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I. Begriff der Rechtsvergleichung
1. Begriff
Rechtsvergleichung ist der Vergleich verschiedener (nationaler) Rechtsordnungen
und zwar sowohl hinsichtlich der Methode, des Verfahrens und des materiellen
Rechts. Man unterscheidet dabei den Makrovergleich und den Mikrovergleich.
a) Makrovergleich
Beim Makrovergleich werden nicht konkrete Einzelprobleme und
Lösungen verglichen, sondern Gegenstand der Rechtsvergleichung
sind die allgemeinen Methoden des Umgangs mit dem Rechtsstoff,
die Verfahren der Streitbeilegung und die Arbeitsweise der Juristen.
Häufige Gegenstände der Rechtsvergleichung auf der Makroebene
sind:
- Kodifikationsstile
- Methoden der Gesetzesauslegung
- Präjudiziensysteme
- Doktrin- und Rechtsfortbildung
- Urteilsstile
- Verhalten vor Gericht
- Bedeutung von Recht in der Gesellschaft
b) Mikrovergleich
Beim Mikrovergleich sind Gegenstand der Rechtsvergleichung
einzelne konkrete Rechtsinstitute oder Rechtsprobleme. Der
Mikrovergleich bezieht sich damit auf die Beurteilung bestimmter
Sachprobleme oder bestimmter Interessenkonflikte in verschiedenen
Rechtsordnungen.
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Die Grenzen zwischen dem Mikro- und Makrovergleich sind fließend. So gehört
der Vergleich des Verhaltens und der Arbeit vor Gericht grundsätzlich in den
Makrovergleich, er kann aber auch Bedeutung für den Mikrovergleich haben.
1. Beispiel: Schadensersatzanspruch für einen ärztlichen Kunstfehler
Das Problem bei dem Schadensersatzanspruch für ärztliche Kunstfehler liegt darin,
dass grundsätzlich der Geschädigte immer Schwierigkeiten haben wird, den
Nachweis der Kausalität des Eingriffes des Arztes für den bei ihm entstandenen
Schaden zu führen. Vergleicht man, wie dieses Problem im deutschen Recht und
US-amerikanischen Recht gelöst wird, so darf man nicht bei dem bloßen Vergleich
der materiell-rechtlichen Regelungen stehen bleiben, sondern es ist einzubeziehen,
dass nach deutschem Recht das Gericht einen Sachverständigen beauftragt, um das
ärztliche Verschulden zu klären, während nach US-amerikanischem Recht die
Parteien ihre Sachverständigen selbst aussuchen, die dann im Gerichtssaal
erscheinen müssen und dort ihre Auffassung nicht als unabhängiger
Sachverständiger sondern als Sachverständiger der Partei darlegen. Erst dieses
Hintergrundwissen macht deutlich, warum im US-amerikanischen Recht die
Regelungen über den Schadensersatzanspruch für ärztliche Kunstfehler anders
ausgestaltet sind als im deutschen Recht.
2. Beispiel: Höhe des Schadensersatzes bei Schäden durch eine fehlerhafte Ware
Das deutsche Schadensersatzrecht gewährt nur einen moderaten Schadensersatz
für Schäden, die durch eine fehlerhafte Ware entstanden sind. Im US-
amerikanischen Recht gibt es (teilweise) ausgesprochen hohe
Schadensersatzsummen, die das Gericht dem Geschädigten zuspricht. Diese höchst
unterschiedlichen Ergebnisse lassen sich nur verstehen, wenn man neben dem
Mikrovergleich auch einen Makrovergleich der äußeren Umstände heranzieht.
Während nämlich im deutschen Recht Schadensersatz die Funktion hat, einen
tatsächlich eingetretenen Schaden zu kompensieren, aber darüber hinaus keinen
pönalen oder erziehenden Effekt hat, ist die Höhe des Schadensersatzes im US-
amerikanischen Recht vor dem Hintergrund verschiedener Umstände zu sehen. So
wird im US-amerikanischen Zivilprozess, in dem über die Höhe des
Schadensersatzes entschieden wird, durch ein sog. Jury Trial, also durch Laien, die
Entscheidung gefunden. Das bedeutet, dass Richter, Anwälte und die Jury eine
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besondere Funktion haben, die auf das materielle Recht (Höhe des
Schadensersatzes) zurückwirkt. Zudem spielt bei der Festsetzung der Höhe des
Schadensersatzes eine Rolle, dass der US-amerikanische Anwalt in der Regel ein
Erfolgshonorar von 30 – 50 % der erstrittenen Summe bekommt. Die Jury
berücksichtigt dies meist mit und schlägt diesen Betrag auf die an sich an den
Geschädigten fließende Summe auf. Zudem ist bei der Höhe des Schadensersatzes
im US-amerikanischen Recht zu bedenken, dass es in den USA kaum eine
Sozialversicherung nach deutschem Verständnis gibt, so dass etwaige Ausfälle
durch das Nichtvorhandensein einer Sozialversicherung durch die Höhe der
Schadensersatzleistungen kompensiert werden. Schließlich wird im US-
amerikanischen Recht mit der Höhe des Schadensersatzes vor allem auch eine
präventiv-abschreckende Wirkung bezweckt.
Auch an diesem Beispiel lässt sich gut erkennen, dass ein bloßer Mikrovergleich
zu kurz greift, weil Faktoren, die üblicherweise in einem Makrovergleich
untersucht werden müssten, in die Rechtsvergleichung hineinspielen.
2. Abgrenzung des Begriffes Rechtsvergleichung
Rechtsvergleichung ist nicht das einzige Gebiet in der Rechtswissenschaft, in der
es um eine Beziehung zu fremdem Recht geht: Allein die Beschäftigung mit
ausländischem Recht ist noch keine Rechtsvergleichung!
Eine Abgrenzung der Rechtsvergleichung lässt sich in folgender Weise
vornehmen:
a) Abgrenzung zum internationalen Privatrecht (IPR)
Das IPR ist als Kollisionsrecht Teil des nationalen Rechts und entscheidet
darüber, welche von zwei oder mehreren möglichen Rechtsordnungen auf
einen konkreten Sachverhalt mit Auslandsbezug anwendbar ist. Dagegen gilt
die Rechtsvergleichung als eine „science pure“ und ist damit losgelöst vom
nationalen Recht. Die Frage, welches von mehreren möglichen Rechten
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tatsächlich Anwendung findet, kann aber oft nur mit einem
rechtsvergleichenden Blick gelöst werden. Beispielsfälle sind der „ordre
public“ oder die sog. Eingriffsnormen.
b) Abgrenzung zum Völkerrecht
Beim Völkerrecht handelt es sich um zwischenstaatliches, universales Recht.
Die Rechtsvergleichung ist wichtig, um allgemeine Grundsätze der einzelnen
Staaten zu ermitteln, die im Völkerrecht eine Rolle spielen. Zudem bedarf es
der Rechtsvergleichung um sog. Standardformeln im Völkerrecht zu verstehen.
„pacta sunt servanda“, „abus de droit“, „Gute Sitten“, „bonne foi“ oder „good
faith“ sind nur zu verstehen, wenn man sie mittels der Betrachtung von
fremdem Recht klärt.
c) Abgrenzung zur Rechtsgeschichte
Auch wenn der Zusammenhang der Rechtsvergleichung zur Rechtsgeschichte
nicht besonders augenscheinlich ist, hat die Rechtsgeschichte eine sehr große
Bedeutung für die Rechtsvergleichung. Es gilt der Merksatz,
Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte sind Holz vom gleichen Stamm. Der
Grund dafür ist, dass die historische Entwicklung in der Behandlung eines
bestimmten Rechtsproblems bei der Rechtsvergleichung eine große Rolle
spielt. So kann durch die Betrachtung der historischen Dimension geklärt
werden, ob ein Zustand, der in einer Rechtsordnung besteht und der eine
gewisse historische Entwicklung genommen hat, bei Vorliegen bestimmter
Voraussetzungen in der Vergleichsrechtsordnung eine ähnliche Entwicklung
nehmen wird (sog. horizontale Rechtvergleichung).
d) Abgrenzung zur Rechtsethnologie
Auch das Verhältnis von Rechtsethnologie zur Rechtsvergleichung wird meist
eher nur am Rande betrachtet. Das liegt daran, dass es im deutschen
Rechtskreis derzeit kaum Rechtsethnologen gibt. Die Rechtsethnologie
beschäftigt sich mit der Frage des Verhältnisses von Recht zur Entwicklung
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von Kulturen und Stämmen und umgekehrt. Es wird insbesondere untersucht,
mit welchem Regelungsvorrat sog. primitive Rechte auskommen. Im
Zusammenhang mit der Rechtsethnologie steht die Kulturkreislehre. Danach
entwickelt sich Recht je nach den bestimmten geografischen, sozialen und
wirtschaftlichen Gegebenheiten unterschiedlich. Daraus ergebe sich, dass es
keine allgemeine Entwicklung von Recht gibt, die in allen Kulturkreisen
notwendigerweise gleich ist (so aber der sog. Elementargedanke von Bastian).
Die Rechtsethnologie versucht zu klären, ob sich Recht auch nach atypischen
Faktoren, wie z.B. Rasse oder besondere Fähigkeiten, unterschiedlich
entwickelt. Es lässt sich beispielsweise zeigen, dass Stämme, die das Gefühl
von Angst nicht oder nur wenig kennen, kaum Regeln zur Abwendung oder
Kompensation von Risiken kennen.
e) Das Verhältnis zur Rechtssoziologie
Es besteht auch ein enges Verhältnis der Rechtsvergleichung zur
Rechtssoziologie. Die Rechtssoziologie befasst sich mit der Aufdeckung der
Wirkungszusammenhänge zwischen Recht und Gesellschaft. Sie möchte die
Regelhaftigkeit aufzeigen, nach der sich beurteilen lässt, ob und unter welchen
Voraussetzungen das Recht menschliches Verhalten zu steuern vermag und
wie das Recht auf sozialen Wandel reagiert. Als Methode zieht die
Rechtssoziologie dabei den Vergleich heran und ähnelt damit methodisch der
Rechtsvergleichung. In beiden Fällen handelt es sich um eine theoretisch-
deskriptive Ausrichtung der Vergleichung, die zum Teil auch in eine
angewandte Vergleichung übergehen kann.
II. Ziele und Aufgaben der Rechtsvergleichung
1. Allgemeines
Die primäre Funktion der Rechtsvergleichung ist die Erkenntnis. Die
Rechtswissenschaft beschäftigt sich mit der Erforschung von Methoden für die
Verhinderung und/oder die Lösung sozialer Konflikte. Die Rechtvergleichung
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erweitert als Methode die Möglichkeit, den Vorrat an Lösungen im Hinblick
auf die Suche nach der „besten Lösung“ zu vergrößern.
2. Aufgaben
Die Rechtsvergleichung hat konkret folgende wesentliche Aufgaben. Sie ist:
- Hilfsmittel für den Gesetzgeber
- Auslegungsinstrument
- Erkenntnismodell für die Lehre
- Mittel für die Rechtsvereinheitlichung
- Mittel zur Entwicklung eines europäischen Zivilrechts
a) Hilfsmittel für den Gesetzgeber
Der Gesetzgeber hat häufiger das Problem, das im nationalen Recht
Probleme zu lösen sind, für die der bestehende Regelungsvorrat des
nationalen Rechts nicht ausreicht. Hier kann der Gesetzgeber prüfen, ob
und wenn ja welche ausländischen Lösungen für die nationalen Probleme
herangezogen werden können. Derartige rechtsvergleichende Ansätze hat
der deutsche Gesetzgeber beispielsweise bei der Regelung der
gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, der Regelung der
Rechtschuldbefreiung im Insolvenzrecht, der Prospekthaftung oder der
Verbandsklagen vorgenommen.
Die Rechtsvergleichung war auch in den ehemaligen sozialistischen Staaten
ein wesentliches Instrument bei der Transformierung ihrer sozialistischen
Privatrechtsordnung in eine Privatrechtsordnung, die sich an
Privatautonomie und Markt orientiert.
Bei der Übernahme von ausländischen Lösungen in das nationale Recht
besteht allerdings stets das Grundproblem, dass im ausländischen Recht die
zutreffende Lösung eingebettet ist in einen rechtlichen
Gesamtzusammenhang, der möglicherweise im Ausgangsrechtssystem, in
das die ausländische Regel inkorporiert werden soll, nicht besteht. So kann
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es zu Friktionen kommen, wenn man ohne genauere Prüfung einfach
Instrumente aus dem ausländischen Recht in das eigene nationale Recht
einfügen möchte. Ein Beispiel dafür bildet die undifferenzierte Übernahme
der Durchgriffshaftung (Piercing the Cooperate Veil) aus dem US-
amerikanischen Recht in das deutsche Recht. Anders herum hat es zu
vielfachen Problemen geführt, dass deutsche Konzernrecht in andere
Gesellschaftsrechtssysteme einzuführen.
b) Auslegungsinstrument
Die Rechtsvergleichung kann auch ein Instrument darstellen, um für die
Auslegung von unklaren nationalen Regelungen herangezogen zu werden.
In Artikel 1 Abs. 2 und Abs. 3 des Schweizerischen ZGB ist z. B. geregelt:
„Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll das
Gericht nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der
Regel entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde. Er folgt dabei
bewährter Lehre und Überlieferung.“ In dieser schweizerischen Regel ist
die Möglichkeit eröffnet, durch Rechtsvergleichung eine bestimmte
Regelung für das nationale Recht zu entwickeln, nämlich indem der Richter
überprüft, wie er eine Regelung entwickeln würde, die ein Gesetzgeber
aufstellen würde.
Auch in der Rechtsprechung des BGH finden sich zum Teil
rechtsvergleichende Ansätze, um bestimmte Regelungen des deutschen
Rechts auszulegen. So findet sich in der Entscheidung BGHZ 35, 363, 369
ein Verweis auf das Schweizer Recht bei Verletzung des
Persönlichkeitsrechts. In BGHZ 86, 240, 250 f. ging es um Folgendes: Die
Klägerin war ein mit schweren Behinderungen geborenes Mädchen, das
dem beklagten Arzt vorwarf, dass er eine Vorsorgeuntersuchung seiner
schwangeren Mutter fahrlässig unterlassen habe, die ihr Kenntnis von der
Behinderung des erwarteten Kindes verschafft hätte und sie zur
Unterbrechung der Schwangerschaft veranlasst hätte. Aus diesem Grund
könne sie, die Klägerin, vom Arzt Schadenersatz verlangen. Der BGH wies
die Klage mit dem Hinweis auf das englische Urteil McKay v. Essex
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Health Authority [1982] QB 1166 u. ä. US-amerikanische Urteile zum
Thema „wrongful life“ ab.
c) Akademischer Unterricht
Auch für den akademischen Unterricht ist die Rechtsvergleichung von
erheblichem Nutzen. Sie erweitert die Perspektive der Darstellung und
verhilft zu einem erweiterten Verständnis für andere Rechte. Dieses
Verständnis fördert mittelbar auch das Verständnis für fremde Kulturen
und Herangehensweisen zur Lösung von Konflikten und Problemen. Eine
solche erweiterte Perspektive ist vor dem Hintergrund der
Internationalisierung notwendig und wird mehr und mehr von dem
Berufsmarkt erwartet.
d) Rechtsvereinheitlichung
Eine wesentliche Funktion hat die Rechtsvergleichung bei der
Rechtsvereinheitlichung. Bei der Rechtsvereinheitlichung geht es um die
Schaffung einer „loi uniforme“. Die „loi uniforme“ oder anders
ausgedrückt das „ius commune“ führt zu einer Senkung von Kosten, weil in
allen Staaten dann gleiche Rechtsprobleme gleich gelöst werden. Um eine
solche „Loi uniforme“ zu gestalten, bedarf es der Untersuchung, welche
Ansätze und Regelungsformen in allen Rechtsordnungen identisch oder
jedenfalls vergleichbar sind. Diese können dann zum Ausgangspunkt
genommen werden, um ein allgemein verbindliches Recht oder jedenfalls
ein Modellgesetz zu schaffen. Solche Modellgesetze werden von
UNCITRAL entwickelt. Durch Rechtsvereinheitlichung geschaffenes
Einheitsrecht findet sich z.B. im unmittelbar im deutschen Recht geltenden
UN-Kaufrecht.
So vorteilhaft die Rechtsvereinheitlichung auch ist, es gibt jedoch auch
erhebliche Probleme: Die Rechtsvereinheitlichung kann zu einer Erstarrung
des Rechts führen, der Wettbewerb von Rechtssystemen gilt als
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dynamischer. Zudem darf nicht verkannt werden, dass es in den
Einzelnationen einen Rechtsstolz oder sogar einen Rechts-Nationalismus
gibt, der dazu führt, dass die Regelungsunterworfenen nicht bereit sind,
ihre liebgewonnenen Regelungen aufzugeben. Zudem ist anzuerkennen,
dass es unterschiedliche Vorstellungen von Recht und von Rechtsbegriffen
gibt (so hat z.B. das deutsche Recht einen sehr formalen und genauen
Ansatz, während die Vorstellung von Recht in den skandinavischen
Rechtsordnungen häufig vom sog. Rechtspragmatismus geprägt ist).
e) Europäisches Privatrecht
Das Europäische Privatrecht ist letztlich eine Unterform der
Rechtsvereinheitlichung und stellt den Versuch dar, innerhalb der EU für
bestimmte Probleme überall gleichermaßen geltende Regeln einzuführen.
Auch hier bedarf es der eingehenden Rechtsvergleichung um
herauszufinden, welche Regelungen überall in den Mitgliedsstaaten
akzeptiert werden, weil sie dort so oder ähnlich bereits existieren oder als
Regelungsansatz bekannt sind.
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III. Der Deutsche Rechtskreis
1. Zur Geschichte
Vom Mittelalter an findet sich in allen europäischen Staaten eine ganz
erhebliche Einwirkung des römischen Rechts. In Deutschland ist die Rezeption
des römischen Rechts besonders ab dem 15. Jahrhundert zu spüren. Dabei ist
festzustellen, dass in Deutschland das römische Recht stärkeren Einfluss hat als
in anderen Rechtsordnungen, d.h. römisch-rechtliche Institutionen und Begriffe
werden stärker in das allgemeine Recht implementiert als z.B. in Frankreich.
Der Grund dafür war die zunehmende Schwächung der zentralen Reichsgewalt
im Mittelalter und die Dezentralisierung der Machtverhältnisse, die einherging
mit der Zurückdrängung des Kaisers. Das waren die Ursachen dafür, dass sich
kein gemeindeutsches Privatrecht, keine gemeindeutsche Gerichtsverfassung
oder kein gemeindeutscher Juristenstand entwickeln konnte, wie z.B. in
England oder Frankreich. In England gab es in London bereits im Mittelalter
eine zentralisierte Gerichtsstätte und auch in Frankreich hatten die
bedeutendsten Gerichte ihren Sitz in Paris. Diese Zentren führten dazu, dass
sich dort Richter und Rechtsgelehrte versammelten und in einem Austausch
miteinander Recht entwickelten und anwendeten. Dies ist ein wesentliches
Merkmal zur Herausbildung eines eigenen Rechts, das sich in der Regel aus
verschiedenen lokalen Rechten zusammengesetzt hat. In Deutschland dagegen
gab es zwar ein sog. Reichshofgericht, das als oberstes Gericht des Reiches
grundsätzlich jeden nichts rechtskräftig entschiedenen Streit an sich ziehen
konnte, doch war der Einfluss tatsächlich gering, da das Gericht vom Kaiser
abhängig war. Dadurch, dass der Kaiser in Deutschland lange Zeit keinen
zentralen Sitz hatte, konnte sich eine zentrale Gerichtsstätte nicht herausbilden.
Es fehlte eine starke Reichsjustiz, die zur Entwicklung eines gemeindeutschen
Rechts hätte beitragen können. Da es aber für die neuen Rechtsprobleme, die
mit der Ausbildung von Städten und der Verstärkung des Handels
einhergingen, Regelungen bedurfte, die auf deutschem Boden nicht vorhanden
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waren, griff man auf das römische Recht zurück, weil das lokale Recht sich oft
als nicht tauglich herausstellte. Der Spruch des Richters beruhte auf
überliefertem Rechtswissen, auf praktischer Weisheit, auf Erfahrung und
Sachkunde, auf einer intuitiven Erfassung desjenigen, was dem Sinn des
anschaulich und konkret vor Augen stehenden Lebensverhältnisses am besten
entsprach. Eine solche Herangehensweise reichte bei dem komplexeren, durch
ein Fortschreiten der Wirtschaft ausgelösten Problemkomplex aber nicht mehr
aus. Das römische Recht konnte mit seiner genauen Methodik und seinen
Instrumenten eingreifen, um die Probleme zu lösen, die man ansonsten mit den
üblichen Methoden und den üblichen Regeln nicht hätte lösen können.
In Deutschland, genau wie in den anderen Staaten, gab es Juristen
hauptsächlich in der Verwaltung, in der Kirche und in den Universitäten. Im
16. und 17. Jahrhundert gab es mehr und mehr territoriale und städtische
Rechte, die auch aufgezeichnet wurden. Die schriftliche Erfassung von Recht
war keinesfalls selbstverständlich, sondern bildete einen wesentlichen
Fortschritt in der Rechtsentwicklung dar, da durch die schriftliche Erfassung
die Rechtseinheitlichkeit auch über Generationen hinaus gewahrt werden
konnte.
Mit Einsetzen der Aufklärung kam es zu einer kritischen Überprüfung von
Autoritäten (Kirche und König) in Europa genauso wie in Deutschland. Die
Aufklärung war getragen von der Vernunftsidee, die im Hinblick auf das Recht
zu einer Ordnung und zu einer Systematisierung des Rechtsstoffes führte.
Zudem setzte sich die Kodifikationsidee immer stärker durch. Im deutschen
Rechtsbereich spielen die Namen Pufendorf, Thomasius und Christian Wolf
eine wesentliche Rolle. Durch diese Gelehrten wurde das Vernunftsrecht in ein
lehrbares System privatrechtlicher Regeln umgesetzt. Es fand eine streng
mathematisch-logische Deduktion von allgemeinen Vorstellungen in genaue
Regelungen statt. Gekennzeichnet war diese Entwicklung von rationalistisch-
abstrakten Denkmodellen.
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Ganz anders entwickelte sich in der Nachfolge der Aufklärung die Situation in
Frankreich. Die Gelehrten Domat und Pothir ordneten den Rechtsstoff neu und
erarbeiteten Regeln. Darüber hinaus schlugen sich das Vernunftsrecht und die
Idee der Aufklärung nicht nur in rechtlicher Hinsicht nieder, sondern sie
wurden in direkte politische Aktion umgesetzt, die in der Konsequenz zur
Französischen Revolution führte. Im Gefolge der Französischen Revolution
gab sich das Volk sozusagen selbst ein Zivilgesetzbuch. Das Besondere und
Herausragende war, dass dieses Zivilgesetzbuch nicht durch einen Monarchen
verordnet wurde, sondern es sich das Volk, für das es gemacht war, selbst
erstritten hatte. Wiederum anders war die Situation in England. Der praktische
Gegenwartssinn und die historischen Erfahrungen ließen die Idee eines
ungeschichtlich-theoretisierenden Vernunftsrechts in England vielfach leer
laufen. Eine Ausnahme bildete der englische Gelehrte Jeremy Bentham. Das
bedeutet, dass in England die alte Tradition des Case Law auch durch die
Aufklärung im Grundsatz nicht angetastet wurde. Da allerdings die
Voraussetzungen für Recht und Rechtsprechung in England andere waren als
in Deutschland oder Frankreich, hatte die Aufklärung mit der
Vernunftsrechtsidee auch nicht denselben Ansatzpunkt wie in Deutschland
oder Frankreich.
In Deutschland hatte die Aufklärung im Volke keine Resonanz. Anders war
dies bei den aufgeklärten Landesfürsten. Sie waren z.T. der Ansicht, dass das
Recht in der aufklärerischen Tradition eines Vernunftsrechts kodifiziert
werden müsse, um bestimmte Sachverhalte zu regeln. Die Schaffung von
Zivilgesetzbüchern war daher der „wohlwollend-gängelnden Fürsorge“ der
Landesfürsten und nicht den revolutionären Gedanken des Volkes zu
verdanken. 1756 wurde als erstes wichtiges Kodifikationswerk des Zivilrechts
der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis verabschiedet. 1794 wurde dann
das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten verabschiedet, das in
Deutschland eine weite Verbreitung fand und bis 1900 galt.
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Die Vorstellungen der Aufklärung wurden in Deutschland z.T. etwas relativiert
durch die Phase der Romantik. Die in Gesetzen vorgesehenen Regeln wurden
von dem in Deutschland aufkommenden Bürgertum z.T. als Einschränkung
ihrer Existenz gesehen. Zudem entwickelten sich in der Romantik
Vorstellungen von „Volkstum“, „Seele“, „Gefühl“ und „Empfindung“, die dem
Vernunftsgedanken der Aufklärung entgegenstanden. Vor dem Hintergrund
dieser neuen geistigen Grundhaltung hat sich dann die sog. Historische
Rechtsschule entwickelt, dessen wichtigster Vertreter Friedrich Carl von
Savigny (1779-1861) war. Er vertrat die Auffassung, dass Recht eine
geschichtlich entwickelte Kulturerscheinung sei, die den Ursprung in der
Volksseele habe. Recht sei ein in Brauchtum und Sitten verhaftetes
Gewohnheitsrecht. Diese These konnte nicht unbestritten bleiben. 1840
entstand der berühmte Schulenstreit zwischen Savigny und Thibaut über die
Wünschbarkeit eines allgemeinen bürgerlichen Zivilgesetzbuches. Thibaut
hatte sich in seiner Schrift „Über die Notwendigkeit eines allgemeinen
bürgerlichen Rechts für Deutschland“ dafür ausgesprochen, ähnlich dem Code
civil eine einheitliche Kodifikation für Deutschland zu erstellen. Dem
entgegnete Savigny mit seiner Schrift „Vom Beruf unserer Zeit für
Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“, in der er darzulegen versuchte, dass
die Stunde für den Erlass einer einheitlichen Kodifikation in Deutschland noch
nicht gekommen sei. Für Savigny waren die historischen Wurzeln im
römischen Recht belegen. Savigny setzte sich zunächst mit seiner Auffassung
durch und es entwickelte sich die sog. Pandektenwissenschaft, die eng mit den
Namen Puchta und Winscheid verbunden ist. Die Pandektenwissenschaft
zeichnet sich durch eine dogmatisch-systematische Aufarbeitung des
Rechtsstoffs aus, die eher abgehoben von der Realität war und daher häufig
spitzfindig und theoretisch wirkte. Hintergrund dieser abstrakten Aufarbeitung
des Rechtsstoffes war die Vorstellung, dass sich die Gerechtigkeit in ihrer
Grundform auf Prinzipien basieren lässt.
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab es dann doch erste Tendenzen zur
kodifikatorischen Vereinheitlichung des deutschen Privatrechts. Hintergrund
war die starke wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland, die z.B. durch den
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Zollverein erheblich Auftrieb gewonnen hatte. Es erstaunt daher nicht, dass als
erste zivilrechtliche Kodifikationen die Allgemeine Deutsche Wechselordnung
von 1848 und das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch von 1861
verabschiedet wurden. 1865 wurde der Entwurf eines Obligationenrechts
(Dresdner Entwurf) vorgelegt. 1871 wurde das Gerichtsverfassungs-,
Zivilprozess- und Konkursrecht vereinheitlicht und 1879 als sog.
Reichsjustizgesetze verabschiedet. 1874 kam vor dem Hintergrund des
Dresdner Entwurfs eine Erste Kommission zur Ausarbeitung einer
Zivilrechtskodifikation in Deutschland zusammen. Diese Kommission bestand
aus 6 Richtern, 3 Ministerialbeamten und 2 Professoren. Diese legten nach 13-
jähriger Arbeit 1887 den ersten Entwurf nebst Motiven zur Schaffung eines
Zivilrechts in Deutschland vor. Dieser Entwurf erntete stürmische Kritik. Es
wurde ihm vorgeworfen, er habe eine übertriebene doktrinäre Form, eine
volksfremde Juristensprache und eine Verliebtheit in präzise Ausdrucksweise.
Als Reaktion auf diese Kritik wurde 1890 eine zweite Kommission eingesetzt.
Dieser Kommission gehörten neben Juristen auch nicht Nichtjuristen an,
wodurch gewährleistet werden sollte, dass der neue Entwurf volksnäher
ausfällt. Tatsächlich wurden im Wesentlichen nur sprachliche Korrekturen
vorgenommen und ein „Tropfen sozialen Öls“ dem ursprünglichen Entwurf
beigemengt. Im Sommer 1896 wurde das neue Gesetz im Reichstag
angenommen und trat am 01.01.1900 in Kraft. Das BGB ist damit der
vorsichtige Abschluss einer Entwicklung und nicht etwa Ausdruck einer
revolutionären Zäsur.
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2. Das BGB
a) Allgemeines
Das BGB ist in Sprache, Technik, Aufbau und Begriffsbildung eine
Ausprägung der Pandekten-Wissenschaft. Es findet sich weder der
klare, vernünftige Bon Sens des österreichischen ABGB oder die
Volkstümlichkeit bzw. Anschaulichkeit des Schweizerischen ZGB
wieder, noch findet sich die emotionale Ausdrucksweise des Code
civil im deutschen BGB. Das BGB wendet sich bewusst an den
Fachmann. Es soll keine volkserziehende Wirkung haben und
verzichtet daher auf konkret-anschauliche Kasuistik, die ersetzt wird
durch eine abstrakt-begriffliche Sprache. Das BGB ist geprägt von
Genauigkeit, Klarheit und Vollständigkeit der Bestimmungen, die
dazu geführt haben, dass das BGB dahingehend bezeichnet wurde,
dass es zwar kein Sprachkunstwerk sei, wohl aber die „juristische
Rechenmaschine par excellence“ (A. B. Schwarz).
b) Struktur
Das BGB ist in 5 Bücher aufgeteilt, die 4 Sachgebieten entsprechen,
welche Regeln enthalten, die nach der Auffassung der deutschen
Wirklichkeit zusammengehören. Dabei wird das Schuldrecht vom
Sachenrecht getrennt, was sein Vorbild in der römisch-rechtlichen
Unterscheidung von Iura in Rem und Iura in Personam findet. Die
strikte Unterscheidung zwischen Schuld- und Sachenrecht führt
allerdings zum Auseinanderreißen von Zusammenhängen, die für
andere Rechtssysteme eher fremd sind. So würde ein englischer Jurist
erwarten, dass im Kaufrecht (Law of Sale) sowohl der Kauf als auch
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die Eigentumsfrage geregelt ist. Darüber hinaus sieht das Common
Law das Deliktsrecht nicht als Teil des Law of Sale, sondern als
eigenständiges Rechtsgebiet an, während es im deutschen Recht als
ein Teil des Schuldrechts, nämlich als gesetzliches Schuldverhältnis
angesehen wird.
Das vierte und fünfte Buch betreffen das Familienrecht und das
Erbrecht. Den vier Büchern vorangestellt ist der Allgemeine Teil.
Dieser soll der Verschlankung dienen und Regelungen, die sich in
allen vier anderen Büchern wieder finden, „vor die Klammer ziehen“.
Der Allgemeine Teil ist extrem abstrakt gehalten und beinhaltet eine
Vielzahl von Regelungen, die nicht nur im BGB, sondern auch in
anderen Kodifikationen des deutschen Rechts Gültigkeit haben. Die
Besonderheit des Allgemeinen Teils liegt darin, dass jeder Begriff
überall grundsätzlich gleich ausgelegt werden soll. Damit wird zur
Einheit der Rechtsordnung beigetragen. Aus Sicht anderer
Rechtsordnungen erscheint der Allgemeine Teil des deutschen BGB
außerordentlich abstrakt, doch haben sich die Verfasser des
Allgemeinen Teils dafür entschieden, die Systematik und den
theoretischen Ansatz vor den konkreten Wirklichkeitsbezug zu
setzen.
c) Das deutsche bürgerliche Recht ist von einer Durchdringung mit
Prinzipien gekennzeichnet. Wichtige Prinzipien sind Folgende: Das
Prinzip der Privatautonomie: Dieses findet sich vornehmlich in der
Vertragsfreiheit wieder, die aber in der ursprünglichen Konzeption
des BGB zu Ungleichgewichtslagen geführt hat, weil jeder Akteur
auf dem Markt gleich behandelt wird, unabhängig davon, welche
Möglichkeiten, er hat sich über den Vertragsgegenstand oder sein
Gegenüber zu informieren. Das galt insbesondere für die
Arbeitnehmer. Die Möglichkeiten der Kontrolle von ausgeglichenen
Umfeldbedingungen für einen Vertragsschluss konnten nur über die
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§§ 134, 138 und 242 BGB gewährleistet werden. Ausgehend von
dem Bedürfnis, Schwächere zu schützen, hat sich durch die
Rechtsprechung und Gesetzgebung im Laufe der Zeit eine Vielzahl
von Neuregelungen ergeben. Vor allem gehören dazu das
Arbeitsrecht, das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen und
das Produkthaftungsrecht.
Die Vertragsfreiheit bedarf einer Einschränkung im Hinblick auf den
Schutz des anderen Vertragsteils durch § 242 BGB. Der Grundsatz
„pacta sunt servanda“ ist relativiert worden durch die Anerkennung
des „Wegfalls der Geschäftsgrundlage“ (Stichwort: Krönungsfälle),
durch die Anerkennung der „unzulässigen Rechtsausübung“ und
durch die Verwirkung.
Das deutsche Deliktsrecht ist geprägt von dem Prinzip der
Verschuldenshaftung, die auf den Gleichlauf von Herrschaft und
Haftung aufbaut. Gesetzgebung und Rechtsprechung haben aber auch
insoweit Relativierungen vorgenommen und z.T. eine
verschuldensunabhängige Haftung statuiert, namentlich in Bereichen,
in denen besonders gefährliche Werkzeuge im Verkehr bewegt oder
betrieben werden (Eisenbahn, Autos, Energieanlagen). Zudem ist der
Verschuldensgrundsatz im Deliktsrecht relativiert worden durch
Wertungsänderungen durch die Interpretation von Tatbeständen
bestimmter Normen. So ist versucht worden, die unbeliebte
Exkulpation des Geschäftsherrn für den Verrichtungsgehilfen gemäß
§ 831 BGB dadurch zu umgehen, dass andere Normen weit ausgelegt
worden sind (§ 278 BGB, § 31 BGB analog). Weitere
Relativierungen des Verschuldenshaftungsprinzips finden sich etwa
in § 826 BGB (Haftung für sittenwidrige Schädigung) und in der
Beweislastumkehr bei der Arzthaftung.
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Besondere Prinzipien finden sich im Sachenrecht. Dort gilt der
Grundsatz der Prinzipienstrenge, von der es keine Abweichung gibt.
Der Grund dafür besteht darin, dass das Sachenrecht auf Grund seiner
Regelungsgegenstände im deutschen Recht von außerordentlicher
Beständigkeit ist.
Während das Erbrecht sich ebenfalls wie das Sachenrecht in
wesentlichen Grundzügen nicht geändert hat, hat sich das
Familienrecht im Laufe der Zeit den aktuellen Entwicklungen der
Gesellschaft in Deutschland angepasst. Die Gleichberechtigung der
Frau spiegelt sich in Gesetzesänderungen des BGB ebenso wider wie
der unterschiedliche Ansatz im Umgang mit Kindern (elterliche
Gewalt wird zur elterlichen Sorge). In der Ehescheidung ist das
Gesetz vom Verschuldensprinzip zum Zerrüttungsprinzip
übergegangen, und auch im Adoptionsrecht hat es Anpassungen an
die modernen Entwicklungen gegeben.
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IV. Rechtsvergleichung als Methode
Die Rechtsvergleichung ist vornehmlich eine Methode zur Erzielung bestimmter
Ergebnisse. Die rechtsvergleichende Methode verläuft in einem Dreischritt.
Zunächst ist die Fragestellung zu ermitteln. In einem zweiten Schritt wird die
Lösung für diese Fragestellung im Ausgangsrechtssystem der Lösung der
Fragestellung im Referenzrechtssystem gegenübergestellt, und in einem dritten
Schritt wird die eigentliche Vergleichung durchgeführt.
Der erste Schritt betrifft die Herausarbeitung der Fragestellung, die Gegenstand
der Rechtsvergleichung sein soll. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass
die Fragestellung exakt gefasst wird. Es geht dabei um die funktionelle Fassung
der Frage. So sollte die Frage „Welche Formvorschriften kennt das ausländische
Recht bei Kaufverträgen“ besser gefasst werden mit „Wie schützt das ausländische
Recht die Parteien vor Übereilung oder vor der Bindung an ein nicht
ernstgemeintes Geschäft“. Das bedeutet, in einem ersten – sicher häufig sehr
schweren – Schritt muss der funktionelle Gehalt der Frage ermittelt werden, die
man untersuchen möchte. Dabei ist es oft nötig, sich von seinen eigenen
Vorstellungen zu befreien. So kennen beispielsweise fremde Rechtsordnungen
nicht das sog. Scherzgeschäft (§ 107 BGB), ebenso wenig wie das deutsche Recht
den Begriff des Trust. Hat man in einer auf die Funktion abstellenden Art und
Weise die Fragestellung formuliert, so ist in einer funktionalen Betrachtung
herauszufinden, wie diese Fragestellung in den jeweiligen zu vergleichenden
Rechtsordnungen gelöst wird. Eine bloße Gegenüberstellung von Recht ist für eine
Rechtsvergleichung in der Regel wertlos. Es kommt darauf an, dass
herausgefunden wird, wie von der Funktion her das betreffende Recht auf die
Fragestellung eingeht und sie löst. Die gegenübergestellten Ergebnisse in den
Rechtsordnungen werden im dritten Schritt verglichen, d. h. vor dem Hintergrund
des Ziels der Rechtsvergleichung (z.B. einen Lerneffekt für die Verbesserung des
eigenen Rechts zu erzielen) wird geprüft, ob und wenn ja inwieweit ein fremdes
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Recht das im eigenen Recht bestehende „Problem“ besser löst. Problem bei der
Vergleichung ist stets, dass zur Bewertung ein Maßstab herangezogen werden
muss, der vorab festgelegt sein muss.
Keinesfalls darf übersehen werden, dass im Rahmen der soeben geschilderten
Methode der Vergleichung vor dem dritten Schritt noch die Vergleichbarkeit der
Rechtsordnungen, in denen die Regeln zur Lösung des konkreten Problems
verankert sind, festgestellt werden muss. Es stellt nur eine unzureichende und nicht
überzeugende Rechtsvergleichung dar, wenn keine Ausführungen dazu gemacht
werden, ob der Regelungsrahmen überhaupt vergleichbar ist. Beispielsweise lassen
sich insolvenzrechtliche Regelungen im deutschen und französischen Recht nur
dann vergleichen, wenn man sich im Klaren darüber ist, dass trotz der erheblichen
strukturellen Unterschiede des deutschen und des französischen Insolvenzrechts
im Hinblick auf den Regelungsrahmen der konkreten Rechtsregelungen, die das
aufgeworfene Problem behandeln, eine Vergleichbarkeit besteht (das deutsche
Insolvenzrecht bezieht sich auf Verteilungsgerechtigkeit, während das
französische Insolvenzrecht andere Funktionen, z.B. die pönale Funktion, im
Vordergrund sieht).
21
V. Die Entwicklung zu einem Zivilgesetzbuch in Österreich
1. Historische Entwicklung
In Österreich fand im 16. und 17. Jahrhundert eine ganz ähnliche Entwicklung
statt wie in Deutschland. Lokales Recht, das vielfach geprägt war von
Rechtsentwicklungen in Deutschland, paarte sich mit römischem Recht. Es
entwickelten sich allenfalls lokale Regelungssammlungen. Die Aufklärung
hatte dann im 18. Jahrhundert in Österreich weitreichendere Folgen für die
Rechtsentwicklung als in Deutschland. Das lag im Wesentlichen darin
begründet, dass mit Maria Theresia eine starke Monarchin in einem
zentralistisch organisierten Gemeinwesen herrschte und von den Ideen der
Aufklärung im Hinblick auf die Rechtssetzung beeinflusst wurde. 1753
beauftragte Maria Theresia eine Kommission zur Vorbereitung eines
österreichischen Zivilgesetzbuches. 1766 wurde der Kodex Theresianus
vorgelegt. Der Konzeption nach sollte dieser Kodex sich auf das allgemeine
bürgerliche Recht beschränken, so dass das Sonderrecht bestimmter
Personengruppen oder –stände nicht geregelt wurde. Dahinter stand die
Vorstellung, dass das Recht der Stände sich einer Regelung durch das
bürgerliche Recht entzieht. Geregelt werden musste vielmehr nur das
Verhältnis der einfachen Bürger untereinander. In die Ausarbeitung des
Kodexes wurden ebenso nicht die Leibeigenen miteinbezogen. Der Kodex
wurde nach der Vorlage allerdings als zu lang und zu lehrbuchartig kritisiert:
Es wurde darauf hingewiesen, dass Gesetz und Lehrbuch nicht miteinander
vermengt werden sollten. In das Gesetz gehöre nur das, was in den Mund des
Gesetzgebers gehöre und nicht das, was auf den Lehrkanzeln gelehrt werde.
Damit wurde Kritik daran geübt, dass die Regeln im Kodex zu oft allgemeine
und ausschweifende Ausführungen beinhalteten, die von dem Kerngehalt der
Regel, die kodifiziert werden sollte, eher ablenkte als sie verdeutlichte.
Insoweit wurde vorgeschlagen, dass ein österreichisches Zivilgesetzbuch
möglichst kürzer gefasst werden sollte, ohne dass es aber zu undeutlich und zu
abstrakt gefasst werde. Man verlangte, dass im Kodex alle Zweideutigkeiten
und undeutlichen Ausdrücke sorgfältig vermieden werden sollten. Hintergrund
22
dessen war die verbreitete Tendenz in dem Kodex, dass ein rechtlicher Begriff
an verschiedenen Stellen im Kodex mit unterschiedlichem Inhalt gebraucht
wurde. Dies führte zu großer Verwirrung. Außerdem lassen sich viele Passagen
im Kodex finden, die außerordentlich undeutlich formuliert sind und nicht
deutlich machen, was damit tatsächlich gemeint ist. Interessant ist schließlich
die Forderung an den Kodex, er möge sich nicht so stark an das römische
Recht binden, sondern es müsse überall die „natürliche Billigkeit“ zugrunde
gelegt werden. Vor diesem Hintergrund wurde 1790 eine neue Kommission
unter dem Wiener Rechtsprofessor Martini eingesetzt. 1796 legte diese
Kommission einen „Entwurf eines allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches“
vor. Dieser Entwurf löste sich völlig vom Kodex Theresianus und vom
römischen Recht. Er berücksichtigte erstmalig in größerem Umfang
vernunftsrechtliche Lehren und Postulate. Der Grund dafür lag darin, dass
Martini Naturrechtler war und daher diesen Gedanken den Vorzug gab. 1808
wurde dann dem Entwurf die entgültige Fassung gegeben, die vom Naturrecht
und von den Lehren ganz geprägt war. Die entstandene Kodifikation stellt
einen Kompromiss zwischen den Forderungen der damaligen Zeit nach
kritischer Rationalität und „gesundem Sinn für das historisch Bewährte“ dar.
Das österreichische ABGB trat dann 1811 in Kraft. Die Besonderheit des
ABGB mit seiner aufklärerischen Prägung war, dass es viel „moderner“ als die
österreichische Realität zu dieser Zeit war. Es gab weithin kaum freies
Bürgertum, für das dieses Gesetz eigentlich gedacht ist. Erst 1848 mit der
Aufhebung der Gutsuntertänigkeit (dies ist in einigen Aspekten durchaus
vergleichbar mit einer Unfreiheit durch Bindung an die Scholle) drangen
freiheitliche Ideen in die österreichische Gesellschaft und fanden ihren
Widerhall in dem österreichischen ABGB.
Das ABGB mit seiner freiheitlich-individualistischen Grundhaltung entsprach
dann auch durchaus den Bedürfnissen, die mit der Industrialisierung und der
fortschreitenden Entwicklung der Wirtschaft einherging. Insoweit war ein
Rückgriff auf das römische Recht, wie in anderen Rechtsordnungen, die mit
der aufkommenden Verrechtlichung des Handels fertig werden mussten, nicht
erforderlich.
23
Seit 1835 kann man in der Entwicklung Österreichs erkennen, dass sich eine
besonders enge Beziehung des österreichischen Rechts zum deutschen Recht
entwickelt hat, die in diesem Maße in früherer Zeit nicht bestand. Es wäre
falsch zu denken, dass das österreichische ABGB im Prinzip nur eine
historische Vorausnahme der Entwicklungen in Deutschland gewesen ist.
Vielmehr hat es in Österreich eine von Deutschland sehr eigenständige
Entwicklung gegeben. Diese eigenständige Entwicklung ist allerdings aufgelöst
worden, als sich der österreichische Jurist Josef Unger kritisch mit dem
Verständnis des ABGB auseinander setzte. Unger war geprägt von der
Pandektenwissenschaft, die er in Deutschland kennengelernt hatte. Seine
Interventionen und die daran anschließende Diskussion brachten es mit sich,
dass es in österreichischen Lehrbüchern des ABGB nunmehr einen
allgemeinen Teil gibt, der typisch für die Pandektenlehre ist und sich in der
Entsprechung im deutschen BGB findet. Ein allgemeiner Teil ist allerdings
nicht in das österreichische ABGB aufgenommen worden.
2. Struktur des ABGB
a. Allgemeines
Das ABGB ist von dem Umfang und der Struktur her klarer und
übersichtlicher gestaltet als das damalige preußische Landrecht. Es hatte
allerdings nicht die Deutlichkeit und Präzision des „Code civil“. Es finden sich
im österreichischen Zivilgesetzbuch oftmals „belehrende“ oder
„theoretisierende“ Vorschriften, die an sich überflüssig sind und nur der
Anschaulichkeit dienen sollten. Tatsächlich machen sie diese Ausführung ein
wenig altbacken und oberlehrerhaft. So gibt es oft Definitionen, die keinen
juristisch-technischen Gehalt, sondern lediglich eine verdeutlichende und
belehrende Funktion haben. Dazu folgendes Beispiel: In § 45 ABGB wird das
Verlöbnis wie folgt definiert: „Ein Eheverlöbnis oder ein vorläufiges
24
Versprechen, sich zu ehelichen, unter was für Umständen oder Bedingungen es
gegeben oder erhalten worden, zieht keine rechtliche Verbindlichkeit nach
sich, weder zur Schließung der Ehe selbst, noch zur Leistung desjenigen, was
auf den Fall des Rücktritts bedungen worden ist.“ § 1297 BGB formuliert
dagegen knapp und sachlich: „Aus einem Verlöbnis kann nicht auf Eingehung
der Ehe geklagt werden. Das Versprechen einer Strafe für den Fall, dass die
Eingehung der Ehe unterbleibt, ist nichtig.“
b. Aufbau
Das ABGB besteht aus 1502 Paragrafen. Damit ist das Gesetzbuch relativ kurz
und lückenhaft gelungen. In den Jahren 1914 – 1916 gab es drei Teilnovellen
des ABGB, durch die das österreichische ABGB dem deutschen BGB vielfach
angepasst wurde. Insbesondere wurde das allgemeine Vertragsrecht, das Miet-
und Pachtrecht, das Dienstvertrags- und Werkvertragsrecht in Österreich der
deutschen Vorlage angepasst. Die Lückenhaftigkeit des AGBG wurde in
Österreich dazu benutzt, dass die Rechtsprechung eine große Bedeutung bei
der Konkretisierung des Rechts hat. Sie ist berufen, die offenen
Regelungslücken im Gesetz zu schließen.
Das österreichische ABGB ist wie folgt aufgebaut: Am Beginn des Gesetzes
steht eine Einleitung, die allgemeine Bestimmungen über das In-Kraft-Treten,
den Geltungsbereich, die Rückwirkung und die Auslegung von Gesetzen (u. a.
§ 7 ABGB) enthält. Der erste Teil des ABGB ist überschrieben mit „Von dem
Personen-Rechte“. Darunter werden vier Hauptstücke an Regelungen
eingeordnet. Das erste Hauptstück bezieht sich auf Rechte, welche sich auf
persönliche Verhältnisse und Eigenschaften beziehen. Darunter fallen u.a. die
Rechtsfähigkeit, die Stellung der „moralischen Person“, das Ausländerrecht
und das IPR (Letzteres ist 1978 neu geordnet worden). Das zweite Hauptstück
umfasst das Eherecht, das in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts
reformiert wurde. Das dritte und das vierte Hauptstück umfassen das
Kindschafts- und Vormundschaftsrecht.
25
Der zweite Teil des ABGB lautet „Von dem Sachenrechte“. Der erste
Abschnitt beschäftigt sich mit den dinglichen Sachenrechten, wie Besitz,
Eigentum, Pfand etc. und dem Erbrecht. Der zweite Abschnitt betrifft die
persönlichen Sachenrechte; das sind vor allem das Vertrags- und Deliktsrecht.
Dabei werden die Regeln unterteilt in einen allgemeinen Teil (das sind die
allgemeinen Regeln des Vertragsrechts) und in einzelne Vertragstypen (z. B.
Schenkung, Verwahrung, Leihe, Kauf etc.). Das Schadensersatzrecht findet
sich in der berühmten Vorschrift des § 1295 ABGB. Es handelt sich insoweit
um eine allgemeine Generalklausel, wonach jedermann berechtigt ist, von dem
Beschädiger den Ersatz des Schadens, welchen dieser ihm aus Verschulden
zugefügt hat, zu fordern.
Der dritte Teil des ABGB beschäftigt sich mit den gemeinschaftlichen
Bestimmungen der Personen- und Sachenrechte. Darunter wird die Verjährung,
die Ersitzung und die sog. „Verfestigung von Rechtsgeschäften“, wie z.B.
durch Bürgschaften oder Schuldübernahmen, geregelt. Ebenso finden sich im
dritten Teil des ABGB auch die Vorschriften über die Aufrechnung, über die
Zahlung und den Verzicht.
3. Vergleichende Betrachtung
Im Vergleich zum deutschen BGB ist das österreichische ABGB weit weniger
geordnet. Die Ausdrucksweise ist viel weniger klar und präzise und die
Gedankenführung ist nicht so stringent wie im deutschen Recht. Zudem fällt die
Lückenhaftigkeit der Regelung auf, deren Auffüllung vom österreichischen
Richter vorgenommen werden muss. Dafür ist das ABGB volksnäher geschrieben
und auch – jedenfalls zum Teil – von einem Laie zu verstehen. Das ABGB hatte
allerdings keine dem „Code civil“ entsprechende Ausstrahlungswirkung. Daher ist
die Verbreitung des ABGB auch insgesamt begrenzt gewesen. Als Vorbild hat es
im Wesentlichen nur in einigen Staaten gedient, die ihr Recht den ökonomischen
Erfordernissen Österreichs anpassen wollten. Zu diesen Staaten gehören Kroatien,
26
Bosnien-Herzegowina und Serbien. Nicht dazu zählt, sondern eine eigenständige
Entwicklung genommen, hat das ungarische Recht.
27
VI. Das schweizerische ZGB
1. Historische Entwicklung
Das schweizerische Zivilrecht kennt kaum eine Rezeption des römischen Rechts.
Vielmehr ist die Entwicklung auf kantonaler Ebene abgelaufen. Es handelt sich in der
Regel um volkstümliche, auf bodenständigem Gewohnheitsrecht basierende Regeln,
die von gewählten Laienrichtern innerhalb eines Kantons angewendet und von diesen
auch weiter entwickelt wurden. Es lässt sich in der Schweiz dabei eine gewisse
Zweiteilung erkennen. Die romanischen Kantone wie der Kanton Genf, der Kanton
Waadt und das Tessin tendierten eher zu Regelungen, die sich an den Code Civil
anlehnten. In den deutschsprachigen Kantonen entwickelten sich mit der Zeit zwei
Kodifikationen zum Zivilrecht, die führend waren. 1826/1832 entstand die Bernische
Kodifikation, die sich stark an das österreichische ABGB anlehnte. Diese Kodifikation
hatte Bedeutung in den Kantonen Luzern, Solothurn und Aargau. Ein anderes
privatrechtliches Gesetzbuch entwickelte sich im Kanton Zürich. Dieses wurde
maßgeblich von den Rechtsgelehrten Keller und Bluntschli entwickelt. Keller war
Schüler von Savigny, und beide Rechtsgelehrte waren Pandektenwissenschaftler, so
dass die Züricher Kodifikation stark von den Vorläufern des deutschen BGB geprägt
wurde. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstand in der Schweiz der Wunsch nach einer
Rechtsvereinheitlichung auf dem Gebiet des Zivilrechts. Dabei bestand aber von
Anfang an die Kontroverse zwischen einem starken Föderalismus mit eigenen
kodifikatorischen Ansätzen und einer Vereinheitlichung. 1881 entstand ein
einheitliches Obligationenrecht (OR), das sich an dem deutschen HGB von 1861 und
dem „Dresdner Entwurf“ für ein Zivilgesetzbuch von 1865 orientierte. Eine prägende
Besonderheit in der Schweiz war die Gründung des schweizerischen Juristenvereins
1861. In diesem Verein fanden alle wichtigen schweizerischen Juristen aus den
einzelnen Kantonen zueinander. Dieser Juristenverein entschloss sich 1984, zur
Vorbereitung einer Kodifikation zur Rechtsvereinheitlichung eine umfassende
Darstellung des Zivilrechts der einzelnen Kantone zu schreiben. Sie gaben dieses
Projekt als Auftrag an den Baseler Rechtsgelehrten Eugen Huber. Dieser erstellte in
28
nur wenigen Jahren das Werk „System und Geschichte des schweizerischen
Privatrechts“ (1886/1893). Vor dem Hintergrund dieser als besonders gelungen
angesehenen Zusammenfassung des Systems und der Entwicklung wurde Huber
beauftragt, ein ZGB zu entwickeln. Dieses ZGB wurde am 10.12.1907 angenommen
und trat zum 01.01.1912 in Kraft. Dieses ZGB wurde mit dem Obligationenrecht, das
angepasst wurde, verbunden und umfasste sodann 1936 auch das gesamte
Gesellschaftsrecht unter Einschluss des Aktienrechts und des GmbH-Rechts.
2. Struktur des ZGB
Das schweizerische ZGB gilt allgemein als gelungene Kodifikation. Eine im
deutschen BGB zu findende abstrakte Kasuistik wird ersetzt durch „bewusste
Unvollständigkeit“, was sein Vorbild im österreichischen ABGB findet. Das ZGB ist
ein leicht verständliches, lebensnah formuliertes Gesetz. Juristisch-technische
Fachausdrücke finden sich wenig, und Verweise auf andere Gesetzesvorschriften, wie
es typisch im deutschen BGB ist, wurden sehr zurückhaltend gewählt. Ziel des
Gesetzes war eine Verständlichkeit für die breite Masse. Dabei wurde aber nicht auf
die „geschichtenhafte“ Darstellung des österreichischen ABGB zurückgegriffen,
sondern ein eigenständiger Ansatz gewählt, der eine Kombination aus klarer, einfacher
Sprache und genauer Regelungstechnik beinhaltet, ohne aber dem deutschen abstrakt-
konstruierten Recht nahe zu kommen.
Das ZGB ist in fünf Teile untergliedert. Der erste Teil handelt von Regelungen über
die Personen. Dem schließt sich der zweite Teil mit dem Familienrecht an. Im dritten
Teil ist das Erbrecht geregelt, und der vierte Teil beschäftigt sich mit dem
Sachenrecht. Der fünfte Teil schließlich ist das Obligationenrecht des OR. Zwar ist das
schweizerische ZGB im Hinblick auf die Gliederung und einige konstruktive
Merkmale von der Pandektenwissenschaft beeinflusst worden, doch kennt das
schweizerische ZGB keinen vorgestellten allgemeinen Teil.
29
Ein Stilmerkmal des ZGB ist die bewusste Unvollständigkeit. Dadurch sind die
Richter und die Lehre in der Schweiz eingebunden, das Recht fortzuentwickeln und
damit den modernen Anforderungen zu genügen. Viele Vorschriften im
schweizerischen Recht bestehen daher aus Generalklauseln. Der Richter soll dann
durch Aufstellung von Standards und die Herausarbeitung typischer Fallgruppen das
Recht (lebensnah) konkretisieren. Diese besondere Stellung des Richters bei der
Ausgestaltung des Rechts erklärt sich vor dem Hintergrund der Besonderheiten der
schweizerischen Rechtspflege. Wegen der fehlenden Rezeption des römisch-
rechtlichen Denkens hat es in der Schweiz nur in einem geringen Maße eine
Verwissenschaftlichung im Hinblick auf die Rechtsentwicklung gegeben. Stattdessen
hat sich das Recht durch Richter entwickelt, die bei der Rechtsanwendung den
Charakter des Volkstümlichen und des Anschaulichen gewahrt haben. Die Richter
wurden und werden in den Kantonen vom Volk gewählt und haben daher eine
besondere Autorität. Diese Autorität wird genutzt, um Regeln allgemeinverbindlich zu
schaffen. Die Urteile, in denen die Richter das Recht fortentwickelt haben, schöpfen
ihre Autorität aus der persönlichen Qualität des Richters und aus der genauen
Subsumtion eines Sachverhaltes unter eine Norm oder einen Rechtssatz. Damit zeigt
sich das ZGB als eine interessante Mischung aus kodifiziertem Recht und aus
Richterrecht. Aufgrund der Kodifikation zählt das schweizerische Zivilgesetzbuch
allerdings zu den kontinentaleuropäischen Kodifikationszivilrechten.
30
VII. Der romanische Rechtskreis
1. Geschichte
Nach der Eroberung Galliens durch die Römer galt in Frankreich römisches Recht.
Dieses galt auch nach dem Ende des weströmischen Kaiserreichs 476 in Südfrankreich
als das für die Untertanen nicht germanischer Abstammung geltende Recht. Es wurde
aufgrund seiner Verfasstheit als „droit écrit“ bezeichnet. Im Norden Frankreichs wurde
dagegen durch die Franken das fränkische Gewohnheitsrecht eingeführt. Dieses wurde
in Frankreich „droit coutumier“ genannt. Die Trennung von „droit écrit“ und „droit
coutumier“ war in Frankreich zwar nicht ganz strikt, doch war sie für die rechtliche
Prägung im Norden und im Süden Frankreichs von erheblicher Bedeutung. Das
römische Recht wurde nur noch herangezogen, um den aufkommenden Handel
rechtlich bewältigen zu können.
Anders als in Deutschland gab es in Frankreich keine Totalrezeption des römischen
Rechts, die Franzosen haben es immer als inkooperierten Teil ihres Rechts angesehen.
Im 15. Jahrhundert ging man dazu über, im Norden Frankreichs die einzelnen
„coutumes“ aufzuschreiben. Diese Initiative ging 1454 auf König Karl VII. zurück. Er
machte mehr oder weniger grobe Vorgaben zur vereinheitlichten Aufzeichnung der
einzelnen „coutumes“. Ende des 16. Jahrhunderts waren alle wichtigen „coutumes“
nach den königlichen Vorgaben aufgezeichnet. Es entstanden ca. 60 „coutumes
générales“ und ca. 300 „coutumes locales“. Das Nebeneinander der „coutumes“ führte
zur Etablierung eines IPR, da geklärt werden musste, wie ein Fall zu behandeln war,
der Berühung mit mehreren „coutumes“ hatte. Mit der Zeit entwickelte sich die Pariser
Coutume zur wichtigsten Regelsammlung. Der Grund dafür lag darin, dass in Paris das
mächtigste Gericht Frankreichs war. Die Pariser Coutume hatte Leitwirkung und
wurde ab der Neufassung 1580 überall dort angewendet, wo es in den jeweiligen
lokalen „coutumes“ Lücken gab. Die Pariser Coutume hatte auch Vorrang vor dem
römischen Recht bei der Lückenfüllung.
31
In Frankreich hatten die praktischen Juristen eine entscheidende Bedeutung für die
Herausbildung eines gemeinsamen Zivilrechts. Der Rechtsgelehrte Dumoulin (1500-
1566) vertrat den Ansatz, dass das gemeine Recht in Frankreich die Gesamtheit der in
den verschiedenen „coutumes“ zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken sei. Vor
diesem Hintergrund kommentierte er die Pariser Coutume und arbeitete die dort
niedergelegten Prinzipien heraus. Damit war der Grundstock gelegt für eine
Vereinheitlichung des Zivilrechts in Frankreich. Hinzu kam die Arbeit des Gelehrten
Coquille (1523-1603), der die Prinzipien in seinem Werk „Institution au droit
français“ niedergelegt hat. Der Grund, warum sich in Frankreich die
Rechtsentwicklung an bestimmten praktischen Juristen orientiert hat und weniger von
den Universitäten stammte, war, dass Frankreich früh einen geordneten Stand von
Juristen herausgebildet hat, der an einer Zentralisierung der Justiz beim König
interessiert war. Der Pariser Gerichtshof war daher die Zentrale der Juristen in
Frankreich. Diese zentrale juristische Gewalt wurde gestützt durch die Vererblichkeit
und Verkäuflichkeit des Richteramtes im 15. und 16. Jahrhundert.
Zwei weitere französische Rechtsgelehrte haben dann die Entwicklung des
französischen Zivilrechts entscheidend vorangetrieben. Zum einen war dies Bourjon
mit seinem Werk „Le droit commun de la France et la coutume de Paris reduits en
principes“ von 1720 und Pothier (1699-1772), der als Kenner des „droit écrit“ und des
„droit coutumier“ bekannt war. Letzterer schrieb Abhandlungen über das
Obligationenrecht, das Kaufrecht und das Mietrecht.
Trotz des bestehenden Gegensatzes von „droit écrit“ und „droit coutumier“ setzte sich
langsam die Idee eines „droit coutumier commun“ oder kurz „droit français“ durch.
Mit dem Zusammentreten der „Assemblée Constituante“ 1789 und der Übernahme der
Staatsgewalt durch Napoleon 1799 galt in Frankreich für 10 Jahre das sog. „droit
intermédiaire“. In diesen 10 Jahren wurden zentrale Änderungen des französischen
Rechts durchgesetzt. Dabei sollten sich die Ideale der französischen Revolution auch
im Recht widerspiegeln. Eine zentrale Forderung der Revolution war die Schaffung
eines bürgerlichen Rechts. 1793 legte der französische Rechtsgelehrte Cambacères den
32
ersten Entwurf eines solchen bürgerlichen Gesetzbuches mit 697 Artikeln vor. Dieser
galt als viel zu umfangreich und kompliziert. 1794 legte er einen zweiten Entwurf mit
nur 297 Artikeln vor, der allerdings wiederum als zu einfach angesehen wurde. Kurz
darauf, 1796, legte Cambacères dann den dritten Entwurf vor. Die Beratung über den
dritten Entwurf wurde durch die Machtübernahme Napoleons unterbrochen. Napoleon
interessierten die Arbeiten an einem „Code civil“ sehr und brachte eigene Ideen ein. Er
war die treibende Kraft an der Erstellung eines französischen Zivilrechts. 1804 wurde
der „Code civil“ verabschiedet.
2. Die Bedeutung des „Code civil“
Der „Code civil“ nimmt auf Grund der historischen Bedeutung und der
Ausstrahlungskraft, die er besitzt, die erste Stelle der (damaligen) Kodifikationen ein.
Der „Code civil“ wollte die Ideale der Freiheit und der Gleichheit verwirklichen, doch
muss man bei genauerer Betrachtung die Ideologie, die mit dem „Code civil“
einhergeht und die Wirklichkeit auseinander halten. Hinter der Fassade des
revolutionären Gesetzgebungswerks finden sich vielfach konservative Strömungen,
die auf der Behauptung alter Rechtstraditionen basieren. Vielfach ging der „Code
civil“ hinter die Errungenschaften des „droit intemédiaire“ zurück. Zum Beispiel
wurde die Testier- und Schenkungsfreiheit, die im Hinblick auf die Zerschlagung von
Grundbesitz nach der französischen Revolution zunächst aufgehoben wurde, wieder
eingeführt. Auch die Aufhebung des elterlichen Zustimmungserfordernisses zur Heirat
bei Volljährigen, die vor dem Hintergrund des Freiheitspostulats der Französischen
Revolution durchgesetzt wurde, wurde wieder aufgegeben. Damit wollte Napoleon
den patriarchisch organisierten Familienverband schützen.
Der „Code civil“ basiert auf vernunftsrechtlichen Ideen, insbesondere, dass eine
Ordnung des Rechtsstoffes die Grundlage für eine rationale Ordnung der Gesellschaft
darstellt. Der „Code civil“ stellt eine Symbiose von „droit écrit“ und „droit coutumier“
dar. Das „droit écrit“, das seine Wurzeln im römischen Recht hat, ist im gesamten
33
französischen Vertragsrecht aufgegangen, und zwar so, wie es von Pothier bearbeitet
wurde. Das „droit coutumier“, nämlich das der Pariser Coutume, beeinflusste das
Familien- und Erbrecht des „Code civil“. Da das „droit coutumier“ im Kern auf
germanische Rechtsgedanken zurückzuführen ist, finden sich im französischen „Code
civil“ interessanterweise eine ganze Reihe von germanischen Rechtsprinzipien, wie z.
B. die Zulassung des Eigentumerwerbs kraft guten Glaubens gemäß Art. 2279 „Code
civil“. Es wird darauf hingewiesen, dass der „Code civil“ mehr von germanischen
Gedanken geprägt ist als das deutsche Recht des BGB, das viel mehr der römisch-
rechtlichen Tradition gefolgt ist.
Wichtig ist für das französische Recht auch das Verhältnis des Richters zu den Regeln
des „Code civil“. Das „droit intermédiaire“ verfolgte eine strikte Trennung der
Gewalten und verlangte von dem Richter die pure Gesetzesanwendung, ohne eigene
Interpretation. Der „Code civil“ setzte diese Tradition zwar im Grundsatz fort, doch
war er insoweit moderner, als er es den Richtern gestattete, das Recht dort zu
ergänzen, wo Lücken gelassen wurden oder wo er zur Ergänzung direkt aufgefordert
wurde. Das beste Beispiel ist das französische Deliktsrecht der Art. 1382-1386. Diese
Regeln sind Generalklauseln, die vom Richter einzelfallbezogen auszuführen sind. Der
Möglichkeit des Richters, Gesetzesrecht auszulegen, steht die Unmöglichkeit
gegenüber, dass der Richter privat gesetztes Recht (also Verträge) auslegt. Hier ist der
französische Richter einer erheblichen Zurückhaltung unterworfen.
3. Aufbau des „Code civil“
Der „Code civil“ besteht aus einem Einführungstitel (der wiederum aus sechs Artikeln
besteht) und den Rest des Ansatzes eines „Livre préliminaire“ darstellt. Das erste Buch
des „Code civil“ (Des personnes) besteht aus den Artikeln 7 – 515. Im Einzelnen sind
dort geregelt:
- Vorschriften über die Innehabung der bürgerlichen Rechte
- Regeln über den Erwerb und den Verlust der französischen Staatsangehörigkeit
- Rechtsstellung von Ausländern
34
- Zivilstandsregister
- Wohnsitz / Verschollenheit / Eheschließung / Scheidung / Kindschaft / Adoption /
elterliche Sorge / Vormundschaft
Das zweite Buch umfasst die Art. 516 – 710 (Des biens, et des différentes
modifications de la propriété). Geregelt wird hier u. a.
- Allgemeine Regelungen über bewegliche und unbewegliche Sachen
- Sachbestandteile
- Eigentum an Sachen/Nießbrauch
- Wohnrechte/Nutzungen
- Dienstbarkeiten
Das dritte Buch des „Code civil“ ist mit Abstand das umfangreichste und umfasst die
Art. 711 – 2279 (Des différentes manières dont on acquiert la propriété). Im dritten
Buch werden geregelt:
- Erbfolge
- Schenkung (die in Frankreich als besondere Form des Erwerbs von Eigentum
verstanden wird)
- Vertragsrecht allgemein (Geschäftsfähigkeit, Vertragsauslegung, Aufrechnung,
Formvorschriften, Beweisrecht)
- Bereicherungs-, Deliktsrecht
- Ehegüterrecht
- Einzelne Verträge (Kauf, Tausch, Miete, Werkvertrags-, Dienstvertragsrecht)
- Gesellschaft
- Darlehen/Verwahrung/Auftrag
- Verjährung
35
Das vierte Buch des „Code civil“ umfasst die Art. 2284 – 2488 (Des sûretés) und
regelt u.a.
- Bürgschaft
- Sicherungsrechte (Hypothek / Pfand / Zurückbehaltungsrechte)
Der französische „Code civil“ stellt eine charakteristische, von einer Aufklärungsidee
getragene Kodifikation dar. Sie ist in vielerlei Hinsicht von Emotionen getragen, dabei
aber durchaus nicht emotional geprägt. Zwar findet man im „Code civil“ des Öfteren
sehr viel mehr emotional geprägtere Regelungen als z. B. im BGB oder im
österreichischen ABGB, doch stellt der „Code civil“ bei Licht betrachtet eine
konservative, wenngleich für die damalige Zeit sehr fortschrittliche Kodifizierung dar.
Der „Code civil“ hat in der Welt einen erheblichen Einfluss genommen. Viele andere
Zivilrechte, vornehmlich in Staaten, die romanisch geprägt sind, wie Spanien oder
Italien, haben sich am „Code civil“ orientiert. Er ist von seiner Sprache her
verständlich und weit weniger abstrakt als das deutsche BGB. Die Systematik ist
geprägt von dem früheren „droit écrit“ und „droit coutumier“. Der „Code civil“ stellt
damit gleichsam das Gegenmodell zum römisch-rechtlich geprägten BGB dar.
36
Das anglo-amerikanische Rechtssystem
I.
Die Entwicklung des englischen Common Law
Die englische Rechtsentwicklung nimmt ihren für heute maßgeblichen Ursprung in der Zeit
des Normannenkönigs Wilhelm I, der nach seinem Sieg 1066 in England ein gleichförmiges,
straff geordnetes Lehnswesen aufbaute, das auf den König als den obersten Lehnsherrn
ausgerichtet war. Wilhelm I. gab sein gesamtes Grundvermögen an rund 1500 seiner
wichtigsten Gefolgsleute aus, die einen Treueid auf ihn schwören mussten und das ihnen
überlassene Land gegen die Leistung bestimmter Dienste und gegen Zahlung von Steuern
entweder selbst nutzen oder anderen, untergeordneten Personen, zur Nutzung überlassen
durften. Diese Vorstellung, dass der Krone das Land zustehe und der Einzelne in Bezug auf
ein bestimmtes Grundstück nur Inhaber eines beschränkten Nutzungsrechts sein kann, gilt in
England bis heute. Der straffe Aufbau bildete die Grundlage einer gut funktionierenden
Zentralverwaltung, wobei seit 1086 die gesamten Besitzverhältnisse des Landes in einem
Reichsgrundbuch (domesday book) aufgezeichnet wurden. Die von Lehnsträgern eingehenden
Steuerzahlungen wurden von der so genannten curia regis (später scaccarium regis) geprüft.
Allerdings waren diese Ämter keine reine Prüfungsbehörden, sondern sie entschieden auch
mit dem Steuerwesen zusammenhängende Rechtsfragen, so dass diese Ämter allmählich den
Charakter eines Gerichts annahmen. Die königliche Verwaltung interessierte sich danach
mehr und mehr auch für zivilrechtliche und strafrechtliche Fragen, die zunächst aber immer
einen Zusammenhang mit fiskalischen Gründen hatte. Die curia regis beschäftigte sich daher
mehr und mehr mit privaten Rechtsstreitigkeiten. Im Laufe der Zeit wuchs die königliche
Justiz im 12. und 13. Jahrhundert zu einer allgemeinen Gerichtsbarkeit von breitem Zuschnitt
heran. Dies führte dazu, dass sich aus der curia regis nach und nach drei ständige, mit
Berufsrichtern besetzte, auch ohne die königliche Anwesenheit funktionsfähige
Zentralgerichte mit Sitz in Westminster entwickelten. Damit war eine Entwicklung
eingeleitet, die im Laufe der folgenden Jahrhunderte zu einer starken Zentralisierung der
Justiz und zu einer fortschreitenden Vereinheitlichung des in England geltenden Rechts
37
geführt hat. Die Rechtsprechung, die von den lokalen Gerichten der Städte und Feudalherren
ausgeübt wurde, ging in ihrer Bedeutung immer mehr zurück. Der Grund dafür lag darin, dass
die Richter das königsgroße Ansehen genossen und aus königlicher Autorität heraus
handelten. Zudem, weil die Verfahren der Königsgerichte wie auch die von der königlichen
Justizverwaltung gewährten Klagen moderner und fortschrittlicher waren als die der örtlichen
Gerichte. Gemeinsam mit dem Vordringen der königlichen Gerichte ging die allgemeine
Zurückdrängung der noch aus angelsächsischer Zeit überkommenen Rechtsgewohnheiten. So
ist in England schon sehr früh ein einheitliches – und aus diesen Gründen Common Law
genanntes – Recht entstanden. Eine Entsprechung findet sich in Frankreich als droit commun
francais erst im 16. Jahrhundert und in Deutschland als gemeines Recht erst im 19.
Jahrhundert. Dies ist bedeutsam, weil ein wesentliches Motiv der Kodifikationsidee, nämlich
dem praktischen Bedürfnis nach Rechtsvereinheitlichung, in England nie eine Rolle gespielt
hat.
Für die englische Rechtsentwicklung ist es wichtig, dass sich das Recht entlang bestimmter
Verfahrensformen vor den Gerichten entwickelt hat. Das mittelalterliche Gerichtsverfahren
war gekennzeichnet von den so genannten writs. Ein solcher writ war ein Befehl des Königs,
mit dem er unter kurzer Kennzeichnung des Streitgegenstandes den zuständigen
Justizbeamten, Richter oder Gerichtsherren anwies, einen bestimmten Beklagten vor sein
Gericht zu laden und die Sache in Gegenwart der Parteien zu verhandeln. Solche writs wurden
auf einseitigen Antrag des Klägers ohne Anhörung der Beklagten gegen Zahlung einer
Gebühr im Namen des Königs von seinem höchsten Justizbeamten (Chancellor) ausgestellt.
Da immer wieder gleiche Sachverhalte von den Antragstellern zur Grundlage ihres
Klagebegehrens gemacht wurden, entwickelten sich für den Text der einzelnen writs sehr bald
standardisierte, in der Praxis mit charakteristischen Kurznamen bezeichnete Formen (forms of
action), in die jeweils nur noch Namen und Wohnorte der Parteien eingesetzt zu werden
brauchten. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts hatten sich in der Übung des Chancellor
ungefähr 75 feststehende writs herausgebildet, die sich im 13. und 14. Jahrhundert noch
erheblich vermehrten. Sie wurden dann in einem Verzeichnis, den registers of writs,
zusammengefasst, die unter den praktizierenden Juristen weite Verbreitung fanden. Es war
entscheidend, dass der Kläger sich vor der Einleitung des Prozesses sorgfältig überlegte,
welche Klageformel auf den gegebenen Sachverhalt passte, und ihm zur Durchsetzung seines
Klagebegehrens verhelfen konnte. Die Wahl war deshalb wichtig, weil bei der Wahl eines
falschen writs die Klage abgewiesen werden musste. Hinzu kam, dass für jedes writ
38
besondere Verfahrensregeln bestanden. Dieser Umstand hat es den Chancellor und den
Richtern erlaubt, bestimmte writs mit modernen Beweisverfahren auszurüsten und so die
Königsjustiz für das Publikum attraktiv zu machen. Insbesondere haben die königlichen
Justizbeamten bei einzelnen Klagetypen von den allmählich als antiquiert empfundenen
Beweismethoden des Gottesurteils (z.B. durch Zweikampf) und des Reinigungseids
abgesehen und stattdessen die Tatsachen und Feststellung einer aus zwölf Geschworenen
bestehenden curie übertragen. Die Befugnis, immer neue writs zu erlassen, hatte allerdings
zum Nachteil, dass eine disziplinierte Rechtsfortbildung schwieriger wurde. Im statute of
Westminter II von 1285 machte man daher den Versuch, die Befugnisse des Chancellor und
seiner Behörde näher zu umreißen. Wesentlich war dabei, dass für Streit und Zweifelsfälle das
Parlament zuständig sein sollte.
Gegen Ende des 14. Jahrhunderts schwächte sich der rechtsschöpferische Elan der
Königsgerichte allmählich ab. Es zeigte sich, dass das Verfahren dieser Gerichte in vielen
Fällen zu schwerfällig und formalistisch, das anzuwendende Recht durch die writs starr und
zu lückenhaft war und dass die Prozesse oft wegen bestochener Zeugen oder durch
prozessuale Tricks nicht voran gingen. Es entwickelte sich daher eine Praxis, dass diejenigen,
die einen writ nicht erhalten hatten, häufig den König baten, durch königlichen Befehl eine
andere Person zu dem Verhalten zu zwingen, das durch das Gericht nicht erreicht werden
konnte. Der König pflegte solche Bittschriften zur Erledigung an seinen Chancellor
weiterzuleiten, der beurteilen musste, ob in dem betreffenden Fall dem Bittsteller „for the love
of God and the way charity“ Gnade erwiesen werden sollte. Daraus entwickelte sich
allmählich die Praxis, dass die Bittschriften unmittelbar dem Chancellor vorgelegt wurden,
dessen Entscheidungspraxis sich im Laufe der Entwicklung zu einem Komplex besonderer
Rechtsregeln verfestigt hat, die man seit dem 15. Jahrhundert und noch heute in England unter
dem Begriff „equity“ zusammenfasst. Mit der Zeit entwickelte sich bei dem Chancellor ein
besonderes Verfahren, das sich von dem der Königsgerichte erheblich unterschied.
Da es bei dem Verfahren bei dem chancellor darauf ankam zu prüfen, ob der von dem
Antragsteller erhobene Vorwurf eines unmoralischen und gewissenlosen Verhaltens zu Recht
bestand, spielten die formalen Beweisregeln des königsgerichtlichen Verfahrens keine Rolle:
Der Gegner des Petenten musste unter Eid dem Chancellor zu dem gesamten Sachverhalt
Rede und Antwort stehen. Über alle Tatsachen und Rechtsfragen entschied der Chancellor
ohne Beteiligung einer Jury. Dadurch entwickelte sich ein ganz neues Rechtssystem, das die
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Grundlage für das heute englische Verfahren zur Findung von Recht darstellt. Im 16.
Jahrhundert entwickelte sich die equity-Praxis mehr und mehr nach bestimmten Regeln und
Doktrinen, auf die der Chancellor bei ähnlichen Sachverhalten immer wieder zurückgriff. Als
man gegen Ende des 16. Jahrhunderts damit begann, die Entscheidungen des Chancellor
regelmäßig zu veröffentlichen, dauerte es nicht mehr lange, bis er sich an seine Präjudizien
ebenso gebunden fühlte wie die Richter der ordentlichen Gerichte an die ihren. Die
Verselbstständigung der Tätigkeit des Chancellor führte dazu, dass ein besonderer Court of
Chancery gebildet wurde, dem ab 1730 nicht nur der Chancellor, sondern auch sein
ranghöchster Untergebener, der master of the rolls, angehörte. Im 18. Jahrhundert waren die
vom Court of Chancery angewandten Rechtsregeln, die in ihrer Summe equity genannt
wurden, in gleicher Weise kasuistisch verfestigt wie auch die Regeln des Common Law.
Unter equity ist daher nicht nur ein Komplex allgemeiner Billigkeitsgrundsätze, sondern ein
Teil des materiellen Rechts zu verstehen, das sich von sonstigem materiellen Recht dadurch
unterscheidet, dass es in der Rechtsprechung eines besonderen Gerichts, nämlich des Court of
Chancery, entwickelt worden ist. Aus der equity-Rechtsprechung sind eine Reihe von
Rechtsbehelfen entwickelt worden, die auch das Common Law beeinflusst haben. Eine
besondere Bedeutung hat dabei der vorläufige Rechtsschutz durch so genannte injunctions
gespielt. Damit hatte der Chancellor die Möglichkeit, bestimmte Rechtsfragen zu klären,
bevor durch einen tatsächlichen Akt die Grundlage für die Klärung entfallen ist. Die equity-
Regeln befanden sich allerdings nicht im offenen Widerspruch zum Common Law und
verdrängten es nicht. Vielmehr kann man sagen, dass das equity-Recht gleichsam nur
Marginalien, Glossen und Zusätze zum Common Law enthielt, die allerdings manchmal von
größerer Wichtigkeit waren und die Regeln des Common Law insoweit ergänzten. Es gilt die
Faustformel, dass man sich das englische Recht zwar ohne equity, aber nicht ohne Common
Law vorstellen kann.
Im Rahmen des Common Law und des equity wurden dann die jeweiligen Rechtsprobleme,
die im zivilen Leben auftraten, zunächst nach Auffassung des jeweiligen Richters und dann
nach der Tradition bereits entschiedener Fälle fortentwickelt. Um Rechtssicherheit zu
erzeugen, galt die strikte Bindungswirkung an vorhergehende Entscheidungen. Um von einem
früheren Fall abweichen zu können, musste dem Gericht gezeigt werden, dass der konkrete
Fall entweder im Sachverhalt oder in der rechtlichen Beurteilung von dem Vorgängerfall
abwich (distinguishing in fact oder distinguishing in law). Diese Arbeiten wurden alsbald in
England von einem professionalisierten Berufsstand ausgeübt. Der Juristenstand hat sich in
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England bereits früh ausgebildet. Dabei fand schon früh eine Unterscheidung zwischen
denjenigen Juristen statt, die geschäfts- und rechtserfahrene Parteiberater waren, und
denjenigen, die sich auf mündliche Gerichtsverhandlungen spezialisiert haben. Die
juristischen Praktiker organisierten sich seit etwa dem14. Jahrhundert in Zünften und Gilden
(Inns of Court). Anders als auf dem europäischen Kontinent ist die Ausbildung der Juristen in
England nicht nur von den Universitäten vorgenommen worden, sondern bis in das 19.
Jahrhundert hinein hatten die Inns of Court ein Monopol in der Rechtserziehung in England.
Aus diesem Grund ergibt sich die starke praktisch-empirische Verankerung der Ausbildung
der englischen Juristen, die auf Wissenschaftlichkeit weniger Wert legten. Dies ist eine
Besonderheit des englischen Rechtssystems, weil die wissenschaftliche Deduktion, um
Gesetze auszulegen, weniger notwendig war als der praktische Umgang mit Fällen. Die bei
Gericht auftretenden Rechtsanwälte nennt man barrister und die übrigen Anwälte, die nicht
vor Gericht auftreten, sind die attorneys. Bedeutsam ist also, dass die rechtliche Entwicklung
in England von den Praktikern getragen wurde, die weit weniger ein theoretisches
Grundgerüst für das Rechtssystem suchten, sondern stets einen pragmatischen Ansatz
verfolgten. Dieser Hintergrund des englischen Rechtswesens macht verständlich, warum es in
England nie zu einer umfassenden Rezeption des römischen Rechts gekommen ist. Zwar hat
das Common Law schon seit frühester Zeit vielfältige Kontakte mit dem Civil Law gehabt,
doch ist die Entwicklung des englischen Rechts weitgehend eigenständig verlaufen. Einen
etwas stärkeren Einfluss hatte das römische Recht auf das Handels- und Seerecht ausgestrahlt,
das in das law merchant eingeflossen ist. Dabei ist allerdings zu bemerken, dass im anglo-
amerikanischen Recht Hansdelsusancen weit mehr Einfluss genommen haben als reine
römisch-rechtliche Dogmatik. Aus Sicht der Engländer wird das Common Law von dem
Gedanken getragen, dass es seiner wesentlichen Funktion nach auf die Gewährleistung von
Freiheit angelegt ist und damit die – auf dem europäischen Kontinent der Verfassung
zugewiesene – Aufgabe erfüllt, den Bürger vor Zugriffen einer absoluten Obrigkeit zu
schützen.
Im Gegensatz zu den anderen Staaten in Europa hatte die Napoleonische Epoche kaum einen
direkten Einfluss auf das Rechtssystem. Indirekt führte der ökonomische Niedergang in
Europa nach der Napoleonischen Zeit allerdings dazu, dass das dahin bereits weit entwickelte
englische Wirtschaftssystem in eine Krise kam, die zu erheblichen sozialen Missständen
führte. Rechtlich reagierte man darauf, dass soziale Reformen eingeführt wurden (the age of
reform). Der geistige Vordenker dieses Zeitalters ist der Jurist Jeremy Bentham (1748-1832).
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Er war der führende Kopf jener Denkrichtung, die die überlieferten Institutionen der
Gesellschaft kritisch darauf hin prüfen wollten, ob sie geeignet waren, zweckmäßig und
nützlich seien, das zentrale Ziel einer jeden Zentralordnung, nämlich „das größte Glück der
größten Zahl“ zu erreichen. Die Ansätze Benthams sind von großem Einfluss auf die
englische Rechtspraxis des 19. Jahrhunderts gewesen. Sein Ruf nach Kodifikation des
Common Law fand allerdings keinen Widerhall. Denn für den praktischen Sinn und das
Zunftsinteresse der englischen Juristen stand es außer Frage, dass man Common Law nicht
durch ein Gesetzbuch ablösen kann, das am grünen Tisch ausgearbeitet und an bestimmten
sozial-philosophischen Leitvorstellungen orientiert ist. Allerdings haben die Vorstellungen
von Bentham einen wichtigen Einfluss auf die Kodifikation von Einzelgesetzen, die sich nach
und nach auch in England durchsetzten, gehabt. Eine der ersten und wichtigsten Kodifikation
ist der Judicature Act von 1873, der 1875 in Kraft getreten ist und der eine große Prozess- und
Gerichtsverfasssungsreform beinhaltet. Die zahlreichen bis dahin ganz unverbunden
nebeneinander stehenden Gerichte wurden nun unter dem Dach eines einheitlichen Supreme
Court zusammengefasst, der aus dem High Court of Justice und dem Court of Appeal besteht.
Innerhalb des High Court wurden mehrere Abteilungen gebildet, von denen jede auf
Rechtsstreitigkeiten spezialisiert ist, die früher in die ausschließliche Zuständigkeit eines
selbstständigen Gerichts oder mehrerer solcher Gerichte fielen. Dabei spielen die Queen’s
bench Division und die Chancery Division die größte Rolle. Der zweite wesentliche Schritt
der Reform bestand darin, dass sie eine Verschmelzung der Rechtsmassen des Common Law
und der equity bewirkt hat. Darunter ist zu verstehen, dass alle Abteilungen des High Court
ebenso wie der Court of Appeal sämtliche Regeln und Grundsätze des englischen Rechts –
ohne Rücksicht darauf, ob sie at law oder in equity entwickelt worden sind, in gleicher Weise
anzuwenden haben.
Das materielle Recht ist im19. Jahrhundert durch gesetzgeberischen Eingriff stärker als je
zuvor verändert worden. Hervorzuheben sind neben dem Judicature Act der Bill of Exchange
Act (1882), der Partnership Act (1890) und vor allem der Sale of Goods Act von 1897. Diese
Gesetze haben sich allerdings nicht so verstanden, dass sie Recht neu schaffen wollten,
sondern sie verstehen sich als geordnete Zusammenfassung bereits bestehender, in der
Gerichtspraxis entwickelter Regeln des Common Law. Daher ist es zulässig, bei Zweifeln
über den Inhalt einer Vorschrift auf die Gerichtsentscheidung zurückzugreifen, die vor dem
Inkrafttreten dieser Gesetze erlassen worden ist. In jüngerer Zeit haben sich auf modernen
Gebieten, wie der Sozialgesetzgebung, auf der es früher kein case law gab, eigenständige
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Kodifikationen entwickelt. Zudem hat das Europarecht bewirkt, dass die scharfe Trennung
zwischen state law und statute law immer mehr verwischt wurde. Gleichwohl bestehen
grundlegende Unterschiede zwischen dem englischen und Civil Law.
Eine der wichtigsten Unterschiede des Rechts besteht in der rechtlichen Arbeit am Fall.
Kontintal-europäische Jusristen suchen durch die Auslegung von Gesetzen und einer
deduktiv-wissenschaftlichen Argumentation den Richter davon zu überzeugen, dass ein
bestimmter Sachverhalt unter einen gesetzlich geregelten Tatbestand fällt. Im englischen
Recht fällt diese Technik aufgrund des fehlenden Gesetzesrechts weg. Daher ist es im
Grundsatz für die Rechtsanwendung in England wichtig, so genannte Präzedenzfälle zu
finden, also Fälle, deren Sachverhalt mit dem tatsächlich nun zur Entscheidung anstehenden
Sachverhalt vergleichbar ist. Wegen der Bindungswirkung an vorhergehende Urteile muss das
Gericht dann den Fall entsprechend entscheiden wie den früheren. Diese Bindungswirkung
nennt sich Stare Decises-Doctrine. Sie besagt, dass jedes untergeordnete Gericht an die
eigenen Entscheidungen und an die Entscheidungen der übergeordneten Gerichte gebunden
ist. Auch eine Bindungswirkung der oberen Gerichte an untere Gerichte kann im Einzelfall
bestehen. Die Kunst der Rechtsanwendung im englischen Recht besteht dann darin, den
Richter davon zu überzeugen, dass der vorliegende Fall in bestimmter Hinsicht doch von dem
vorherigen Fall abweicht. Diese Abweichung kann bestehen in tatsächlicher Hinsicht oder in
rechtlicher Hinsicht. Die Technik, dieses herauszuarbeiten, nennt sich distinguishing, wobei
man unterscheidet zwischen distinguishing in fact und distinguishing in law. Bei dem
distinguishing in fact zeigt man, dass sich die Tatsachen unterscheiden, so dass die
Rechtsfolge auch nicht identisch sein darf; beim distinguishing in law wird gezeigt, dass trotz
eines gleichen Sachverhalts aufgrund bestimmter Besonderheiten die rechtliche Bewertung
anders lauten muss. Zentrale Bedeutung hat im englischen Recht das so genannte pleeding,
also das Vortragen vor dem Richter. Ganz anders als z.B. im deutschen Recht hat der Richter
im englischen Recht nicht die Aufgabe, den Sachverhalt so zu ermitteln, dass er von Amts
wegen zu einer Entscheidung kommen kann, sondern es ist Sache der Parteien, alle Umstände
vor Gericht darzulegen, die notwendig sind, damit der Richter eine Entscheidung fällen kann.
Aus diesem Grund hat die praktisch-rhetorische Ausbildung in England einen viel größeren
Stellenwert als in Deutschland, wo es auf den Vortrag bei Gericht nicht in dem gleichen Maße
ankommt.
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Die Verbreitung des Common Law
Das Common Law hat durch das Commonwealth eine sehr starke Verbreitung in der Welt
gefunden. Die Verknüpfung mit den jeweiligen früheren Commonwealth Staaten macht sich
insbesondere daran deutlich, dass auch heute noch in vielen Staaten das höchste Gericht zur
Entscheidung bestimmter Fragen in London sitzt.
Zentrale Bedeutung für die Rechtswelt hat die Rezeption des englischen Common Law im
US-amerikanischen Recht gewonnen. Von den Wurzeln her ist das US-amerikanische Recht
ähnlich aufgebaut wie das englische Recht, doch hat das US-amerikanische Recht eine
erhebliche eigenständige Entwicklung genommen. Diese Entwicklung ist gekennzeichnet
durch das Bundesstaatensystem und dem gewissen Wettbewerb der Rechtssysteme in den
einzelnen Bundesstaaten. Zudem hat sich die Kodifikationsidee in den USA stärker
durchgesetzt, weil keine entsprechende Tradition der Juristenschaft wie in England in den
USA bestand. Auch das Gerichtssystem ist zwar vom Grundsatz her in den USA vergleichbar
mit dem in England, doch weicht es mittlerweile stark von diesem ab. Aus diesem Grund
kann man zwar von einem anglo-amerikanischem Recht sprechen, doch wäre es genauer, das
englische Recht und das US-amerikanische Recht genau voneinander zu trennen, weil sie im
Wesentlichen nur die Wurzeln gemein haben.
Der nordische Rechtskreis
1. Allgemeines
Häufig wird der nordische Rechtskreis bei der Rechtsvergleichung nicht betrachtet. Das ist
allerdings ein Fehler, denn der nordische Rechtskreis hat Besonderheiten, die sich sonst in den
übrigen Rechtskreisen nicht oder nicht in dem Maße finden. Das nordische Zivilrecht wirft
zunächst die Frage auf, ob es sich um „Common Law“ handelt oder ob es eher „Civil Law“
ist. Aufgrund der geringen Rolle des römischen Rechts in Skandinavien gibt es nämlich im
Wesentlichen keine zusammenfassende Zivilrechtskodifikation wie den „Code Civil“ oder das
BGB. Zugleich basiert das nordische Recht allerdings auch nicht auf einer
Rechtsprechungstradition wie z.B. in England.
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Das nordische Recht umfasst das Recht Islands, Finnlands, Norwegens, Schwedens und
Dänemarks. Der Grund für die einheitliche Entwicklung des Rechts in diesen Staaten liegt
darin, dass sie in der Geschichte immer wieder untereinander, wenngleich in verschiedenen
Konstellationen, verbunden waren. So bildeten beispielsweise Dänemark, Norwegen und
Schweden die Kalmarer Union (1397-1523). Finnland war lange Zeit Teil des schwedischen
Königreiches, und die westskandinavische Staatengruppe (Island, Norwegen, Dänemark)
stand lange unter der Vorherrschaft Dänemarks.
In den nordischen Staaten herrschte früher ein altgermanisches Recht, das aber durchsetzt
wurde von örtlichen skandinavischen Entwicklungen. Ab ca. dem 12. Jahrhundert wurde
vereinzelt lokales Recht aufgeschrieben, und im 14. Jahrhundert wurden in Schweden das
erste Mal diese lokalen Rechtssammlungen zu einem einheitlichen Landrecht vereinigt. In
Dänemark fand in einem gewissen zeitlichen Abstand dieselbe Entwicklung statt. Unter
König Christian V. wurde 1683 das für die nordischen Staaten bedeutende „Danske Low“
verabschiedet. Es schloss sich daran das „Norske Lov“ in Norwegen an. Sowohl das dänische
als auch das norwegische Sammelwerk war in sechs Bücher eingeteilt, die aber den gesamten
Rechtsbereich umfassten und nicht nur auf das Zivilrecht beschränkt waren. Im Einzelnen
wurde geregelt:
Rechtspflege
Geistlichkeit
Weltlicher Stand, Handel, Eherecht
Seerecht
Übrige Vermögensrechte und Erbrecht
Strafrecht
1734 wurde in Schweden eine ähnliche Gesetzessammlung erlassen, das „Sveriges Rikes
Lag“. Diese Sammlung umfasste ca. 1300 Vorschriften. Sowohl das Gesetzeswerk in
Dänemark/Norwegen als auch das in Schweden sind einfach, anschaulich und in volkstüml
sich kaum theoretische Verallgemeinerungen.
Obwohl die Rechtsentwicklung in den nordischen Staaten eigenständig verlief, so findet sich
doch eine Verbindung zur Entwicklung in Deutschland. Diese Entwicklung vollzog sich
entlang der Universitäten in Deutschland, da viele nordische Rechtsgelehrte ihre Studien in
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Deutschland, insbesondere an den protestantischen Universitäten aufnahmen. Dies hatte eine
wichtige Folge, vor allem in Schweden: Dort wurden die beiden wichtigsten Gerichte, der
„Svean Hofrätt“ durch Berufsrichter besetzt, die in Deutschland römisches Recht studiert
hatten und dadurch die Rechtsentwicklung in Schweden davon ausgehend in den nordischen
Ländern beeinflussten. Allerdings hatte das römische Recht hauptsächlich Einfluss in den
Bereichen des Vergaberecht, des Bürgerschaftsrechts, des Gesellschafts- und Konkursrechts.
Trotz dieser Entwicklung findet man im schwedischen Gesetzbuch von 1734 allerdings keine
Einflüsse römischen Rechts. Aufbau, Stil, Sprache und die Kasuistik knüpfen in diesem Werk
an alte schwedische Traditionen an.
Sowohl das dänisch/norwegische Gesetzbuch von 1683/1687 als auch das schwedische
Gesetzbuch von 1734 sind bis heute nicht formal aufgehoben. Die meisten Regelungen sind
jedoch ersetzt worden durch ein modernes Recht. Auch in Skandinavien hatte die
Französische Revolution einen großen Einfluss auf das politische Denken. Es darf nicht
übersehen werden, dass trotz der relativ fortschrittlichen Rechtstradition die nordischen
Länder zum Teil sehr konservative absolutistische Herrschaftssysteme hatten. Die
Französische Revolution führte dazu, dass 1826 ein Vorschlag zur Schaffung eines
Zivilgesetzbuches für die nordischen Länder ähnlich dem „Code Civil“ vorgelegt wurde.
Diese Kodifikation hat sich aber nicht durchsetzen können, sondern es sind nur einige
Gedanken daraus durch die Rechtsprechung realisiert worden.
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts findet eine noch stärkere Zusammenarbeit der nordischen
Staaten bei der Gesetzgebung statt. 1872 wurde die Versammlung skandinavischer Juristen in
Kopenhagen gegründet. Diese Versammlung skandinavischer Juristenentwickelte eine ganze
Reihe von Einzelrechten, die für den ganzen nordischen Raum gelten sollten. So wurde 1880
in allen nordischen Staaten ein Wechselrecht eigeführt, es folgten 1880 ebenfalls Regeln über
das Handelsregister, die Firma und Scheckrechte. 1891/93 wurde das Seerecht kodifiziert.
Das Projekt eines einheitlichen ZGB wurde 1899 wieder aufgenommen, doch es gibt nur
einen Entwurf eines Gesetzes über den Kauf beweglicher Sachen. Dieser Entwurf wurde in
Schweden 1905, in Dänemark 1906, in Norwegen 1907 und in Island 1922 umgesetzt. Diese
Kodifikation zeichnet sich durch Klarheit und Praxisbezug aus, so dass viele Regelungen
dann als Vorbild für das moderne UN-Kaufrecht dienten. Zwischen 1915 und 1918 trat in den
einzelnen nordischen Staaten das Gesetz über Verträge und andere Rechtsgeschäfte auf dem
Gebiet des Vermögensrechts in Kraft. Inhaltlich entspricht dieses Gesetz dem allgemeinen
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Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches. Darüber hinaus finden sich nur noch in Einzelfragen
gemeinsame Kodifikationen. Die anderen Fragen werden anhand der allgemeinen durch die
Rechtsprechung entwickelten Regeln gelöst.
2.
Die typischen Merkmale der nordischen Gesetzgebung im Bereich des Zivilrechts sind die
Nüchternheit und Klarheit der Regeln und ein praktischer Bezug. Dieser Ansatz wird auch
skandinavischer Realismus genannt. Die Besonderheit im nordischen Recht liegt in der
Mentalität der Skandinavier, die weniger auf Auseinandersetzung und Streit als auf
Kompromiss und den Sinn für das in der Realität Machbare beruht. In einer Gesellschaft, in
der es weniger darum geht, wer Recht hat, bedarf es auch eines ganz anderen Ansatzes zur
Gestaltung von Recht. In Skandinavien wird in einem viel größeren Umfang auf
Streitvermeidung Wert gelegt als auf die dann entstehende Streitentscheidung.
Mit der Zeit wurde in Skandinavien auf anderen, eher handelsrechtlich geprägten Gebieten,
das Recht vereinheitlicht. Auf der Grundlage der gemeinsam kodifizierten Gesetze hat sich
dann ein einheitliches skandinavisches Vertragsrecht entwickelt. Allerdings ist auch ein
weiterer Versuch 1948 gescheitert, ein skandinavisches Zivilgesetzbuch zu entwickeln.
Vielmehr wird das Zivilrecht in Skandinavien durch Richterrecht, mit Analogien und
Rechtsfortbildung entwickelt. Die Rechtsvereinheitlichung wird durch des sog. „Nordischen
Rat“ gewährleistet, der 1952 eingerichtet wurde. Dieser „Nordische Rat“ sorgt dafür, dass
eine Rechtsvereinheitlichung in Skandinavien stattfindet, die allerdings darauf Rücksicht
nimmt, dass es in Skandinavien viel weniger eine Streitkultur gibt als in den anderen
europäischen Ländern.