archithese Zum reverse engineering des Elements-Projekts Die Biennale als Auftrag Interviews mit Fabio Gramazio, Jacques Herzog, Markus Schaefer, Marianne Burki und Sandi Paucic Die Biennale sollte den Architekten gehören! Rem Koolhaas als Ausstellungsmacher Lucius Burckhardt neu entdeckt Der Schweizer Pavillon in Venedig von Bruno Giacometti Die Arbeiten des britischen Architekten Cedric Price Lucius Burckhardt und die Architekturausstellung Reordering Reality while Playing: Architecture and Creativity Architecture, Discipline and Crisis A Short History of the Beginnings of the Venice Architecture Biennale SPECIAL: A Growing Archive Capriccio in Book Form – Elements of Venice Abecedarium – die Peripherie radikal neu denken Herzog & de Meuron: Naturbad Riehen Bruno Fioretti Marquez Architekten: Neue Meisterhäuser Bauhaus Dessau 5.2014 Oktober Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur International thematic review for architecture Fundamental Palace
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architheseZum reverse engineering des Elements-Projekts
Die Biennale als Auftrag
Interviews mit Fabio Gramazio, Jacques Herzog, Markus Schaefer, Marianne Burki und Sandi Paucic
Die Biennale sollte den Architekten gehören!
Rem Koolhaas als Ausstellungsmacher
Lucius Burckhardt neu entdeckt
Der Schweizer Pavillon in Venedig von Bruno Giacometti
Die Arbeiten des britischen Architekten Cedric Price
Lucius Burckhardt und die Architekturausstellung
Reordering Reality while Playing: Architecture and Creativity
Architecture, Discipline and Crisis
A Short History of the Beginnings of the Venice Architecture Biennale
SPECIAL: A Growing Archive
Capriccio in Book Form – Elements of Venice
Abecedarium – die Peripherie radikal neu denken
Herzog & de Meuron: Naturbad Riehen
Bruno Fioretti Marquez Architekten: Neue Meisterhäuser Bauhaus Dessau
5.2014 Oktober
Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
International thematic review for architecture
Fundamental Palace
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EINE DROHNE NAMENS ARCHITEKTURZum reverse engineering des Elements-Projekts Bei Architektur geht es um das engineering von Umschliessungen.
Sie gilt als eine holistische Kulturtechnik, denn es geht ihr ums Ganze. Manche reden von einem hermetisch geschlossenen
System1 und andere beklagen, dass Architektur zu technisiert und nicht mehr nachvollziehbar sei. Vielleicht taugt
hierfür das Bild einer Drohne, die in der Wüste abgestürzt ist: Der Versuch eines Finders, die Funktionen der Bauteile
nachzuvollziehen, muss zwangsläufig an der Komplexität der Maschine scheitern.
Das Forschungsprojekt und die Ausstellung Elements of Architecture auf der Architekturbiennale etablieren einen alternativen
Zugang im Sinne eines reverse engineering – ein Versuch, den hermetischen Zustand der Architektur wieder aufzubrechen.
Statt auf «das Ganze» zu fokussieren, wird der Blick auf die einzelnen Teile gelenkt.
Autor: Stephan Trüby
Was ist in der Architekturgeschichte und ihrer Theorie unter
«Elementen der Architektur» diskutiert worden? Welche
zeitgenössischen Herangehensweisen zu den Elementen der
Architektur gibt es? Welche Ausgangsfragen lagen dem For-
schungsprojekt Elements of Architecture und der gleichna-
migen Ausstellung auf der diesjährigen Architekturbiennale
in Venedig zugrunde? Und inwieweit tragen die Ergebnisse
zu einem besseren Verständnis von Architektur bei und kön-
nen damit wiederum hilfreich sein bei ihrem Entwerfen?
I. Elementares Denken in der Geschichte
der Architekturtheorie
In Vitruvs Texten lassen sich nur minime Ansätze eines ele-
mentaren Denkens finden. Zwar nennt er im dritten seiner
Zehn Bücher (geschrieben circa 30 bis 20 v. Chr.) die Trias
firmitas – utilitas – venustas als allgemeine (teilweise bis
heute als gültig akzeptierte) Prinzipien der Architektur.
Doch sind seine Abhandlungen über weite Strecken eine
Kompilation ungereimter Terminologien.2 So entbehren
seine Ausführungen zum Säulenschmuck – er verwendet den
Begriff der genera – noch einem Denken in Säulenordnun-
gen, wie es sich in Europa mit der Renaissance folgenreich
verbreiten sollte.
Die frühesten Zeugnisse elementaren Denkens zur Archi-
tektur sind aus China überliefert. Bereits in der Song-Zeit ab
dem 11. Jahrhundert wurden dort im amtlichen Bauhand-
buch Yingzao fashi (Abhandlungen über Baumethoden, 1091)
detaillierte Regeln für den Holzbau festgelegt. Zum ersten
Mal wurden darin alle Masse auch der komplexesten chine-
sischen Dächer festgehalten und in ein modulares System
einer Standardeinheit (cai) überführt. Vergleichbare europä-
ische Versuche lassen sich erst in den jüngeren mittelalterli-
chen Bauhüttenbüchern finden – etwa jenem des Villard de
Honnecourt (um 1235), dem einzigen exklusiv mit Architek-
tur befassten Manuskript des Hochmittelalters.3 Die 33 er-
haltenen Blätter enthalten eine im Lauf vieler Jahre auch auf
Reisen durch Frankreich, Deutschland und Ungarn zusam-
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mengetragene Mustersammlung. Die Zeichnungen umfas-
sen Beispiele zur Baukunst (Grund- und Aufrisse von Chören
und Türmen, Masswerk von Fenstern und Fensterrosen), zur
2 Yingzao fashi, Abhandlungen über Baumethoden, China, 1091
3 Villard de Honnecourts Bauhüttenbuch, um 1235, ist das einzige, exklusiv mit Architektur befasste Manuskript des Hochmittelalters. Französische Sammlung, Nationalbibliothek Paris, Bibliothek SaintGermaindes Prés. (MS. 19093, Nr. 1104)
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DEN DRACHEN REITENFabio Gramazio im Gespräch mit Jørg Himmelreich Die Elements-Ausstellung auf der Architektur-
biennale in Venedig zeigt die Evolution der Architekturelemente als dialektischen Spannungsbogen.
Auch wenn die Ausstellung sich auf den ersten Blick als neutrale enzyklopädische Nebeneinanderstellung
gibt, formuliert sie zugleich eine Kritik am Status quo der Architekturproduktion, indem sie vor Augen
führt, dass die moderne Produktion von Bauteilen zu gestalterischer Armut und langweiligen Standards
führt, auf die auch Architekten nur bedingt Einfluss haben.
Mit Fabio Gramazio, der zusammen mit Matthias Kohler an der Professur für Architektur und digitale
Fabrikation am Departement Architektur der ETH Zürich forscht, sprachen wir über Perspektiven für eine
reichhaltigere und vielfältigere Architektur.
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Jørg Himmelreich: Die prunkvoll bemalte historistische
Kuppeldecke des italienischen Pavillons wird in der Ele-
mentsAusstellung mit einer sterilen, bedrückenden abge
hangenen Bürodecke in Kontrast gesetzt. Klinische Kunst
stofffenster kontrastieren vor verzierten Holzfenstern mit
farbigem Bleiglas und geschnitzten Ornamenten.
Fabio Gramazio: In unserem Kulturkreis ist man sich dieser
Probleme spätestens seit den Sechziger- und Siebzigerjahren
bewusst. Die Frage ist also, warum Koolhaas dieses Thema
genau jetzt wieder ins Zentrum rückt. Die Antwort kann ein
Blick auf das Baugeschehen in Asien geben. Circa einhun-
dert Jahre nach dem Beginn der Industrialisierung in der
Architektur feiert sie dort gerade in ihrer niedrigsten, trivi-
alsten und uninspiriertesten Form eine Apotheose – in be-
ängstigenden Dimensionen. Die meisten Massenwohnungs-
bauten, die dort entstehen, sind «Wüsten» aus langweiligen
Wohnungen – identisch in der Typologie, der Anzahl der
Geschosse bis hin zu den Bauteilen. Verglichen damit er-
scheinen die spekulativen oder ideologisch geprägten urba-
nistischen Modelle im Europa der Nachkriegszeit in ihren
Dimensionen harmlos.
Dort werden derzeit nicht zweihundert Wohnungen auf
einmal erstellt, sondern gleich zwanzigtausend. Beispiels-
weise in Singapur: Dort kümmert sich eine Behörde nicht nur
um architektonische Programme, sondern nimmt ganz kon-
kret Einfluss auf das Bauen. Sie haben der Bauindustrie ein-
heitliche Systeme aufgezwungen und damit jegliche Konst-
ruktionsvielfalt nivelliert. Für den Massenwohnungsbau
gibt es nur eine einzige Bauweise – das Large Panel System.
Aus der Perspektive eines jungen Staates, der 1962 unabhän-
gig wurde und seinen Einwohnern soliden und günstigen
Wohnraum geben wollte, hat das Sinn gemacht. Doch 2014
mutet es seltsam an, noch immer an diesem Rationalisie-
rungswahn festzuhalten.
Das aktuelle Konstruktionssystem in Singapur ist also
identisch mit der vorfabrizierten Architektur des Westens
aus den Siebzigerjahren? Oder wurde es weiterentwickelt?
Das kommt drauf an, wie man es betrachtet: Aus der Distanz
ist es konstruktiv und typologisch eine reine Kopie von dem,
was wir in Europa gebaut und mittlerweile wieder abgeris-
sen haben. Schaut man jedoch genauer hin, gibt es interes-
sante Unterschiede: Mit dem Social Engineering hat man es
dort viel besser im Griff, dass keine Gettos entstehen. Alle
Wohnungen sind Eigentum, und beim Verkauf arbeitet man
mit einem spezifischen Schlüssel, der vorgibt, wie die ver-
schiedenen Ethnien gemischt sein sollen. Zudem gibt es ty-
pologische Besonderheiten: Man fügt öffentliche Erd- und
offene Zwischengeschosse – sogenannte Void Decks – ein,
die sehr gut funktionieren.
Dabei sind mir aus Singapur beispielsweise die Colonnade
Condominiums von Paul Rudolph in Erinnerung, die 1980
errichtet wurden. Die vorgefertigten zweigeschossigen
Woh nungseinheiten sollten mit unterschiedlichen räumli
chen Einteilungen an ein Strukturgerüst angehängt wer
den. Letztlich wurde aber alles vor Ort aus Beton gegossen.
Das Beispiel zeigt aber, dass vor dreissig Jahren der Wille
vorhanden war, aus vorgefertigten Elementen Wohnungen
mit räumlicher Vielfalt zu erstellen. Ist diese Experimen
tierfreude verloren gegangen?
Es gab durchaus einige interessante metabolistische Experi-
mente. Nach der Staatsgründung kam eine ganze Generation
junger Architekten, die in den USA und Japan ausgebildet
wurde, zurück, um am Nation Building teilzuhaben. Aber das
ist vorbei. Jetzt gibt es nur noch wenige Projekte, die mehr sind
als reiner Standard. Projekte von Rem Koolhaas wie das Inter-
lace oder Bauten von Zaha Hadid sind für reiche Expats und
haben wenig mit der Realität zu tun. Lediglich bei den Bauten
in Downtown wird auf die Gestaltung Wert gelegt. Ansonsten
entstehen endlose Serien mit immer gleichen Standards.
Für eine neue digitale Baukultur
Sigfried Giedion hat in seinem Buch Mechanisation takes
command die Wende von der ersten Phase der Industriali
sierung hin zur zweiten thematisiert und kritisch darauf
hingewiesen, dass bereits mit dem Fordismus das kreative
Potenzial der Gestaltung von Bauteilen fast vollkommen
verloren gegangen ist. Diese Kritik an einer schematischen
und standardisierten Architektur formuliert auch die Ele-
mentsAusstellung auf der Biennale. In eurem Buch The
Robotic Touch streicht ihr heraus, dass wir uns seit den
Neunzigerjahren in einer dritten digitalen Phase der Indus
trialisierung befinden. Sind wir nun in der Lage, die Pro
bleme der zweiten Phase zu überwinden?
Der Diskurs beschäftigt sich längst mit diesem zweiten Shift,
doch allgemein gibt es noch kein Bewusstsein dafür. Die
meiste Architektur entsteht nach total veralteten und inad-
äquaten Paradigmen. Das industrielle Zeitalter hat die Mas-
senproduktion ermöglicht, sie aber auch zwangsläufig den
industriellen Logiken – den Economies of Scale – unterwor-
fen. Zunächst hatte das einen positiven Effekt: Mehr Leute
konnten sich hochwertige Produkte leisten. Die Kehrseite ist
jedoch der hohe Ressourcenverbrauch und die zwangsläu-
fige Normierung. Die daraus resultierenden Einschränkun-
gen für die Gestaltung sind so gross, dass man sich fragen