Einzige oder so Fragen gestellt werden, warum bist du im Religionsunterricht nicht dabei, aber
nichts Bösartiges. Verletzt durch diese Scherze habe ich mich überhaupt nicht
gefühlt.“(Ina Familie 2)
Im Gegensatz zu Nadia und Ina wurden Naila und Elma in einem größeren Ausmaß gemobbt.
Naila spricht von starker Ausgrenzung in der ersten Volksschulklasse, was sie im weiteren
Leben stark geprägt hat. Sie konnte in dieser Klasse keinen Anschluss finden. Warum sie so
stark von ihren Mitschülerinnen ausgegrenzt wurde, ob es an ihrer Schüchternheit oder an ihrem
Migrationshintergrund lag kann sich Naila nicht erklären. Sie ist sich aber sicher, dass sie
irgendwie anders war: „Ich habe es als Kind nicht so leicht gehabt, habe ich so empfunden. Ich
81
war also mit Eltern da, die mit einer neuen Kultur konfrontiert wurden. Ich war irgendwie
anders in der Schule. Ich habe das schon gemerkt.“ (Naila Familie 1)
Im Fall von Elma kam es zu Ausgrenzung in der Hauptschule: „Mir fallen eigentlich zuerst
negative Erinnerungen ein, weil ich mir in der Schule schon etwas schwer getan habe (…). Ich
wurde etwas gemobbt, in der Volksschule weniger, aber dann in der Hauptschule viel.“(Elma
Familie 2) Auch sie ist sich nicht sicher, warum sie gemobbt wurde. Sie hat nicht das Gefühl,
es wäre aufgrund ihres Migrationshintergrundes geschehen. Zwar lernte sie Deutsch erst im
Kindergarten, ist sich aber sicher, dass sie ab der Volksschule überhaupt keine Probleme mit
der Sprache hatte. Naza, Ina und Emina haben in ihrer Kindheit überhaupt keine
Schwierigkeiten gehabt, sie wurden nicht ausgegrenzt und konnten im Laufe ihrer Kindheit
immer Anschluss finden.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass mehr als die Hälfte der
Interviewpartnerinnen in ihrer Schulzeit gemobbt und ausgegrenzt wurden. Warum es zu diesen
Ausgrenzungen kam, könnte an mehreren Gründen liegen und kann nicht verallgemeinert
werden. Trotzdem erscheint im Fall dieser Interviews der Migrationshintergrund und die
Diversität eine zumindest geringfügige Rolle zu spielen. Im folgenden Abschnitt sollen weitere
Schwierigkeiten bei der Eingliederung der zweiten Generation behandelt werden.
Schwierigkeiten
Drei der sieben Interviewpartnerinnen hatten gar keine Schwierigkeiten. Sie sind mit ihrem
Leben in Österreich sehr zufrieden, haben immer Anschluss gefunden und haben keine
Diskriminierungen erfahren. Die übrigen vier Interviewpartnerinnen hatten ähnliche
Schwierigkeiten wie sie im vorherigen Abschnitt behandelt wurden. Alle Vier wurden in ihrer
Schulzeit gemobbt. Emina erzählte mir zum Beispiel, dass sie oft als Scheiß Jugo beschimpft
wurde.
Bemerkenswert erscheinen zwei Interviewpartnerinnen, die eine eindeutige Diskriminierung
erlebt haben. Sowohl bei Naila als auch bei Almasa wird deutlich ersichtlich, dass diese
Vorfälle einerseits aufgrund der Religionszugehörigkeit und andererseits aufgrund der
Herkunft stattgefunden haben. Beide Fälle ereigneten sich bei Bewerbungsgesprächen. Naila
begab sich aufgrund eines Studienjobs zu einem Bewerbungsgespräch. Beim
Bewerbungsgespräch wurde sie gefragt, welche Religionszugehörigkeit sie hätte. Als Naila die
82
Frage mit Islam beantwortete, wollte sie die Chefin nicht einstellen. Auch Almasa hatte bei
einem Bewerbungsgespräch schlechte Erfahrungen gesammelt:
„Ja bei einem Bewerbungsgespräch, dass ich im Juli hatte, da hat der Arbeitgeber mich gefragt, ob ich faste, da habe ich gesagt nein, nur manchmal und da haben sie gesagt
wenn du fastest, dann könntest du auch nicht bei uns arbeiten und ob ich einen Freund
habe. Nicht das dieser mich zwingt zu fasten und ob es stimmt, dass bei uns Frauen wirklich so unterdrückt werden und der Mann die Macht über die Frauen hat. Diese
Fragen haben mich schon irgendwie sehr verletzt. Ich habe die Fragen aber ganz
normal beantwortet und wurde auch nicht wütend oder so ich blieb normal. Den Job
habe ich dann nicht bekommen. Ich glaube schon irgendwie, dass ich auf Grund meines Glaubens und Migrationshintergrundes diesen Job nicht bekommen habe, weil sie
meinten auch, dass sie eine bosnische Mitarbeiterin hatten und die dann gekündigt hat,
weil sie früh heiratete und nach Schweden zog. Deshalb glauben sie jetzt, dass alle Ausländerinnen früh heiraten und den Job verlassen.“ (Almasa Familie 3).
In beiden Fällen wird eine Benachteiligung bei der strukturellen Eingliederung der zweiten
Generation bosniakischer Flüchtlinge anhand der Herkunft und Religionszugehörigkeit
sichtbar. Welche generelle Frequenz eine solche Benachteiligung aufzeigt, kann im Rahmen
dieser Arbeit nicht erforscht werden. Weiter gab Almasa an, dass sie kein Verständnis von
Seiten ihrer österreichischen MitschülerInnen erfahren habe:
„Es ist halt schön, wenn man Irgendjemanden hat, der dich versteht und nicht so fragt
ja, also, so, ich weiß nicht wie ich sagen soll, so rassistische Fragen, wie zum Beispiel, seid ihr wirklich alle so streng gläubig? Werdet ihr von euren Eltern geschlagen? Oder
echt so dumme Fragen von Mitschülern wie, warum isst du kein Schweinefleisch?
Explodierst du oder so wenn du Schweinefleisch isst? Das sind schon provokante Fragen. Das könnte auch ein Grund sein, warum ich nicht so viele österreichische
Freunde habe.“(Almasa Familie 3)
Diese Aussage lässt vermuten, dass aufgrund von kulturellen und religiösen Unterschieden
Schwierigkeiten in der Entwicklung von sozialen Beziehungen entstehen können. Almasa hat
im Interview auch gesagt, dass sie vorwiegend bosnische, kroatische und serbische Freunde
hat. Sie fühlt sich von ÖsterreicherInnen nicht verstanden und orientiert sich hierbei auf ihr
Herkunftsland und auf Personen, die ähnliche kulturelle Wurzeln besitzen.
Zusammenfassend lassen sich einige negative Erfahrungen im Bereich des Kontakts zum
Aufnahmeland erkennen. Obwohl alle bis auf Nadia in Österreich geboren wurden, hier
aufgewachsen sind und ihr ganzes Leben hier verbracht haben, können Schwierigkeiten in Form
von Mobbing, Diskriminierung und Ausgrenzung nicht ausgeschlossen werden. Vor allem die
zwei Fälle von Naila und Almasa lassen Benachteiligungen von MigrantInnen der zweiten
Generation vermuten.
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Positives
Alle Interviewpartnerinnen haben positive Erfahrungen mit Österreich gemacht. Vor allem ist
man vom österreichischen System im Bereich des Gesundheitswesens, der sozialen Sicherheit
und der Umsetzung von Recht und Ordnung überzeugt:
„Also ich finde, Österreich ist schon ein tolles Land, weil hier die Gesetze streng eingehalten werden, nicht so wie bei uns unten in Bosnien und das Gesundheitswesen
ist auch nicht so wie bei uns unten. Die Menschen sind viel organisierter und
ordentlicher und tja das schätze ich an Österreich sehr.“(Almasa Familie 3)
Die soziale Lebenssituation wird mit Bosnien und Herzegowina verglichen, dadurch entstehen
bei vielen Inteviewpartnerinnen Dankbarkeit und Freude in Österreich aufwachsen zu dürfen,
so meint Elma: „Sie (Eltern) haben aber trotzdem eine Chance bekommen und das schätze ich
an Österreich. Ich glaube, dass hat mir auch ermöglicht hier aufzuwachsen, eine gute
Ausbildung zu genießen und nicht in Armut zu leben und doch eine soziale Sicherheit zu
haben.“ (Elma Familie 2)
Weiters haben viele Interviewpartnerinnen gute Erfahrungen mit der österreichischen
Arbeitsweise gemacht: „Zum Teil finde ich halt. Ja, dass sie so ein System für das Leben haben.
Also ja nicht so ich mach das morgen. Österreicher sind pünktlich und konsequent.“(Nadia
Familie 3)
Es ist wichtig festzuhalten, dass alle Interviewpartnerinnen ihre sozialen Beziehungen in
Österreich schätzen. Auch Naila, die in der Schule von ihren MitschülerInnen stark ausgegrenzt
wurde, konnte an der Universität richtige Freundschaften schließen: „Es war für mich gut als
ich dann auf die Uni gekommen bin und mir meinen Freundeskreis selber suchen habe können.
In dieser Zeit habe ich auch sehr viele Bosnierinnen kennengelernt. Auf einmal war ich nicht
mehr die Außenseiterin“(Naila Familie 1)
Abschließend lässt sich noch eine interessante Bemerkung von Ina (Familie 2) festhalten:
„Die Meisten vergessen jedoch darauf, wenn Sie mit mir über Politik reden, dass ich
quasi Migrationshintergrund hab oder wenn so Sachen fallen, wie Jugos hin und her,
dass finde ich nicht auf mich bezogen, aber sie vergessen es meistens oder wissen es gar nicht. Sie nehmen mich als Österreicherin wahr.“(Ina Familie 2)
Sie empfindet es als sehr positiv, nicht als Ausländerin wahrgenommen zu werden. Es ist ihr
wichtig, als ein Teil der Aufnahmegesellschaft gesehen zu werden.
84
Soziale Beziehungen
Es stellt sich heraus, dass die Interviewpartnerinnen der zweiten Generation ihre sozialen
Beziehungen vor allem in der Schule aufbauen konnten. Weiters kann festgehalten werden,
dass die Interviewpartnerinnen, die in der Schule gemobbt wurden und auch schwer Anschluss
fanden, weniger Freundschaften und Bekanntschaften schließen konnten. Im Gegensatz dazu
konnten Interviewpartnerinnen, die in der Schule keine Probleme mit MitschülerInnen hatten,
mehr Freundschaften schließen. Interessanterweise lernten die Interviewpartnerinnen vor allem
ÖsterreicherInnen in der Schule kennen. Im Privaten wurden dann häufiger Freundschaften mit
bosnischen, kroatischen und serbischen Personen geschlossen. Diese Freundschaften konnten
vor allem über die Eltern entstehen. Eine Ausnahme bildet hierbei die zweite Familie.
Außerhalb der Familie hatten sowohl Elma als auch Ina fast keine Kontakte mit bosnischen
Personen. Deshalb sind sie heute vor allem mit ÖsterreicherInnen unterwegs. Elma meint hierzu
folgendes:
„Mein Freundeskreis besteht hauptsächlich aus Österreichern, (…) aber seit einem Jahr, dadurch dass mein Freund auch aus Bosnien kommt und hier lebt, seit fünf Jahren
und er hauptsächlich mit Bosniern befreundet ist und nicht mit Österreichern, habe ich
dadurch wieder viel mehr mit Bosniern zu tun.“(Elma Familie 2)
Außerhalb der Schule konnten die Interviewpartnerinnen vor allem durch den Sport und durch
die Arbeit neue Menschen kennenlernen. Bei sechs von sieben Interviewpartnerinnen basieren
deren Freundschaften nicht auf der Nationalität der betroffenen Personen, sie präferieren weder
ÖsterreicherInnen noch BosnierInnen. Im Fall von Almasa stellt sich heraus, dass sie fast
ausschließlich Freunde mit Wurzeln auf dem Balkan hat. Sie ist sich sicher, dass sie einen
eindeutig kleineren Bezug zu Österreich bzw. ÖsterreicherInnen hat:
„Ich habe einen kleineren Bezug zu Österreich und zu ÖsterreicherInnen. Auch in der
Schule war es irgendwie einfacher wenn man irgendwen hat, wie zum Beispiel in der Schule hatte ich eine Freundin, sie war Kroatin und es ist irgendwie einfacher, wenn
man mit jemanden auf beiden Sprachen sprechen kann und etwas sprechen kann was
die anderen jetzt nicht verstehen sollen und es ist halt schön, wenn man irgendjemanden
hat, der dich versteht.“ (Almasa Familie 3)
Hierbei lässt sich erkennen, dass Almasa einen sehr starken Bezug zu ihren Wurzeln hat. Laut
Almasa wurde sie auf die bosnische Art erzogen, sprach Zuhause nur Bosnisch, hat fast
ausschließlich Freunde mit Wurzeln auf dem Balkan und isst fast jeden Tag bosnisches Essen.
All diese Tatsachen deuten auf eine Orientierung von Almasa in Richtung der
Herkunftsgesellschaft hin. Nach Esser könnte es dadurch zu einer Segregation kommen.
85
Freizeit
Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass alle Interviewpartnerinnen der zweiten Generation ihre
Freizeit gerne mit Freundinnen verbringen. Unter die Aktivitäten fallen vor allem sich treffen
und etwas essen und trinken gehen. Fünf der sieben Interviewpartnerinnen sind sportlich und
unternehmen in ihrer Freizeit viele Aktivitäten in der Natur.
Weiter ist bemerkenswert, dass alle Interviewten in ihrer Freizeit lesen und Musik hören. Durch
die Interviews wird deutlich, dass sechs von sieben Interviewpartnerinnen Bücher auf Deutsch
bevorzugt:
„Wenn ich was lese, ist es hauptsächlich Deutsch und Englisch. Wenn ich etwas
persönlich lese, dann ist es meistens Deutsch. (…) Aber bosnische Bücher lese ich gar
nicht, ich habe vielleicht ein oder zwei Bücher angefangen, aber nach ein paar Seiten gleich wieder aufgegeben. Ich spreche schon fließend Bosnisch, aber es ist mir einfach
zu anstrengend und da müsste ich gewisse Wörter nachgoogeln, was das bedeutet, das
ist mir zu viel Aufwand und dann lese ich es auch lieber auf Deutsch oder Englisch.“(Elma Familie 2).
Auch Nadia bevorzugt Bücher auf Deutsch: „Wenn ich mich mal zum Lesen bewege, sind das
dann vor allem Bücher auf Deutsch, weil ich es besser verstehe. Ich habe auch bosnische
Bücher gelesen, aber ich kann mich in deutsche Bücher viel mehr versetzen. Ich lese leichter
auf Deutsch.“(Nadia Familie 3) Die Tendenz zu Deutsch überrascht nicht. Alle
Interviewpartnerinnen sind in Österreich aufgewachsen, sind hier zur Schule gegangen und
konnten somit die nötigen Kompetenzen erreichen. Die kulturelle Integration scheint bei der
zweiten Generation in diesem Bereich erfolgreich zu sein.
Wurzeln und Herkunft
Auf die Frage, was sie mit Bosnien und Herzegowina verbinden, antworteten alle
Interviewpartnerinnen mit Familie und Urlaub. Familie stellt eine der wichtigsten
Verbindungsglieder zwischen der zweiten Generation und dem Herkunftsland dar. Weitere
Begriffe die mit Bosnien in Verbindung gebracht wurden sind Essen, Kultur, Musik, Kaffee
und Religion. Im Durchschnitt besuchen die Interviewpartnerinnen Bosnien und Herzegowina
zwei bis drei Mal im Jahr. Für die zweite Generation fühlt sich ein Besuch in Bosnien und
Herzegowina wie Urlaub oder Ferien an. Dort haben sie keine Verpflichtungen und können ihre
Freizeit genießen.
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Trotz der Verbindung mit der Familie und den Besuchen hat sich herausgestellt, dass fünf von
sieben Interviewpartnerinnen keinen regelmäßigen Kontakt zu Familie und Freunden in
Bosnien und Herzegowina haben. Diejenigen, die keinen Kontakt haben, gaben an, über die
Eltern in Kontakt mit Verwandten in Bosnien und Herzegowina zu treten. Nadia und Emina
haben regelmäßigen Kontakt zu ihren Großeltern, welche sie vor allem über das Telefon
erreichen.
Alle Interviewpartnerinnen - mit Ausnahme von Nadia - können sich nicht vorstellen, für immer
nach Bosnien auszuwandern. Sie alle haben sich ein Leben in Österreich aufgebaut, haben hier
ihre Freunde und auch Eltern. Der Lebensmittelpunkt befindet sich für alle in Österreich. Für
Naila liegt der Grund vor allem darin, dass sie fast keine Familie in Bosnien hat:
„Ich glaube nicht, nein. Also weil meine Eltern hier sind. In Bosnien weilt nur
noch mein Opa unter den Lebenden. Aber sonst habe ich noch meine Tante. Aber
ich kann mich eben nicht zu hundert Prozent damit identifizieren, dass ich in
Bosnien für immer leben würde. Für ein halbes oder einem Jahr würde es in
Ordnung sein.“(Naila Familie 1)
Für Ina liegt der Grund gegen eine Auswanderung nach Bosnien und Herzegowina vor allem
in ihren Sprachkenntnissen:
„Nein, weil ich hier aufgewachsen bin, ich gebe es ehrlich zu [lacht] ich rede besser Deutsch als Bosnisch. Ich rede nur mit meinen Eltern Bosnisch, sonst eigentlich mit
niemanden, auch mit meiner Schwester rede ich nur Deutsch. Oft kommt es auch vor,
dass ich zwischen den Sprachen hin und her springe. Wenn mir ein Wort nicht auf
Bosnisch einfällt, verwende ich dann immer gleich das Deutsche, zum Beispiel mit meinen Eltern.“(Ina Familie 2)
Einzig Nadia hat eine stärkere Verbindung zu Bosnien. Sie könnte sich vorstellen, eines Tages
nach Bosnien und Herzegowina zu ziehen, dafür müsste sie jedoch einen Job in einer Großstadt
finden: „Ja, also ich habe das öfters schon gesagt, wenn ich einen guten Job und ein gutes
Gehalt hätte, könnte ich mir schon vorstellen unten zu leben. Aber wenn, dann eher in einer
Großstadt.“(Nadia Familie 3).
Zusammenfassend kann man sagen, dass die zweite Generation vor allem aufgrund der Familie
eine Verbindung nach Bosnien und Herzegowina aufbauen konnte. Obwohl Bosnien und
Herzegowina zwei bis drei Mal im Jahr besucht wird, kann sich nur eine Person vorstellen, auch
dort zu leben, aber das auch nur unter bestimmten Umständen, die eher unwahrscheinlich
erscheinen.
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Zugehörigkeitsgefühl
Wo man sich daheim fühlt ist von unterschiedlichen Faktoren abhängig und kann für eine
Person mit Migrationshintergrund oft nicht ganz eindeutig beantwortet werden. Zwei der sieben
Interviewpartnerinnen können sich nicht für ein bestimmtes Land entscheiden. Sie fühlen sich
sowohl zu Bosnien und Herzegowina als auch zu Österreich hingezogen und können dabei
keinen Unterschied feststellen.
Das ist eine sehr sehr schwierige Frage, die man so nicht beantworten kann. (…) wir
waren zwei Jahre nicht in Bosnien und das hat mir teilweise nichts ausgemacht und es hat mir nichts gefehlt. Ich war da so okkupiert mit meinen eigenen Dingen und mit
meinem Leben in Österreich, ich habe nicht einmal Zeit gehabt, darüber nachzudenken,
ob ich nach Bosnien will. Aber dann ist es irgendwie mit der Zeit, wo ich wieder Luft zum Atmen gehabt hab vom Alltag und so, wo ich nicht mehr so okkupiert war, habe
ich dann bemerkt, dass ich Bosnien vermisse und ich wollte nach Bosnien, man ist
immer nur kurzzeitig in Bosnien.“(Naila Familie 1)
Die restlichen Interviewpartnerinnen sind sich jedoch sicher, in Österreich fühlen sie sich
daheim. Die wichtigsten Gründe für eine solche Entwicklung sind Familie, Freunde und die
lange Aufenthaltsdauer in Österreich:
„Ich denke, wenn man wählen müsste, was ich nicht hoffe, dann wäre es Österreich.
(…) ich denke, da nicht mehr viel Familie in Bosnien übrig ist und mein
Lebensmittelpunkt hier ist und ich hier aufgewachsen bin, hier zur Schule gegangen bin und hier meine Freunde habe und meine engste Familie hier habe, könnte ich auf
Österreich nicht verzichten.“(Naza Familie 1)
Schlussendlich ist wichtig zu erwähnen, dass sich keine der Interviewpartnerinnen
ausschließlich in Bosnien und Herzegowina daheim fühlt. Die eher seltenen Besuche, die relativ
schlechtere Verbindung zum Herkunftsland und der gleichzeitige intensive Bezug zu Österreich
schließt die totale Zugehörigkeit zu Bosnien und Herzegowina aus.
Verbindung der Eltern zum Herkunftsland
Auf die Frage hin, ob ihre Eltern eine stärkere Verbindung zu Bosnien und Herzegowina
aufweisen, waren sich alle einig. Die Eltern haben nach der Meinung ihrer Kinder definitiv eine
stärkere Verbindung zu Bosnien und Herzegowina. Begründet wird diese Feststellung dadurch,
dass die erste Generation in Bosnien geboren wurde, sie sind dort aufgewachsen und konnten
ihre Kindheit und Jugend mit Bosnien und Herzegowina verbinden. Durch diese Zeitspanne
konnten soziale Beziehungen aufgebaut werden, was sich für die zweite Generation als
schwieriger erweist.
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Naila ist der Meinung:
„Auf jeden Fall. Ja, ich glaube schon. Die Kindheit ist für einen Menschen die
prägendste und wichtigste Zeit im Leben und meine Eltern sind in Bosnien geboren und aufgewachsen. Sie waren bis in das junge Erwachsenenalter in Bosnien. Betrachtet auf
die Lebenszeit, ist es vielleicht ein Drittel. Aber ich glaube trotzdem, dass diese Zeit
höhere Gewichtung für sie hat.“ (Naila Familie 1)
Zusammenfassend kann man festhalten, dass ein Vergleich zwischen der ersten und zweiten
Generation in diesem Bereich eine eindeutige Schlussfolgerung liefert. Die erste Generation
hat eine stärkere und intensivere Beziehung zum Heimatland als die zweite Generation.
Bildungs- und Berufslaufbahn
Unter den Interviewpartnerinnen sind zwei Studentinnen, zwei Schülerinnen, ein Lehrling und
zwei Berufstätige. Auffällig ist, dass in Familie 3 keine der Interviewpartnerinnen studiert oder
vor hat, zu studieren. Im Fall von Familie 1 studiert die ältere Schwester, wobei die jüngere
Schwester sich fest vorgenommen hat, ebenfalls in Zukunft zu studieren. In Familie 2 erkennen
wir zwei unterschiedliche Entwicklungen. Elma studiert Englisch und Deutsch auf das Lehramt.
Ina hat sich nach ihrem Schulabbruch dafür entschieden, eine Lehre mit Matura zu absolvieren.
Hier lässt sich erkennen, dass sich bei Migrantinnen der zweiten Generation die Bildung- und
Berufslaufbahn in unterschiedliche Richtungen bewegen kann. Es wird deutlich, dass durch die
Positionierung aller Interviewpartnerinnen in Bildung und Beruf bei der zweiten Generation
durchaus eine strukturelle Integration besteht.216
Veränderung
Auf die Frage hin, was sie denn in Österreich gerne verändern wollen würden, waren sich alle
Interviewpartnerinnen einig. Österreich entwickelt sich ihrer Meinung nach in eine sehr
problematische Richtung. Zwar fühlen sie sich in Österreich sehr wohl, trotzdem konnten sie
in den letzten Jahren starke Veränderungen im Hinblick auf die Art und Weise, wie mit
Ausländern umgegangen wird, bemerken. Es besteht eine große Fremdenfeindlichkeit, welche
mit vielen Vorurteilen behaftet ist.
216 Vgl. Kapitel 2.2.2.1 Assimilation nach Esser
89
So erzählt Naza von ihren Erfahrungen, wenn sie mit ihrer Mutter irgendwo unterwegs ist:
„Ich bekomme zum Beispiel sehr oft mit, wenn ich mit meiner Mutter unterwegs bin und sie sich verständigen möchte, sie kann ziemlich gut Deutsch und die Leute sobald sie
ein Kopftuch sehen und sobald sie nicht perfekt den perfekten Kärntner Dialekt spricht,
dann fangen sie gleich so künstlich Hochdeutsch zu reden und extra verständlich, laut und langsam, damit sie es ja versteht und das nervt manchmal wirklich. Also sie versteht
alles, man braucht nicht mit ihr anders umzugehen. Man darf natürlich nicht alle in
einen Topf geben, aber es erscheint mir schon, dass gewisse Menschen Vorurteile gegen
Menschen haben, die offensichtlich Migrationshintergrund haben und auch die die denken, sie haben keine Vorurteile, machen es dann irgendwie unbewusst doch.“(Naza
Familie 1)
Auch Emina hat durch die Medien eine starke Anfeindung von MuslimInnen bemerkt. Die
Interviewpartnerinnen haben nicht nur eine Fremdenfeindlichkeit aufgrund von Religion und
Herkunft festgestellt, vielmehr vermutet Ina, dass sich viele ÖsterreicherInnen bedroht fühlen:
„Ich glaube die Österreicher haben eine Angst, ich weiß zwar nicht wovor, aber einen anderen
Grund kann ich mir nicht vorstellen. Sie haben vielleicht Angst, keine Arbeitsstellen zu
bekommen, wenn andere herkommen und die Arbeit übernehmen. Ich weiß es nicht.“ (Ina
Familie 2)
Obwohl alle Interviewpartnerinnen in den 1990er-Jahren teilweise noch gar nicht auf der Welt
waren, sind sich zwei Interviewpartnerinnen darüber einig, dass damals ÖsterreicherInnen viel
offener gegenüber MigrantInnen waren. Hierzu meint Naila: „Ich glaube, dass sich Österreich
derzeit in eine schlechte Richtung entwickelt, weil damals, als meine Eltern nach Österreich
gekommen sind, haben sie nicht so eine große Ausgrenzung erlebt. Die Menschen waren damals
etwas offener, (…)“ (Naila Familie 1)
90
4.3.3 Vergleich der Generationen
Im folgenden Unterkapitel werden die erste und zweite Generation zum Vergleich
herangezogen. Es werden die wichtigsten Unterschiede und Gemeinsamkeiten dargestellt. Der
erste große Unterschied zwischen den Generationen ist selbstverständlich und besteht im
Geburtsort der Interviewten. Alle Interviewten der ersten Generation wurden in Bosnien und
Herzegowina geboren, wobei gleichzeitig sechs von sieben Interviewten der zweiten
Generation in Österreich geboren wurden. Vor allem in der Anfangsphase hatte die erste
Generation zahlreiche Schwierigkeiten, welche die zweite Generation nicht durchleben musste.
So zum Beispiel mussten sie vor dem Krieg flüchten, sie hatten finanzielle Schwierigkeiten,
auch die Sprache stellte eine große Barriere dar. Weiters musste die Mehrheit der ersten
Generation eine lange Zeit auf die Arbeitsbewilligung warten. Dadurch haben sie sich
gezwungen gefühlt, illegale Tätigkeiten zu verrichten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Die zweite Generation hatte diese Probleme nicht. Die finanzielle Situation wurde ihnen bereits
durch deren Eltern gesichert, sie konnten die Sprache in der Schule sehr gut erlernen und
illegale Tätigkeiten mussten nicht verrichtet werden. Trotzdem hatte die zweite Generation
deren eigene Schwierigkeiten. So wurden vier von sieben Interviewpartnerinnen
unterschiedlich intensiv in der Schule gemobbt. Welche Gründe dafür vorlagen, können sich
die Interviewten nicht erklären. Ungeachtet dessen spielt jedoch der Migrationshintergrund
dabei eine zumindest geringfügige Rolle. Zwei der Interviewpartnerinnen wurden weiters
aufgrund ihrer Herkunft und Religion bei Bewerbungsgesprächen diskriminiert.
Schwierigkeiten in dieser Form hatte die erste Generation nicht.
Gemeinsam haben die beiden Generationen viele positiven Erlebnisse, die sie in Österreich
machen konnten. Vor allem die sozialen Beziehungen, die geknüpft wurden, werden geschätzt.
Im Unterschied zur zweiten Generation, legt die erste Generation ihr Augenmerk auf die
anfängliche Phase in Österreich. So sind sie vor allem für die Aufnahme, die Grundversorgung
und die Hilfe seitens der ÖsterreicherInnen dankbar. Die zweite Generation legt den Fokus
neben den sozialen Beziehungen auf das gute Gesundheitswesen, die soziale Sicherheit und die
Umsetzung von Recht und Ordnung. Sie haben diese Dinge vor allem mit Bosnien und
Herzegowina verglichen und sind deshalb dankbar in Österreich leben zu können.
91
Alle Beteiligten konnten Freundschaften und Bekanntschaften in Österreich schließen.
Während die InterviewpartnerInnen der ersten Generation Freundschaften und Bekanntschaften
vor allem über die Arbeit und das private Leben kennenlernen konnten, entstanden die meisten
Freundschaften der zweiten Generation über die Schule. Im Fall der ersten Generation
bevorzugt nur Familie 3 den Kontakt zu bosnischen bzw. ex-jugoslawischen Freunden. Bei der
zweiten Generation hingegen lässt sich feststellen, dass nur Almas Familie 3 ihre bosnischen,
kroatischen und serbischen Freundschaften bevorzugt.
Die InterviewpartnerInnen haben unterschiedliche Freizeitaktivitäten. Der größte Unterschied
zwischen den Generationen besteht darin, dass die zweite Generation sich vorwiegend mit
FreundInnen trifft, während die erste Generation viel mit Familie und Nachbarn unternimmt.
Eine weitere Differenz besteht darin, dass bei der zweiten Generation sechs von sieben
Interviewpartnerinnen Deutsch beim Lesen und Schreiben bevorzugen. Obwohl die erste
Generation ihre Deutschkenntnisse im Laufe der Zeit stark weiterentwickelt hat, bestätigt nur
eine von sechs Interviewpartnerinnen, dass sie besser Deutsch als Bosnisch versteht.
Wenn es um die Verbindung mit dem Herkunftsland geht, können mehrere Unterschiede
zwischen den Generationen erkannt werden. Die erste Generation hat mehr Verbindungspunkte
zu Bosnien und Herzegowina. So fühlt sich die erste Generation stärker mit Bosnien und
Herzegowina verbunden, da sie dort ihre Heimat, Wurzeln, Kindheit, Jugend und Familie
lokalisieren, wohingegen die zweite Generation vorwiegend nur die Familie und Urlaub mit
Bosnien und Herzegowina verbindet. So würden fünf von sechs InterviewpartnerInnen aus der
ersten Generation nach Bosnien und Herzegowina zurückkehren. Demgegenüber könnte sich
nur eine Interviewpartnerin der zweiten Generation eine Auswanderung vorstellen. Weiters
kann man an der Regelmäßigkeit der Kontaktaufnahme mit Freunden, Bekannten und
Verwandten in Bosnien und Herzegowina Unterschiede zwischen den Generationen erkennen.
Während fünf von sechs Personen der ersten Generation regelmäßigen Kontakt ausüben, sind
es in der zweiten Generation nur zwei Personen. Sowohl die erste als auch die zweite
Generation sind sich einig, dass die Verbindung zum Herkunftsland bei der ersten Generation
eindeutig stärker ist. Wenn es um das Zugehörigkeitsgefühl geht, fühlen sich Familie 1 und 2
der ersten Generation in Österreich daheim, sie haben mehr Zeit ihres Lebens hier verbracht,
ihre Kinder sind hier aufgewachsen und sie haben ein Leben für sich aufgebaut. Nur Familie 3
fühlt sich in Österreich nicht daheim. Im Gegensatz dazu fühlen sich fünf der sieben
92
Interviewpartnerinnen der zweiten Generation in Österreich daheim. 2 Interviewpartnerinnen
können sich nicht für eines der Länder entscheiden, sie sehen beide als gleichwertig an.
Die Bildungs- und Berufslaufbahn hat sich bei allen InterviewpartnerInnen in unterschiedliche
Richtungen entwickelt. Ein Unterschied zwischen den Generationen besteht im weitaus
langwierigeren Prozess der ersten Generation. So dauerte es ziemlich lange, bis die
Interviewten der ersten Generation eine Arbeitserlaubnis erhielten. Durch diesen Prozess hat
sich die strukturelle Integration um einiges verlangsamt. Im Gegensatz dazu hat die zweite
Generation mit keinen Schwierigkeiten dieser Art zu kämpfen gehabt. Während in der ersten
Generation nur Enis ein Studium aufgenommen hat, studieren zwei Interviewpartnerinnen in
der zweiten Generation. Alle anderen Interviewten der ersten Generation haben eine
Berufsausbildung gemacht. In der zweiten Generation sind zwei Schülerinnen vertreten, von
denen eine vorhat, zu studieren. Eine Interviewpartnerin absolviert gerade eine Lehre mit
Matura. Weitere zwei Interviewpartnerinnen der zweiten Generation haben gleich nach dem
HLW Abschluss zu arbeiten begonnen. Trotzdem lässt sich sowohl bei der ersten als auch bei
der zweiten Generation eine große Bereitschaft zur Fort- und Weiterbildung erkennen.
93
5. Fazit
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit bosniakischen Flüchtlingen, die in den 1990er-
Jahren nach Österreich geflüchtet sind. Das Ziel dieser Arbeit war es, herauszufinden, ob und
inwiefern sich die Eingliederung in die Gesellschaft zwischen der ersten und zweiten
Generation von bosniakischen MigrantInnen unterscheidet. Neben einem theoretischen und
faktischen Teil, wurde auch eine empirische Untersuchung vorgenommen. Für die empirische
Untersuchung wurden teilstandardisierte Leitfadeninterviews mit drei Familien durchgeführt.
Das durch diese Interviews erhobene Material dient als Hauptquelle für die durchgeführte
Auswertung.
Am Beginn dieser Arbeit wurden drei Hypothesen aufgestellt, welche im Folgenden überprüft
werden. Die erste Hypothese geht davon aus, dass sich die Eingliederung in die österreichische
Gesellschaft für die erste Generation als schwieriger herausstellt als für die zweite Generation.
Ausgehend von dieser Hypothese konnten hierzu zahlreiche Informationen gesammelt werden.
Es stellt sich heraus, dass die erste Generation im Gegensatz zur zweiten mit zahlreichen
Schwierigkeiten konfrontiert wurde. Zumal die erste Generation nicht in Österreich geboren
wurde und sie erst als junge Erwachsene nach Österreich flüchteten, hatten sie vor allem in der
Anfangsphase viele Barrieren zu überwinden. Als eines der größten Barrieren erwies sich die
Sprache. Die mangelnden Sprachkenntnisse haben die Eingliederung in die Gesellschaft
zumindest verlangsamt. Weiters erwies sich die anfängliche Situation mit der
Arbeitsbewilligung als mühsam. Alle InterviewpartnerInnen der ersten Generation mussten auf
ihre Arbeitsbewilligung warten, teilweise sogar Jahre. Dadurch konnten sie keine Arbeit leisten
und haben sich deshalb auch teilweise mit illegalen Tätigkeiten ausgeholfen. Die anfängliche
finanzielle Situation zwang viele InterviewpartnerInnen zu einer sehr einschränkenden
Lebensweise, welche eine Eingliederung in die Gesellschaft nicht erleichterte. Vergleichsweise
hatte die zweite Generation mit diesen Problemen nicht zu kämpfen. Für die zweite Generation
erweist sich vor allem Mobbing und Ausgrenzung in der Schule als Schwierigkeit. Trotzdem
kann die erste These aufgrund der gewonnen Informationen bestätigt werden. Eine
Eingliederung in die österreichische Gesellschaft stellt sich für die erste Generation als
eindeutig schwieriger heraus.
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Die zweite aufgestellte These bezieht sich auf die Verbindung zum Herkunftsland Bosnien und
Herzegowina und sagt aus, dass die erste Generation eine stärkere Beziehung mit dem
Herkunftsland pflegt. In den erhobenen Informationen aus den Interviews wird deutlich, dass
die erste Generation mehr Verbindungspunkte zu Bosnien und Herzegowina besitzt. Während
die erste Generation im Herkunftsland deren Wurzeln, Heimat, Kindheit, Jugend und Familie
sehen, verbindet die zweite Generation nur Familie und Urlaub mit Bosnien und Herzegowina.
Auch der Kontakt mit Verwandten, Freunden und Familie wird von der ersten Generation
eindeutig regelmäßiger aufgenommen. Für die zweite Generation besteht eine Verbindung mit
Bosnien und Herzegowina fast ausschließlich über die Eltern. Auf die Frage hin, ob sie nach
Bosnien und Herzegowina zurückkehren würden, hat nur eine von sechs InterviewpartnerInnen
der ersten Generation diese Option ausgeschlossen. Bei der zweiten Generation könnte sich nur
eine Interviewpartnerin ein Leben in Bosnien und Herzegowina vorstellen. Ausgehend von
diesen Informationen hat sich die These bestätigt. Die erste Generation pflegt eine stärkere
Beziehung mit dem Herkunftsland. Aus den Interviews wird auch ersichtlich, dass die erste
Generation von Familie 3 den größten Bezug sowohl zum Herkunftsland als auch zur
Herkunftsgesellschaft hat. Trotzdem konnten soziale Beziehungen mit ÖsterreicherInnen
aufgenommen werden. Sie sind auch strukturell im Bereich der Bildung und des Berufes
eingegliedert. Es bestehen keine Anzeichen, dass die stärkere Verbindung zum Heimatland die
Eingliederung der ersten Generation negativ beeinflusst hat.
Die dritte und letzte These umfasst die strukturelle Ebene der Integration und sagt einerseits
aus, dass die zweite Generation eine höhere Bildung und andererseits einen höhergestellten
Beruf als die erste Generation besitzt. In der ersten Generation hat keiner der
InterviewpartnerInnen ein Studium abgeschlossen. Nur Enis hat ein Studium in Belgrad
aufgenommen, welches er später jedoch abbrechen musste. Alle anderen InterviewpartnerInnen
der ersten Generation haben eine Berufsausbildung gemacht. Im Fall der zweiten Generation
haben wir zwei Studentinnen, zwei Schülerinnen, einen Lehrling und zwei Berufstätige.
Obwohl es sich nur geringfügig unterscheidet, lässt sich festhalten, dass die zweite Generation
eine höhere Bildung besitzt. Der erste Teil dieser These hat sich somit bewahrheitet. Im Fall
des Berufes lässt sich ein Vergleich nur schwer erstellen, da nur zwei Interviewpartnerinnen in
der zweiten Generation berufstätig sind. Zum jetzigen Zeitpunkt würde sich der zweite Teil
dieser These nicht bestätigen. Nimmt man an, dass die InterviewpartnerInnen ihre Vorhaben in
Zukunft umsetzen, ihre Studien abschließen und einen dafür vorgesehenen Beruf ausüben,
würde sich die These bestätigen.
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Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass viele Unterschiede zwischen den Generationen
bestehen. Dessen ungeachtet haben sich sowohl die erste Generation als auch die zweite
Generation sehr gut in die österreichische Gesellschaft integriert. Eines der wichtigsten Gründe
dafür war einerseits die Hilfe der Einheimischen, welche den Flüchtlingen in schwierigen
Zeiten Jobs und Unterkünfte anboten und andererseits die Selbstinitiative und der Ehrgeiz der
MigrantInnen sich weiterzuentwickeln. Mit anderen Worten lässt sich sagen, dass
unterschiedliche Faktoren und Parteien eine erfolgreiche Eingliederung in die Gesellschaft
beeinflussen.
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6. Literatur- und Quellenverzeichnis
ALBA Richard / NEE Victor, Rethinking Assimilation Theory for a New Era of Immigration.
In: International Migration Review. Immigrant Adaptation and Native-Born
Responses in the Making of Americans. Vol. 31, Nr. 4, The Center for Migration
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ALI-PAHLAVANI Zohreh, Chancen für MigrantInnen am Arbeitsmarkt in Österreich. In:
Arbeitsgruppe Migrantinnen und Gewalt (Hg.), Migration von Frauen und strukturelle
Gewalt. Wien 2003. S. 41-52.
AUMÜLLER Jutta, Assimilation. Kontroversen um ein emigrationspolitisches Konzept.
Bielefeld 2009.
BADE Klaus, Einwanderungskontinent Europa. Migration und Integration am Ende des 20.
Jahrhunderts. In: Klaus BADE (Hg.), Einwanderungskontinent Europa. Migration und
Integration am Ende des 20. Jahrhunderts. Beiträge der Akademie für Migration und