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Charle s Baude la ir e
Samtliche Werke/Briefe
In acht Banden
Herausgegeben von
Friedheim Kemp und Claude Pichois
in Zusamrnenarbeit mit
Wolfgang Drost
Band 5
Zweitausendeins
I
i
Aufsatze zur
L iteratu r u nd Ku nst
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Ubersenongea VOIl F ri ed he im K em p u nd B ru no S tre iff
Kommenrar von Wolfgang Drost. Friedheim Kemp
nnd Ulcike Riechers.
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehnugung
des Carl Hanser Verlages.
© 1989 Cui Hanser Ver lag Muncben Wiefl .
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Zweitauscndeins V.er~[ld in Frankfurt.
He r sr e tl u ng d e c L i ze n za u sg a b e.
Dieter Kohler c-Becnd Leberfinger, Nordlingen.
Druck: Bronner &Daentler, Eichstatr.
Ell'lband: G.ychmmaier, Reutlingen.
Urns ch la g r Ange lo Marabese.
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ISBN 3-86'C50-094-9
BRIEFE
I856~I860
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men werden, die Sie rnir liebenswiirdigerweise gewahrt haben. Ich
wiinscne von ganzem Herzen, er moge haufiger Veranlassung zum
Staunen und zum Entzucken finden, als ich bei gewissenhafrer
Prufung gefunden habe, Die edlen und vonrefflichen Kunstler, auf
die ich mich vorhin berufen habe, werden sprechen wie ich: Aufs
Ganze gesehen, viel Fertigkeit und Geschick, doeh sehr wenig Ge-
nie! Und das sagt aile Welt. Leider bin ich einer Meinung mit aller
Welt. Wie Sie sehen, rnein lieber M*", war es hochst uberflussig,
das zu erklaren, woriiber jeder von ihnen wie wir denkt. Mein
einz iger Trost ist, daIS es rni r vielle ichr gelungen ist, in der Erorte-
rung dieser Gemeinplarze zwei oder dre i Personen gefallen zu ha-
ben, die mich erraten, wenn ich an sie denke, und zu denen sich zu
zahlen ieh Sie herzl ich bit te .
Ihr sehr ergebener Mirarbeite r und Freund.
212
DER MALER DES MODERNEN LEBENS
Das Schone, die Mode und das Gluck
Es gibr in der Welt, und sogar in der Welt der Kiinstler, Leure, die
in das Museum des Louvre gehen, dort an einer Menge berner-
kenswerrer, wenn aucb zu/eitrangiger Werke, rasch und ohne
ihnen einen Blick zu gounen, vorbeilaufen, vor einern Tizian oder
Raffael in rraumeri sches Sinnen versinken, einern jener Bilder, die
der Kupferstich uberallhin verbreitet hat, und endlich befriedigt
davongehen, wobei rnehr als einer sich sagt: »Ich kenne mein
Musem.« Es gibr auch Leute, die, da sie einstrnals Racine und
Bossuet gelesen haben, sich in der Literaturgeschichte auszuken-
nen glauben.
Zurn Gluck treten Yon Zeit zu Zeit andere Leute auf, die begange-
nes Unrecht wiedergutmachen, Kritike r, Kunst freunde, neugierige
Geister, welche die Ansicht vertreten, daR Raffael, daR Racine
nicht alles fiir sich gepachret haben, daIS auch bei den poetae
minores sich manches Gute, Tiichtige und Kostliche finder, und
darl, unbeschadet aller Liebe zu der allgemeinen Schonheir, wie sie
bei den klassischen Diehtern und Kunstlern zum Ausdruck
kommt , man nichtsdestoweniger unrechr hat, die eigene, besonde-
re Schonhei t, die Schonhei t des Zufiil ligen und die Sit tcnschi lde-
rung zu vernachlassigen.
lch muE freilich zugeben, darl die Wei t sich seit einigen J ahrenetwas gebessert hat . Die Wertschatzung, welche die Kunstl iebha-
ber heute den liebenswurdigen, farbigen Stichen des lerzren jahr-
hunder ts enrgegenbringen, beweisr , daIS ein Geschrnackswandel
stattgefunden hat in der Richrung, die der Offentlichkeit nottat;
Debueourt, die Saint-Aubin und manche andere haben in das Ver-zeichnis der Kunstler, die des Studiums wiirdig sind, Aufnahme
gefunden. Doch sie srellen Vergangenes dar, wahrend ich mich
heure dem Sirtengemalde unserer jetzigen Zeit zuwenden mochre.
Die Vergangenheit fesselt uns nicht nur durch die Scbonheit, wel-
che die Kunsrler, fur die sie Cegenwarr war, ihr zu entlocken
wufsren, sondern auch als Vergangenheit, ihres geschichtlichen
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Wertes wegen. Das g1eiehe gilt von der Gegenware ..Das Vergnii-
gen, das uns die Darstellung der Gegenwart versehafft, entspringr
nicht nur der Schonheit, worein sie sieh kleiden mag, sondern
auch ihrer wesentlichen Eigenschaft als Gegenwarr.
Vor rnir liege eine Serie von Modekupfem, die mit der Revolution
beginnen und etwa beim Konsulat endigen. Von diesen Kostii-
men, welche manche gedankenlosc Leute zum Laehen bringen -
jene ernsthaften Leute ohne wahren Ernst -, geht ein zweilacher,
ein kiinsrlerischer und ein historischer Reiz aus. Sehr oft sind sieschon und geistreich gezeichnet, was mir jedoch ebenso wichrig
erscheinr und was ich ghicklicherweise in allen oder doch fast
allen wiederfinde, das ist die Moral und Asrhetik ihrer Zeit. Die
Vorstellung, die der Mensch sich von dem Schonen machr, teilt
sich seiner ganzen Aufmaehung mit, sie knittert oder strafft seinen
Anzug, rundet oder streckt seine Gebarde, und bringt auf die Dau-
er sogar gewisse Veranderungen in seinen Gesichtszugen hervor,
SchlieBlieh gleieht der Mensch dem, was er sein mochte. Diese
Stiche konnen nach dem Schonen oder nach dem HaBlichen hin
ausgelegt werden; nach dem HalSlichenhin werden sie zu Karika-turen, nach dem Schonen hin zu antiken Stamen.
Die Frauen, die diese Kostume trugen, glichen bald diesen, bald
jenen, je nach dem Grad an Poesie oder Gewohnlichkeit, der sie
kennzeichnete, Was uns allzu srarr erscheint, umfloB den lebendi-
gen Korper, Noch heute kann die Einbildungskraft des Betrach-
ters diese Tunika oder diesen Shawl schwungvoll einherschreiren
sehen. Und wer weif, eines schonen Tages wird auf irgendeinem
Theater ein Stuck gespielt, in dem wit [ene Kosttime wiederaufer-
stehen sehen, darin unsere Vater sieh ebenso bezaubernd vorka-
men wie wir in unseren armseligen Kleidern (die freilich ebenfalls
ihren Reiz haben, wenn aueh einen von eher moralischer und
geisriger Art), und wenn kluge Schauspieler und Schauspielerinnen
sie tragen, werden wir erstaunt sein, dars wir so torichr sein konn-
ten, dariiber zu lachen, Ohne die Pikanterie des Gespenstischen
einzubiilien, wird die Vergangenheit Lichr und Bewegung des Le-
bens wiedergewinnen und Gegenwarr werden.
Wiirde ein unparreiiseher Mensch alle franzosischen Moden eine
urn die andere durchblattern, von den Ursprungen Frankreichs bis
zum heurigen Tag, er wiirde nichts finden, das ihn sehockierte
oder auch nur uberraschte. Allenrbalben fande er, wie in der Tier-
welt, eine Fulle der Ubergange und Abstufungen. Keine Lucke,
also auch keine Oberrasehung. Und wiirde er der Vignette, die
jede einzelne Epoche darstellt, den philosophischen Gedanken bei-
fugen, der sie am uachhaltigsten beschaftigre und bewegte - wel-
cnen Gedanken die Vignette uns unfehlbar ins Gedachtnis zuriiek-
ruft -, so sahe er, welche tiefe Harmonie samtliche Glieder der
Geschichte regiert und daB, selbst in den Jahrnunderten, die unsvon Greueln und Narrheiten zu wimmeln scheinen, das unsrerb-
liche Verlangen naeb dem Schonen sters seine Befriedigung gefun-
den hat.Hier bieret sich wahrhaftig eine scnone Gelegenheit, eine vernunf-
rige, gescnichtlicbe Theorie des Schonen aufzustellen, im Gegen-
satz zu der Theone des einzigen und absoluten Schonen; urn dar-
zulegen, daB das Schone jederzeit unweigerlich ein Doppeltes ist,
ob auch der Eindruek, den es hervorruft , einheidieb ist. Denn die
Schwierigkeit, die unrerschiedlicben Bestandteile des Schonen in
der Einheit des Eindrucks zu unterscheiden, verrnindert urn nichtsdie Notwendigkeit, daf es sich aus Verschiedenartigem zusarn-
menserzt, Das Schone bestehr aus einem ewigen, unveranderlichen
Element, dessen Antell aullerst schwierig zu bestimmen isr, und
einem relativen, von den Umstanden abhangigen Element, das,
wenn man so will, eins urns andere oder insgesamt, die Epoche,
die Mode, die Moral, die Leidenschaft sein wird. Ohne dieses
zweite Element, das wie der unrerhalrende, den Gaumen kitzelnde
und die Speiselusr reizende Oberzug des gottl ichen Kuchens ist ,
ware das erste Element unverdaulich, unbestimmbar, der mensch-
lichen Natur unangepafit und unangernessen. Ich bezweifle, daB
sich irgendein Probestiiek des Schonen auffinden WIt, das nieht
diese beiden Elernente enthalt,
Ich greife einmal die beiden entgegengesetzten Enden der Ge-
schichte heraus. In der hierarischen Kunst erscheint die Zweiheit
auf den ersten Blick; das ewig Schone offenbart sich our mit Ge-
nehmigung und uach Vorschrift der Religion, welcher der Kiinst-
let angehorr. Und im frivolsten Werk eines raffinierten Kiinsrlers,
der einer jener Epochen angehort, die wit allzu eitel als zivilisicrte
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beeeichneo, kommt diese Zweiheit nieht minder zum Ausdruck,
der Anteil des ewig Schonen erscheint bier verhiillt, modifiziert
durch den Zeitgeschmack oder das schopterische Temperament
des Kiinsders. Die Zweiheir der Kunst ist eine unausweichliche
Folge der menschlichen Gespaltenheir. Man betrachre deshalb,
wenn man So will, den ewig gleichbleibenden Anteil als die Seele
der Kunst, das veranderlichc Element aber als ihren Kerper. Dar-
urn ist Stendhal, ein unverschamter, streitsiichriger, ja abstoliender
Geist, dcssen Unverschdrntheiren jedoch zu nurzlichern Nachden-
ken anregen, der Wahrheit naher gekommen als viele andere,
wenn er sagt, dall das Schone nur die V er he i{ Su ng d es G lU ck es s ei.
Gewirs geht diese Definition ubers Ziel hinaus; sie unterwirft das
Schone zu sehr dem unendiich veranderlichen Ideal des Gliicks; sie
beraubr das Schone allzu leichtfertig seines aristokratischen Cha-
rakters, sie hat jedoch das grolle Verdienst, sich entschieden Yom
Irrturn der Akaderniker zu distanzieren.
Ich habe diese Dinge schon mehr als einrnal erklarr; fUr diejenigen,
welchc diese Spiele des abstrakten Geistes lieben, sagen diesc Zei-
len genug, Da ich jedoch weirs, dall die rneisren franzosischen
Leser daran keinen Gefallen finden, drangt es mich, zu dem wirkli-
chen, sachlichen Teil meines Vorhabcns zu kornmen,
nDas Sittenbild
Fur die Schilderung der Sircen, des biirgerlichen Lebens und der
Mode in allen ihren Erscheinungsforrnen is! das raschesre und
wohlfeilste Mittel offensichrlich das beste, Je rnehr Schonheit der
Kunstler in sie hineinlegt, desto kosrbarer wird das Werk sein;
doch irn gewohnlichen Leben, im ragl ichen Wandel der Aufenwelr
liegt schon eine derart schnelle Bewegung, dall sie den Kiinst!er zu
einer gleich raschen Ausfuhrung notigt, Die mehrfarbigen Stiche
des achtzehnten jahrhundens sind, wie ich schon sagre, wieder in
Mode gekornmen; das Pastell, die Radierung, die Aquatinta haben
eine ums andere ihren Beitrag 21 1 jenem ungeheuren Bilderschatz
des modernen Lebens gelieferr, der in den Bibliorheken, den Map"
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pen der Kunstliebha ber und hinter den Scheiben der armlichsten
Kramladen verstreut ist. Als die Lirhographie erschien, zeigte sie
sich alsbald dieser gewaltigen, dern Anschein nach so leichtfcrti-
gen Aufga be gewachsen, Wir besitzen in dieser Gartung wahrhaf-
te Denkrnale. Mit Recht hat man Gavarnis und Daurniers Werke
als Erganzungen zu der .M en sc h l ic he n Komod ie bezeichnet, Balzac
selber wire, meiner festen Uberzeugung nach, wohl geneigt gewe-
sen, dem zuzustimmen, zumal dieser Gedanke urn so treffender ist,
als das Genie des malenden Sir renschilderers eines von gernischterArt ist, da ibm ein Gurteilliterarischer Geist beigegeben ist, Beob-
achter, Flaneur, Philosoph, wie man ihn auch nennen mag, unwei-
gerlich wird man, urn dies en Kiinstler zu kennzeichnen, sich ver-
anlafsr sehen, ihm ein Epirheton beizulegen, das auf den Maler
ewiger, oder zumindesr dauerhafterer, heroiscber und religioser
Gegensrande nieht anwendbar ware. Zuweilen ist er Dichter; of-'
ters nahert er sich clem Romancier oder Moralisten; er ist der
Maler der Gelegenheit und alles dessen, was sie an Ewigem uns
ahnen [alk J edes Land hat, zu seinem Vergnugen und seinem
Ruhm, einige dieser Manner besessen, In un serer heutigen Zeit
sind Daumier und Gavarni die ersten Namen, die einern einfal-
len; hinzufugen [ieflen sich Deveria, Maurin, Nurna. als Schilderer
der zweideutigen Reize der Restaurationszeit, ferner Wattier,
Tassaert, Eugene Larni, dieser schon beinah Englander kraft seiner
Ybrliebe fiir das aristokratische Gehabe, und sogar Trimolet und
Travies, diese Chronisren der Armut und des kleinbiirgerlichen
Lebens.
III
Der Kiinsrler
Mann von Welt, Mann der Menge und Kind
Ich rnochte das Publikum heure von einem sonderbarcn Manne
unterhalten, so stark und entschieden in seiner Eigenart, dars sie
sich selbst genugr und nicht einmal nach Anerkennung strebt.
Keine seiner Zeichnungen ist signiert, wenn mao das Signatur
nennt: diese leichr nachzuahmenden Buchsraben, die einen Namen
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darstellen und mi t deren Geprange manch einer seine gleichgiilt ig-
sren Skizzen versieht. Aber alle seine Werke tragen die Signarur
seiner funkelnden Personlichkeit, und die Kunstliebhaber, die sie
gesehen und geschatzt haben, werden sie nach rneiner nun folgen-
den Schilderung leicht wiedererkennen. Ein groBer Liebhaber der
Menge und des Incognito, treibt M. C. G. die Originalirar bis ZUr
Bescheidenheir, Thackeray, der, wie man weilS, sich gerne mit
Kunsrdingen befafh, und der die Illustrationen zu seinen Romanen
seiber zeichner, hat eines Tages in einem kleinen Londoner Blatt
von M. G. gesprocben. Dieser war dariiber so verargert, als harte
man sein Schamgefiihl verletzt. Kiirzlich noch, als er erfuhr, daIS
ich mich mit der Absicht trug, eine Wurdigung seines Geistes und
seines Talents zu verfassen, bat er mich, mit hochst gebieterischen
Worten, seinen Namen zu unrerdriicken und von seinen Werken
nur wie von den' Werken eines Unbekannren zu sprechen. Ich
werde diesern wunderlichen Ansinnen untertanig gehorchen. Der
Leser und ich, wir werden uns stellen, als glaubten wir, es gabe
keinen M. G., und wir werden un s mit s ei ne n Z e ic h nu n ge n llnd
Aquarellen, fur die er die Verachtung eines Parriziers bekundet,beschaftigen, als waren wir Gelehrte, welch e die Aufgabe hatten,
kostbare hisrorische Dokumente zu beurteilen, die der Zufall ih-
nen in die Hande gespielt hat und deren Autor in alle Ewigkeit
uubekannr bleiben wird. ja, urn rnein Gewissen ganzlich zu be-
schwichtigen, soil hier von der Annahme ausgegangen werden,
daf] alles, was ich tiber sein so selrsam, so geheimnisvoll funkeln-
des Weseo zu sagen habe, mehr oder minder z ur re ff en d a us den in
Frage stehenden Werken erschlossen ist; reine dichteriscbc Hypo-
these, Mutmatsung; Hervorbringung der Einbildungskrafr,
M. G. ist alt. Von Jean-Jacques heigt es, er habe mit zweiundvier-
zig zu schreiben begannen. Viel leichr stand M. G.' in eben diesem
Alter, als er, besessen von all den Bildern, die er im Kopf trug,
verwegen genug war, Tusche und Farbe auf ein weifses Papier zu
serzen, Die Wahrheit zu sagen, er zeichnete wie ein Barbar, wie ein
Kind, das sieh uber die Unbeholfenbeit seiner Finger und die Wi-
derspenstigkeit seines Werkzeugs argert, Ich ha be eine grofie Zahl
dieser prirnitiven Klecksereien gesehen, und ic h gestehe, daIS es fiir
die meisten von denen, die Kenner sind oder doch auf Kenner-
'-18
scbaft Anspruch erheben, keine Schande gewesen ware, wenn sie
das zukiinftige Cenie, das in diesen wirren Versuchen wohnte,
verkannt batten. Heute ist M. G., der sich ganz allein aller kleinen
Schliche des Handwerks bernachtigt und ohne fremde Ratschlage
seine eigene Erziehung vollendet hat, ein seine Mittel beherrschen-
der Meister geworden und hat von seiner ersten Unbeki lmmer theit
nur eben soviel beibehalten, als es bedarf, urn seinen reichen Fa -
higkeiten eine unerwartete Wiirze hinzuzufugen. Trifft er auf ei-
nen dieser Versuche aus seinen [ugendtagen, so zerreifit oder verbrennt er ihn in einem hochst belustigenden Anfall von Scham
oder Emporung.
Zehn Jahre lang war es mein Wunsch, M. G. kennenzulernen, der
von Natur aus ein grolSer Reisender und wirklicher Kosmopolit
ist. Ich wulire, daIS er lange Zeit fur eine englische illustrierre
Zeitung gearbeitet und da.l l man dort Holzsriche nach seinen Rei-
seskizzen (Spanien, Turkei, Krim) veroffenrlicht hatte. Ich habe
seirher eine betrachtliche Menge dieser an Orr und Stelle hinge-
worfenen Zeichnungen gesehen und war sornit imstande, einen bis
ins kleinste genenden, raglichen Bericht von dem Feldzug auf derKrim zu lesen, der jedern anderen vorzuziehen war. Dieselbe Zei-
tung harte auch, srets unsigniert, zahlreiche Darsrellungen dessel-
ben Kiinstlers nach neuen Ballett- und Opernszenen veroffcnt-
licht, Als ich ihm endlich begegnete, entdeckte ich als ersres, daIS
ich es nicht eigentlich mit einem Kunstler, sondern eher mit einem
Mann von Welt zu run harte. Man verstehe das Wort Kiinstler
hier bitte in einem sehr engen, das Won Mann von Welt in einem
sehr weiten Sinne. Mann von Welt, das heillt ein Mann der ganzen
Welt, ein Mann, der die Welt versteht und die geheimnisvollen
tieferen Grunde all ihrer Sitten und Gebrauche begreift; Kunstler,
das heilSt Spezialist, ein Mann, der mit seinen Malutensilien so
verhaftet ist wie der Leibeigene mit der Scholle. M. G. hort sich
nicht gerne einen Kimstler nennen. Mit einem gewissen Recht,
scheint mir. Ihn inreressiert die ganze Welt; er rnochte alles erfah-
ren, verstehen, schatzen, was sich auf der Oberflacne unseres
Spharoids ereignet. Der Kunsrler lebt kaum, oder auch gar niche,
in der rnoralischen und politischen Welt. Wer im Bredaviertel
wohnr, weif nicht, was im Faubourg Saint-Germain vor sieh geht,
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Bis auf zwei oder drei Ausnahmen, die zu nennen sich eriibrigt,
sind die meisren Kunsrler, offen gesranden, grobscblachtige Kon-
ner, Rinke Pfuseher, deren Verstand nichr iiber den eines Dorflers
oder Katners hinausreichr, Ihr Gesprach, das sich unausweichlich
auf einen sehr engen Kreis beschrankt, wird dem Mann von Welt
und universalen Geist sehr rasch unertraglich.
Wem es darum zu tun ist, M. G. zu verstehen, der beachte deshalb
vor allem folgendes: daf die kiinstleri sche Neugier als der Punkt
gelten kann, von dern sein Genie seinen Ausgang nirnmr.Erinnern Sie sich eines Cernaldes (ja, wahrhaftig, eines Gerna].
des!), das wir einer der fahigsten Federn unserer Zeit verdanken
und des den Tirel fiihrt: Der Mcmnder Mmge? Hinter dern Fenster
eines Cafehauses sitzt ein Genesender und betrachtet genulivoll
die Menge; in Gedanken mischt er sich in alle Gedanken und
Vorstellungen, die um ihn her wogen. Val kurzern erst dem Schar-
tenreich des Todes entronnen, atmet er mit Wonne aile Keime und
aile Aussrromungen des Lebens ein; da er im Begriff stand, alles zu
vergessen, erinnerr er sich und brennt vor Verlangen, sich aller
Dinge zu erinnern. Zuletzt sturzt er sich in die Menge, einemUnbekannten nach, dessen fluchrig wahrgenommenes Gesieht ihn
unversehens in Bann gescblagen hat. Die Neugier ist zu einer
schicksalhafren, unwiderstehlichen Leidenschafr geworden!
Man denke sieh einen Kiinstler, der sich innerlieh unablassigim
Zustand eines Genesenden befindet, lind man hat den Schlussel Zll
M. G. 's Charakter.
N un is! die Genesung aber wie eine Ruckkehr in die Kindheit, Der
Genesende erfreur sich, wie das Kind, im hochsten Grade der
Fahigkeit, selbst an den scheinbar alltaglichsten Dingen den leb-
haftesten Anteil zu nehmen, Muten wir, sow e it sich dies tun Jallt,
unserer Einbildungskraft eine Riickwendung zu, lassen wir unsere
jugendlichsten, unsere morgendlichsten Eindrucke wieder erwa-
chen, und wir werden erkennen, daf sie eine seltsarne Verwandr-
schaft mit den farbenkraftigen Eindrucken haben, die uns sparer
nach einer korperl ichen Erkrankung zutei l wurden, vorausgeserzt,
daB diese Krankheit unsere geisrigen Fahigkeiren nicht getriibt
und beeintrachtigt hatte. Das Kind sieht alles als Neuheit; es ist
imrner trunken. Nichrs gleicht dem, was man Inspiration nennt,
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mehr als die Freude, mit der das Kind Form und Farbe einsaugr,
Ich wage es, noeh weiter zu gehen, ich behaupte, daf die Inspira-
tion eine gewisse Verwandtscbaft mit der Kongestion hat, und daB
jeder erhabene Gedanke von einer mehr oder rninder starken Er-
schurterung-der Nerven begleiter ist, die bis in das Kleinhirn nach-
wirkt. Del geniale Mensch hat kraftige, das Kind hat schwache
Nerven. Bei dem einen behaupter die Vernunft einen berrachtli-
chen Ra urn; bei dem anderen nimmt das Gefuhlsleben fast das
ganze Wesen ein. Nun ist aber das Genie nichts anderes als dieioiedergefundene Kindbeit, die jetzt, wenn sie sieh ausdriicken
will , mit mannlichen Organen und einern analytischen Geist aus-
gestattet i st, der sie befahigt , all das viele unwi llkur lich angehdufte
Material zu ordnen, Diese tiefe und freudige N eugier verleihr den
Kindem den gespannren, anirnalisch verzuckten Blick vor dem
Neuen, was es auch sein mag, Gesicht oder Landschaft, Licht,
Vergoldung, Farben, schillcmde Stoffe, Verzauberung der durch
ihre Toilette verschonten Schonheit. Einer rneiner Freunde erzahl-
te mir eines Tages, daB er, als er noch sehr klein war, einrnal der
Toilette seines Vaters beigewohnr und dall er darnals die Arrnmus-keln, die Farbabsrufungen der vom Rosigeo ins Gelbe spielenden
Haut und das blauliche Adernnetz mit wonnevollem Schauder
betrachtet habe. Das Bild des iiuBeren Lebens floBte ihrn schon
damals Ehrfurcht ein und bemachdgre sich seines Denkens, Schon
war er der Form verfallcn und von ihr besessen. Die Vorherbe-
stimmung liell friihzeirig ihre Nasenspitze blicken, Die Verdamm-
ni s war ausgesprochen. Brauche ich noeh zu erwahnen, daiS dieses
Kind heute ein beriihmter Maler ist? .
Ieh bat Sie soeben, M.G. als jemanden zu betrachten, der sich
unaufhorlich irn Zustand del Genesung befindet, nehrnen Sie ihn,
um Ihre Vorstellung zu vervollstandigen, aueh fur einen kind-
lichen Menschen, einen Mann, der in jeder Minute die Genialitat
der rGndbeit besitzr, das heiBt einen Genius, dec keiner Erschei-
nung des Lebens je abgesrurnpfr gegenubertr ir t.
Ich sagte bereits, es widerstrebe mir, ibn einen reinen Kiinsrler zu
nennen, und daB er selber sich gegen diese Bezeiehnung mit einer
Van arisrokratischer Scheu getiinten Bescheidenheir wehre. Ich
wilrde ihn gerne einen Dandy nennen und harte dafiir einige gute
H
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Griinde; denn [emanden als Dandy zu bezeichnen, heHlt, ibm ein
Auflerstes an Charakter und eine hohe Einsicht in das moralische
Triebwerk der Welt zuschreiben; anderseits jedoch strebt der Dan-
dy nach Unernpfindlichkeit, und hinsichtlich dessen ist M. G., den
cine unersartliche Leidenschafr beseelt, die narnlich, zu sehen und
zu fiihlen, von jedem Dandysmus meilenweit entfernt. Amabam
amare, sagte der heilige Augustinus. »Ich liebe leidenschaftl ich die
Leidenschaft«, wurde M. G. gerue sagen. Der Dandy ist blasiert,
oder srellr sich dach so, aus Politik und Kastengeist, M. G. verab-
scheut die blasierten Leute. Er beherrscht die so schwere Kunst
(die verfeinerten Geister werden mich verstehen), aufrichtig zu
sein, ohne sich liicherlich zu machen, lch wurde ihn gerne mit dem
Namen eines Philosophen schmiicken, auf den er aus mehr als
einem Grund ein Anrecht hat, wenn seine unmaliige Liebe zu den
sichcbaren, grei fbaren, zur Gestalt verdichteren Dingen ihrn nicht
einen gewissen Widerwillen gegen jene einfiogte, die das unkor-
perliche Reich des Meraphysikers bilden. Belassen wir es deshalb
dabei, ihm das Verhalten cines reinen rnalerischcn Moralisten, wie
La Bruyere, zuzuschreiben.Die Menge ist sein Bereich, wie die Lufr der des Vogels, das Was-
ser der des Fisches ist, Seine Leidenschaft und sein Beruf ist es, sicb
mit der Menge ZII uermahlen: Fur den vallendeten Flaneur, den
leidenschaftlichen Beabachter is! es ein ungeheurer Genull, Auf-
enthalt zu nehmen in der Vielzahl, in dem Wagenden, in der Bewe-
gung, in dem Fluchtigen und Unendlichen. Draufsen zu sein, und
sich doch uberall zu Hause Zll fuhlen, die Weir zu sehen, mitten in
der Welt zu sein, und doch VOl der Welt verborgen zu bleiben,
solcherarr sind einige der geringsten Vergniigungen dieser unab-
hangigen, leidenschaftlichen, unparreiischen Geister, die naher zu
bezeichnen der rechte Ausdruck feb It. Der Beobachrer iSI ein
Furst, der iiberall sein lnkognito geniegt. Der Liebhaber des Le-
bens rnacht sich die Welt zur Familie, wie der Liebhaber des scho-
nen Geschlechrs sich seine Familie aus allen gefundeoen, erreich-
baren und unerreichbaren Schonheiten bildet; wie der Liebhaber
von Bildern in einer Zauberwelt der Traume Lebt, die auf Lein-
wand gemalt sind. 50 vereinigt der Liebhaber des All-Lebens sich
mit der Menge, als trate er mit einem ungeheuren Vorrat an Elek-
trizitat in Verbindung. Auch mit einemSpiegel lafse er sich verglei-
chen, ebenso unabsehbar wie diese Menge selbst; oder mit einem
Kaleidoskop, das mit Bewulltsein ausgesratter ware und das uns
[edes Mal, wenn man es schuttelt, das Leben in seiner Vielfalt und
die bewegl icbe Anmut aller Lebensclcmente erblicken lagt. Er ist
ein Icb, das unersartlich nach dem Nicbt-lcb verlangt , und dieses
in jedem Augenblick wiedergibt, es in Bildern darstellt, die leben-
diger sind als das irnmer unbestandige und flucbrige Leben selbst.
»[eder Mensch«, sagre-MvG. eines Tages be; einem jener Gespra-
che, die er durch seinen scharfen Blick und cine beschworende
Geste erhellt, »jeder Mensch, den nicht ein so schwerer Kummer
druckt, dall er alle Fahigkeiten in ihm ausloscht, und der sich
inmitten der Menge langu/eilt, ist ein Dummkopfl ein Dummkopf
und ich verachte ihn!«
Wenn M. G. erwachend die Augen aufschlagr und sieht, wie das
pral le Sonnenlicht seine Fensterscheiben best iirmr, uberkommen
ihn Reue und Bedauern: »Welch ein gebieterischer Befehl! welche
Fanfare des Lichtesl Licht uberall, schon seit mehreren Stunden!
Licht, das icb verschlafen habe! Wie viele lichterhellte Dinge harteich sehen konnen, die ieh nicht gesehen habe!« Schon ist er unter-
wegs! und er sieht das stromende Leben in schimmernder Majestat
voriiberziehen. Er bewundert die ewige Schonheit und die er-
staunliche Harmonie des Grallstadtlebens, die, wie von der Vorse-
hung beschutzt, im Tumult der menschlichen Freiheit fortbesteht.
Er betrachtet die Landschaften der Grogstadt, steinerne Land-
schaften, die der Nebel liebkost oder die im scharfen Sonnenlicht
liegen, Er genielit die schonen Equipagen, die stolzen Pferde, die
blendende Sauberkeit der Grooms, die Geschicklichkeir der La-
kaien, den wiegenden Gang der Frauen, die schonen Kinder, die
sich des Lebens freuen, und dag sie so schon angezogen sind;
kurzum . das allgemeine Leben.Wenn eine Mode, ein Kleider-
schnitt sicb leicbt geandert hat , wenn die geknupfren Halsmaschen
die Tullschleifen und Schrnachtlocken verdrangt haben, wenn das
Hau bchen breiter geworden und de! Ha arknoten urn einen Zall
abgesunken ist, wenn der Gurtel hinaufgeriiekt und der Rock
noch umfangreicher wurde, so darf man versichert sein, dall sein
Adlerblick dies schon aus weiter Ferne erspaht hat. Ein Regiment
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zieht voruber, das vielleichr ans Ende der Welt ausrilckr; hinrei-
Bend und beschwingt wie die Hoffnung erfullr das Geschmetter
seiner Fanfaren die Luft der Boulevards; und schon hat M. G.'s
Auge es gesehen, inspiziert, die Waffen, den Schritr und die Pby-
siognornie dieser Truppe in ihrer Besonderheir erfaEt. Geschirr,
GefunkeI, Musik, entschlossene Blicke, nichtige schwere Schnauz-
barre, dies alles drangt buntgemischt in ihn ein; und in wenigen
Minuten ist das Gedicht, das dem enrspringen wird, so gut wie
komponiert. Seine Seele lebt mit der Seele dieses Regiments, daswie ein einziges Lebewesen fortschreiter, ein stolzes Bild der Freu-
de irn Gehorsam!
Inzwischen ist es Abend geworden. Es beginnt die diesige Dam-
merstunde, wo die Vorhange des Himmels sich schliefsen, wo die
Lichter der Sradte sich entziinden. Das Gas wirft seine Tupfen auf
den Purpur des Sonnenuntergangs, Die Anstandigen wie die Ver-
worfenen, die Verrninftigen wie die Narren, jeder spricht: .Wohl-
an, der Tag ist vorbei!« Die Weisen und die Ungeratenen, [eder
sinnt auf sein Vergnugen, und jeder lauft dem Orr seiner- Wahl zu,
den Becher des Vergessens zu leeren, M. G. wird uberall der Letz-
te sein, wo das Licht noch leuchret, die Poesie noeh erklingr, das
Leben wimmelt, Musik ertonr; uberall, wo eine Leidenschaft sein
Auge fesseln kann, ilberall, wo der natiirliche Mensch und der
Mensch der Konvention sieh in bizarrer Schonheit zeigen, uberall,
wo die Sonne die raschen Freuden des verderbten Tieres beleuch-
tet! »Weill Gott, ein wohlangewandter Tag«, sagt sieh jetzt fin
gewisser Leser, dem wir alle schon begegner sind; »als ob nichr
jeder von uns soviel Genie harte, ihn auf gleiche Weise auszufiil-
lenl« Keineswegs! nur wenige Menschen besitzen die Gabe zu
schen; und noch wenigere besirzeu die Fahigkeit zurn eigenen Aus-
druck, Und wenn nUll aile anderen schlafen, sitzt er iiber seinen
Tisch gebeugt, denseIben Blick auf das Papier gerichtet, den er
soeben auf die Dinge geheftet hielt; er hantiert mit Bleistift, Feder,
Pinsel , .Ii lEtdas Malwasser bis zur Decke spr itzen, wischr die Feder
an seinem Hemd ab, eilig, heftig, aktiv, als furchte er, die Bilder
konnten ihm enrwischen, einsarn, doeh wie mit sich selbst ira
Streit liegend und sich selber anfeuernd. Und die Dinge erstehen
wieder auf dern Papier, nanirlich und mehr als naturlich, schon
und mehr als schon, einzigartig und von begeisterrem Leben erfullr
wie die Seele ihres Urhebers. Die Phanrasmagorie ist der Natur
abgewonnen worden. Alle Materialien, die das Gedachtnis gespei-
chert harte, ordnen sich, fugen sich, klingen zusarnmen und gewin-
nen jene schwer errungene Ideal isierung, die das Resultat einer
kindlicben Wahrnehmung ist, das heiGt einer gescharfren und auf-
grund ihrer Unbefangenheit magischen Wahrnehmung!
IV
Die Modernirat
So geht er, Iauft er, sucht er. Was sucht er? Dieser Mann, wie ich
ibn eben geschildert habe, dieser mit einer tatigen Einbildungs-
krafr begabce Einsarne, der die grofe Wuste der Menschen una b-
lassig durchwandert, bat ganz gewiB ein hoheres Ziel al; das eines
bloBen Flaneurs, ein noch allgemeineres Ziel als das augenblickli-
che Schauvergnugen. Er ist nach etwas auf der Suche, das die
Modernitiit zu nennen man mir erlauben moge; da es nun einrnal
kein besseres Wort gibt fur das, was mir vorschwebr. Fur ihn geht
es darum, der Mode das abzugewinnen, was sie im Voriibergehen-
den an Poetischem enrhalt, aus dem Verganglichen das Ewige her-
auszuziehen. Wenn w i r einen Blick auf unsere Aussrellungen mo-
derner Bilder werfen, so fallr uns die allgemeine Neigung der
Kiinstler auf, alles Dargestellte in alte Kostiime zu stecken. Fast
jeder bedient sich der Moden und Mobel der Renaissance, wie
David sieh der rornischen Moden und Mobel bediente. Mit dem
Unterschied freilich, daB David, nachdem er sich fur griechische
oder rornische Motive entschieden hatre, nieht umhin konnre, sie
in ein antikes Gewand zu hullen, wahrend die jetzigen Maler,
wenn sie ein allgemeines Sujet wahlen, das in j eder Epoche unter -
zubringen ware, sich darauf versteifen, es mit Kostumen des Mit-
telalters, der Renaissance oder des Orients aufzuputzen, Das ist
offensichtlich ein Zeichen grofer Tragheit, denn es ist sehr viel
bequerner, alles in der Kleidung einer Epoche fur aosolut haBlich
ZlI erklaren, als sich darurn zu bemuhen, die in ihr enthaltene
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geheirnnisvolle Schonheit zurn Vorschein zu bringen, wie gering
und beilaufig sie auch sei. Die Modernirar ist das Vergiingliche,
das Hueh tige, das Zufallige, die eine Halfte der Kunst, deren ande-
re Halfre das Ewige und Unwandelbare ist. Fur jeden MaLer der
Vergangenheit hat es eine Moderne gegeben; auf den meisten der
schonen Bildnisse, die sich aus frtiheren Zeiten erhalten haben,
rragen die Dargestellten die Kleidung ihrer Zeit. Sie sind vollig
harmonisch, weil die Kleidung, die Haartracht, ja selbst die Ge-
barde, der Blick und das Lacheln (jede Epoche hat ihre Haltung,ihren Blick und ihr Lacheln) ein Ganzes von vollkommener Leben-
digkeit bilden. Keiner hat das Recht, dieses vergangliche, fli ichtige
Element, das einern so haufigen Wandel unterliegt, zu verachten
oder beiseite zu schieben. Wenn man es unrerschlagt, verfallr man
unweigerlich der Leerheit einer nichrssagenden abstrakten Schoo-
heir, ahnlich [ener des ersten Weibes vor der Erbsunde, Ersetzt
man das Kosturn der Epoche, wie es sich unmittelbar aufdrangt,
durch ein anderes, so begeht man einen Widersinn, dessen einzige
Enrschuldigung darin liegen konnte, daIS es sich urn eine von der
Mode gewollte Maskerade handelt, So sind die Cotrinnen, die
Nymphen und Sultaninnen des achtzehnten Jahrhunderts Bildnis-
se, deren Ahnlichkeir ihrem inneren Wesen entsrammr,
Urn malen zu lernen, is t es gewif sinnvoll, die alten Meister zu
studieren; will man jedoch den Charakter des gegenwarrigen
Schonen erfassen, so unterzieht man sich damit einer uberflussigen
Ubung. Die Draperien eines Rubens oder eines Veronese lehren
einen nicht, antiken Moire, Satin a fa Reine oder irgerideinen an- .
deren 510ff unserer Fabriken darzustellen, der sich uber der Krino-
line oder den gestarkren Musselinjupons wiegt und bauscht. Die
Gewebearren sind nicht mehr die gleiehen wie in den alren vene-
zianischen Stoffen oder in ienen, die man am Hofe Katliarinas von
Rugland trug. Aueb der Schnier des Rockes und der Taille ist
ganzlich verschieden, die Falren sind auf neue Weise angeordnet,
und schllelilich verleihen Haltung und Gebiirde der beutigen Frau
ihrem Kleid ein Leben und eine Physiognomie, die anders sind aLs
ehedern, Mit eiuem Wort, damit jede Modernitiit einmal Antike
zu werden verdienr, mug die geheimnisvolle Schonheit, die das
menschliche Leben ihr unwi llkurl ich verleiht , herausgefi lrerr wor-
den sein. Und dieser Aufgabe hat M. G. sich vomehmlich ge-
widrnet .
Ich sagte bereirs, dail jede Epoche ihre Halrung, ihren Blick und
ihre Gebarde habe, Vor allern in einer grolSen BildnisgaLerie (der
von Versailles beispielsweise) iSI es ein leichres, diese Behauprung
zu ve ri fi z ie r en , Doeh si e liigt sich noeh weiter ausdehnen. In der
Einheit, die man Nation nennt, bringen die Berufe, die Kasten, die
Jahrhunderte eine grofie Mannigfaltigkeit bervor, nicht nur in den
Gebarden und dem Betragen, sondern auch in den ausgepragtenGesichtsziigen. Eine besondere Nase, ein gewisser Mund, eine ge-
wisse Snrne begegnen uns in einem Zeitraum, den zu bestimmen
ich mieh hier nieht anheischig mache, der sieh jedoch sicherlich
berechnen lalSt. SoLehe Erwagungen sind den Portratmalern nicht
sehr vertraut; und Ingres' grofier Febler insbesondere ist es, jedem
Typus, der ihm Model.l stehr, eine mehr oder minder despotische
Vollkommenheit aufzunotigen, die er dem Repertoire der klassi-
schen Vorstellungen entnimrnr.
In dergleichen Dingen ware es leicht und sogar statthaft, a priori
zu urteilen. Die srete Wechselbeziehung zwischen dem, was man
Seele , und dern, was man Korper nennt, erklart zur Genuge, wie
alles Materielle oder jeder Ausfluf des Geistigen stets das Geistige
darstellt und verrritt, von dem es herstammt. Wenn ein geduldiger
und sorgfahiger, doch our mit mittelmdf'iger Phantasie begabter
Maler, bei dem Vorhaben, eine Kurtisane unserer Tage zu malen,
sich an einer Kurrisane Tizians oder Raffaels inspiriert (das ist der
geheil igte Ausdruck), so wird er mit hochsrer Wahrseheinliehkeit
ein verfehl res, uneinheirl iches und obskures Werk hervorbringen.
Das Studium eines Meisterwerks jener Zeit und Gaming wird ibn
weder die Halrung, noch den Blick, die freche Fratze oder iiber-
haupr das lebendige Aussehen eines dieser Geschopfe Lehren, die
das Worterbuch der Mode nacheinander unter den groben oder
s ch e rz h af te n B e ne nn un g en als impures, (illes entretenues, lorettes
und bicbes verzeichnet,
Die namlichen Bedenken gelren genau so von dem Srudium des
Milirars, des Dandys, ja sogar des Tieres, Hund oder Pferd, und
aLles dessen, woraus das au~ere Leben eines jahrhunderts besteht,
Wehe dem, der an der Antike mehr studieren will als das rein
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Kiinstlerische, die Logik, die allgemeine Methode! Versenkt er
sich allzu tief hinein, so entsehwindet die Gegenwart seinern Ge-
dachtnis; er verziehtet auf Werte und Vorreehte, die ihm die Um-
stande bieten; denn fast unsere ganze Originalitat riihrt von dem
Stempel her, den die Zeit unseren Empfindungen aufdnickt, Der
Leser wird ohne weiteres einsehen, daB ieh meine Behauptungen
an zahlreiehen anderen Gegensranden als an der Frau erharten
konnte, Was etwa wurden Sie von einem Marinemaler sagen (ieh
treibe die Hypothese aufs auBerste), der, urn die strenge und ele-gante Schonheit eines modernen Schiffeswiederzugeben, seine Au-
gen damit errniidete, die iiberladenen, gewundenen Formen, das
monumentale Heck der friiheren Schiffe und das Segelgewirr des
sechzehnten Jahrhunderts zu studieren? Und was hielten Sie von
einem Kiinstler, den Sie beauftragt hatten, ein Vollblut zu portra-
tieren, eine Beruhmtheit im Festgetriebe des Turfs, wenn er sich
auf Museumsbesuche beschrankte, wenn er es dabei bewenden
lieBe,das Pferd in den Galerien der Vergangenheit, bei Van Dyck,
Bourguignon oder Van der Meulen zu studieren?
Von der Natur geleiret, von den Umstanden gedrangt, hat M. G.einen ganzlich anderen Weg eirigeschlagen. Er hat damit begon-
nen, das Leben zu betrachten, und hat sieh erst spat darum be-
rmiht, die Mittel zu erlernen, urn das Leben wiederzugeben. Das
Ergebnis war eine packende Originalitat, bei der ein noch verblie-
bener Rest von Barbarei und Unbedenklichkeit als neuer Beweis
seines Gehorsams dem empfangenen Eindruck gegenuber, als ein
schmeichelhaftes Kompliment an die Wahrheit erscheint. Fur die
meisten von uns, vor aHemfur die Geschaftsleute, in deren Augen
die Natur nicht vorhanden ist, es sei denn im Hinblick aufdie
Nutzbarmachung fur ihre Geschafte, ist die wirkliche Phantastik
des Lebens seltsam stumpf und glanzlos geworden. M. G. saugt
sie unaufhorlich ein; sein Gedachrnis und seine Augen sind voll
davon.
228
V
Die Gedachtniskunst
Dieses Wort »Barbarei«, das mir vielleieht allzu oft aus der Feder
geflossen ist, konnte den oder jenen zu dem Glauben verleiten, daf
es sich hier urn formiose Zeichnungen handle, die allein durch die
Vorstellungskraft des Betrachters sich in etwas Vollkommenes
verwandeln. Das hiefse mich schlecht verstehen.Was ich meine,
ist eine unvermeidliche, synthetisehe, kindliche Barbarei, die ineiner vollkommenen Kunst (wie der mexikanischen, agyptischen
oder ninivitischen) oft deutlich sichtbar bleibt, und die dem Be-
diirfnis entspringt, die Dinge groB zu sehen, sie vor allem im Hin-
blick auf ihre Gesamtwirkung zu beachten. Hier ist die Berner-
kung angebracht, daB viele Leute aile diejenigen Maler der Barba-
rei beschuldigt haben, deren Schauen zusammenfassend und ver-
einfachend ist, beispielsweise Corot, dessen Bestreben vor allem
darauf gerichtet ist, die Hauptlinien einer Landschaft, ihr Kno-
chengeriist und ihre Physiognomie festzuhalten. So betont auch
M. G., bei der getreuen Umsetzung seiner eigenen Eindriicke, mit
instinktiver Kraft die Gipfel- oder Leuehtpunkte eines Gegenstan-
des (siemogen markant oder hervorstechend in dramatischer Hin-
sicht sein), oder dessen Hauptmel'kniale, bisweilen sogar mit einer
fur das mensehliche Gedachtnis f6rderlichen Ubertreibung; und
indem der Betrachter seinerseits dieser hochst eigenwilligen Ge-
dachtniskunst erliegt, empfiingt er in seiner Vorstellung genau den
Eindruck, den die Dinge in M. G.'s Gemut hervorgerufen haben.
Der Betraehter ist hier also der Ubersetzer einer stets klaren und
mitreiBenden Ubersetzung.Es gibt da noch etwas, das den lebendigen Schwung dieser mar-
chenhaften Obersetzung des auGeren Lebens steigert; ich kern-me auf M. G.'s Art des Zeichnens zu sprechen. Er zeichnet aus
dem Cedachtnis, und nicht nach dem Modell, auBer in den Fallen
(dem Krimkrieg zum Beispiel), wo die Dringlichkeit ihn notigt,
etwas in alIer Eile hinzuwerfen und die Hauptlinien eines Gegen-
standes festzuhalten. Tatsachlich zeichnen alle guten und wahren
Zeichner nach dem Bild in ihrem Kopf, und nicht nach der Natur.
Halt man uns die bewundernswurdigen Skizzen eines Raffael, ei-
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nes Watteau und so vieler anderer entgegen, so mochren wir be-
haupten, daB es sich hier zwar um sehr sorgfaltig ausgefuhrte
Studien, abel doeh urn bloBe Studien handelr. Wenn ein echter
Kiinstler zur endgiiltigen Fassung seines Werkes schreitet, ware
das Modell ihrn eher ein Hindernis als eine Hilfe. Es kommt sogar
vor, daB Manner wie Daumier und M. G., die seit langem ge-
wiihnt sind, ihr Gedachrnis zu uben und es mit Bildern zu Hillen
vor dern Modell und angesichrs der Vielfalt seiner Details sich in
ihrem eigentlichen Konnen gesrorr und wie gelahmt fi ihlen.Es entsreht dann ein Widerstreit zwischen dem Willen, alles zu
sehen, nichts zu verges sen, und dem Velmogen des Gedikhtnisses
das sich gewohnt hat, die vorherrschende Farbe und die Silhouer,
re, die Arabeske des Urnrisses lebhaft in sich aufzunehmen. Ein
Kunsrler, der iiber ein vollkommenes Formgefiihl verfugt, jedoch
die Gewohnheit angenommen hat, vor allem sein Cedachtnis und
:seine Vorstellungskraft zu iiben, sieht sieh dann gleichsam einer
aufruhrerischen Menge von Details ausgesetzr, die allesamt mit
der Wut einer naeh absoluter Gleiehheit lechzenden Menge ihr
Recht fordem, Dabei wird alle Gerechngkeic unweigerlich ver-
letzt, [ede Harmonie zerstort, geopfert; manch eine Trivialitat
drangt sich ungebuhrlich in den Vordergrund. J e unpartciischer
der Kunstler sich der Einzelheiten annirnrnt, urn so mehr wachsr
die Anarchie. Er mag kurzsichtig oder weitsichtig sein, jede Hier-
archie und jede sinnvolle Unterordnung verschwinden, Derglei-
chen ereigner sich hau f ig in den Werken eines unserer beliebtesten
Maler, dessen Mangel im iibrigen den Mangeln der Masse so sehr
e.ntsprechen, daB sie seine Popularitat ungemein geforderr haben,
Ahnliches darf man auch in der Ausiibung der Schauspielkunst
vermuren, jener so geheimnisvol len, so tiefen Kunst, die heutzuta-
ge den Wirrnissen des Ver£aJls anheimgefallen ist. Frederick Le-
maitre komponiett eine Rolle mit der Fulle und Weite des Genies.
Sein Spiel mag von noch so vielen leuchtenden Details besrirnt
sein, es bleibr einheitlich und stets wie aus einern GuB. Bouffe
komponiert die seinen mit der Sorgsamkeir eines Kurzsichtigen
und eines Biirokraren. AUes an ihm funkelt, aber nichrs gewinnt
Gestalt , nicbts will sich dem Ccdachrnis einpragen,
So kommt in M.G.'s Vorgehen zweierlei zum Ausdruek: einmal
eine Anspannung des beschworenden, auferweckenden Gedacht-
nisses, so als sprache dieses Gedachrnis zu jedem Ding: »Lazarus,
stehe auf!«; zum andern ein Feuer, eine Trunkenheit des Stiftes,
des Pinsels, die fast einer Raserei gleichkommen. Das ist die
Angst, niche rasch genug zu sein, das Phantom entwischen zu
lassen, bevor das Wesentl iche herausgeholt und ergriffen wurde;
das ist jene schreckliche Angst, von der alle groBen Kunsrler beses-
sen sind und die den gluhenden Wunsch in ihnen erregt, sich aUe
Ausdrucksmittel zu eigen zu machen, damit das Zaudern derHand die Befehle des Geistes nichr verfalschr, darnit die Ausfiih-
rung, die ideale Ausfiihrung, zuletzt so unbewulir, so muhelos
wird, wie es die Verdauung fur das Gehirn eines gesunden Men-
schen ist, der eben gegessen hat. M. G. beginnt mit leichr andeu-
tenden Bleisrifrstrichen, die nur die Stelle angeben, die die Gegen-
stande im Raum einnehmen sollen. Lavierungen deuten sodann
die Staffelung des Raumes an, unbestimmre, leieht getonre Flachen
zunachst, die im Verlauf der Arbeit jedoch wieder vorgenommen
und nach und nach mit intensiveren Farben angereichert werden.
lm letzteu Augenblick werden die Gegenstande endgultig mit der
Tuschfeder urnrissen, Ohne die Blatter gesehen zu haben, konnre
man sich die iiberraschenden Wirkungen nicht vorstellen, die er
mittels eines so einfachen und fast primitiven Verfahrens erzielen
kann, E s hat den unvergleichlichen Vorteil, daB jede Zeichnung,
gleichviel in welchem Zustand ihrer Ausfiihrung, als genligend
fertig erscheint. Man mag das cine Skizze nennen, wenn man will,
[edoch eine vollkommene Skizze. Alle Farbwerte klingen harmo-
nisch zusammen, und will er sie weitertreiben, so riickcn sie der
erstrebten Vollkommenheit immer gemeinsam naher, So bereitet
er nebeneinander zwanzig Zeichnungen vor, mit einem Ungestiim
und einer bezaubernden Freudigkeit, die ibn selber erheitern. Die
Zeichnungen stapeln sich und liegen zu Zehnen, zu Hunderren, zu
Tausenden ubereinander, Von Zeit zu Zeit mustert er sie, blattert
sie durch, pruft sie und dann wahlt er einige aus, deren Farbtone
er mehr oder weniger verstarkr, deren Schatten er vertieft und
denen er nach und naeh hellere Lichter aufsetzt,
Eine hohe Wichrigkeit miBt er den Hintergrunden bei, die, ob
kraftig oder leicht, ihrer Qualitat und Natur nach stets auf die
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Figuren abgestirnrnt sind. Die Skala der Tone und der allgemeine
Zusarnmenklang werden streng beachter, mit einern Genie, das
rnehr dem Instinkt als der Arbeit entstammt, Denn M. G. besitzt
von Narur dieses geheimnisvolle Talent des Kolorisren, eine wahre
Gabe, die das Studiurn wohl vermehren kann, die aus sich selber
hervorzubringen es jedoch, wie mir scheint, auferstande ist. Urn
alles in ein Wort zusammenzufassen: unserern einzigartigen
Kunsrler gelingt es, die Cebarde und die feierlicbe oder groteske
Halrung der irdischen Wesen und ihre leuchtende Entfaltung imRaum gleichzei tig zum Ausdruck zu bringen.
VI
Die Annalen des Krieges
Bulgarien, die Turkei, die Krim, Spanien waren grofie Feste fU r
M. G.'s Augen, oder vielmehr die Augen des imaginaren Kunst-
lers, den M. G. zu nennen wir iibereingekommen sind; denn von
Zeit zu Zeit entsinne ieb mich, daB· ich, urn seiner Bescheidenheit
nichr zu nahe zu treten, rnir versprochen ha be, ihn als nicht vor-
handen zu betrachren, lch babe diese Archive des Orienrkrieges
aufmerksarn durchgesehen (Schlachtfelder, von Trurnrnern und
Leichen iibersat, Lastfuhren von Kriegsrnaterial, .Einschiffungen
von Vieh und Pferden), lebendige und erstaunliche Bilder, dem
Leben selber abgelauschr, Elemente von hochstem malerischem
Wert, die viele narnhafte Maler unter glelchen Urnsranden gedan-
kenlos iibersehen harten. lrnmerhin, geme davon ausnehrnen
rnochte ich Horace Vernet, obwohl eber mehr Gazetier als wesent-
lich Maler, mit dem M. G., ein Kunstler von sehr viel mehr Fein-
gefiihl, eine offenkundige Verwandtschaft zeigt, sofern man ibnnur als Arehivisten des Lebens nehmen will. Man glaube meiner
Versicherung: keine Zeitung, kein geschriebener Bericht, kein
Buch Liefert van dieser grofien Epopoe des Krimkrieges eine Vor-
stellung, die der seinigen in allen schrnerzlichcn Einzelheiten und
dem ganzen Umfang des Grauens, gleichkame. Das Auge wandert
nacheinander die Ufer der Donau, die Gestade des Bosporus ent-
lang, erblickr das Kap Chersones, ergeht sich in der Ebene von
Balaklava, auf dem Scblaehtfeld von Inkerrnann, in den Lagern
der Englander, Franzosen, Tiirken und Piemontesen, in den Stra-
gen von Konstantinopel, in den Hospitalern, und wohnt allen
rel igiosen und mil itarischen Feierlichkeiten bei.
Eine der Kornposit ionen, die sich rneinem Geist am nachhal tigsten
eingepragt haben, ist die Weihe eines Friedbofgelandee in Skutari
durch den Bischof von Gibraltar. Der malerische Charakter des
Schauspiels, der auf dem Kontrast zwischen der orientalischen
Umgebung und den abendliindischen Haltungen und Uniforrnender Teilnebmer beruht, ist auf eine packende, suggestive, zurn
Traumen verfuhrende Weise wiedergegeben. Die Soldaten und
Offiziere zeigen das unverwechselbare resolute und diskrete Geha-
be von Gentlemen, wie sie es bis ans Ende der Welt, bis in die
Garnisonen der Kapkolonie und die indischen Niederlassungen
zur Schau tragen, die englischen Geistlichen gemahnen ein wenig
an Gerichtsvollzieher oder Wecbselmakler, denen man ein Barert
aufgesetzt und ein Beffehen vorgebunden harte.
Dann wieder sind wir in Schum la, bei Orner Pascha: turkische
Gastfreundsehaft, Tabakpfeifen und Kaffee; aile Besucher sitzen
auf Divanen und fGhren Pfeifen an ihre Lippen, so lang wie ein
Blasrohr, deren Kopfenden auf einern Tellerchen zu ihren Fiigen
stehen. Hier sehen wir die Kurden in Skutari, hochst selrsarne
Truppen, deren Anblick an eine Invasion von Barbarenborden
denken liigt; und hier die nicht weniger fremdartigen Baschi-Bo-
suks mit ihren europaischen, ungarischen oder polnischen Offizie-
ren, deren dandyhaftes Aussehen in bizarrem Gegensatz zurn
abenteuerlich orientalischen Charakter ihrer Mtnnscbaft sreht,
Ich stoge auf eine prachrige Zeichnung: eine eipzige Person, breit-
schultr ig, robust, der Gesichtsausdruck glelchzeit ig gedankenvoll,
sorglos und kuhn; grofse Stiefel reichen ihm bis iibers Knie; die
Uniform ist von einem schweren, eng geknopften Mantel ver
deckt; durch den Rauch seiner Zigarre hindurch betrachter er den'
duster verhangenen Horizont; einer seiner Arme ist verwundet
und sreckr in einer Schlinge, die er urn den Hals gebunden rragt.
Darunter lese ich die mit Bleistift hingekritzelten Worte: Can-
robert on the battle-field of Inkerman". Taken on the spot.
Wer aber ist dieser Reiter mit weifiem Schnurrbarr und eiuer so
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lebhaft gezeichneten Physiognomic, der erhobenen Haupres aus-
siehr, als arme er die schreckliche Poesie des Schlachtfeldes ein
wahrend sein Pferd, am Boden schnuppernd, sicb einen Weg such;
zwischen den ubereioandergehaunen Leichen, die in selrsamen
StelJungen, die Beine in der Lufr, mit verzerrten Gesichtern, dalie-
gen? Am unteren Rand der Zeichnung liest man diese Worte:
Myself at Inkermann.
lch erblicke M. Baraguay-d'Hilliers, wie er mit dem Seraskier eine
Artillerie-Parade bei Bescbichtasch abnimmt. Selten habe ich dasPortrat eines Militars von gr611erer Ahnlichkeir, von einer kiihne-
ren und geistreicheren Hand gestochen gesehen,
Ein seir dem Unghick in Syrien unnihrnlich bekannrer Name bietet
sich meinem Blick: Achmet Pascba, kommandierender General in
Kalafat,vor seiner Hutte stehend mit seinem Stab, l ii{J t sich zu/ei
europdiscbe O(fiziere uorstellen. Trorz des betriichtlichen Urn.
fangs seines tiirkischen Wanstes tragt Achmer Pascha in Gesicht
und Halrung das arisrokratisch' srolze Gebaren zur Schau, das den
Herrscherrassen haufig zu eigen ist.
Die Schlacht bei Balaklava erscheinr mehrmals in dieser berner.
kenswerten Sammlung, in versehiedenartigen Ansichren. Unrer
den auffallendsten is! hier dec hisrorische Kavallerieangriff, den
Alfred Tennyson, der Hoftlichter der Konigin, mit heroischen
Tromperensrosen verherrlichr hat: eine Reirermasse sturmt mit
verbli iffender Schnell igkeit, zwischen den schweren Rauchwolken
der Geschurze, dem Horizonr entgegen. Ill. Hintergrund versperrt
eine grune Hiigelkerre die Sicht ,
Von Zeit zu Zeit bieten religiose Darstellungen dem Auge einen
Ruhepunkt in seiner Bekiirnmernis iiber all diesen Pulverwirbel
und das morderische Getiimmel. Inmitten englischer Soldaten der
verschiedensten Waffengattungen, unter denen die Schotten in ih-ren pi troresken Rockel ] auffallen, halt ein anglikanischer Geistli -
cher den Sonntagsgottesdienst ah; drei Trommeln, deren eine auf
den beiden andern srehr, dienen ihm als Pult.
Es ist wahrlich kein leichtes Ceschafr, allein mit der Feder dieses
riesige und gedrangte Gedichr, das aus tausend Zeichnungen be-
stehr, zu ubersetzen und das Berauschende zu schildern das diese
rnalerische Welt in sich birgt: eine oft schrnerzliche, doch niernals
riihrseJige Welt, die sich uber einige hundert Blatter erstreckt, de-
ren Flecken und Risse, auf diese Weise, die Verwirrung und das
Durcheinander bekunden, in welch em dec Kilnsrler seine Erinne-
rungen an das eben Erlebte aufs Papier warf. Gegen Abend nahm
dann ein Kurier diese fur London bestirnmten Zeichnungen sarnt
ihren Erlauterungen mit, und oftmals vertraute M. G. der Post
mehr als zehn ei lig auf diinnes Zeichenpapier hingewischte Bi ldbe-
richte an, auf welche die Xylographen und die Abonennten der
Zeitung ungeduldig warteren,Bald erscheinen ambulante Lazarette, in denen die Atmosphare
selber krank, traurig und lasrend zu sein scheint; jedes Bert enthalt
einen Schmerz; bald ist es das Hospital von Pera, und dart erblicke
ieh, im Gesprach mit zwei Krankenscbwestern, langen, bleichen
und aufrechten Gestalten wie von Le Sueur, einen nachlassig ge·
kleideten Besucher, und darunter die seltsarne Legende: My hum-
ble self. J em aber begegnet man, zwischen Uberresten friiherer
Kampfe, einern bedachtigen Zug von Maultieren, Eseln oder Pfer-
den, die auf ihren Flanken, in zwei unformigen Sesseln, bleiche,
reglose Verwundete tragen, Ober weite Schneefelder schleppen
Karnele mit machrigem Brustkorb hocherhobenen Hauptes, von
Tataren gefuhrt, Vorrate von Lebensmit teln oder Munitionskisten
verschiedenster Art: es ist eine ganze kriegerische, wimrnelnde,
geschafrige und scbweigsame Welt; es sind Lagerplatze, Bazare,
wo sich in bunter Fiille alle erdenklichen Geriitschaften ausbrei-
ten, barbarische Stadte gewissermafsen, wie die Umstiinde sie
rasch entstehen lassen. Zwischen diesen Baracken, in diesen stei-
nigen oder verschneiten Stra!Sen, in diesen Schluchten streifen die
Uniformen mehrerer Nationen umber, alle mehr oder minder vom
Kri~g beschadigr, oder durch die Hinzufugung yon dicken Pelzen
und schwerem Schuhwerk entstell t.
Es ist bedauerlich, daf dieses Album, das nun tiber mehrere Orte
hin verstreut ist, und dessen kostbare Vorlagen die Stecher, die sie
umzuformen beauftragt waren, oder auch die Redakteure der
Illustrated London News, zuruckgehalten haben, dem Kaiser
niernals vor Augen gekommen ist. Ich stelle mir vor, dag er mit
Wohlgefalleo, und nicht ohne eine gewisse Ruhrung, das Tun und
Treiben seiner Soldaren berrachtet harte, wie es tlie so sichere und
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geisrreiche Hand eines Kiinstler-Soldaren hier Tag r u r Tag getreu-
lich abgeschilderr hat, von den glanzvollsten Heldentaten bis zu
den alltaglichsten Lebensverrichrungen,
VI I
Fesrlichkeiten und Feiern
Auch die Tiirkei hat unserem liebwerten G. wunderbare Motive
zu seinen Komposirionen geliefert: die Beiramfeste mir ihrern Ge-
prange und ihrern schillernden Glanz, in deren Hintergrund, wie
eine blasse Sonne, die ewig gelangweilten Ziige des verstorbenen
Sultans erscheinen, Zur Linken des Herrschers samrliche Zivilbe-
amren; zu seiner Rechren sarnrliche hohen Militars, darunter, als
deren erster, der agyprische Sulran Said Pascha, der sich damals in
Konsrantinopel aufhielr: lange feierliche Prunkzuge unterwegs zu
der kleinen, dem Palasr benachbarten Moschee; und in diesern
Gewimmel rurkische Wurdenrriiger, wahre Karikaturen des Ver-
falls, von so phantasrischem Leibesumfang, dall ihre prachtigen
Pferde unter diesem Gewieht fast zusammenbrechen; sodann die
schwerfalligen, massiven Wagen, Karossen wie aus der Zeit Lud-
wigs XIV., vergolder und nach orientahschem Geschmack verzierr,
aus denen rnanchmal neugierige weibliche Blicke durch den
schmalen Spalr hervorblitzen, den die ihr Gesichr verhullenden
Musselinbinden freilassen; die frenetischen Tame der Possenrei-
Iler des dritten Gescblecbts (Balzacs possierlicher Ausdruck war
noch nie so angemessen wie hier, denn unter den Zuckungen die-
ses Schimmerns und GleiBens, unter dem Wogen dieser wei ten
Gewander, unrer der glanzenden Schminke der Wangen, der Au-
gen und Augenbrauen, in diesen hysterischen und konvulsivischen
Bewegungen, diesen langen, bis auf die Hufren herabwallenden
Haaren ware es schwierig, wenn nicht unrnoglich, erwas von
Mannlichkeit zu ahnen), schiiefilich die galanten Damen (wenn
hinsichtlich des Orients von Galanterie uberhaupr die Rede sein
kann), meist Ungarinnen, Walachinnen, judinnen, Polinnen, Grie-
chinnen und Armenierinnen, denn unter einer desporischen Regie-
rung liefern die unterdriickten Volker, und unter ihnen vor allem
jene, die am meisren zu leiden haben, den hochsren Beitrag zur
Prostitution. Von diesen Frauen haben die einen ihre National-
tracht beibehalten: bestickte , kurzarrnlige Jacken, herabhangende
Scharpen, weite Hosen, aufgestiilpte Pantoffeln, gestreifre oder
metalldurchwirkte Musseline und allen Flirrerstaat ihres Heimat-
[andes: die anderen, sic sind in der Mehrzahl, haben das Haupt-
merkmal der Zivilisation iibernommen, welches fur eine Fran un-
weigerlich die Kriuoline darstellt, wobei eine Kleinigkeit an ihrer
Kleidung doch immer einen leichten orientalischen Anflug be-wahrt, so daB sie wie Pariserinnen aussehen, die sich hatten v er-
kleiden wollen.
M. G. ist ein meisterlicher Schilderer der offentlichen Schaustel-
lungen, des Festgepranges der Nationalfeiem. Er verfahrr dabei
niche kalt und belehrend, wie die Maler, die dergleichen Arbeiren
nur als eintragliche Plackerei verrichten, sondern mit der Leiden-
schaftlichkeit eines Mannes, der sich fU r Raurn und Perspekrive
begeisterr und fur die Wirkungen des Lichtes, das, ruhig oder hell
funkelnd, als Tupfen oder Geflimmer, auf den vie! teiligen Unifor-
men oder den hofischen Galakleidern erscheint. Das Fest zum
Gedenken der Unabbangigkeitserkldrung in der Kathedrale von
Atben bieret ein hochsr merkwiirdiges Beispiel dieser Begabung.
All diese kleinen Personen, deren jede ihren richtigen PlaTZ ein-
nimmt, vertiefen den sie umgebenden Raurn, Die Kathedrale ist
ungeheuer weit und mit Wandbehangen £eierlich ausgeschmikkt.
Auf einer Estrade sieht man Konig Otto und die Konigin srehen;
sie haben die Narionalt racht angelegt, die sie mit bewundernswiir-
digern Anstand t ragen, wie urn die Aufrichtigkei t ihrer ZugehOrig-
keir zu Griecheniand und die ausgesuchteste hellenische Vater-
landsliebe zu bekunden. Die Taille des Konigs isr geschnurt wie
die eines auf das kokerteste herausgeputzten Palikaren, und sein
weiEes Rocklein zeigt den ubertrieben weiten Schnirr des nationa-
len Dandysmus. Ihnen gegenii ber schreitet der Patriarch heran,
ein Greis mir gebeugten Schultern und einem grolSen weiEen Barr;
griine Brillenglaser schutzen seine kleinen Augen, und sein ganzes
Wesen tragt den Ausdruck der vollkomrnensten orientalischen
Tragheit zur Schau. AIle Personen auf diesem Bilde sind Portrats,
und eines der merkwiirdigsten darunter ist, seines so ganz und gar
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unhellenischen Gesichrsausdrucks wegen, das einer deutschen Da-
me, die der Kouigin zur Seite sreht und ihrem Gefolge angehort,
In M. G.'s Bilderfolgen begegner man des iifteren dem Kaiser der
Franzosen, dessen Gesichrsziige er, ohne der Ahnlichkeit Abbruch
zu tun, mit unfehlbarem Gesehick hinzuwerfen versteht, mit einer
Sicherheir, wie man den Schnorkel einer Unterschrifr zieht.
Manchrnal nirnrnt der Kaiser eine Parade ab, zu Pferd, im Galopp
und von Offizieren begleitet, deren Gesichtsziige leicht zu erken-
nen sind, oder von auslandischen Ftirsrii cbkeiren, europaischen,asiatischen oder afrikanischen, denen er sozusagen die Honneurs
van Paris machr. Manchmal sitzt er unbeweglich auf einem Pferd,
des sen Beine so fest auf dem Boden stehen wie die vier FiiBe eines
Tisches, zu seiner Linken die Kaiserin im Reirkosrum, und zu
seiner Rechten der kleine kaiserliche Prinz, unter einer Barenfell-
ruutze und auf einem struppigen Pferdchen, ahnlich jenen Ponys,
die die englischen Kunstler so gerne durch ihre Landschaften tra-
ben lassen. Auf anderen Blatrern sieht man ihn auf den Aileen des
Bois de Boulogne in einem Wirbel von Licht und Staub verschwin-
den, oder unter den jubelrufen der Menge langsam durch den
Faubourg Saint-Antoine fahren. Eines dieser Aquarelle hat es mir
durch seinen Farbenzau ber ganz besonders angetan, Dber der
Brustung einer mit furstl icher Pracht ausgestatteten Loge erscheinr
die Kaiserin in ruhiger, gelassener Haltung, der Kaiser beugr sich
leicht vor, wie urn das Schauspiel besser zu sehen, darunter zwei
Ehrenwachen, aufrechr, in einer militarischen, fast hierarischen
Uobeweglichkeit, uber deren blanke Uniform die Rampenlichter
hinfunkeln. Jenseits des beleuchteten Orchesrergrabens, in de.
idealen Luft der Buhne, deklarnieren, singen und wiegen sich die
Schauspieler; diesseits erstreckt sich ein in unbesrirnmtem Licht
verschwimmender Abgrund, ein kreisforrniger Raum menschli-
cher Gesich ter in dichrem Cedrange: der angedeurete Kronleuch-
ter und das Publikuml
Die Volksbewegungen, die Klubs und die Feierlichkeiten von r848
hatten M. G. ebenfalls Motive zu zahlreichen rnalerischen Kom-
positionen geliefert, von denen die meisten fUr die Illustrated Lon-
don News gestochen wurden, Vor einigen jahren steilte er, nach
einern kiinstlerisch sehr fruchtbaren Aufenrhalt in Spanien, ein
ahnliches Album zusarnrnen, von dern mir jedoch nur wenige BWt-
ter zu Gesicht gekommen sind. Die Sorglosigkeit, mit der er seine
Zeichnungen leiht oder verschenkt, verursacht ibm oft unersetzli-
che Verluste.
VITI
DasMilitar
Urn nochrnals auf die Gattung der Sujets einzugehen, denen die
Vorliebe dieses Kunstlers gilt, sei gesagt, daf es jene sind, in denen
die Pracht des Lebens in den Hauprstadten de. zivilisierten Welt
sich entfaltet, der Glanz des milirarischen, des eleganten, des ga-
lanten Lebens, Unser Beobachrer ist unenrwegt auf seinem Posten,
uberall da, wo die heftigen Begierden und Leidenschaften scro-
men, die Orinokos des menschlichen Herzens, der Krieg, die lie-
be, das Spie!;.uberall, wo wirkliches oder eingebilderes Gluck und
Ungluck ihr verwirrendes Spiel treiben, Eine ausgesprochene Vor-
liebe aber gilt dem Militar, dem Soldaten, und ich glaube, diese
Zuneigung entspnngr nicht nur den Tugenden und Eigenschaften
in der Seele des Kriegers, die sich norwendigerweise seiner Hal-
tung und seinern Gesichtsausdruck rnirteilen, sondern ebenso dern
auffalligen Schmuck, mit dern sein Beruf ihn ausstatter, Paul de
Molenes hat einige ebenso reizvolle wie gescheite Seiten uber die
militariscbe Gefallsucht geschrieben, und iiber die moralische Be-
deutung dicser srarkfarbigen Uniform en, in die aile Regierungen
ihre Truppen zu kleiden lieben. M. G. wiirde das dort GdiuBerte
gewiB unrerschreiben.
Von der besonderen Art der Schonheit, die jeder Epoche eigen ist,
war bereits die Rede, und wir haben festgestellt, daR jed e s jahr-hundert sozusagen seine personliche Anmut hatte, Gleiches kann
von den Berufen gelren, jeder empfangt seine auBere Schonheit aus
den moralischen Gesetzen, denen er umerworfen ist. Bei einigen
wird diese Schonheir ein Ausdruck de. Kraft sein, und bei anderen
wird sie die sichtbaren Merkmale des MiiBiggangs aufweisen. Sic
isr gleichsarn der sinn bildliche Ausdruck des Charakters, das Ge-
prage des Schicksals. Der Militar im allgerneinen hat seine Schon-
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heir, wie der Dandy und die gal ante Frau die ihrige, ganzlich
andersartige h aben. Man wird es begreiflich finden, daB ich die
Berufe ubergehe, bei denen eine einseitige heftige Anstrengung die
Muskeln deforrniert und dem Gesicht den Stempel der Knecht-
schafr aufdruckt. An Uberraschungen gewchnt, ist der Militar
nichr leichr in Erstaunen zu setzen, Das besondere Merkrnal der
Schonheit wird hier demnach eine marrialische Sorglosigkeit, eine
eigentumliche Mischung von Gleichmut und Kuhnheit sein; eine
Schonheit, die der Notwendigkeir entspringt, jederzeit zu sterbenbereit zu sein, Das Gesicht des idealen Militars wird jedoch den
Stempel einer groBen Einfachheit tragen mussen; denn, da die
Soldateu wie die Monche oder Schuler in Gerneinschaft leben, da
sie es gewohnr sind, ihre taglichen Sorgen einer abstrakten Vater-
schaft anheimzustellen, sind sie, in vielen Dingen, arglos wie die
Kinder, lind wie die Kinder sind sie, wenn die Pflicht erfullt ist,
leicht zu unterhalten und zu den ausgelassensten Zersrreuungen
geneigt, Ich glaube niche zu iibertreiben, wenn ich versichere, daf
all diese rnoralischen Betrachrungen sich ganz nanirlich aus
M. G.'s Skizzen und Aquarellen herauslesen lassen. Kein militari-
scher Typus fehlt dort, und jeder ist mit einer Art von begeisterter
Freude erfaBt: der ernste und t riibsinnige alee Infanrerieoffizier,
dessen Beleibtheir seinem Gaul zu schaffen machr; der hiibsche
Generalstabsoffizier, enggeschnurt, der sich schulterwiegend
nachlassig zu den vor ihrn sitzenden Damen herabbeugt und der,
von hinren gesehen, einem Insekt von ungewohnlicher Schlankheit
und Eleganz gleicht, der Zuave und der Tirailleur, die in ihrer
Halrung ein Hochstmaf an Kiihnheit und Unabhangigkeit und
gleichsam das lebhafrcste Gefuhl personlicher Verantwortuog zur
Schau tragen; die bebende und frohliche Ungezwungenheit de r
leichten Kavallene, das ein wenig professorale and akademische
Aussehen der Spezialtruppen, der Artillerie- und Genie-Corps, das
durch die nicht eben kriegerische Brille oft, noch unterstrichen
wird: keines dieser Modeile, keine dieser Nuancen ist vernachlas-
sigr, und aile sind mit der gleichen Liebe und gleicher Anteilnahme
aufgefaBt und gestalter.
Vor mit liegt gerade eines dieser Blatter von wahrhafr heroischem
Gesamtausdruck, das die Spirze einer lnfanteriekolonne wieder-
gibt; vielleicht kornrnen diese Leute aus Italien zuruck und machen
bier auf den Boulevards halt, vor einer jubelnden Menge; viel leicht
haben sie einen langen Marsch auf den Landstrafen der Lombar-
de; hinter sich; ich weif es nicht, Sichtbar aber, und fur [eden
verstandlich, ist der entschlossene, selbst in der Ruhestellung noch
kuhne Charakter all dieser von Sonne, Wind und Regen gebraun-
ten Gesiehter.
Man erkennt den einheirlichen Ausdruck, den der Gehorsam und
die gemeinsam ertragenen Leiden hervorgerufen baben, die Gelas-senheit des durch lange Miihsale erprobten Mutes. Die aufge-
krernpelten Hosen, die in Gamaschen stecken, die bestaubren und
leicht verschossenen Mantel, kurz die ganze Ausrustung hat selber
das unzersrorbare Aussehen der Menschen angenommen, die von
weither zuriickkommen und seltsarne Abenteuer bestanden ha-
ben. Man mochte glauben, all diese Manner hielten sich autrech-
ter, sti inden fesrer auf ihren Beinen, zu"ersichclicher, als dies ande-
ren Menschen moglich ist. Harte Charlet, der irnmer nach dieser
Art Schonneit auf der Suche war und sie 50oft gefunden hat, diese
Zeichnung gesehen, sie muBte ihm einen srarken Eindruck ge-
macht haben.
IX
Der Dandy
Dec Mann des Reichturns und des MiiBiggangs, der, bei aller Bla-
siertheir, keine andere Beschaftigung hat , als dem Gluck nachzuja-
gen; der Mann, der im Luxus auigewachsen und seirseiner Jugend
an den Gehorsam anderer Menschen gewohnt ist; derjenige end-
lich, dessen einziger Beruf die Eleganz isr, wird sich stets, zu allenZeiten, einer ausgepragten, einer von alien anderen l1nterschiede-
nen Physiognomie erfreuen. Der Dandysmus ist eine schwer be-
stimm bare Einrichtung, ebenso a bsouderlicb wie das Duell; eine
sehr alte Einrichrung, denn schon Casar, Catilina, Alkibiades lie-
fern uns auffal lige Beispiele; sie ist aligemein verbreitet, denn Cha-
reaubriand hat sie in den Waldern und an den Seegestaden der
Neuen Welt entdeckt. Der Dandysrnus, der als Einrichtung aufser-
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balb der Geserze steht, bat seine eigenen strengen Gesetze, denen
all seine Untertanen unerbittlich unrerworfen sind, ihr Charakter
mag noch so ungesnim und auf Unabhangigkeit bedachr sein, Die
englischen Rornanciers haben mehr als andere den Roman des
high life ausgebildet, und die Franzosen, die, wie M. de Custine,
sich fur den Liebesroman entsehieden haben, waren, sehr verstan-
digerweise, vor allem darauf bedachr, daB ihre Personen iiber ein
geniigend 'hohes Vermogen verfugten, urn sich ungehindert alle
Launen leisten zu konnen; auilerdem haben sie ihnen jede Beru£s-tatigkeit erspart. Diese Wesen haben nichrs anderes zu tun, als die
Idee des Schonen in ihrer Person zu kultivieren, ihre Leidenschaf-
ten zu be£riedigen, zu empfinden und zu denken. 50 verfiigen sie,
nach Belieben und im weitesten Umfang, iiber Zeit und Geld, obne
welche die Phantasie ein fluchtiger Einfall bleibt und sich kaum in
die Tat umsetzen laBt. Es ist leider nur allzu wahr, dail, ohne
MuBe und Geld, die Liebe nicht mehr sein kann als eine spieilbiir-
gerliche Orgie oder die Erfullung einer eheiichen Pflicht. Statt
einer gliihenden oder traumerischen Caprice wird sie eine Verrich-
tung von abstoliender Zweckhaftigkeit.
Wenn ich anliiBlich des Dandysmus von Liebe rede, so deshalb,
weil die Liebe die naturliche Beschaftigung der Mii.Biggiingeeist,
Doch die Liebe ist fur den Dandy kein Ziel, das er sich eigens
vorserzt, Und von Geld war nur deshalb die Rede, weil es den
Leuten unenrbehrlich ist, die ihre Leidenschaften zurn Kultus erhe-
ben. Doch dec Dandy trachtet nicht nach Geld als nach etwas
Wesentlichem; ein unbeschrankrer Kredit wurde ibm geniigen;
diese grobe Besitzgier libeeJaBt er den gewohnlichen Sterblichen,
Der Dandysmus besteht nicht einmal, wie viele Personen von ge-
ringem Seharfsinn zu glauben scheinen, in einer malilosen Vorlie-
be fii .r gures Aussehen und iiuBerliche Eleganz. Dergleiehen istdem vollkomrnenen Dandy lediglich ein syrnbolischer Ausdruck
fur die aristokratische Oberlegenheit seines Geisres, Darum auch
besteht, in seinen Augen, denen es vor allem urn Distinktion geht,
die Vollkommenbeit des Anzugs in der absoluren Einfachheir, die
in der Tat immer noch die beste Art ist, sich zu unterscheiden.
Worin denn besteht diese Leidenschaft, die, zur Doktrin gewor-
den, so desporische Adepten hervorgerufen, diese nirgends ver-
briefte Einrichtung, die eine so hochmiitige Kaste hervorgebracht
hat? Sie ist vor allern das brennende Bedurfnis, sich innerhalb des
Schicklichen eine wirkliche Originalitat zu sehaffen. Sie ist eine
Art Kult seiner selbst, der die Suehe naeh dem Gliick zu iiberdau-
ern vermag, das in einem anderen Menschen, einer Frau zum Bei-
spiel, zu finden ware; ja der sogar alles, was man Illusionen nennt,
zu uberdauern vermag. Sie ist die Lust, erstaunen zu machen, und
die stolze Genugtuung, niernals erstaunt zu sein. Ein Dandy mag
ein blasierter Mensch, vielleichr auch ein leidender Mensch sein;in letzterem Falle jedoch wird er lacheln wie der Lakedarnonier
unter dern BiBdes Fuchses.
Wie man sieht, grenzt der Dandysrnus in mancher Hinsicht an den
Spiritualismus und an den Stoizismus. Doch ein Dandy kann nie-
mals ein gewohnlieher Mensch sein. Wenn er ein Verbrechen be-
ging., so ware das vielleicht noeh keine Einbulie; sollre dieses
Verbrechen jedoch einen trivialen Grund haben, so verfiele er auf
ewig der Sehande. Der Leser rnoge an dieser ernsthaften Behand-
lung des Frivolen keinen AnstoB nehrnen, er moge sich vielrnehr
vergegenwartigen, daB in jeder Narrheit eine GroBe und in jeder
Oberrreibung eine gewisse Kraft steckr, Selrsamer Spirirualisrnus!
Denjenigen, welche sowohl seine Priester wie seine Opfer sind,
gelten all die umsrandlichen materiellen Bedingungen, denen sie
sich unterwerfen (von der untadeligen Toilette zu jeder Stunde des
Tages und der Nacht bis zu den gefahrlichsten sportlichen Bravour-
akren), nur als eine ragliche Ubung zur Starkung der Willenskraft
und zur Zucht dec Seele. Ich hatre wahrhaftig nicht gaoz unrecht,
den Dandysrnus als eine Art Religion zu betrachten, Die strengsre
Klosterregel, der jeden Widerstand ausschliefsende Befehl des .,AI-
ten vom Berge«, der seinen berauschten jungern den Selbstmord
befahl, waren nicht unerbirtl icher und wurden nicht genauer be-folgt als diese Doktrin der Eleganz und der Originalitat, die, auch
sie, ihren ehrgeizigen und demucigen Anhiingern, die ofr ungestu-
me Menschen voller Leidenschaft, Mut und verhaltener Kraft
sind, die furchtbare Forrnel auferlegt: Pe ri n d e a c c adav er !
Ob diese Manner sich Raffines, lncroyables, Beaux, Lions oder
Dandie s riennen, aile haben einen gemeinsamen Ursprung; allen
eignet der gleiche Charakter des Widerspruehs und der Aufleh-
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nung, alle sind Vertreter dessen, was das Beste am menschlichen
Stolz isr, des bei den Heurigen allzu seltenen Bedurfnisses, die
Trivialirat zu bekampfen und sie zu vernichren. Dern entspringt,
bei den Da ndies, diese hochmiitige Arrirude einer herausfordern-
den Kaste, unbeschadet aller Kaltsinnigkeit, Der Dandysrnus er-
scheinr vor allern in Ubergangszeiren, wenn die Dernokratie noch
nicht allmacbtig, wenn die Aristokratie erst ins Wauken geraten
ist und ihre Wiirde noch nicht ganzlich eingebiillt hat. In der
Wirrnis dieser Zeiten konnen einige aus ihrer Bahn geratene, ange-widerre, beschaftigungslose Manner, die doch aile reich sind an
ursprunglicher Kraft, auf den Gedanken verfallen, eine neue Art
von Adelsherrschaft zu grunden, die urn so schwerer zu brechen
ist, als sie auf den kostbarsteu, den unzerstorbarsten Fahigkeiten
ruht, und auf den Hirnmelsgaben, welche Arbeit und Geld nicht zu
verleihen vermogen, Der Dandysmus isr das letzre heroische
Sichaufbaurnen in Zeiten des VerfaJ]s, und der Typus des Dandy,
dem der Reisende in Nordamerika begegoet isr, rut dieser Ansicht
keinen Abbruch: denn nichts hinderr uns anzunehrnen, dall die
Volkerstamme, die wir Wilde nennen, die Uberreste groller ver-
schwundener Kulturen sind. Dec Dandysrnus ist eine unrergehen-
de Sonne; wie das sinkende Gestirn ist er prachrig, ohne Warme
und voller Melancholie. Aber leider ertrankt die sreigende Flut der
Demokratie, die liberal! eindringt und alles gleicbmachr, Tag urn
Tag diese letzten Verrreter des menschlichen Srolzes und-walzt
Strome der Vergessenheit iiber die Spuren dieser erstaunliehen
Myrrnidonen, Die Dandies werden bei uns irnmer seltener, wah-
rend bei unseren Nachbarn in England die sozialen Zustande und
die Verfassung (die wahre Verfassung, jene, die in den Sitten ZUlli
Ausdruek kommt) den Erben Sheridans, Brummells und Byrons
noch lange einen Platz einraumen, falls solche auftreten soli ten,
die ihrer Vorganger wiirdig waren,
Was dem Leser vielleicht als eine Absch weifung erscheinen rnoch-
te, isr in Wahrheit keine, Die Betrachrungen und moralischen
Traurnereien, die durch die Zeichnungen eines Kiinstlers angeregr
werden, sind sehr oft die beste Art VOn Ubersetzungen, die der
Kritiker liefern kann; die einzelncn Anregungen, die man von ih-
nen ernpfangt, sie gehoren einer Hauprvorsrellung an, und indem
man eine urn die andere enrwickelr, kann man diese erraten las-
sen. Branche ich noch zu sagen, dall .M. G ., wenn er einen seiner
Dandies aufs Papier wirft, ihn srets mit seinern historischen, ja fast
mikhte ieh sagen, legendaren Charakter aussrarter? Mag das Wort
[egendar hingehen, obwohl es sieh urn die heutige Zeit handelt
und urn Dioge, die fur wenig ernsrhafr gelten! Dies eben ist es,
diese Leichtigkeit des Beeragens, diese Sicherheir der Manieren,
diese Einfachheit in de! offenkuodigen Uberlegenheit, diese Art,
einen Frack zu tragen und ein Pferd zu lenken, was uns beimAnblick eines dieser privilegierten Wesen, in denen das Gefallige
und das Purcbterregende sich so geheimnisvoll durchdringen, auf
den Gedanken bringt; »Dies hier ist vielleicht ein reicher Mann,
doch noch gewisser ein Herkules ohne Aufgaben.«
Die besoodere Schonheit des Dandy liegt vor aUem in dem Aus-
druck der Kalte, der dern unerschiitterlicben Entseblufl ent-
starnrnt, sich nichr riihren zu lassen; als glimrne da ein Feuer, das
sieh hochstens andeutet, das zwar auflodern konnte, sich dessen
jedoch enrhalr. Eben das kornmt in diesen Bildem vollkornmen
zum Ausdruck.
X
Die Frau
Das Wesco, das fur die meisten Manner die Quelle der lebhafte-
sten und sogar, zur Beschamung der philosophiseheo Wonnen sei
es gesagt, der dauerhaftesten Geniisse ist, das Wesen, dem zuliebe
oder zunutz sie sieh muhen und anstrengen; dieses seh reckliche
und wie· Gott unerreichbare Wesen (mit dem Unrerschied, daB das
Unendliche unerreiehbar bleibt, wei Ies das Endliche blenden undzermalmen wurde, wahrend das bier in Rede srehende Wesen viel-
leieht nur deshalb unbegreiflieh isr, weil es nichts mitzuteilen hat);
dieses Wesen, in dem Joseph de Maistre ein schemes Tier sah,
dessen Reize das ernste Spiel der Politik orheiterten und leichrer
machten; fiir das und durch das verrnogen sich bilden und wieder
zerrinnen; fur das, doch vor allem durch das, die Kiinsrler und
Dichter ihre zartesten Kleinodien hervorbringen; dem wir die ent-
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nervendsten Liiste und die bcfruchtendsten Qualen verdanken, die
Frau mit einem Wort, ist fur den Kunstler im allgemeinen, und fur
M. G. im besonderen, nicht nur das Weibchen des Mannes. Sie isr
vielrnehr eine Gottheit, ein Gesrirn, das die Vorstellungswelt des
mannlichen Gehirns regiert, sie isr ein Gauke!spiel aller Reize der
Natur, die sich in einem einzigen Wesen verdichret haben; sie ist
der Gegenstand der Bewunderung und der lebhaftesten Neugier,
die das Bild des Lebens dem Betrachter zu bieten hat. Eine Art
Gotzenbild, geistlos vielleicht, doch blendend, berorend, von des-sen Blicken Schicksale und Enrschliefsungen abhiingen. Sie ist, sa-
ge ich, kein Tier, dessen korrekr versamrnelte GliedmalSen ein
vollkommenes Beispiel der Harmonie bieren, sie ist auch nicht der
Typus der reinen Schonheit, wie der Bildhauer in semen strengsten
Betrachrungen ihn sich ertriiumen mag; nein, das wurde noch
nicht hinreichen, ihren geheirnnisvollen und vielfaltigen Zauber zu
erklaren, Winekelmann und Raffael gehen uns hier nichts an; und
ieh bin ganz sicher, dall M. G., bei aUer Weite seines Geisres (ohne
ihm zu nahe zu treten, sei dies gesagt), eine antike Statue unbeach-
ter liege, wenn ihm andernfalls die Gelegenheit enrginge, ein Por-
trat von Reynolds oder Lawrence zu geniefien, Alles, was die Frau
schmiickt , alles, was ihrer Schonheit einen hoheren Glanz verleiht,
ist ein Teil ihrer selbst; und die Kiinstler, die sich vornehmlich auf
das Studium dieses ratselhaften Wesens verlegt haben, sind in den
ganzen mundus muliebris ebenso vernarrt wie in die Frau selbst,
Die Frau ist gewiJl ein Licht, ein Blick, eine EinJadung zum Gluck,
ein Wort rnanchmal; vor allem a ber ist sie ein harrnonisches Gan-
zes, harrnonisch nicht nur in ihrer Art sich zu betragen, und in der
Bewegung ihrer Glieder, sondern auch in den Musselinen, den
Gazen, den wei ten und schillernden Gewolken von Stoffen, die sie
umhiillen und die gleichsarn die Attribute und das Piedestal ihrer
Gortlichkeit sind; in dem Metall und Mineral, die sich urn ihre
Arrne und ihren Hals schmiegen, die ihr Funkeln clem Feuer ihrer
Bl icke hinzufugen, oder leise klingelnd an ihren Ohren schwarzen.
Welcher Dichter wagte es, in der Schilderung der Lust, die ibn
beim Erscheinen einer Schonheit ergreift, die Frau von ihrer Klei-
dung und ihrern Putzzu trennen] Wer ist der Mann, der nicht auf
der Strafie, im Theater, im Bois, auf die selbstloseste Weise, an
einer mit Geschiek koroponierten Toilette seine Freude gehabt und
nichr ein von der Scbonheit ihrer Tragerin unablosbares Bild mit-
genommen harte, weil sich ihm beides, die Frau und ihr Kleid, zu
einer unrrermbaren Einheit verband? Dies scheint mit nun die
Gelegenheit, auf gewisse Fragen hinsichrlich der Mode und des
Putzes zurilckzukommen, die ieh zu Beginn dieser Stu die nur
flucnrig gesrreift habe, und die Kunst der Toilette gegen alberne
Verleurndungen in Schutz zu nehmen, mit denen gewisse hochst
zweideutige Verehrer der Natur sie bedenken.
Xl
Lobrede auf das Schrninken
Es gibt ein alres Lied, das derart abgedroschen und albern ist, daIS
es eigentlieh niche verdient, in einer Arbeit ziriert zu werden, die
einigen Anspruch auf Emsrhaftigkeit erhebt, das jedoch, wie in
einem seichten Lu stspiel, die Asehetik der Gedankenlosen vortreff-
lich zum Ausdruck bringt. La nature embeliit la beautel (Die Na-
tur verschonert die Schonheitl) Ware es dem Dichter gegeben ge-
wesen, Franzosisch zu reden, er harte vermurlich gesagr: La sim-
pliate embellit fa beaute! (Die Einfachbeit verschonert die Schon-
heitl), was dieser ganzlich unerwarteten Wahrhelt gleJchkommt:
Ein Nichts verschonert das, was ist.
Die meisten Irrtumer hinsichtlich des Schonen entspringen der
fal schen Vorstellung des schtzehnren jahrhunderts hinsichtlich
der Moral. Die Natur galt darnals als Grundlage, Quelle und
Urbild alles moglicheu Guten und Schonen. Die Leugnung der
Erbsiinde harte nicht wenig zu der allgemeinen Verblendung jener
Epoche beigetragen. Enrschliefsen wir uns jedoch, schlechthin den
Augenschein gel ten zu lassen, die Erfahrung aller Zeiten und die
Gazette des Tribunaux, so seben wir, daIS die Natur nichrs lehrt,
oder fast nichts, das heilSt, sie notigt. den Menschen, zu schlafen,
zu trinken, zu essen, und sich, so gut es geht, vor den Unbilden der
Witterung zu schutzen. Und es ist die Natur, die den Menschen
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dam treibt, seinesgleichen zu toren, zu verzehren, einzusperren
und zu folrern, denn kaurn verlassen wir den Bereich des Notwen-
digen und der Bedurfnisse, urn jenen des Luxus und der Vergnu-
gungen zu betreten, so sehen wir, dag die N atur auRerstande ist
uns anderes zu raten als das Verbrechen. Eben diese unfehlbare
Natur hat den Vatermord und die Menschenfresserei hervorge-
bracht, und unzahlige andere Greuel, welche zu nennen Scham
und Riicksichr uns verbieten. Hingegen ist es die Philosophie (ich
rneine, die rechte Philosophie) , ist es die Religion, die uns unsere
armen und gebrechlichen Eltern zu nahren befiehlr, Die Narur (die
. n ichrs anderes als die Stimme unseres Vorteils ist) heif5t uns, sie
torschlagen .. Man lasse alles, was naturlich ist, Revue passieren,
man untersuche samtliche HandJungen und Begierden des blof5
naturlichen Menschen, und man wird niehts als ScheulSlichkeiten
finden, Alles Schone und Edle isr ein Ergebnis der Vernunft und
der Oberlegung. Das Verbrechen, an dem das Mensehentier vom
Mutterleib an Gefallen hat, ist nariirliehen Ursprungs, Die Tugend
hingegen ist kunstlich, ubernatiirlich, denn zu allen Zeiren und bei
allen Volkern bedurfte es der Cotter und Propheten, um sie dervertierren Meosehheit beizu bringen, weil der Mensch unfahig ge.
wesen ware, sie au, Eigenem zu entdecken, Das Bose geschiehr
muhelos, natialich, schicksalhafr, das Gute ist immer das Ergebnis
einer Kunst. Alles, was ich hier von der Natur als einer schlechten
Ratgeberin in Dingen der Moral, und von der Vernunfr als der
wahren Erloserin und Heilbringerin sage, laf5! sich auf das Gebiet
des Schonen iibertragen. Das veranlafsr mich, in allern Aufpurz so
erwas wie ein Kennzeichen des nrsprtinglichen Adels der rnenschli-
chen Seele zu erblicken, Die Rassen, die unsere verworrene und
verdorbene. Zivilisation mit ganzlich Iacherlichem Hochrnut und
Dunkel gerne als Wilde behandelr, verstehen, ebenso wie das
Kind, die hohe Spiritualitar der Toilette. Der Wilde und das Baby
bezeugen, durch ihr unwillkurliches Verlangen nach allern Glan-
zenden, nach buntern Federschmuck, schillernden Steffen, nach
der gesteigerren Wtirde kunstlicher Forrnen, ihren Abscheu vor
dem Wirkliehen, und beweisen damit, absichtslos, die lrnmateria-
lirar ihrer Seele. Wehe dem, der, wie Ludwig xv. [der nichr das
Produkt einer wahren Zivilisation, sondern eines Ruckfalls in die
Barbarei war), die Verderbtheit so weit treibt, daf er nur 110ch an
der einfacben Natur Gefal len finder ." )
Die Mode muf deshalb als ein Zeichen fur das Streb en nach dem
Ideal gelten, das im menschlicben Gehirn alles iiberdauert, was
das nanirliche Leben dart ao Grobem, Irdischem und Schmutzi-
gem anhauft, als eine erhabene Deformation der Natur, oder viel-
mehr als ein dauernder und wiederholter Versuch, die Natur zu-
rechtzubringen. So hat man denn auch verstandlicherweise darauf
hingewiesen (ohne den Grund dafur zu entdecken), daG aile Mo-
den reizvoll sind, das heilSt relariv reizvoll, jede als eine mehr oder
minder gelungene erneute Anstrengung auf das Schone hin, eine
jeweilige Annaherung an ein Ideal, dem nachzutrachten den unbe-
friedigten mensehliehen Geist ein unaufhorlicher Kitzel treibt.
Doeh man soli die Moden, wenn man sie reeht geniefien will, nieht
wie abgestorbcne Dinge betrachten; ebensogur konnte man den
Kleiderplunder bewundern, der schlaff und reglos wie di e Haur
des heiligeo Bartholomaus beim Trodler im Schrank hangt. Man
muf sie sich verlebendigt vorstellen, zum Leben erweckt dureh die
schonen Frauen, die sie einmal rrugen, Nur dann wird man begrei-
fen, wozu sie dienten und was sie bedeuteten, Sollte dernnach der
Aphorisrnus: Aile Moden sind reizuoll, in seiner Unbedingtheir
Widersprueh erregen, so sage man, und man wird sicher sein dilr-
fen, sich nieht zu tauschen: Alle Moden waren berechtigrerwcise
einmal bezau bernd.
Die Frau ist durchaus in ihrern Recht, ja sie erfullt cine Art Pflicht,
wenn sie es darauf anlegt, beruckend und ubernaturlich zu er-
scheinen, sie soil erstaunen machen, sie soll bezaubern; ein Got-
zenbild, muB sie sieh vergolden, urn Anbetung zu wecken. AIle
Kunste mussen ihr deshalb als Mittel dienen, sich tiber die Narurzu erheben, urn die Herzen besser zu unterj oeheo und den Geist zu
bestricken, Es ist unerheblich, ob die Listen und Kunstgriffe allen
bekannt sind, we no der Erfolg nur gewilS lind die Wirkung imrner
unwidersrehlich ist . In solchen Erwagungen wird der philosophi-
• M an weilS , da :B M adam e Dubarry RQ t auflegte, wenn si e es venne iden woll te ,
de n Konig zu empfaugen. Des geniigre. Damir w ar ihre Ture fiir ihn verschlcs-
sen. Wenn sie sich verschente, bracbre sie diesen kdnighchen Junger der Natur
dahin, d aB ' e r d ie Fluchr ergriff .
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sche Kunstler leicht die Reehrfertigung aller Mittel finden, welche
die Frauen zu allen Zeiten angewandt haben, um ihre zerbrech.
liche Schonheit zu fesrigen und sie gewisserrnalien zu vergortli-
chen. Sie samtlich aufzuzahlen, kame man an kein Ende; doch,
urn uns auf das zu beschranken, was unsere Zeit gemeinhin dag
Scbminken nennt: wer sahe nichr, daB die Verwendung des Reis-
puders, den einige einfalrige Philosophen so toricht verdammt ha-
ben, den Zweck hat. und die Wirkung erzielt, aile Flecken, mit
denen die Natur den Teint schandlicherweise iibersat, Will Ver-sch winden zu bringen und in der farbigen Obcrflache der Haut
eine abstrakte Einheit zu erzeugen, eine Einheir, wie sie das Trikor
hervorbringt und die das menschliche Wesen sogleich einer Statue,
das heiBt einern gottlichen und hoheren Wesen, ahnlich macht?
Was das kunstliche Schwarz rings urn das Auge betrifft, und das
Rot, das den oberen Teil der Wange markiert, so enrstammr deren
Cebrauch zwar dem gleichen Bedurfnis, dem narnlich, die Natur
zu ubertreffen, das Ergebnis jedoch dient der Befriedigung eines
vollig entgegengeserzten Bedi.irfnisses. Da s Rot und das Schwarz
bringen das Leben zurn Ausdruck, ein ubernaturliches und iiber-
berontes Leben; diese schwarze Urnrahrnung macht den Blick tie-
fer und einzigarriger, verleiht dem Auge entschiedener das Ausse-
hen eines auf das Unendliche hin geoffneren Fensrers, das Rot, das
die Wange uberflammr, sreigert noch die Helle des Augapfels und
verleiht einern schonen weiblichen Antlitz die geheimnisvolle Lei-
denschaftlichkeit der Priesterin.
So darf, wenn man mich recht verstanden har, das Bemalen des
Gesichts niche cle f gewohnlichen, uneingestandenen Absicht die-
nen, die schone Natur nachzuahmen und mit der jugend zu wert-
eifern, Die Erfahrung beweisr auilerdem, daB Kunstgri ffe die HiilS-
lichkeit niehr verschonern und nur der Schonheir dienlich sind.
Wer wollte der Kunst die unfruchtbare Aufgabe zuweisen, die
Natur nachzuahmen? Die Sehminke braucht sieh nicht zu verstek-
ken; es schader nichts, wenn man sie errat, Im Gegenteil, sie darf
sieh, wenn auch nicht aufdringlich, so doch wenigsrens mit einern
gewissen Freimut darbieten.
Denjenigen, deren schwerfalliger Ernst sie hinderr, dem Schonen
bis in seine allergeringfugigsten Erscheinungen nachzugehen, sei es
unbenommen, iiber rneine Betrachtungen zu lachen und sie der
kindischen Feierlichkeit zu besehuldigen; ihr gesrrenges Urteil
trifft mich nicht; rnir 5011 es geniigen, mien auf die wahren Kunst-
ler zu berufen, wie auch auf jene Frauen, die bei ihrer Geburt einen
Funken dieses heiligen Feuers ernpfangen haben, mit dem sie ihr
ganzes Weseo zu erleuchten best rebr sind.
X IIDie Frauen und die Dirnen
Da M. G. es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Schonheit in der
Modernitiit aufzusuchen und darzulegen, so stellt er gerne reich
geschmuckte und dureh jeden kiinsrliehen Aufwand verschonte
Frauen dar, gleichviel welchern Bereich der Gesellschaft sie ange-
horen, Ubrigens springen in der Sammlung seiner Werke, wie im
Gewimmel des Menschenlebens, die Unterschiede der Kaste und
Rasse dem Betrachter unmittelbar in die Augen, in welchern Auf-
putz auch immer ihre Trager sich zeigen.
Bald erbliekt man in der ungewissen Helligkeit cines Theatersaales
j unge Madchen der hochsten Kreise, Das Licht empfangend und
widerspiegelnd mit ihren Augen, mir ihrern Schmuck, mit ihren
Schultern, erscheinen sie, hellstrahlend wie Portrats, in der Loge,
die ihnen als Rahmen dient. Die einen ernsthaft und nachdenk-
lieh, die anderen blond und leichtsinnig, Die einen stell en mit
aristokratischer Unbekurnmerthei t eine fruhreife Biiste zur Schau,
die andern zeigen arglos ihre knabenhafte Brust. Sie halren den
Facher an die Zahne; ihr Blick geht geradeaus oder verschwimmr,
sie sind rheatralisch und feierlich wie das Drama oder die Oper,
denen zu lauschen sie sieh den Anschein geben.
Bald wieder sehen wir in den Aileen der offcntlicheu Garten ele-
gante Farnilien nachlassig auf und ab wandeln; die Frauen haugen
mit ruhiger Miene am Arm ihrer Garten, deren solides und behag-
liches Aussehen ein gemachtes Vermogen und Selbstzufriedenheit
verraten. Hier ersetzr eine gewisse Stattlichkeit die wirkliche Vor-
nehmheit. Kleine magere Madchen in weiten Rockchen, die in
Bewegung und Haltung kleinen Frauen gleichen, springen Seil,
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schlagen den Reiten oder statten einander irn Freien Besuche ab
und wiederholen so die Komodie, die ihre Eltern zu Hause auf-
fuhren,
Aus einer niedrigeren Weir aufrauchend, voller Stolz, endlich im
Sonnenlicht der Rampe zu erscheinen, sieht man Madchen, die an
kleinen Theatern auftreren. Schmachtig, zerbrechlich, noch im
Wachstum begriffen, schultern sie auf ihren iungfraulichen und
kriinklicben Formen unsinnige Verkleidungen, die keiner Zeit ent-
sprechen und an denen sie ihre Freude haben,Am Eingang eines Cafes stellt sich, an die von innen und auEen
beleuchteten Scheiben gelehnt, einer jener Dumrnkopfe zur Schau,
dessen Eleganz von seinem Schneider und des sen Kopf von seinern
Friseur stamrnt, Neben ibm, die FilBe auf dem unentbehrlichen
Schemel, sitzt seine Geliebte, eine Frauensperson, der fast nichts
fehlr (dieses Fasmichts ist fast alles, es ist die Disrinkrion), urn
einer grofien Dame zu gleichen. Wie bei ihrem hu bschen Begleiter
ist auch bei ihr die gauze 6ffnung ihres kleinen Mundes mit einer
machrigen Zigarre beschaftigr, Diese beiden Wesen den ken nichr,
Ja wer weiG, ob sie irgenderwas sehen; es sei denn, daG sie, jeder
ein Narzill der Ceisrverlassenheit, die Menge wie einen FLuE be-
trachten, der ihnen ihr eigenes Bild zuruckwirfr. Sie sind wirklich
mehr zurn Vergnugen des Betrachters als zu ihrem eigenen da.
Und jetzt offnen diese Valentines, diese Casinos, diese Prados (die
fruher Tivoli, Idalie, Folie oder Paphos hiegeo) ihre von Licht und
Bewegung durchfluteten Galerien, diese Statten des Trubels, wo
eine rnliGiggiingerische jugend ihrem Uberschwang freien Lauf
Hillt. Frauen, die die Mode derarr ubertrieben haben, dag ihre
Anmur entstellt und ihre Absichren zerstcrt werden, fegen in
prunkvollern Aufzug das Parker! mit ih ren Schleppen und den
Zipfeln ihres Schals; sie kornrnen und gehen, wandeln bin und her,
Offnen ein erstauntes Auge wie das der Tiere, sie tun, als sahen sie
nichrs, und beobachren doch alles.
Auf dem farbigen Grund einer hollen- oder nordlichtartigen Be-
leuchtung, rot, orange, scbwefelgelb, rosa (das Rosa weekt Ernp-
findungen des Entzuckens innerhalb des Frivolen), zuweilen auch
violett (die Lieblingsfarbe der Stiftsdamen, Glut, die hinter einem
azurnen Vorhang erlischt), vor diesen zauberischen Hintergrun-
den, die mit den Farbenspielen des bengal ischen Feuers wer teifern,
entfalrer sich das gesrairenreiche Bild der verdachtigen Schonheit,
Hier hoheirsvoll, dart leicht beweglich, bald schlank, ja schmach-
tig, bald zyklopisch, bald klein und spruhend, bald wuchrig und
monumental. Sie hat sich eine herausfordernde und barbariscbe
Eleganz erfunden, oder sie strebt, mit mehr oder weniger Gluck,
nach der Schlichtheit, wie sie in einer besseren Welt gebrauchlich
ist. Das schreiter, gleiter, tanzt, walzt sich mit seiner Last gesrick-
ter Rocke, die sowohl al s fester Seckel wie al s locker schwingen-der Pendel dient; der Blick dringt unter dem Hut hervor, wie der
eines Porrrats aus seinem Rahmen. Sie verrritt die Wildheit in der
Zivilisation, Sie hat ihre Schonhe.t, die ihr vom Bosen kornmt, diy
jeder Spinrualitar beraubt, zuweilen jedoch von einer Mudigkeit
getiint ist, die sich als Schwermut ausgibt. Wie der eines Raubriers
gehr ihr Blick ins Weite mit der gleichen Verstortheir, der gleichen
lassigen Zersrreutheit, und zuweilen auch der gleichen gespannren
Aufmerksamkeit. Sie gehort einer Boheme an, die am Rande einer
geordneren Gesell schaft umherschwei ft, und ihr ganzer aufwendi-
ger Putz kann die Trivialirar ihres Lebens, das ein Leben der List
und des Kampfes isr, nichr verbergen, Auf sie passen die Worte
des unvergleichlichen Meisters, La Bruyere: »Bei man chen Frauen
findet man eine kunstliche GroGe in den Bewegungen der Augen,
in einer Kopfhaltung, in der Art des Ganges, a her das ist dann
auch schon alles .«
Was fur die Kurrisane gilt, gilt bis zu einem gewissen Grad auch
fur die Schauspielerin; denn auch sie iSI ein hergerichtetes Ge-
schopf, ein Gegenstand des offentlichen Vergnugens, Doch hier ist
die Eroberung, isr die Beute von edlerer, geistigerer Art. Bei ihr
geht es darum, die allgemeine Gunst nicht nur durch die bloGe
korperliche Schonheit zu gewinnen, sondern durch Talente der
al lersel tensten Gat tung. Beriihr t die Schauspielerin sich einerseit s
mit der Kurtisane, so grenzt sie anderseits an den Dichter. Verges-
sen wir nicht, daG alle Wesen auGer der naturlichen sowobl als der
kimst lichcn Schonheit eine Berufseigenti imlichkei t besitzen, erwas
Charaktenstisches, das korperlich bald als Halllichkeit und bald
als eine Art beruflichcr Schonbeit erscheinen kann.
In dieser ungeheuren Galerie des Londoner und des Pariser Lebens
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begegnen uns die versehiedenen Typen der unsreren, der aufstan-
dischen Frau aus allen Schichten, Das beginnt mit der galanren
Frau, in ihrer ersten Blute, patrizischen Gehabens, srolz zugleich
auf ihre Jugend und ihren Luxus, in den sie ihr ganzes Genie und
ihre ganze Seele legr; wie sie zan mit zwei Fingern eine Bahn ihres
weitwallenden Rockes aus Atlas, Seide oder Sarnt rafft und einen
kleinen spirzen FulS vorstreckt, dessen allzu gesehmiickrer Schuh
schon geniigen wiirde, sie kenndieh zu machen, wenn nicht die
Uberrriebenbeit ihrer Toilette dies bereirs besorgre. Die Leiter hin-
absteigend gelangen wir zulerzr zu jenen Sklavinnen, die in Spelun-
ken eingesperrt sind, denen man oft den Anschein von Cafehau-
sern gibr; Ungluckliche, die unter der Aufsichr der argsten Habgier
stehen und die nichts ihr eigen nennen, nicht einrnal den ausgefal-
lenen Purz, der ihrer Schonhei r als Wiitze dient,
Unter diesen findet man Vert reterinnen eines einfaltigen, ungeheu-
erlichen Diinkels, hocherhobenen Haupres und verwegenen Blik-
kes tragen sie ihre Lust am Dasein offen zur Schau, (Niernand
wei IS , warum.) Manchmal finden sie ungesuchr Haltungen von
einer Kuhnlrei; und cinern Adel, die den wahlerischsren Bildhauer
bezau bern wiirden, wenn der moderne Bildhauer nur Mut und
Geist genug hatte, den Add allerorren zu suehen und aufzulesen,
selbst im Schlamrn. Dann wieder zeigen sie sich ermattet, in ver-
zweifelten Halrungen der Langeweile, triige wie in einer schlechr-
gefiihrten Kneipe, mit miinnlichem Zynismus Zigareuen rau-
chend, um die Zei t totzuschlagen, mi t oriental ischer Gleichgi iltig-
keir in ihr Schicksa! ergeben, lang hingesrreckr, auf Kanapees sich
rakelnd, den Rock hinten und vorne zu einem doppelren Facher
entfalter, oder auf Schemeln und S ru hle n ih r Gleichgewicht si-
ehernd; scbwerfi illig, sturnpfsinnig, extravagant, mi t vom Brannt -
wein verglasten Augen und YOm Starrsinn vorgewolbren Stirnen,Wir sind bis zur letzten Windung der Spirale hinabgesriegen, bis
zu der [emina simplex des rornischen Satirikers. Bald sehen wir
auf dem Hintergrund einer von Alkoholdunsr und Tabakrauch
geschwiingerten Arrnosphare die Iiebergliihende Magerkeit der
Schwindsucht sich abzeichnen, oder die Rundungen der Fertsucht ,
dieser abscheulichen Gesundheit des Nichtstuns, ln einem diiste-
ren, goldtonigen Chaos, von dem die darbende Keuschbeit nichrs
ahnt, wirbeln and zucken gespenstische Nymphen und lebende
Puppen, aus deren Kinderaugen eine finstere Helle blitzt; wahrend
hinter einer Theke voller Likorflaschen eine dicke Megare sich
spreizt; um den Kopf gewunden tragt sie ein schmutziges Hals-
ruch, des sen Zipfel sich auf der Wand wie der Scharten eines
Teufels abzeichnen, ais ware alles, was sich dem Bosen weiht, zum
Hornertragen verurreilt,
Ich babe dergleicben Bilder wahrlich weder zum GefaUen des Le-
sers noch ihm zurn Argernis vor seinen Augen ausgebreitet; in
b e id en F a ll en harte ich es an Respekt ibm gegeniiber fehlen lassen,
Was diese Kompositionen kostbar macht und ihnen eine gewisse
Wiirde verleiht, sind die unzahligen, meist ernsten und dunklen
Gedanken, die sie heraufbeschworen. Sollte jedoch ein Schlecht-
beratener darauf verfailen , in diesen da und dorthin verstreuten
Darstellungen M, G:s eine Gelegenheit zur Befriedigung einer un-
gesunden Neugier zu such en, so sei er aus christli cher Nachstenlie-
be gewarnt: er wird hier nichts find en, was eine krankhafte Einbil-
dungskraft aufstacheln konnte. Er wird our dem unausweichli-
chen Laster begegnen, das heilSt dem Blick des im Finstern lauern-
den Darnons, oder der unter dem Gaslicht schirnmernden Schulter
Messalinas; nur der reinen Kunst, das heilSt dec besonderen
Schonheir des Bosen, dem Schonen irn Grailliehen, Aueh uber-
wiegt, irn Vorbeigehn sei es wiederholr, in dem Gesamteindruck,
den man von diesem Durcheinander empfangt, die Trauer das
possenhaft Unterhaltsame. Die besondere Schonheir diescr Bilder
beruhr auf ihrer moralischen Ergiebigkeit, Sie sind gesartigr mit
Anregungen, die grausame, peinigende VorsteUungen wecken,
welche zu v e rm i tr el n m e in e r Feder, be i aller Obung im Kampf mit
den kunstlerischen Darstelluogen, vielleichr nur unvollkommen
gelungen isr. '
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Xl II
Die Equipagen
So reihen sie sich aneinander, von zahllosen Variarionen unrerbro-
chen, diese langen Bilderfolgen des h ig h life und des low life_
Begeben W L r uns fiir eine Weile in eine, wenn auch nichr reine, so
doch wenigstens verfeinerre Welt; atmen wir, wenn auch vielleicbt
nicht gesundere, so docb zartere Diifte, Ic h habe bereits gesagr,
daB M. G.'s Pinsel, wie der van Eugene Lami, besonders geeignersei, die Prachtentfaltung des Dandysrnus und die Eleganz der Sa-
lonlowen darzusrel len, Das Betragen der Reichen ist ibm vertraut,
mit leichtem Federstrich, mit srets unfehlbarer Sicherbeit weiB er
die Sicherheit des Blick" der Bewegung mid der Haltung darzu-
stellen, welche bei den Bevorrechreten das Ergebnis eines unwan-
delbaren Gluckes ist, In der bier einzuordnenden Reihe seiner
Zeichnungen erscheinen In ihrer ganzen Vielfalt die wechselnden
Vorkommnisse des Sports, der Rennplatze, der Jagd, der Spazier-
gauge in den ParkanJagen, die stolzen Ladies, die schmachtigen
Misses, wie sie mit sicherer Hand ihre reinrassigen, bewunderns-
. w ert edeigeformten Pferde lenken, die selber wie Frauen kokett,
glanzend und launenhaft sind. Denn M. G. versteht sich nicht nur
auf das pferd im allgemeinen, er verlegt sich auch mit Gluck dar-
auf, die Schonheir des einzelnen Pferdes wiederzugeben. Da sieht
man haltende Equipagen, sozusagen Versammlungen vieler Wa-
gen, und auf den Pols tern, den Sitzen, dern Verdeck schlanke junge
Herren und Darnen in abenreuerlichen Toiletten, wie die Jahres-
zeit sie gestatter, aufmerksam verfolgen sie ein festli ches Ereignis,
das sich fern auf der Rennbahn abspielt, Dann wieder siebt man
einen Rei ter, der anmutig neben einer offenen Kalesche galoppiert,
und das Nerd, wie es tanzelt und sich verbeugt, scheint die Insas-
sen auf seine Weise zu griiBen. In einer von Licht und Schatten
gestreiften Allee tragr der Wagen in raschem Trab die Schonen
dahin, die, Iassig zuruckgelehnt wie in einem Nachen, den Artig-
keiren Iauschen, welche an ihr Ohr dringen, und trage den Fahrr-
wind uber sich hinstreichen lassen.
Pelzwerk oder Musselin umhullt sie bis ans Kino und brander wie
eine Welle iiber den Kutschenschlag, Die Lakaien sind steif und
1 C h a rl es B a u de la i re , Selbstbildnis
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3 Octave Penguilly-L'Haridon, us perires Mouertes
.:j Eugene Fromemin, Une Rue a £1 Aghouat
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$ Alfred Rethe l, Dec Tod a ls E [ ' \ \ 1 ' u rger
6 Ernes t Christophe , La Danse macabre , s ta tue tte
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7 Amand Gautier) Les Sceu rs de charir e
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8 Georges Rouaulr , Baudela ir e
9 Cha rles Assel ineau
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IO Alexandre Bida, Predication rnarorute dans le Liban
II E u ge ne D ~ la c: :: r- o: ix l La D e sc en te a u t cm be au
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r a Joseph Lies, Les Maux de la guerre
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1:3 Theophi le Gaori er
L4 Gustave Haubert
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15 jean-Leon Gerome, La Mort de Cesar
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[6 Wilhelm von Kaulbach , Das Nar teuhau s
T7 Char les Meryon, La Stryge
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18 Charles Mervon , Le Pont Neuf
I9 Charles Meryon, Tourelle rue de l'Ecole-de-Medecine
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2.0 Constantin Guys
21 Cons tant i n Guys, Abendgesellschafr
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Z,l Constantin Guys , Spazier fahr t im Bois de Boulogne
1.3 Constantin Guys , F ranzos ische Kaval lene im Krimkrieg
:2.4 Consranriu G uy s, Z wc i K ok otte n
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2.6 Constantin Guys, Tii rk ische Dame mit Sonnenschirm
l7 Constantin Guys, lm Hospit al yon Pera {sMy humble se ll . .)
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28 Constantin Guys, Zwei Reiter
lotreeht; wie auf Draht, und einer sieht aus wit der andere: imrner
das eintonig-flache Bild der punktlichen, untadeligen Dienstbeflis-
senbeit; was sie kennzeichnet, is! der Mangel an j edem besonderen
Kennzeiehen. 1m Hintergrund grunt oder rotet sich der Wald, die
Baume stehen im Blutenstaub oder versinken im Dammer, je nach
Stunde und jahreszeit. Seine Ticfen fiillen sich mit herbstlichen
Nebeln, mit blauen Schatten, gel ben Strahlen, rosigen Glanzlieh-
tern oder winzigen Blitzen, welche das Dunkel wie Sabelhiebe
durchzueken.
Hatten die zahllosen im Orient entstandenen Aquarelle uns nieht
bereits M. G.'s Meisterschaft als Landschaftsmaler gezeigt, so ge-
nugren die [erzt vorgefuhrten, urn uns zu uberzeugen, Hier aber
handelt es sich nieht mehr urn das aufgerissene Gelande der Krim,
noch urn die rheatralischen Gestade des Bosporus; wir finden die
uns vertrauten, intimen Landschafren wieder, die sich als schmuk-
ker Gone! urn eine groBe Stadt schlieflen, und wo uns Lichrwir-
kungen begegnen, die ein wahrhaft romantischer Kiinstler nicht
unbeachtet lassen darf.
Ein anderes Verdiensr, auf das hinzuweisen sich bier aufdrangt, istdie bemerkenswerte Kenutnis des Pferdegeschirrs und alles dessen,
was zur Wagenausstattung gehorr. M. G. zeichnet und malt einen
Wagen, und aile Wagentypen, mit der gleichen Sorgfalt und Lerch-
tigkeit, wie ein vollenderer Marinemaler samtliche Arten lion
Sebiffen. Alles an seinem Wagen zeugt von Kennerschaft; jedes
Detail sitzr an seinem Orr, und nirgends bleibr etwas auszusetzen.
In welcher Halrung ein Wagen uns vorgefuhrr wird, in welcher
Cangart er sich fortbewegt, irnrner entlehnt er, wie ein Schiff, der
Bewegung eine geheime, komplexe Anmut, die in der raschen Ab-
kurzung festzuhalten nicht leicht ist, Die Lust, die das Auge des
Kunstlers dabei empfangt, scheint aus der Aufeinanderfolge geo-
metrischer Figuren geschopft, die dieser an sieh schon so vielfalti-
ge Gegenstand, Schiff oder Wagen, in raschern Nacheinander im
Raum erzeugr,
Wir mochten jede Wetee darauf eingehen, daB M. G. 's Zeichnun-
gen in wenigen Jahren wertvoHe Archive des zivilisierten Lebens
bilden werdcn, Seine Werke werden von Kunstkennern ebenso
gesucht sein wie die eines Debucourt, Moreau, Saint-Aubin, Carle
5/11/2018 Baudelaire_Maler Des Modernen Lebens - slidepdf.com
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Vernet, Lami, Deveria, Gavarni und all jener vortrefflichen Kunsr-
ler, die, obwohl sie nur das Venraute und Hubsche dargesrelir
haben, auf ihre Weise dennoch ernsthafre Historiker sind. Mehre-
re unter Ihnen haben vielleicht dern Hiibschen allzu eifrig gehul-
dlgt, und in ihre Werke zuweilen einen dem Sujet fremden klassi-
schen Stil hineingebracht; andere ha ben wohluberlegt die Ecken
abgerundet, die Rauheiren des Lebens gegiatter, seine Grellheiten
gedampft. Weniger gewandt als sie, kommt M. G. ein hohes, nur
ihrn allein eigenrumliches Verdienst zu: er hat freiwillig eine Auf-
ga be erfullr, die andere Kiinstier verschrnahen und die zu erfiillen
v~r allem ein~m Weltmann zukam; er har iiberall die verganglrchc,
fluchtlge Schonheir des gegenwartigen Leben. gesuchr, das Merk-
mal des sen, was wir mit Erlaubnis des Lesers die Modernitiit ge-
nannr haben. Oft bizarr, gewaltsam, uberrneben, doch stets poe-
tisch, hat er es verstanden, in seinen Zeichnungen die Bitterkeit
oder die berauschende SiiEe des Lebensweines zu ke1tern und ih
nen Dauer Z11 verieihen,
DIE PHILOSOPHISCHE KUNST
Was ist die reine Kunst der rnodernen Auffassung nachi Das Er-
schaffen einer suggesriven Magie, die zugleich den Gegenstand
und das Subjekr enthalt, die Welt 3uBerhaib des Kunstlers und den
Kunstler selber,
Was isr die philosophische Kunst, so wie Chenavard und die deut-
sche Schule sie auffassen? Eine darsrcllende Kunst, die den An-
spruch erhebr, das Buch zu ersetzen, das heiEt, mit der Druck-
kunst zu werteifern, urn Geschichte, Moral und Philosoph;e zu
lehren.
Es gibt in der Tar geschichtliche Epochen, in denen die Kunst die
Besnmmung hat, die historischen Archive eines Volkes und die
Inhalte seiner Religion darzustellen,
Sell rnehreren J ahrhunderten j edoch hat sich in der Geschichte der
Kunst eine immer scharfere Trennung der Gewalten durchgeserzt,
es gibt Gegenstande, die der Malerei angehoren, andere gehoren
der Musik, und wicder andere der Literatur an.
Ist es eine verhangmsvolle Folge des allgemeinen Verfalls, daE jede
Kunst heutigen Tages eine Neigung zeigt, in die benachbarte
Kunst uberzugreifen, daf die Maler musikalische Stufenleitern in
die Malerei einfuhren, die Bildhauer farbige Skuipturen liefern, die
Literaten rnalerische Mittel in der Literatur verwenden, und ande-
re Kunstler, diejenigen, mit denen wit es heute zu tun haben, eine
Art enzy klopadischer Philosophie in der darstellenden Kunst sel-
ber 2Um Ausdruck bringen?
jede gute Skulptur, jedes gute Gemalde, jede gure Musik sugge-
riert die Gefuhle und Traurnereien, die sie suggerieren mochte,Vernunftsschlusse und Beweisfuhrungen j edoch gehoren dem
B uc h a n.
So ist die philosophische Kunst ein Riickgriff auf die Bilderwelt,
wie sie der Kindheit der Volker angemessen war, und wenn sie
sich seiber srreng die Treue hielte, muEte ihr Verfahten darin be-
srehen daB sie ebenso viele Bilder aneinanderreiht, wie in irgend-
einem San, den sie ausdrucken mochte, enrhalten sind,