Top Banner
Univerzita Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik 1947 – 1953 autor: Mag. phil. Adrian von Arburg 2004 školitel: doc. PhDr. Jaroslav Kučera
109

Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

May 01, 2018

Download

Documents

nguyentu
Welcome message from author
This document is posted to help you gain knowledge. Please leave a comment to let me know what you think about it! Share it to your friends and learn new things together.
Transcript
Page 1: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Univerzita Karlova v Praze Fakulta sociálních věd

Institut mezinárodních studií

Zwischen Vertreibung und Integration

Tschechische Deutschenpolitik 1947 – 1953

autor: Mag. phil. Adrian von Arburg 2004 školitel: doc. PhDr. Jaroslav Kučera

Page 2: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

INHALT

I. EINLEITUNG

1 Forschungsstand und Fragestellung ............................................................................. 8 Gegenstand und methodischer Ansatz 8 – Literatur und Forschungsstand 15 – Quellenlage und Probleme der Archivarbeit 26

2 Terminologische Überlegungen ................................................................................... 32 Theoretische Grundgedanken zur Definition von „grossen sozialen Gruppen“ 32 – Bevölkerungspolitik und (repressive) Siedlungspolitik 39

II. VORENTSCHEIDUNGEN

1 Die Nationalisierung des Raumes: Sudetendeutsch-tschechische Zukunftsperspektiven im Zweiten Weltkrieg .......................................................... 47

2 Entscheidungen über die Zahl der verbleibenden Deutschen 1945/46 ............ 58 Frühe Bestimmungen über die Ausnahme von Deutschen von den Vertreibungsmassnahmen 59 – Primat des Ethnischen: Abschub nach Staatsbürgerschaftsentzug 62 – Verordnete Ethnizität: Die behördliche Realität der Nationalitätenbestimmung 66 – Die Aussiedlungs-Ausnahmen konkretisieren sich 68 – „Reserven des eigenen Blutes“? 72 – Wirtschaftliche Motive hoch im Kurs 82 – Trendwende Ende März 1946: Rückbesinnung auf den „kompletten Abschub“ 83 – Mürbe gemacht: Deutsche Antifaschisten 93 – Abschub vor Bestrafung 108 – „Deutsche Juden“: Aussiedeln oder assimilieren? 111 – Österreicher und Schweizer 115 – Übrige auswahlbestimmende Regelungen in der zweiten Jahreshälfte 1946 116 – Die Frage der verbleibenden Deutschen in der Publizistik 119

3 Initiativen und Massnahmen 1945/46 .......................................................................121 Vorläufer einer dauerhaften Zwangsumsiedlung 121 – Temporärer Zwangsarbeitseinsatz von Deutschen im Landesinnern (1945/46) 128 – Überlegungen betreffs des Arbeitseinsatzes von Reichsdeutschen im Rahmen der Reparationsleistungen 134

4 Verhandlungen über eine Fortführung des Transfers (November 1946 – Mai 1947).........................................................................................................................137

5 Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung nach dem vorzeitigen Ende des Transfers .........................................................................................................142

Spezialisten und ungeschützte Industriearbeiter 142 – „Mischehen“ 146 – Übrige „geschützte“ Personen 147 – Abschubspflichtige Deutsche 147 – Siedlungsschwerpunkte der deutschen Bevölkerung zum Jahresübergang 1946/47 148

Page 3: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

5

III. IM ZEICHEN DER ZWANGSUMSIEDLUNG (1947/48) 1 Die Umsiedlungen im Jahre 1947 ............................................................................... 150

Die Ausgangslage auf der Planungsebene 150 – Die organisatorische Einleitung der Zwangsumsiedlung im Mai 1947 156 – Die Realisierung der ersten Umsiedlungsphase 164

2 Vorbereitung des Gleichstellungsansatzes auf der Planungsebene (1947).....172 Erste Teilinitiativen am Ende des Transfers 172 – Bedřich Steiner macht mobil (September 1947) 176 – Die Beauftragung Antonín Kučeras im Oktober 1947 181 – Ausgrenzung oder Integration? Das Ideenprogramm des Innenministeriums vom November 1947 185

3 „Das endgültige Ziel ist die definitive Lösung der Deutschen Frage“ – Die zweite Welle der Umsiedlungen (Herbst 1947 – 1948)..................................192

Erfolglose Versuche zur Wiederaufnahme des Transfers 192 – Organisatorische und inhaltliche Neuausrichtung der Binnenumsiedlung 198 – Die Realisierung der zweiten Umsiedlungsphase 204

4 Motive .................................................................................................................................216 Die rechtliche „Grundlage“ für die Umsiedlungen und Zwangsarbeit 218 – Von der Resolution zur Tat 222 – Motive der „staatlichen Sicherheit“: Rhetorik oder ernstzunehmendes Leitmotiv? 232 – Nationalpolitische Gründe: Konzentrierung oder Zerstreuung? 234 – „Mischehen“: Reif für die Umsiedlung oder Katalysatoren der Tschechisierung? 241 – Nutzung von Arbeitskraft 243 – Parteipolitische Motive 249 – Materielle Interessen 256

5 Der „Februar“ 1948 als Zäsur?.....................................................................................257 Radikalisierung der anti-deutschen Stimmung als Komponente der Nach-Februar-Atmosphäre 258 – Zur Praxis des innerstaatlichen „Schubwesens“ vor und nach dem „Februar“ 261

6 Zur Lebenssituation der Umgesiedelten ..................................................................268

7 Migrationsrichtungen und Zahl der Betroffenen...................................................277 Migrationsrichtungen 277 – Zahl der Betroffenen 281 – Flucht 294

8 Patentrezept Zwangsumsiedlung: Personelle und ideelle Parallelen ..............297 Parallelen innerhalb der Tschechoslowakei 298 – Ausblick auf Parallelen in Polen und

Ungarn 309

IV. AUSSIEDLUNGEN (1948 – ANFANG 1950)

1 Die „Nebenevakuierungsstrasse Asch – Hof“ .......................................................314

2 Verhandlungen mit den Amerikanern über eine Weiterführung der Aussiedlung 1948/49.......................................................................................................322

3 Letzte Gruppenaussiedlungen in die SBZ im Frühling 1949..............................328

Page 4: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

6

V. DEUTSCHE ANTIFASCHISTEN (1947-1950) 332 Zwei Gruppen von verbliebenen Antifaschisten 332 – Die Staatsbürgerschaftsfrage 334 – Tschechische und deutsche Sozialdemokraten und der „anvertraute“ Besitz 339 – Der grosse Kahlschlag: Die Antifa-Revision von 1948 342 – Die „französische Aktion“ 348 – Die verbliebenen deutschen Antifaschisten am Ende der 40er Jahre 349

VI. DEPORTATION UND ZWANGSARBEIT IM JOACHIMSTHALER

URANREVIER 1 Uranförderung und Arbeitskräfte ...............................................................................352

2 Der politische Hintergrund ..........................................................................................356

3 Die ersten Transporte (Mai – August 1948) .............................................................361

4 „Aktion J“ – Die zweite Transportwelle im Herbst 1948 .....................................367

5 Zur Dimension der Überführungen...........................................................................371 1. Phase (Mai – September 1948) 372 – 2. Phase (Oktober/November 1948) 373

6 Die Ablösung der deutschen Kriegsgefangenen durch tschechoslowakische Häftlinge...................................................................................386

VII. DIE ANBAHNUNG EINER NEUEN DEUTSCHENPOLITIK (1948-1950)

1 1948: Liberalisierungskurs mit Vorbehalten ............................................................ 393 Aufschub der staatsbürgerlichen Integration im Interesse der Siedlungspolitik 393 – Verhaltene Signale: Sozialpolitische Massnahmen 399

2 Stille Aufgabe der Transferforderung 1948/49 ........................................................402

3 Verbleib und Rückkehr der Zwangsumgesiedelten 1948/49..............................404

4 Das Migrationsverhalten der deutschen Bevölkerung in statistischer Analyse (1946 – 1950) ......................................................................................................406

Auswirkungen der Zwangsumsiedlung in den Gebieten Innerböhmens und –mährens 409 – Rückkehr in die Grenzgebiete und Auswanderung 412

5 Paradigmenwechsel in der staatlichen Deutschenpolitik (1949/50) ................413

VIII. INTEGRATION DURCH STAATSBÜRGERSCHAFT (ENDE 1948 – 1953)

1 Nach der Zwangsumsiedlung .....................................................................................419

2 Das Werben um die Gunst der verbliebenen Deutschen.....................................423

3 Forcierte Integration: Die universelle Verleihung der Staatsbürgerschaft .....429

Page 5: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

7

IX. SONDER- UND SPÄTAUSSIEDLUNGEN 1 Die „Repatriierung“ der deutschen Kriegsgefangenen (1947 – 1950) ..............432

2 „Aktion Link“ (1949 – 1951) ..........................................................................................436

3 Das Schicksal der zurückgebliebenen Aussiedler in Reichenberg und Eger (1951/52) ..................................................................................................................450

4 Spätaussiedlungen ab 1952 ...........................................................................................455

5 Die Aussiedlung der deutschen Retributionshäftlinge (1948 – 1956) ...............457

X. NATIONALITÄTENPOLITIK IM ZEICHEN DES „PROLETARISCHEN

INTERNATIONALISMUS“ (1950 – 1953) 1 Demographisches Profil der deutschen Bevölkerung zu Beginn der 50er Jahre ...........................................................................................................................465

2 Sozialpolitische Massnahmen zur Verbesserung der existentiellen Lage der deutschen Bevölkerung ..........................................................................................468

3 Die Folgen des neuen Kurses für die Zwangsumgesiedelten ............................474

4 Gleiche Instrumente – neue Opfer: Zwangsumsiedlung als Konzept und Wirklichkeit in der kommunistischen Tschechoslowakei ..................................480

Nationale Motive 480 – Machtpolitische, Klassen-, religiöse und „Sicherheitsmotive“ 482 – Kontinuität von Plänen, Motiven und Massnahmen: Das Schicksal der autochthonen Bevölkerung des südböhmischen Weitra-Gebiets 487 – Formen der Zwangsumsiedlung gegenüber der Roma-Bevölkerung bis Ende der 60er Jahre 493

5 Die politische Durchsetzung einer neuen Deutschenpolitik – Anspruch und Realitäten ..................................................................................................................495

Historische Erblasten 495 – Assimilation oder nationale Eigenart? 497

XI. FAZIT 508

ANHANG

Archivquellen 526 Literatur 530 Abkürzungsverzeichnis 549 Ortsnamenskonkordanz 551 Dokumente 559 Statistische Dokumentation 561

Page 6: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Die Anbahnung einer neuen Deutschenpolitik (1948-1950)

476

Länder verlassen haben, auf international geregelte Weise ins Ausland gelangt sind.1802 Innerhalb der regulären Familienzusammenführungstransporte sind nach den Meldungen der entsprechenden Verbindungsoffiziere in den Jahren 1947 und 1948 insgesamt 12.824 Personen in die US-Zone bzw. SBZ Deutschlands ausgesiedelt (dazu 2.219 ehemalige Kriegsgefangene in die SBZ, die in der Zählung zum 1.11.1946 wahrscheinlich nicht berücksichtigt wurden).1803 Ungefähr drei Viertel aller Aussiedler der beiden ersten Jahre nach Ende des „systematischen“ Transfers verliessen die Tschechoslowakei somit auf irreguläre Weise (ausserhalb der international festgelegten Transferquote) oder gänzlich illegal. Ab dem 15.2.1949 bis zum 1.3.1950 (kurz bevor die letzte organisierte Massenaussiedlungswelle, „Aktion Link“, begann), verliessen nur einige Tausend Deutsche die böhmischen Länder (die Differenz zwischen beiden Zählergebnissen beträgt auf der Gesamtebene der böhmischen Länder 3.243 Personen). Hier handelte es sich entweder um individuelle Ausreisen über Eger/Asch nach Bayern oder freiwillige Aussiedlungen mit Sammeltransporten im Frühling 1949 in die SBZ. 1804 Nach vorzeitigem Abbruch der „Aktion Link“ Anfang April dürfte Mitte 1951 die Zahl der behördlicherseits als deutsch geltenden Einwohner der böhmischen Länder bei ungefähr 144.000 gelegen haben. Die weitere kontinuierliche Verminderung dieser Zahl ergab sich aus einer langfristig anhaltenden Ausreisetendenz wie auch – und das vor allem vor allem – aus der schwachen eigenen Regenerierungsmöglichkeit und der sich erdbebenartig durchsetzenden Assimilierung.

5 Paradigmenwechsel in der staatlichen Deutschenpolitik (1949/50) Angesichts des innerhalb der Bevölkerung noch immer auszumachenden Unwillens, liberalisierende Schritte in der für das Selbstverständnis der Nachkriegs-ČSR besonders sensiblen Deutschenpolitik mitzutragen, war das staatliche Vorgehen trotz der Teil-Liberalisierungen der Jahre 1947-1949 noch immer durch Behutsamkeit, Zurückhaltung und halbherzige, ja manchmal widersprüchliche Schritte geprägt. Selbst bemerkenswerte Eingeständnisse der höchsten Ministerialbeamten, so z.B., dass die Folgen der Applizierung von Dekret 71/1945 teils „im Widerspruch mit den allgemeinen Vorschriften des Zivil- und Arbeitsrechts stehen und mit den Verfassungsgrundsätzen nicht in Einklang stehen“, 1805 mussten nicht bedeuten, dass auf politischer Umsetzungsebene konkrete Schritte zur Behebung der erkannten Missstände erfolgten. Leicht vereinfachend gesagt: Spätestens ab Herbst 1947 (wohl aber schon seit Kriegsende) war man sich im Innenressort bewusst, dass einige gewählte Massnahmen – nicht nur

1802 Vgl. dazu die in dieser Studie diskutierten Angaben zur Frequentierung der verschiedenen Ausreisewege

(„Nebenevakuierungsstrasse“ über Asch, Flucht über die Grenze, organisierte

Familienzusammenführungstransporte und individuelle Ausreise). 1803 Vgl. die entsprechenden Tabellen im Anhang bzw. STANĚK: Odsun Němcŧ, 248ff. und HRABOVEC:

Vertreibung und Abschub, 326-330. 1804 Vgl. die entsprechenden zwei Kapitel in dieser Arbeit ab S. 359 bzw. S. 381. 1805 So Dr. Hora, Leiter der Abschubsabteilung des Innenministeriums, in einem Bericht für den Innenminister

über Fragen im Zusammenhang mit der Beendigung des Abschubs vom 15.3.1949. Der Autor sprach sich

daher für eine Aufhebung des betreffenden Dekrets aus. Die Arbeitszuteilung von Deutschen könne trotzdem

weiterhin praktiziert werden, aufgrund von Dekret 88/1945, das bereits seit längerer Zeit gegenüber

tschechoslowakischen Staatsbürgern und besonders oft gegenüber den deportierten südslowakischen

Magyaren angewandt wurde. AMV-P, sign. 304-246-2, Bl. 1-9. Weitere Bedenken Horas galten dem Begriff

der „staatlichen und nationalen Zuverlässigkeit“. Im Falle der Deutschen genüge zur Erfüllung dieses

Tatbestandes meist nur schon die Feststellung der deutschen Nationalität, was z.B. dazu führen könne, dass

Deutschen oder mit diesen Lebenden auf Grundlage von Gesetz 138/1948 über das Wirtschaften mit

Wohnungen, leicht der Mitvertrag gekündigt werden könne. Ebenda.

Page 7: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Die Anbahnung einer neuen Deutschenpolitik (1948-1950)

477

gegenüber der deutschen Bevölkerung – nicht im vollen Einklang mit den (häufig erst nach 1945 eingeführten) rechtlichen Bestimmungen standen. Gleichzeitig reifte in der Ministerialbürokratie „unter der Oberfläche“ immer mehr die Einsicht heran, dass man um eine schrittweise Verbesserung der rechtlichen Stellung und praktischen Lebenslage der verbliebenen Deutschen nicht umhinkommen würde. Trotz recht ausgereifter Liberalisierungskonzepte in der Staatsbürokratie stellte – nebst einer erst zu Ende des Jahres in Richtung einer weitgehenden Integration der verbliebenen Deutschen umschlagenden Politik – auch 1949, wie schon das Vorjahr, noch immer eine Periode des zögerlichen Abwartens dar, obwohl die zuständige Abteilung des MV im Laufe des Jahres mehrfach angemahnt hatte, die Lage der Deutschen durch schrittweise Aufhebung der verschiedenen Diskriminierungen auf legislativem Wege zu verbessern, um sie für den Staat zu gewinnen.1806 Der neue Leiter der Abschubsabteilung im MV, Jan Hora, hatte bereits am 4.1.1949 die Möglichkeit angeregt, anstelle oder neben der von ihm geführten, immer unwichtiger werdenden Abschubsagenda eine eigene Sonderabteilung im Innenministerium zu errichten, die sich ausschliesslich mit der Agenda der deutschen Bevölkerung in der Tschechoslowakei befassen sollte und Fragen wie die Staatsbürgerschaft und Konfiskationsfragen zu lösen hätte. Dabei vertrat er die Meinung, dass das alleinige Operieren mit der Staatsbürgerschaftserteilung für eine wirksame Integration der verbliebenen Deutschen in die Gesellschaft unzureichend sei.1807 Den Vorschlag, die Abschubs-Agenda allmählich einzustellen und diesen Schritt mit einer Beseitigung der bestehenden rechtlichen Diskriminierungsmassnahmen zu verbinden, unterbreitete Hora am 10.3.1949 auch an Nosek persönlich.1808 Ende Mai bekräftigte Hora den Vorschlag für eine „dauerhafte Regelung“ der Rechtsstellung der deutschen Angestellten in einem ausführlichen Memorandum und befand die bisher nur für einen Teil der verbliebenen deutschen Bevölkerung geltenden Erleichterungen, wie sie seit Frühling 1946 galten, als ungenügend. Weitere Aufrufe der Abteilung A/6 des MV (die früher gültige Bezeichnung „Abschubsabteilung“ wurde im Jahre 1949 hinfällig) des MV zu grundsätzlichen Reformen in der Deutschenpolitik – einschliesslich einer Lösung der Konfiskationsfrage – folgten in der zweiten Jahreshälfte. 1809

* * *

Noch immer ging das MV im Oktober 1949 von rund 40.000 Personen aus, die beim Allied Military Permit Office in Prag um die Ausstellung einer Einreisebewilligung nach Westdeutschland angesucht hatten. Die individuelle Ausreise der eine Entry Permit besitzenden Deutschen scheiterte jedoch in aller Regel am Widerstand der örtlichen Nationalausschüsse, die aus ökonomischen Gründen (Arbeitskräfte) nicht gewillt waren, die Betreffenden gehen zu lassen. Nach einer von den tschechoslowakischen Behörden in der zweiten Jahreshälfte 1949 durchgeführten Evidenzaktion von ausreisewilligen „staatenlosen“ Deutschen wurden ungefähr 30.000 Personen erfasst. Davon handelte es sich bei rund 10.000 Personen um Menschen, die zu ihren engsten Familienmitgliedern (Ehepartner, Eltern, Kinder) auszureisen gedachten. Bei den Übrigen gehe es um nur

1806 Vgl. den Wortlaut der Information an Nosek, geschrieben von Dr. Turek (Abteilung A/6 des MV) vom

14.10.1949. SÚA, f. MV-N, kr. 254, i.č. 160. 1807 SÚA, f. MV-D, kr. 220, Bericht von Hora über den Stand der Abschubsagenda vom 4.1.1949. 1808 Ebenda, Nachricht von Hora an Nosek vom 10.3.1949. 1809 Ebenda, kr. 222, Information von Hora über mit dem Abschub der Deutschen verbundene Fragen und der

eventuellen definitiven Regelung der Rechtsstellung der Deutschen in der Tschechoslowakischen Republik,

30.5.1948; Vgl. auch ebenda, Schreiben des Vorstehers der Abteilung A/6 an den stellvertretenden

Innenminister E. Polák vom 19.8.1949.

Page 8: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Die Anbahnung einer neuen Deutschenpolitik (1948-1950)

478

entferntere Verwandte. Die Anmeldungsaktion stiess unter der deutschen Bevölkerung auf grosses Interesse, bei den Vertretern der Volkswirtschaft löste sie erneut Beunruhigung aus. Nach einem internen Bericht des MV würden sich bei einer Ausreisemöglichkeit ohne Einschränkungen „sozusagen alle Deutschen“ melden.1810 Das Innenressort machte sich hinsichtlich der Gründe für dieses „Ausreisefieber“ unter der deutschen Bevölkerung keine Illusionen und war sich wohl bewusst, dass die fehlende Identifikation vieler (v.a. jüngerer) Deutscher vorwiegend eine direkte Folge der noch immer anhaltenden zahlreichen Benachteiligungen im Alltag war. Diese betrafen in gewissen Fällen Deutsche auch dann, nachdem sie zu tschechoslowakischen Staatsbürgern geworden waren oder diese (als anerkannte Antifaschisten) offiziell nie verloren hatten. Daraus resultierte, dass im Staat Bürger zweier Klassen lebten – voll- und minderberechtigte, die z.T. handfesten Nachteilen wie dem Ausschluss aus der Zuteilung konfiszierter Güter, geringeren Ansprüchen im Bereich der Krankenpflege, Sozialhilfe und Sozialversicherung oder der Verwehrung der Nutzung gesperrter Sparguthaben ausgesetzt waren, „auch wenn sich ihre antifaschistische Gesinnung immer bewährt hat oder sie sich voll der Aufbauarbeit widmen“.1811 Der generelle Grund für den Unwillen unter den Deutschen, um die Rückerlangung der Staatsbürgerschaft anzusuchen sei „ihre Unsicherheit über das weitere Schicksal, besonders die Angst, dass die gegen sie gerichteten Aktionen sich zu jederzeit wiederholen könnten, dass ihnen das neu zusammengesparte Eigentum wieder genommen wird, dass sie ins Landesinnere umgesiedelt werden, in schlechtere

Wohnungen überstellt werden usw.“1812 Ein Verzeichnis der nach wie vor geltenden rechtlichen Bestimmungen, die – auf ethnischer Grundlage – konkret Bürger deutscher Nationalität gegenüber den übrigen „slawischen“ Staatsbürgern benachteiligten, enthält 17 Präsidentendekrete, Gesetze und Regierungsanordnungen, die in von 1945 bis 1947 verabschiedet worden und zumeist noch immer in Kraft waren (nicht alle von diesen begründeten auf unbegrenzte Zeit hin Rechtsakte). Auf der Ebene der amtsinternen Bekanntmachungen und Richtlinien, die nicht in der Sammlung der Gesetze und Anordnungen veröffentlicht worden waren, wurden neun solche zwischen 1945 und 1949 verabschiedete Normen ausgemacht. Daneben verzeichnete das Ressort in dieser Grundinventarisierung der bisher vom eigenen Haus gepflogenen ethnischen Segregationspolitik zahlreiche weitere Diskriminierungspraktiken, denen sich Deutsche im Alltag ausgesetzt sahen, die – von den Zentralbehörden wissentlich geduldet – nicht auf zentralstaatlichen Regelungen beruhten, sondern von einzelnen Bezirks- oder Ortsnationalausschüssen erlassen worden

1810 SÚA, f. MV-N, kr. 254, i.č. 160, Bericht an Nosek von Turek vom 14.10.1949. – Auch unter der geltenden

Einschränkung, dass die Ausreise nach Westdeutschland nur im Falle von Familienzusammenführungen in

Frage käme, meldeten sich in einigen Bezirken nach Information des MV „fast 100% aller Personen deutscher

Nationalität“ an. SÚA, f. MV-T, kr. 37, sign. 265, i.č. 1969, Memorandum zur Änderung der Stellung der

deutschen Bevölkerung (ca. Ende 1949/Anfang 1950). – Der amerikanische Permit Officer in Prag, Martin

Bowe, sprach gegenüber Miroslav Vlček am 10.8.1949 von ungefähr 30.000 Permit-Anträgen, die seinem

Amt vorlägen. MV-D, kr. 222, Bericht Vlčeks an den stellvertretenden Innenminister Polák vom 15.8.1949. 1811 NA, f. 100/4, sv. 19, a.j. 137, Bl. 23-34, Schreiben des stellvertretenden Innenenministers Ervín Polák an

Marie Ńvermová (ZK der KSČ) vom 26.1.1950 mit Memorandum „Regelung der rechtlichen Stellung der

Personen deutscher Nationalität“ und drei weiteren Anlagen. Vgl. auch Ebenda, f. MV-T, kr. 32, sign. 95, i.č.

1739 (Alternativversion des Memorandums). 1812 Ebenda, kr. 37, sign. 265, i.č. 1969, Memorandum zur Änderung der Stellung der deutschen Bevölkerung (ca.

Ende 1949/Anfang 1950). Daneben wird im selben Papier angeführt, dass „abgesehen von überzeugten

Antifaschisten die Mehrheit der Deutschen bisher zu unserem Staat keine positive Einstellung gefunden hat.

[...] Sie fühlen sich in der ČSR nicht zu Hause und abgesehen von gemischten Familien rechnen sie damit,

dass es ihnen früher oder später gelingt, nach Deutschland zu kommen“.

Page 9: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Die Anbahnung einer neuen Deutschenpolitik (1948-1950)

479

waren.1813 Der einfachste Weg, so das MV, diesen Missstand zu lösen, bestünde in der Verabschiedung eines Gesetzes, dass ausdrücklich jede Ungleichbehandlung von tschechoslowakischen Staatsbürgern untersagte. Dieses kam jedoch – sieht man von der bereits geltenden Mai-Verfassung aus dem Jahre 1948 ab – nie zustande. Gegenüber den noch immer „staatenlos“ bleibenden Deutschen sprach sich das Konzeptpapier für dieselbe harte Linie aus, die bereits Antonín Kučera im Oktober 1948 vertreten hatte (strikte Anwendung der Normen über den Aufenthalt von Ausländern, d.h. Meldepflicht, Ansuchen um Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung), nur von „Arbeitspflicht“ war nicht mehr die Rede. Hingegen solle darauf hingewirkt werden, dass der Staat sich dieser Personen innerhalb kürzester Frist durch individuelle Ausreise entledigen könne.1814

* * * Offensichtlich war aber bei den obersten Entscheidungsträgern in der Partei – sprich bei Gottwald, Slánský, Nosek und anderen ZK-Mitgliedern – auch 1949 noch keine ausreichende Bereitschaft zu einem qualitativen Durchbruch in der Deutschenpolitik vorhanden. Eine Berücksichtigung von spezifischen kulturellen, geschweige denn sprachlichen Bedürfnissen der verbliebenen Deutschen kam 1949 noch nicht in Frage. Den Ausschlag zu einer entscheidenden Lockerung gab ganz gewiss die Gründung der DDR am 7.10.1949, womit nun auch der deutschen Minderheit – wie zuvor schon den Polen und Magyaren – ein sozialistisches „Mutterland“ gegeben war. Diese geopolitische Veränderung der Lage konnte für Prags Deutschland- wie Deutschenpolitik nicht ohne schwerwiegende Folgen bleiben. Ein zweiter Faktor könnte den neuen Wind gegenüber der deutschen Minderheit wenn nicht mitbedingt, dann doch sicher mitbegünstigt haben. Dieser liegt im Umstand begründet, dass Ende 1949/Anfang 1950 die Binnenbesiedlung in den Grenzgebieten in ihrer letzten Phase, der der Besitzübertragung von Gewerbebetrieben und Häusern an Neusiedler, allmählich ihrem Ende zuging. Es fällt auf, dass die legislative Vorbereitung der Beendigung der Binnenbesiedlung und der Auflösung des Siedlungsamtes, zu der es am 15.3.1950 kam, gleichzeitig mit der Ausformulierung der Massnahmen der angedachten Entdiskriminierungs-Politik gegenüber der deutschen Bevölkerung geschah.1815Zumindest als These sei formuliert, dass einer der Hauptgründe für das Abwarten mit weiteren Liberalisierungsschritten in der Deutschenpolitik in den 1948 und 1949 auf Hochtouren laufenden Eigentumszuteilungen von Gewerbebetrieben und vor allem von Häusern an die Neusiedler im Grenzgebiet liegen könnte. Die neuen Verstaatlichungsdekrete im Frühling 1948 und die zielstrebige Einverleibung aller Industriekonfiskate in den Staatssektor, das aber Herbst 1948 immer unverhohlenere Propagieren des Übergangs von Gewerbe- und Handwerksbetrieben in „höhere Produktionsstrukturen“ und nicht zuletzt die 1949 beginnende Kollektivierung in der Landwirtschaft lösten grosse Unruhe unter den seit 1945 in einem besitzrechtlichen Provisorium lebenden Neusiedlern aus. Angesichts dieser Verunsicherung und der ohnehin geltenden härteren Lebensbedingungen in den meisten Regionen des Grenzegebietes hatten die

1813 Eine Aufzählung der aufgeführten Diskriminierungsbestimmungen würde hier zu weit führen. Es sei deshalb

auf die Archivquelle verwiesen: NA, f. 100/4, sv. 19, a.j. 137, Bl. 23-34, Schreiben des stellvertretenden

Innenenministers Ervín Polák an Marie Ńvermová (ZK der KSČ) vom 26.1.1950 mit Memorandum

„Regelung der rechtlichen Stellung der Personen deutscher Nationalität“, hier zitiert Beialge Nr. 2 und 3. Im

Memorandum wird dazu vermerkt, dass die auf ethnischer Grundlage beruhende Ungleichbehandlung im

Amtsverkehr keine allzu grosse Rolle spiele, da Behörden meist gar keine „Bestätigung der Nationalität“,

sondern nur „der nationalen Verlässlichkeit“ forderten. 1814 Ebenda, streng vertrauliches Memorandum zur Vorbereitung der Februar-ZK-Beschlüsse über die neue

Deutschenpolitik. 1815 Die Materialien zu beiden Initiativen wurden gemeinsam vorbereitet und in sind zumeist in gemeinsamen

Aktenfaszikeln abgelegt. Vgl. z.B. ebenda, sowie ebenda, f. MV-N, kr. 37, sign. 265

Page 10: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Die Anbahnung einer neuen Deutschenpolitik (1948-1950)

480

Siedlungsbehörden ihre liebe Mühe, die zur Verfügung stehenden Häuser „an den Mann“ zu bringen, um so der bereits deutlich überwiegenden Abwanderung wirksam entgegensteuern zu können.1816 Weitere Zugeständnisse in der Deutschenpolitik hätten die Verunsicherung – und damit die Abwanderung – der Tschechen und Slowaken im Grenzgebiet wahrscheinlich weiter gefördert, so dass es der Staats- und Parteiführung nach Abschluss der grossen Güterumverteilungen im Grenzgebiet Anfang der 50er Jahre leichter fiel, eine neue Deutschenpolitik zu propagieren.1817 Die neue Tauwetterpolitik, die jedoch nur für das Feld der Nationalitätenpolitik galt, leitete Gottwald auf der ZK-Sitzung vom 24.2.1950 mit der eingängigen und gleichzeitig einen aussen- wie innenpolitischen Inhalt tragenden Losung „Es ist kein Deutscher wie der andere“ (Není Němec jako Němec) ein.1818 Dem voraus gegangen war am 13.2. schon der grundsätzliche Beschluss des ZK-Präsidiums, nach dem gegenüber der deutschen Bevölkerung „alle so genannten Diskriminierungsvorschriften und Anordnungen aufgehoben werden sollen, und das auch für diejenigen, die nicht um die Erteilung der Staatsbürgerschaft ansuchen oder diese nicht erteilt bekommen werden“.1819 Die zuvor von einigen Vertretern des Innenressorts vertretene scharfe Trennung zwischen deutschen Staatsbürgern und „Staatenlosen“ hatte sich also nicht durchgesetzt. (Schon im Februar und März 1949 war kodifiziert worden, dass „staatenlose“ Deutsche nicht den üblichen strengen Auflagen über den Aufenthalt von Ausländern unterlagen und eine spezielle „Aufenthaltsbewilligung für Personen ohne Staatsangehörigkeit“ erteilt bekamen. 1820 ) Am 27.6.1950 verabschiedete das ZK-Sekretariat im Grunde die Vorschläge, die das MV inzwischen – in enger Abstimmung mit der von Marie Švermová geleiteten „Abteilung für die Volksverwaltung“ des ZKs – dazu ausgearbeitet hatte. Der Rechtsrat des ZKs hatte vorher beschlossen, dass die Liberalisierungsmassnahmen auf dem Feld der Deutschenpolitik auf amtsinternem Wege und nicht etwa in Gesetztesform

1816 Von einer „Sehnsucht nach Rückkehr ins Landesinnere“ sprach ein Schreiben des Staatlichen Planungsamtes

vom 11.10.1949 an Slánský, das den Gründen für das verhaltene Interesse der Neusiedlern an den

Häuserzuteilungen nachging. Zu diesen gehörten auch die angeblich von den verbliebenen Deutschen

verbreitete Propaganda über die Möglichkeit einer Rückkehr der vertriebenen Deutschen. SÚA, f. 100/1, sv.

180, a.j. 1126. 1817 Der Text des vom MV Anfang 1950 ausgearbeiteten Materials zur Vorbereitung der ZK-Beschlüsse vom

Februar 1950 scheint ein solches meritorisches Junktim anzudeuten. SÚA, f. MV-N, kr. 254, i.č. 160, von

Nosek an Gottwald am 4.2.1950 geschickte Unterlagen. Auch ein vom MV im Januar 1950 ausgearbeitetes

Memorandum zur Vorbereitung der angedachten Reformschritte in der Deutschenpolitik sprach von

„einzelnen Siedlern, die nationalistische Meinungen äussern, hauptsächlich in Verbindung mit

besitzrechtlichen Fragen und aus Furcht, da sie irrtümlich annehmen, dass eine Gleichberechtigung der

Deutschen ihre Wohnung, ihr zugeteiltes Haus, ihre Möbel usw. gefährden könnte.“ NA, f. 100/4, sv. 19, a.j.

137, Bl. 23-34, Schreiben des stellvertretenden Innenenministers Ervín Polák an Marie Ńvermová (ZK der

KSČ) vom 26.1.1950 mit Memorandum „Regelung der rechtlichen Stellung der Personen deutscher

Nationalität“ und drei weiteren Anlagen. 1818 SÚA, f. 01, sv. 7, a.j. 24, Bl. 76-138, hier 94, Originalmanuskript von Gottwalds Rede. Nach dieser Vorlage

sagte Gottwald anstatt der später immer wieder zitierten Formel aber (in Bezugnahme auf den vom ihm

postulierten gegenwärtigen klassenmässigen Differenzierungsprozess in Deutschland: „Ich denke deshalb,

Genossinnen und Genossen, dass wir in unserer tagtäglichen Arbeit und Agitation diesen Umstand in Betracht

ziehen müssen und die manchmal noch in unsere Reihen gehende Ansicht liquidieren müssen: Jeder Deutsche

ist dem andern gleich [Němec je jako Němec]. Das stimmt nicht.“ – STANĚK: Němci v českých zemích

v první polovině 50. let. Část I., 167. Vgl. auch: HRABOVEC: Vertreibung und Abschub, 336, und URBAN:

Sudetendeutsche Gebiete, 27f., der der zitierten Losung bis mindestens 1951 zu pauschalisierend „rein

aussenpolitische Bedeutung“ zumisst. – Auf der ZK-Sitzung vom 22.2.1951 wiederholte Gottwald seine

Losung und erklärte, diese gelte nun doppelt. Am 12.3.1952 sprach Gottwald seinen berühmt gewordenen

Satz anlässlich einer Rede in Ost-Berlin auf Deutsch aus. Ebenda. – Zu allererst hatte Gottwald die Formel

„Est ist nicht wahr, dass jeder Deutsche wie der andere ist“ in Bezug auf die Gesellschaft in

Nachkriegsdeutschland bereits auf der Kreiskonferenz seiner Partei in Zlín im April 1947 ausgesprochen.

GOTTWALD, Klement: Spisy XIII. 1946 – 1947, Bratislava 1958, 453. 1819 SÚA, f. 02/1, sv. 16, a.j. 208. 1820 STANĚK: Německá menńina, 75. Vgl. Gesetz Nr. 52/1949 vom 23.2.1949 und die Bekanntmachung des MV

vom 16.3.1949 (Úřední list I, Teil 53 vom 31.3.1949).

Page 11: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Die Anbahnung einer neuen Deutschenpolitik (1948-1950)

481

umgesetzt werden sollten. Švermová hatte entschieden, dass die Reformvorschläge nicht den anderen Ministerien zur Beurteilung vorgelegt werden sollten, sondern nur auf Parteilinie beurteilt werden sollten.1821 Bereits im März zuvor wurden aber entscheidende Änderungen im sozialen Bereich erlassen, die weiter hinten ein besonderes Kapitel in dieser Arbeit näher untersucht. Wohl nicht ohne Zusammenhang mit diesen innenpolitischen Lockerungen unterzeichneten Vertreter der tschechoslowakischen und der DDR-Regierung am 23.6.1950 eine gemeinsame Deklaration, in der sie feststellten, dass es zwischen beiden Staaten keine strittigen und offenen Fragen, keine Gebietsansprüche oder Grenzprobleme gäbe und dass „die vollzogene Aussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei unabänderbar, gerecht und definitiv gelöst ist“.1822 Wenig später, am 4.8.1950, unterzeichnete General Lev Prchala 1823 für seinen „Tschechoslowakischen Nationalrat“ (eine Exil-Organisation) mit Vertretern der „Arbeitsgemeinschaft zur Wahrung sudetendeutscher Interessen“ in München ein Übereinkommen, wonach beide Seiten „die Rückkehr der vertriebenen Sudetendeutschen in ihre Heimat als gerecht und daher selbstverständlich“ betrachteten.1824

* * * Die Behandlung der „Deutschen Frage“ seitens der tschechoslowakischen Staatspolitik könnte – schematisch vereinfacht – für die Periode nach Ende des Transfers in zwei Zeitphasen eingeteilt werden:

Von Frühling 1947 bis Ende 1949 in eine erste Phase, in der die grundlegenden Missstände und Reformschritte durch die Bürokratie intern „inventarisiert“ und als Konzepte ausgearbeitet wurden.

Von 1950 bis 1953 in eine zweite Phase, in der durch konkrete normative

Massnahmen die volle rechtliche und soziale Gleichberechtigung der deutschen Bevölkerung realisiert werden sollte, unter Verwendung der Mehrheit der in der Vorphase entwickelten Konzepte.

1821 SÚA, f. MV-T, kr. 40, sign. 320, Konzept eines Schreibens von Nosek ans ZK-Sekretariat der KSČ, undatiert

(2. Hälfte 1950); ebenda, f. 100/4, sv. 19, a.j. 137, Bl. 46, Schreiben der ZK-Abteilung für die

Volksverwaltung an Rudolf Slánský vom 3.5.1950. – Ein Faktor, der den Beschluss vom 27.6.1950

beschleunigt haben dürfte, war ein Schreiben des KSČ-Kreisausschusses in Reichenberg an Slánský vom

3.5.1950, in dem mehrere Beispiele erwähnt wurden, wie Bürger deutscher Nationalität (auch Antifaschisten)

in ihrem Kreis benachteiligt würden. Slánský beauftragte danach das ZK, zusammen mit dem

stellvertretenden Innenminister Ervín Polák zu prüfen, ob die aus Reichenberg berichteten Probleme auch in

anderen Landesteilen gälten. Ebenda. 1822

Gemeinsame Deklaration der Regierungen der ČSR und DDR vom 23.6.1950, im tschechischen Wortlaut

abgedruckt in: Veselý, Zdeněk (ed.): Československá zahraniční politika 1945-1989. Dokumenty, Praha 2001,

142f. 1823

Lev Prchala (1892 – 1963), seit 1936 tschechoslowakischer Armeegeneral, 1939 Flucht nach Polen

und Kommandant der sich dort formierenden tschechoslowakischen Einheiten, 1939 Flucht nach

Frankreich, 1940 nach London, im Oktober 1940 von Präsident Beneń aufgrund von

Meinungsdifferenzen aus der Militärverwaltung entfernt, Verbleiben im Exil nach Kriegsende

1945, Aberkennung des Generalranges. 1824

Zeittafel der Vorgeschichte und des Ablaufs der Vertreibung sowie der Unterbringung und

Eingliederung der Vertriebenen und Bibliographie zum Vertriebenenproblem, Bundesministerium

für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (ed.), Bonn 1959, 82. – Prchala äusserte damit

eine Ansicht, die im Meinungsspektrum der exilierten Exilgruppen einer Minderheitenposition

entsprach.

Page 12: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Die Anbahnung einer neuen Deutschenpolitik (1948-1950)

482

Auch hier muss besonders betont werden, dass der „Februar“ 1948 keine grundsätzlich neue Richtung der Politikausformung einleitete, aufgrund (v.a. aussenpolitischer Gesichtspunkte) aber letztendlich entscheidend zur Durchsetzung des zaghaften Lockerungskurses beitrug. Ebenso sehr verdient Beachtung, dass in beiden Phasen auf der Ebene der behördlichen Entscheidungsfindung keine schnurgerade Entwicklungslinie auszumachen ist. Vielmehr konkurrierten mehrere Konzepte aus der Partei- oder Ministerialbürokratie, die ein mehr oder weniger grosses Quantum an Lockerungswillen bzw. Repressionsbereitschaft beinhalteten, miteinander, was in besonderem Masse für die erste genannte Phase galt. Ein alternativer Periodisierungsversuch könnte die staatliche Deutschenpolitik in den Jahren von 1947 bis 1953 an der Frage messen, ab welchem Zeitpunkt bei den Behörden der Wille, den grössten Teil der verbliebenen Deutschen dauernd (und nicht nur „bisweilen“, wie es bezüglich der Erteilung Legitimationen an „unentbehrliche Fachkräfte“ in den Jahren 1945-1948 des öfteren geheissen hatte) im Lande zu behalten, die seit 1945 geltende Generalmaxime, möglichst alle Deutschen ausser Landes zu schaffen, verdrängte. Auch wenn dies gegenüber den US-Besatzungsbehörden niemals offiziell zugegeben worden war, so war an der Spitze der Abschubsabteilung des MV – nach Schlüsselentscheidungen im Spätfrühling und Sommer – spätestens im Herbst 1948 der Wunsch erkennbar, für die Aufbauarbeit nützliche Deutsche, selbst wenn sie nach offiziellem Sprachgebrauch weiterhin als „abschubspflichtig“ galten und daher keine Spezial-Legitimation besassen, dauernd im Lande zu behalten und nur noch im Falle von Familienzusammenführungen, „politischen Gegnern“ oder „unproduktiven“ Kräften eine Aussiedlung zu unterstützen.1825 Im übrigen hatte man sich in Prag spätestens seit dem Sommer 1947 keine grossen Illusionen mehr über die aussenpolitischen Aussichten für eine Neuaufnahme der Massenaussiedlungstransporte gemacht.

1825 Antonín Kučera liess bereits in einem Interview mit dem Tschechoslowakischen Rundfunk am 31.3.1948

erkennen, dass mit dem Abschub der deutschen Fachkräfte und ihren Angehörigen nicht mehr zu rechnen sei

und sie daher „in der Tschechoslowakei bleiben können“. SÚA, f. MV-NR, kr. 7951, sign. B-300, Protokoll

des Interviews, das am 31.3. gesendet wurde.

Page 13: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

483

VIII. INTEGRATION DURCH STAATSBÜRGERSCHAFT

(ENDE 1948 – 1953)

1 Nach der Zwangsumsiedlung In der Praxis war die erweiterte Staatsbürgerschaftsregelung aus dem Frühling 1948 für die Deutschenpolitik von untergeordneter Bedeutung. Zwar wurde legislativ die Möglichkeit eröffnet, in Zukunft die Mehrheit der bisher „staatenlos“ gebliebenen Deutschen in den Staatsverband wiederaufzunehmen, doch blieb es bei diesem für die Praxis irrelevanten Signal, da rund drei Viertel aller im Lande verbliebenen Deutschen noch immer keine Möglichkeit gegeben war, überhaupt um die Staatsbürgerschafts-Rückerlangung anzusuchen. In direktem Verhältnis zum beschriebenen Prioritätenverlagerung im Bereich der Transferfrage setzte die staatliche Politik ab dem Herbst 1948 immer mehr auf Integration. Da die Siedlungspolitik in Form der Binnenzerstreuung als Hauptinstrument zur Erreichung der Integration durch gewaltsame Assimilation im wesentlichen versagt hatte, wurde der Ansatz der siedlungskombinierten Staatsbürgerschaftserteilung fallen gelassen. Statt dessen sprachen die im Wertemassstab der Behörden inzwischen an oberster Stelle platzierten Interessen der Produktion für eine Öffnung der Staatsbürgerschaft für in erster Linie ökonomisch aktive, bald aber grundsätzlich alle Deutschen. Beherrschte die Staatsbürgerschafts-Praxis der Behörden in den Jahren 1945 bis 1948 die Angst, durch zu liberale Bestimmungen zu viele „unwillkommene“ Deutsche in den Staatsverband aufzunehmen und – nach Antonín Kučeras Befürchtung vom März 1948 – bei den Behörden eine „Überschwemmung mit Gesuchen“ auszulösen, so begann bald darauf die Sorge zu überwiegen, dass es nicht gelingen werde, die verbliebenen Sudetendeutschen infolge ihrer eigenen Unwilligkeit mit der Republik zu versöhnen. Das restriktive Ausgrenzen ging 1950 in eine regelrechte staatliche Werbekampagne zur Integration in den Staatsverband über. Die Unzufriedenheit innerhalb der Ministerialbürokratie über die im April 1948 eingeführte noch immer restriktive und auf Abwarten eingestellte Staatsbürgerschaftspolitik war ab dem Herbst 1948 eine allgemeine Tendenz. Es begann die Überzeugung heranzureifen, dass zumindest gewissen Gruppen von Deutschen eine schnellere Staatsbürgerschaftsverleihung ermöglicht werden sollte. Die Behörden waren vor allem daran interessiert, dass möglichst viele Fachkräfte (ob mit oder ohne Legitimation) die Möglichkeit der Rückerlangung nutzen würden. Als die Regierung am 12.10.1948 die auf freiwilliger Antragsbasis beruhende Rückverleihung die tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft an die dauernd im Land lebenden Personen magyarischer Nationalität beschloss, vergrösserte sich die Divergenz zwischen den unternommenen Liberalisierungsschritten in der Magyaren- und Deutschenpolitik weiter. Während für „normale“ Deutsche (ausser Antifaschisten und Mischehen-Angehörige) noch überhaupt nicht die Möglichkeit bestand, sich um die Rückverleihung der Staatsbürgerschaft zu bewerben, wurde den früheren Staatsbürgern magyarischer Nationalität, denen nach Dekret Nr. 33/45 ebenfalls die Staatsbürgerschaft aberkannt

Page 14: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Integration durch Staatsbürgerschaft (Ende 1948 – 1953)

484

worden war, wieder die Möglichkeit der Rückkehr in den Staatsverband gegeben. Im Ministerrat vom 12.10.1948 erklärte Nosek, dass es nun „nötig sein wird, zu einer Änderung der Stellung von Personen deutscher Nationalität zu schreiten, die hier geblieben sind“. Mit einem weiteren Abschub konnte nach Nosek nicht mehr gerechnet werden. Zudem würde der Industrieminister mit einer weiteren Aussiedlung gar nicht einverstanden sein. Dieser wünschte sich angeblich „im Gegenteil langsam, dass wir irgendwelche deutschen Arbeiter herholen“. Nosek erklärte, dass er damit rechne, dass die Staatsbürgerschaftsfrage bis Ende Jahr gelöst werden müsse. 1826 Diese Erwartung erfüllte sich nicht. Die Gründe dafür sind nicht näher bekannt. Innerhalb der Regierung sind in der zweiten Jahreshälfte 1948 keine grundsätzlichen „Bremser“ auszumachen. Es ist daher zu vermuten, dass der Widerstand gegen Reformen in der Staatsbürgerschaftsfrage von ganz oben im ZK der KSČ ausgegangen sein dürfte. Unter Wiederaufnahme der bereits teilweise in Richtung einer Liberalisierung zielenden Grundplanung aus dem Herbst 1947 schlug Antonín Kučera ein Jahr später, ein seinem bereits erwähnten Programmpapier über die „Liquidierung der deutschen Frage“ von Ende Oktober 1948, nun vor, die in der Republik verbliebenen Deutschen fortan strikt in zwei Gruppen zu unterteilen – je nachdem, ob sie bereit oder imstande waren, die Staatsbürgerschaft anzunehmen oder nicht. Für die „Guten“, die ihren Willen zur Teilnahme an der Aufbauarbeit durch die Annahme aller staatsbürgerlichen Pflichten kundtaten, sollte fortan die allmähliche Aufhebung aller noch bestehenden Diskriminierungsmassnahmen gelten (einschliesslich einer Änderung der Konfiskationsdekrete, die aber zu keiner generellen Besitzrestitution führen dürfe). Hauptzweck dieser Massnahmen sei, eine Konsolidierung und Beruhigung „besonders mit Bedacht auf die Aufgaben in der Industrieproduktion und im Bergbau“ zu erreichen. Zusätzlich sei allmählich mit diesen Änderungen auch eine Beseitigung aller übrigen „Diskriminierungsmassnahmen“ möglich, die noch immer in Kraft waren. Ausreisewillige oder Personen, denen die Staatsbürgerschaft behördlicherseits verweigert würde, sollten fortan hingegen ohne wenn und aber als „Staatenlose“ betrachtet werden, mit allen den sich daraus ergebenden Einschränkungen der Freizügigkeit und freien Berufsausübung, die im Hinblick auf die Bedürfnisse der Wirtschaft und „Staatssicherheit“ zu treffen wären (hier dachte Kučera auch an die Einführung einer Arbeitspflicht – also Zwangsarbeit – oder an eine Einschränkung der Auswanderung).1827 Als Folge der Hoffnung, letztendlich fast alle Deutschen freiwillig in den Staatsverband integrieren zu können, setzte sich der hinsichtlich der „widerspenstigen“ zweiten Gruppe drastische Vorschlag Kučeras nicht durch, seine Grundidee wurde in den Folgejahren aber von einigen Funktionären in ähnlicher Weise wieder aufgenommen.1828 Bezüglich der magyarischen Bevölkerung in der Südslowakei, die sich weigerte, die ihnen angebotene Staatsbürgerschaft anzunehmen oder denen die Staatsbürgerschaft seitens der Behörden verweigert werden sollte, wurden bereits im März 1948 Planungen aufgenommen, diese „aus Staatssicherheitsgründen“ dauerhaft in die böhmischen Länder

1826 SÚA, f. 100/24, sv. 150, a.j. 1494, Protokoll der Sitzung des Ministerrats vom 12.10.1948. 1827 SÚA, f. MV-D, kr. 222, Memorandum für Präsidialchef Adamec „Die Liquidation der deutschen Frage in der

ČSR“ vom 22.10.1948 von Kučera. – Personen deutscher Nationalität, die noch nicht erfolgreich um die

Erlangung der Staatsbürgerschaft angesucht hatten, wurden nur in rein formaler Hinsicht als

„Staatenlose“ bezeichnet, faktisch unterlagen sie bis zur kollektiven Rückverleihung der Staatsbürgerschaft

durch den Staat nicht den üblichen Bestimmungen über den Aufenthalt von Ausländern. Vgl. auch STANĚK:

Německá menńina, 108f. 1828 Vgl. weiter unten.

Page 15: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Integration durch Staatsbürgerschaft (Ende 1948 – 1953)

485

zu verschicken. Diese so genannte „Aktion Süd“ wurde kurz vor ihrer Realisierung im Herbst 1949 von der obersten Staatsspitze abgebrochen.1829 Zu den Befürwortern einer Lockerung hatte sich inzwischen auch der einstige Schrittmacher der nationalistischen kommunistischen Deutschenpolitik, Bedřich Steiner, gemausert. Am 30.11.1948, also zu einem Zeitpunkt, wo die Zwangsumsiedlung von Deutschen als beendet gelten konnte, vertrat er gegenüber dem Leiter der Aussenpoltischen Abteilung des ZKs, Bedřich Geminder, die Ansicht, dass nun die Zeit reif sei für eine Lockerung in der Staatsbürgerschafts- und Konfiskationsfrage. Analog zu Nosek hielt er es politisch für richtig, diese Fragen „in möglichst kurzer Zeit“ einer Lösung zuzuführen. Steiner rang sich diese Worte wohl eher halbherzig und infolge äusseren Druckes ab, denn im gleichen Schreiben äusserte er:

„Es wird bei der Verhandlung dieser Fragen nötig sein zu erwägen, ob nicht in grösserem Umfang mit der Aktion ihrer [der Deutschen] Zerstreuung ins Landesinnere fortgefahren werden sollte.“

Zu diesem Zeitpunkt war Steiners Stern in der kommunistischen Deutschen- und Grenzgebietspolitik jedoch schon erheblich verblasst (seine ZK-Besiedlungskommission stand kurz vor der Auflösung), so dass seine Anregung neuer repressiver Schritte ins Leere lief. 1830 Für die sich wenigstens in den Räumen der zuständigen Ministerien abzeichnende Lockerung in der Deutschenpolitik war dieser Mann zum Hindernis geworden. Dies muss nicht heissen, dass sein Einfluss auch bei Gottwald und Slánský gesunken wäre, über deren Ansichten zur Deutschenpolitik im Zeitraum von Herbst 1948 bis Ende 1949 sehr wenig bekannt ist. War das Pendel auf die Seite einer möglichst maximalen Integration der verbliebenen Deutschen auf der Planungsebene der Ministerialbürokratie zum Jahresübergang 1948/49 definitiv umgeschlagen, so wurde auf der Realisierungsebene erst Mitte Mai 1949 ein noch immer von Zaghaftigkeit geprägter Schritt in diese Richtung unternommen, bevor sich die Integrationstendenz zu Ende November 1949 auch gegen aussen endgültig durchsetzte. Im März beschloss das ZK-Präsidium der KSČ bezüglich der deutschen Bevölkerung neue Schritte in der Staatsbürgerschaftsfrage.1831 Das MV legte am 29.4.1949 den übrigen Zentralämtern den Entwurf einer neuen Bekanntmachung zur Beurteilung vor, mit der – erstmals seit Dezember 1946 – für eine neue Gruppe von Deutschen eine Frist zur Beantragung der Staatsbürgerschafts-Rückverleihung eröffnet werden sollte. Diese wurde am 18.5.1949 auch als Nr. 119/1949 publiziert und bestimmte die Antragsfrist auf die Zeit vom 1.6. bis zum 30.11.1949. Beantragsberechtigt waren die gleichen Personen, wie sie zuletzt in der Regierungsanordnung vom 13.4.1948 festgesetzt worden waren – bis auf wenige Ausnahmen praktisch alle bisher als „staatenlos“ geltenden Deutschen. Auch bezüglich der übrigen Modalitäten (Anforderungen, Wartezeiten) galten weiterhin die recht rigiden Bedingungen der besagten Regierungsanordnung. Anders als die im April 1948 publizierte Bekanntmachtung gegenüber den Magyaren in den böhmischen Ländern waren mit dem Staatsbürgerschaftserwerb keine Siedlungsbeschränkungen mehr

1829 ŃUTAJ: Československé ńtátne občianstvo, 48, 52-55. 1830 SÚA, f. 23, a.j. 375. 1831 SÚA, f. MV-N, kr. 254, i.č. 160, von Nosek an Gottwald am 4.2.1950 geschicktes Material zur Vorbereitung

der ZK-Beschlüsse zur Auflösung des Siedlungsamtes und weiteren Anpassung der Situation der verbliebenen

Deutschen. Bisher konnte der betreffende Beschluss nicht aufgefunden werden und ist daher nach seinem

Inhalt nicht näher bekannt.

Page 16: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Integration durch Staatsbürgerschaft (Ende 1948 – 1953)

486

verbunden. Diese Änderung ist bezeichnend für die generelle Aufgabe des Primats siedlungsgestützter Massnahmen innerhalb der Nationalitätenpolitik. Einzig das MNO vertrat noch immer eine abgeschwächte und auf die „Bedürfnisse“ des Kalten Krieges abgestimmte Form einer Siedlungsbeschränkung. Hatte das Verteidigungsressort Ende März 1948 noch eine ganz im Zeichen der aktuell laufenden Zwangsumsiedlung stehende Beschränkung des Aufenthaltsrechts im Grenzgebiet für Deutsche eingefordert, selbst wenn diese die Staatsbürgerschaft gewännen,1832 so forderte das Ressort nun (Anfang Mai 1949) nur noch, dass die Staatsbürgerschaftserteilung an Deutsche an die Bedingung geknüpft sei, dass die betreffenden Neubürger weder ihren Wohnort noch ihren Arbeitsort in der relativ engen Verbotszone entlang der US-Zone Deutschlands haben dürften. Mit anderen Worten: Auch als tschechoslowakische Staatsbürger sollten für Deutsche nach den Vorstellungen des MNO bestimmte Aufenthaltsbeschränkungen bestehen bleiben. 1833 Wie berichtet, hatte das Industrieministerium im Interesse der Produktion schon Mitte August 1948 gegenüber dem MV eine Erleichterung der Staatsbürgerschaftsverleihung an Deutsche gefordert.1834 Daher ist wenig überraschend, dass das im Zuge des ehrgeizigen Schwerindustrie- und Kohleförderungsprogramms des Fünfjahresplanes (1949-1954) zu einem Schlüsselministerium des neuen Regimes gewordene Ressort die neue Initiative zur Einbürgerung nur begrüsste, da eine liberalere Verwendung von § 3 des Staatsbürgerschaftsdekrets Nr. 33/1945 „in der jetzigen Situation nicht mehr mit ungünstigen politischen Folgen verbunden wäre“. Mit der Zeit würden Deutsche, die auf diesem Wege die Staatsbürgerschaft zurückverliehen bekämen und „ein positives Verhältnis zur volksdemokratischen Ordnung zeigen [...] ohne grössere Schwierigkeiten mit dem heimischen Milieu verschmelzen, weil es auch nach der Rückgabe der Staatsbürgerschaft möglich wäre, sie durch geeignete Massnahmen der Arbeitsreferate, respektive Nationalunternehmen, allmählich zwischen die tschechische Bevölkerung zu zerstreuen.“ Das Industrieministerium nutzte in seiner Stellungnahme vom 6.5.1949 die Gelegenheit, um für die seit dem Mai 1946 durch besondere Bevorzugungen besser gestellten „unabkömmlichen“ deutschen Kräfte und Spezialisten die geltenden Regelungen auch in die Zukunft zu retten. Mit den schrittweisen sozialen Reformen der Jahre seit Anfang 1947 unterschied sich der Status dieser Familien im Vergleich zu den übrigen Deutschen vor allem darin, dass sie ihre angestammten Wohnungen bzw. Häuser weiterhin nutzen durften, obwohl diese als konfisziert galten. Doch diese Bevorzugung beruhte einzig auf den internen Richtlinien des MV vom Frühling 1946. Für eine dauerhafte Beruhigung unter den deutschen Industriefachkräften war diese Normgrundlage wenig geeignet, zumal die Richtlinien nicht immer gründlich eingehalten wurden und etwa im Fall von rund 700 weiter genutzten landwirtschaftlichen Gehöften vom Landwirtschaftsressort sogar entschieden abgelehnt wurden. 1835 Diese und weitere Benachteiligungen (z.B. schlechtere Ausbildungschancen für ihre Kinder) nutzen ausländische Unternehmen zur

1832 SÚA, f. ÚPV-B, kr. 725, sign. 762.3, Schreiben des MNO vom 30.3.1948 ans MV (Stellungnahme zum

Entwurf über die spätere Regierungsanordnung vom 13.4.1948). 1833 Ebenda, vertrauliches Schreiben des MNO ans MV vom 9.5.1949. 1834 Vgl. S. 247 weiter vorne. Siehe auch das Kapitel zum „Ideenprogramm“ des MV aus dem Herbst 1947, nach

dem bereits damals die Möglichkeit erwogen worden war, § 3 von Dekret Nr. 33/45 für Spezialisten und deren

Familien zu nutzen. 1835

NA, f. MZ-IX. odbor po roce 1945, kr. 3, i.č. 4, Aufzeichnung einer interministeriellen Beratung über die

Benutzung von landwirtschaftlichem Besitztum durch deutsche Bergbauarbeiter und Industriespezialisten vom

11.4.1947. Die Vertreter des MV, des MP und des Nationalbetriebes „Tschechoslowakische

Bergwerke“ stellten sich gegen eine Entfernung der bisherigen deutschen Bewirtschafter (Spezialisten,

Bergbauleute), da sie eine weitere Unterminierung von deren Arbeitsmoral und die negative Reaktion im

Ausland befürchteten.

Page 17: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Integration durch Staatsbürgerschaft (Ende 1948 – 1953)

487

Anwerbung von spezialisierten deutschen Fachkräften in der Tschechoslowakei.1836 Das Prager Siedlungsamt stemmte sich allerdings gegen die vom MP geforderte „dauerhafte Regelung“ des Nutzungsrechts von konfiszierten Wohnungen und Häusern für Spezialisten, da so etwas angeblich die Pläne auf baldige Beendigung der Zuteilung von konfisziertem Eigentum in den Grenzgebieten gefährdet hätte. 1837 Eine Regelung in dieser Frage wurde angesichts der Uneinigkeit der kompetenten Behörden einstweilen auf später verschoben und erst nach gut zwei Jahren beschlossen.

2 Das Werben um die Gunst der verbliebenen Deutschen Nach einem geheimen Memorandum des MV aus dem Januar 1950 hatten bis zum 30.11.1949 von den insgesamt 155.702 bisher als „Staatenlose“ betrachteten ehemaligen tschechoslowakischen Bürgern deutscher Nationalität 72.806 Personen (also weniger als die Hälfte) um die Rückerlangung der Staatsbürgerschaft angesucht. Darin enthalten seien aber ungefähr auch 20.000 Gesuche von Personen tschechischer wie slowakischer Nationalität, die sich in der Besatzungszeit als Deutsche ausgegeben hatten und deren Gesuche um Rückerlangung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft entweder abgelehnt oder noch nicht erledigt waren.1838 Zahl der Gesuche um Rückerlangung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft zum 30.11.1949 und vom MV geschätzte Zahl der „staatenlosen“ Deutschen:

Ein Memorandum des MV für Nosek vom Oktober 1949 machte als Gründe für die immer noch stark verbreitete ablehnende Haltung zur Beantragung der

1836 SÚA, f. ÚPV-B, kr. 725, sign. 763.2, vertrauliches Schreiben des MP ans MV vom 6.5.1949; STANĚK:

Odsun Němcŧ, 317. 1837 SÚA, f. ÚPV-B, kr. 725, sign. 763.2, Schreiben des Siedlungsamtes Prag ans MV vom 26.5.1949. 1838 NA, f. 100/4, sv. 19, a.j. 137, Bl. 23-34, Schreiben des stellvertretenden Innenenministers Ervín Polák an

Marie Ńvermová (ZK der KSČ) vom 26.1.1950 mit Memorandum „Regelung der rechtlichen Stellung der

Personen deutscher Nationalität“ und drei weiteren Anlagen. Vgl. auch Ebenda, f. MV-T, i.č. 1739, sign. 95,

kr. 32 und Ebenda, f. 02/1, sv. 16, a.j. 208 (das Memorandum diente als Grundlagenmaterial für die Sitzung

des Präsidiums des ZKs der KSČ vom 13.2.1950). Vgl. ebenfalls KUČERA: Rechtliche und soziale Stellung,

331.

Kreis Zahl der Gesuche Zahl der „staatenlosen“ Deutschen

Prag 3.773 8.330

Budweis 2.585 6.855

Pilsen 2.579 5.042

Karlsbad 11.457 36.988

Aussig 13.378 28.147

Reichenberg 10.939 23.310

Königsberg 3.600 7.210

Pardubitz 979 1.884

Iglau 684 2.347

Brünn 7.820 11.851

Olmütz 5.630 10.497

Gottwaldov 624 965

Ostrau 8.758 12.276

Insgesamt 72.806 155.702

Page 18: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Integration durch Staatsbürgerschaft (Ende 1948 – 1953)

488

Staatsbürgerschaft nebst einer negativen Einstellung zur „volksdemokratischen“ Republik und v.a. in den Folgen der immer noch wirksamen zahlreichen administrativen Diskriminierungen auch die Auswirkungen der westlichen Propaganda geltend, die u.a. das Gerücht verbreitet habe, dass alle Deutschen nach Erhalt der Staatsbürgerschaft zwangsweise ins Landesinnere in die Landwirtschaft umgesiedelt werden würden.1839 Zudem fürchteten sich viele Deutsche vor einer aktiven Beantragung der Staatsbürgerschaft, weil sie nicht ausschlossen, dass nach einer – von vielen noch immer erwarteten – Umkehrung der politischen Verhältnisse solche, die mit dem tschechoslowakischen Regime nicht „kollabiert“ hatten, besser dastehen würden als die übrigen. Schon 1949 war daher der Ruf vieler Deutscher wahrzunehmen, der Staat solle ihnen doch diese schwere Wahl abnehmen und die Staatsbürgerschaft universell per Gesetz verordnen.1840 Aufgrund des eher nur lauen Interesses der verbliebenen Sudetendeutschen an einer aktiven Integration in den „volksdemokratischen“ Staat, der ihnen bis dahin fast nur eine Existenz am Rande der Gesetze und den Verlust des grössten Teils von Hab und Gut gebracht hatte, erliess die Regierung am 29.11.1949 (einen Tag vor Ablauf der Frist für die Einreichung von Anträgen nach der erwähnten Bekanntmachung vom 18.5.1949) eine neue Regierungsanordnung (Nr. 252/1949) über die Wiedererlangung der Staatsbürgerschaft an Personen deutscher Nationalität, in der von einer Wartefrist und der Kenntnis der Staatssprachen im Gegensatz zur bisher geltenden (und nun aufgehobenen) Norm vom 13.4.1948 (Nr. 76/48) nicht mehr die Rede war. Trotzdem galten immer noch gewisse Grundbedingungen für den Erwerb, die sich im Grunde an der Loyalität der Bürger zum kommunistischen Regime und der Partizipation an der „Aufbauarbeit“ ausrichteten.1841 Nach dem Motivenbericht hatte die Regierung damit vor allem die ökonomischen Interessen des Staates im Sinn.1842 Der Hauptzweck der neuen Regelung war, nun praktisch alle bisher „staatenlos“ verbliebenen Deutschen in den Staatsverband zu integrieren und diesen Prozess entgegen den bisherigen Bestimmungen möglichst zu beschleunigen. Eine Anweisung des MV von Mitte März besagte, dass eingereichte Gesuche „nur ganz ausnahmsweise“ abgelehnt werden dürften. 1843 Laut Bekanntmachung des MV vom 5.4.1950 konnten Gesuche vom 1.5. bis zum 31.10.1950 gestellt werden (Gesuche, die zwischen dem 1.12.1949 und 30.4.1950 – also in der Periode, in der offiziell keine Frist zur Einreichung von Gesuchen gültig war – eingereicht worden waren, galten als in der oben genannten Frist „ordnungsmäss“ eingereicht, auch wenn sie ursprünglich abgelehnt oder nicht

1839 SÚA, f. MV-N, kr. 254, i.č. 160. 1840

Diese Forderung wurde etwa erhoben von der deutschen Belegschaft der Musikinstrumente-Fabrik

in Schönbach (Luby) und der Blasinstrumenten-Fabrik „Amati“ in Graslitz. NA, f. 100/45, sv. 11,

a.j. 198, Berichte der Direktionen beider Betriebe vom 17.10. und 20.10.1949. 1841 Vgl. die deutsche Übersetzung der Norm in: Dokumentation der Vertreibung Bd. IV/1, Anlage 24, S. 312f.,

daneben STANĚK: Odsun Němcŧ, 364f. und KUČERA: Rechtliche und soziale Stellung, 335. 1842 SÚA, f. ÚPV-B, kr. 725, sign. 762.3, Regierungsanordnung vom 29.11.1949 mit Motivenbericht. – Während

des vom MV am 11.10.1949 (vier Tage nach Ausrufung der DDR!) eingeleiteten Begutachtungsverfahrens

war eine Zeit lang beabsichtigt, die Bestimmungen der neuen Norm auch auf die magyarische Bevölkerung zu

beziehen, doch wurde diese Absicht durch den slowakischen Beauftragtenrat und Vize-Premier Ńiroký mit

dem Argument abgewehrt, dass dies den Eindruck einer Diskriminierung der Magyaren erwecken könne. Für

diese war nämlich schon im Oktober 1948 ein Gesetz verabschiedet worden, dass den meisten von ihnen

innerhalb von 90 Tagen die Ablegung eines Treueids auf die Republik und damit die unverzügliche Annahme

der Staatsbürgerschaft ermöglicht hatte. Nach der angedachten Regelung galten jedoch im Vergleich dazu

striktere und kompliziertere Regelungen, womit in der „Magyarischen Frage“ ein Schritt zurück unternommen

worden wäre. Den slowakischen Vertretern missfiel wohl auch die geplante gemeinsame Regelung von

Staatsbürgerschaftsfragen von Deutschen und Magyaren, da sie zu sehr an die im Zeitraum von 1945 bis 1947

üblichen Diskriminierungsnormen erinnert hätte. Ebenda, Notiz des ÚPV vom 28.11.1949; Schreiben des

ÚPV ans MV vom 25.11.1949. 1843

NA, f. 100/4, sv. 19. a.j. 137, Bl. 39, Erlass des MV vom 14.3.1950.

Page 19: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Integration durch Staatsbürgerschaft (Ende 1948 – 1953)

489

angenommen worden waren). 1844 Obwohl diese Frist grossspurig als „endgültig“ bezeichnet worden war, wurden Gesuche auch nach ihrem Ablauf entgegengenommen. Gesuchstellern konnte vor der definitiven Erledigung ihrer Anträge Bescheinigungen ausgestellt werden, wonach sie bereits jetzt als tschechoslowakische Staatsbürger betrachtet wurden. Von den insgesamt bis zum 11.12.1950 eingereichten 97.426 Anträgen wurden über 91.000 bewilligt und nur 652 (etwa 0.7 %) abgelehnt. Noch etwa 40.000 Deutsche galten weiterhin als Staatenlose, unter ihnen viele Industriefachkräfte. 1845 Eine genauere statistische Übersicht nach Kreisen verzeichnet zum 14.12.1950 mit gegen 48.000 Personen freilich eine höhere Zahl von Deutschen, die sich bisher resistent gegen die neue Praxis der Staatsbürgerschaftsrückverleihung gezeigt hatten. Anfang Februar 1951 soll deren Zahl nur um etwa 2.500 gesunken sein.1846 Zuvor, zum Datum des Zensus vom 1.3.1950, waren in den böhmischen Ländern 36.409 Deutsche gezählt worden, die sich bereits im Besitz der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft befanden. 97.064 Deutsche wurden als „Staatenlose“ betrachtet, 13.191 als ausländische Staatsangehörige (hier handelte es sich vorwiegend um Reichsdeutsche, von denen 10.590 gezählt wurden – Österreicher wurden separat gezählt und waren mit 6.242 Personen vertreten) und bei 13.274 war die Staatsbürgerschaft ungeklärt.1847 Nach einem Bericht über den Verlauf der sog. „Aktion N“ (Propagierung der Staatsbürgerschaftsbeantragung unter den Deutschen seit Herbst 1950) im Karlsbader Kreis aus der ersten Jahreshälfte 1951 war die Rate der eingegangenen Gesuche in denjenigen Gemeinden am niedrigsten, wo Deutsche noch immer recht zahlreich und kompakt lebten. Nebst der „feindlichen Propaganda“, einer noch immer noch spürbaren gesellschaftlichen Diskriminierung und des Hoffens auf eine (baldige) Aussiedlung wurde zu den Gründen für den keineswegs durchschlagenden Erfolg des öffentlichen Werbens um die staatsbürgerliche Loyalität der Deutschen das „Misslingen einiger Versuche, die die Annäherung mit der Bevölkerung der DDR zum Ziel hatten“ genannt.1848 Nach Angabe der Abteilung II/3 des MV verblieben bis zum 1.12.1951 in den böhmischen Ländern noch 40.057 Personen deutscher Nationalität, die sich bisher nicht um die Rückerlangung der Staatsbürgerschaft beworben hatten.1849 Nach der gleichen Abteilung des Innenressorts sei bis Ende 1951 ungefähr 120.000 Deutschen auf ihr Gesuch hin die Staatsbürgerschaft zurückverliehen worden.1850

1844

NA, f. ÚPV-B, kr. 725, sign. 762, Bekanntmachung des Innenministers vom 5.4.1950. 1845 SÚA, f. MV-T, kr. 20, sign. T-N 727, Information an Spurný über die Zusammensetzung der Bevölkerung der

ČSR vom 2.2.1951; KUČERA: Rechtliche und soziale Stellung, 335f. – In der Slowakei wurden im ganzen

Jahr 1950 angeblich 11.240 Staatsbürgerschaftsgesuche positiv und 1.430 Gesuche negativ beschieden.

GABZDILOVÁ-OLEJNÍKOVÁ – OLEJNÍK: Karpatskí Nemci, 161. 1846 SÚA, f. MV-NR, kr. 10949, sign. 199, tabellarische Übersicht über die Zahl der eingereichten und

bearbeiteten Staatsbürgerschaftsgesuche nach Kreisen, geschickt von der Abteilung II/3 an den Vorsteher der

Abteilung II des MV am 1.2.1951. Von den zum 14.12.1950 insgesamt 4.252 noch nicht endgültig

entschiedenen Gesuchen lagen 1.007 bei den Kreiskommandos der StB, 2.310 bei den ONVs und 935 bei den

KNVs. 1847 Sčítání lidu a soupis domŧ a bytŧ v republice Československé ke dni 1. března 1950, díl I. Nejdŧleņitějńí

výsledky sčítání lidu a soupisu domŧ a bytŧ za kraje, okresy a města (Čs. statistika, řada A, sv. 3), Praha 1957,

5, Tab. 11. 1848 SÚA, f. 100/1, sv. 49, a.j. 374, Bl. 147f., Datierung: zwischen Februar und Mai 1951. – Vgl. zur „Aktion

N“ auch DVOŘÁK, Tomáń: „Vnitřní odsun”. Prŧběh, motivy a paralely přesídlování německého obyvatelstva

do vnitrozemí v českých zemích zemích v letech 1947-1949, Phil.diss, Filozofická fakulta Masarykovy

univerzity, Brno 2005, 171f. 1849 SÚA, f. MV-D, kr. 1284. 1850 SÚA, f. 05/3 Ideologické oddělení ÚV KSČ, sv. 35, a.j. 260, Bl. 1-4, hier 1f. Schreiben der Abteilung II/3 des

MV (Josef Kočiń) an das ZK-Sekretariat der KSČ vom 28.12.1951.

Page 20: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Integration durch Staatsbürgerschaft (Ende 1948 – 1953)

490

Deutsche, die zum 1.10.1951 nicht um die Erlangung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft angesucht hatten:1851

Kreis Personen

Prag (ohne Stadt Prag) 791

Budweis 1.011

Pilsen 3.001

Karlsbad 17.830

Aussig 6.741

Reichenberg 3.809

Königgrätz 2.411

Pardubitz 111

Iglau 565

Brünn 751

Olmütz 1.800

Gottwaldov 25

Ostrau 632

Stadt Prag 852

Slowakei 800

Insgesamt 41.131

Zur Veranschaulichung sei angeführt, dass Anfang Februar 1952 im Kreis Aussig von den Deutschen, die nicht schon vor Ende 1949 die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft besessen hatten (Antifaschisten und Angehörige von binationalen Ehen), genau ein Viertel noch keine Staatsbürgerschaftsgesuche eingereicht hatte (6.427 von 25.589 Personen). Im Kreis Reichenberg hatte der Anteil dieser Gruppe bereits Ende März 1951 dagegen nur noch 18 Prozent betragen, um ein Jahr darauf den Wert von 15 Prozent zu erreichen (4.477 bzw. 3.532 von 24.517 Deutschen). Besonders 1951 und im Folgejahr kam es relativ häufig vor, dass Deutsche, deren Gesuche positiv beschieden worden waren, es sich inzwischen anders überlegt hatten und die für sie ausgestellten Staatsbürgerschaftsurkunden nicht mehr abholen kamen (im Bezirk Teplitz-Schönau bis Anfang Februar 1952 im Falle von etwa 150 Gesuchsstellern). 1852 Die Tatsache, dass die Zahl neu eingereichter Gesuche seit Herbst 1951 republiksweit deutlich abgenommen hatte, zeigte klar, dass der positive Effekt, den man sich von der Einstellung der Massenaussiedlungen und der „Dekonfiskation“ erhofft hatte, ausgeblieben war.1853 Auf einer streng geheimen Sitzung vom 13.2.1952, die vom Verteidigungsministerium initiiert wurde und deren Ziel die Bekämpfung der „Staatenlosigkeit“ bildete, war von 41.000 bisher staatenlosen Deutschen die Rede. Bei diesen handle es sich vorwiegend um Fachkräfte und Landwirte, die aus wirtschaftlichen Gründen nicht abgeschoben worden seien. Den Rest bildeten angeblich „sozusagen nazistische Elemente“, die nicht mehr

1851 SÚA, f. MV-D, kr. 1284, tabellarische Übersicht des Vorstehers der Abteilung II/3 des MV vom 26.11.1951. 1852

SOA Litoměřice – Pobočka Most, f. KNV Ústí n.L., kr. 1699, i.č. 946, Bericht des Referats für

innere Angelegenheiten und Sicherheit über die Durchführung der Nationalitätenpolitik für die

Sitzung des KNV-Rats in Aussig vom 18.3.1952; ebenda, f. KNV Liberec, kr. 506, i.č. 351,

Übersicht des KNV Reichenberg über die Personen deutscher Nationalität im Kreisgebiet, o.D.

(1951); SOA Litoměřice, f. KNV Liberec, kr. 34, i.č. 819, Protokoll der Sitzung des KNV-Rates

Reichenberg vom 18.3.1952. 1853

Zwischen dem 1.9.1951 und 31.1.1952 sollen republiksweit nur gerade 622 neue Gesuche um die

Rückgabe der Staatsbürgerschaft eingereicht worden sein. Ebenda.

Page 21: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Integration durch Staatsbürgerschaft (Ende 1948 – 1953)

491

abgeschoben werden konnten. Nach der Meinung des Vorstehers der II. Abteilung des MV, Josef Kočiš, bildeten einen Teil der Deutschen ohne tschechoslowakische Staatsbürgerschaft „Alibisten, die entweder in der Hoffnung auf [Wiederaufnahme] des Abschubs lebten oder auf den Umsturz der jetzigen Verhältnisse hoffen“. Den zweiten Teil bildeten Personen, „die im grossen und ganzen ein positives Verhältnis zu unserem Staat haben, die sich aber nicht als dessen Angehörige fühlen und vor allem wollen sie nicht Verantwortung für den Militärdienst übernehmen“. Die Behörden standen bezüglich der Staatsbürgerschaftsfrage vor dem Hauptproblem, nicht genügend „Lockmittel“ für die Ansuchung um die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft in der Hand zu haben. Eine nennenswerte Revision der Nachkriegskonfiskationen, nach der der grösste Teil der Deutschen rief, kam für die Behörden nicht in Frage. Vielmehr genossen die „staatenlosen“ Deutschen fast alle Vorteile von Staatsbürgern (so im Arbeitsrecht, bei Löhnen, im Gesundheitswesen, bei der Beanspruchung von Rekreationsprogrammen, in der Lebensmittelversorgung usw.) und darüber hinaus den Vorteil, dass sie keinen Militärdienst zu leisten hatten, der für Deutsche, selbst wenn sie früher schon mehrere Jahre in der Wehrmacht gedient hatten, meist den Einsatz in den berüchtigten „Technischen Hilfsbataillonen“ (PTP – Pomocné technické prapory) bedeutete. 1854 Genau dieser „Vorteil“ sollte auf der erwähnten geheimen Sitzung beseitigt werden. Dabei wurden vorwiegend „physische Lösungen“ ins Auge gefasst, jedoch nur temporär greifende (die Grundidee war, wie es ein Vertreter des Verteidigungsressorts formulierte,

1854 Die PTPs bestanden von September 1950 bis Mitte 1954, danach existierten innerhalb der Armee weiterhin

sog. „Militärische Arbeitseinheiten“ (VPJ – Vojenské pracovní jednotky). Beide Formationen sollten die

kostengünstige Ausnutzung von menschlicher Arbeitskraft für Bauvorhaben der Armee, v.a. aber für die

Bedürfnisse der Volkswirtschaft sicherstellen. Die PTPs stellten ein Instrument der aussergerichtlichen

Persekution in der „dunkelsten“ Zeit des kommunistischen Regime dar (die PTP-Angehörigen – pétépáci –

wurden wegen ihrer schwarzen Uniform auch „schwarze Barone“ genannt). In diese Einheiten, in denen die

Unterkunfts-, Verpflegungs- und Arbeitsbedingungen äusserst mangelhaft waren, wurden zu einem grossen

Teil tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner, frühere Insassen der Zwangsarbeitslager (TNPs),

„Kulaken“, Geistliche, aber auch gewisse Angehörige nationaler Minderheiten eingereiht (die letzteren jedoch

manchmal auch nur infolge Nichtbeherrschung der tschechischen bzw. slowakischen Kommandosprache der

Armee). Der Dienst bei den PTPs wurde ohne Waffe und unter geringster militärischer Ausbildung geleistet.

Nebst Nutzung von günstiger Arbeitskraft war das Motiv des Regimes für die Aufrechterhaltung der

Verbände die Absicht der „Umerziehung“ in möglichst von der Aussenwelt isolierter Umgebung. Die

Dienstzeit bei den PTPs war gewöhnlich nicht im vornherein festgelegt, nach Aussage eines MNO-Vertreters

vom April 1953 dienten die meisten Deutschen darin mehr als zwei Jahre, nach einem Bericht des KNV

Reichenberg vom November 1953 dienten einige Deutsche bei den PTPs schon mehr als drei Jahre, was

bisher noch „staatenlose“ Deutsche verständlicherweise davor abschreckte, auch um die Staatsbürgerschaft

anzusuchen. SÚA, f. MV-D, kr. 1281, Protokoll einer Besprechung vom 24.4.1953 über die

Nationalitätenfrage; SOA Litoměřice, f. KV KSČ Liberec, kr. 37, Protokoll der Sitzung des KSČ-

Kreisausschusses vom 12.11.1953, Beilage: Bericht des zuständigen KNV-Referenten über die Lage der

deutschen Bevölkerung im Kreis Reichenberg. Vgl. auch URBAN: Sudetendeutsche Gebiete, 30. Zu den

PTPs allgemein: BÍLEK, Jiří: Pomocné technické prapory (1950-1954). Vznik, vývoj, organizace a činnost,

Praha 1992 (Seńity ÚSD), 7-75; HOLEC, Frantińek: Svědectví o organizaci a ņivotě PTP. Sborník příspěvkŧ

přednesených na konferenci o PTP 19. a 20. června 2002 v Praze, Praha 2003; ŅÁČEK, Rudolf: Pomocné

technické prapory jako forma zneuņití branného zákona k organizování masových politických represí, in:

Tábory nucené práce a dalńí projevy perzekuce 1948-1954. Sborník konference SÚ ČSAV a KH FF SU,

Opava 1991, 55-62. – Mindestens bis in die Mitte der 60er Jahre war die Stellung von deutschen

Armeeangehörigen eine nicht vollends gleichgestellte. Nach einem Bericht über die Lage in der zweiten

Hälfte der 50er Jahre wurden Deutsche zwar grundsätzlich in alle Truppeneinheiten eingewiesen, jedoch unter

Ausnahme von in Westböhmen stationierten Truppen. Im Dienstjahr 1955/56 wurden deutsche Soldaten nach

einer Empfehlung sowjetischer Armee-Berater nicht in die Unteroffiziersschulen zugelassen. Nach einem

weiteren Bericht aus dem Februar 1965 dienten gegenwärtig ungefähr 1.200 deutsche Soldaten ihren

Grundwehrdienst ab. Bezüglich ihrer Dislozierung bestand die Absicht, „sie nicht in grösseren Gruppen bei

den Einheiten zu konzentrieren“. Die höchste Konzentration betrage 20 bis 30 Soldaten, dies im Falle von

einigen Truppenteilen im Mittelböhmen. Der gleiche Bericht spricht davon, dass die deutschen Soldaten zu

den besten gehörten und insgesamt keinen Problemfaktor darstellten (angeblich im Gegensatz zu

magyarischen und Roma-Soldaten). SÚA, f. 05/3 Ideologické oddělení, sv. 34, a.j. 260, geheimer Bericht der

Tschechoslowakischen Volksarmee vom 6.2.1965 ans ZK der KSČ; geheimer Bericht des MNO, undatiert (ca.

aus dem Jahr 1956/57).

Page 22: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Integration durch Staatsbürgerschaft (Ende 1948 – 1953)

492

„die Staatenlosen aus der Umgebung, in der sie leben, herauszubekommen, sie vor zersetzenden Einflüssen zu isolieren /ihnen den Kontakt mit feindlichen Elementen und das Abhören des feindlichen Rundfunds zu verunmöglichen usw./ und sie durch Erziehung für den Gedanken des Sozialismus und der Volksdemokratie zu gewinnen“). An die Wirksamkeit von weiteren Massnahmen, die rein auf geistiger Überzeugungsarbeit beruhten, wurde nicht mehr geglaubt. Nach Kočišs Ansicht sei es „notwendig, sie [die staatenlosen jungen Deutschen] zusammenzukriegen, sie der Militärdisziplin zu unterstellen und systematisch auf sie politisch einzuwirken“. Diese Konzentrierung der Betreffenden sei am besten im Rahmen spezieller Hilfsgruppen der Armee oder – nach dem Vorschlag des ZK-Vertreters Buřival – „auf den grossen Baustellen des Sozialismus“ möglich, damit „systematisch auf sie eingewirkt“ werden könne. Dabei sollen aber Massnahmen, die das Odium der Diskriminierung trügen, vermieden werden. Trotzdem sei offensichtlich, dass die verbliebenen 41.000 „staatenlosen“ Deutschen kaum mehr ausschliesslich durch Überzeugungsarbeit zu gewinnen seien. 1855 Auch Gustav Bareš hatte sich offensichtlich Anfang 1952 für die Errichtung „irgendwelcher Arbeitseinheiten“ ausgesprochen, in die junge „staatenlose“ Deutsche als Ersatz für den ungeleisteten Wehrdienst einzureihen seien. 1856 Schliesslich wurde beschlossen, die Einbindung der betreffenden Deutschen in die Armee oder in andere Formen des kollektiv zu verrichtenden Arbeitsdienstes aufgrund neu zu verabschiedender Normen zu erreichen. Kočiš und die Vertreter des MNO waren sich darin einig, dass die Lösung der Frage der „Staatenlosen“ am einfachsten durch eine erneute Veränderung der Bedingungen zur Erlangung der Staatsbürgerschaft erzielt werden könne. Deshalb wurde das Innenressort auch beauftragt, innert 14 Tagen den Entwurf eines neuen Staatsbürgerschaftsgesetztes vorzubereiten. Auch wenn die Idee, das Staatenlosen-Problem durch automatische „Zwangserteilung“ der Staatsbürgerschaftsfrage zu lösen, noch nicht im Sitzungsprotokoll enthalten ist, so spricht einiges für die Annahme, dass bereits im Februar 1952 – über ein Jahr vor der legislativen Verwirklichung dieses Schrittes – die grundlegenden Weichen in diese Richtung gestellt worden waren. 1857 Darüber, ob bei dieser Entwicklung die Einführung eines neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes in Polen im Januar 1951 eine Rolle gespielt, kann nur spekuliert werden. Die polnische Regelung integrierte – manchmal auch zwangsweise – vorwiegend die bisher nicht „verifizierten“ (also voll als Polen anerkannten) „Autochthonen“ in den Staatsverband. Deutsche, die nicht mit Polen verheiratet waren, waren war noch immer von der Einbürgerung ausgeschlossen, doch sah die Realität häufig anders aus und die Provinzbehörden interpretieren einen Paragraphen des Gesetzes manchmal als Zwangseinbürgerung.1858 Auf Grundlage eines Entscheides des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe vom 28.5.1952 wurden in westdeutscher Sicht die meisten in der ČSR verbliebenen Deutschen weiterhin als deutsche Staatsangehörige betrachtet, sofern sie oder deren Eltern diese zwischen 1938 und 1945 erlangt hatten. Auf Wunsch schickten die BRD-Behörden tschechoslowakischen Deutschen so genannte Heimatscheine und Bestätigungen über die Staatsbürgerschaft, womit die tschechoslowakischen Behörden weiter in Zugzwang

1855 Ebenda, Bl. 10-13. Um nicht den Anschein einer Diskriminierungsmassnahme zu erwecken, wurde von den

Sitzungsteilnehmern auch die Applizierung von Dekret 88/1945 über die allgemeine Arbeitspflicht verworfen,

da diese Norm zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur noch gegenüber Personen, die sich systematisch der Arbeit

entzogen, angewendet wurde. 1856 Ebenda, Bl. 8, Schreiben von Buřival an Genosse Čestmír Cisář (ZK) vom 18.2.1952. 1857 Ebenda, Bl. 10-13. 1858 ESCH: "Gesunde Verhältnisse", 406f.

Page 23: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Integration durch Staatsbürgerschaft (Ende 1948 – 1953)

493

gerieten. 1859 Um die Zahl der neuen Staatsbürger zu mehren, wurden in den Jahren 1951/52 auch Gesuche von Antifaschisten, die bereits 1945/46 nach § 2 von Dekret Nr. 33/45 eingereicht und von den Behörden bekanntlich oft ohne nähere Prüfung abgelehnt worden waren, wieder aus den Schränken geholt und nun bewilligt.1860 Selbst angesichts der allgemein bekannten Tatsache, dass die Aussiedlungsaktionen eingestellt worden waren, lehnte einige Deutsche, die sich zuvor freiwillig um die Rückgabe der Staatsbürgerschaft beworben hatten, nach positiver Erledigung ihrer Gesuche die Abholung der Staatsbürgerschafsbescheinigungen unter Hinweis auf ihre Aussiedlungsabsicht ab (im Bezirk Teplitz handelte es sich im Mai 1952 um rund 150 solche Personen).1861 Der KNV-Referent für Inneres in Karlsbad begriff die Zusendung der amtlichen Bestätigungen aus der BRD als „Teil der imperialistischen Politik der USA“. Die „Aktion“ sei im Grunde Ausdruck des Versuchs um Aufbau einer neuen „fünften Kolonne in unserem Grenzgebiet, die aus dem Westen gelenkt wird“. Nach diesem Bericht, in dem bekanntlich die kompaktesten deutschen Siedlungsgebiete vorhanden waren, seien besonders viele einschlägige Fälle im Bezirk Eger, Falkenau, aber auch im Ansiedlungsgebiet der 1948 in den Uranabbau zwangsverschleppten Deutschen ausgemacht worden. Insgesamt handle es sich um rund 300 Fälle, darunter auch solche, in denen Deutsche, die bereits im Besitz der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft waren, eine Bestätigung über die bundesdeutsche Staatsbürgerschaft zugeschickt bekommen hätten. Die Staatsbürgerschaft beantragten danach in letzter Zeit praktisch nur noch Deutsche über 60 Jahren oder Jugendliche unter 20 Jahren, die studieren oder heiraten wollten (für die Heirat zwischen Staatsbürgern und Ausländern/“Staatenlosen“ war auch nach dem Gesetz Nr. 635 vom 29.10.1952 noch immer die Einwilligung des MV oder eines von diesem damit betrauten Organes notwendig).1862 Wahre Überzeugung spielte praktisch nie eine Rolle, sondern handfeste materielle Vorteile überwogen. Einen in seiner Bedeutung kaum zu überschätzenden Störfaktor, gegenüber dem die tschechoslowakischen schlicht ohnmächtig waren, stellten die besonders in Westböhmen problemlos empfangbaren Rundfunk- und bald auch Fernsehprogramme aus der Bundesrepublik dar (Sender Ochsenkopf im Fichtelgebirge und RIAS Berlin). Diese Programme böten, nach dem Bericht aus Karlsbad, die westdeutsche Staatsbürgerschaft geradezu an und ebneten dem „nationalen Chauvinismus“ erneut den Weg. In einer wenig beneidenswerten Situation waren die ONV- und MNV-Referenten, die vom KNV in Karlsbad angewiesen worden waren, mit den noch immer „widerständigen“ Deutschen mehrmals zu sprechen, um sie von den Vorteilen der Zugehörigkeit zum Staate, der sie zuerst alle rausschmeissen wollte und nun nicht ausreisen liess, zu überzeugen und „sich um jede Seele zu raufen“.1863 Von welcher Überzeugungskraft gegenüber den noch zögernden Deutschen das Argument gewesen sein mag, „dass sie für die westlichen Imperialisten nur Schachfiguren und Kanonenfutter in ihren Kriegsplänen sind“, mag dahingestellt bleiben.1864 Das bis Ende

1859 STANĚK: Německá menńina, 108; SÚA, f. Ideologické oddělení 05/3, sv. 33, a.j. 253, Bl. 50-62, hier 51,

Bericht „Situation zwischen den Bürgern deutscher Nationalität“, ca. 1955. 1860 SÚA, f. MV-D, kr. 1281, Bericht für den ONV-Rat in Falkenau vom April 1953 über die Durchführung der

Nationalitätenpolitik. 1861 SOkA Teplice, f. ONV Teplice, kr. 236, sign. 215, Bericht des zuständigen ONV-Referenten über die

Durchführung der Nationalitätenpolitik vom 19.5.1952. 1862 STANĚK: Německá menńina, 94. 1863 SÚA, f. MV-D, kr. 1281, geheimes Schreiben des KNV Karlsbad ans MV (Kočiń) vom 5.3.1953). Nach

einem Bericht des zuständigen Referenten beim ONV Rumburg aus dem April 1951 hatte nur noch eine sehr

kleine Gruppe von Deutschen bisher die Staatsbürgerschaft nicht beantragt (398 Personen von insgesamt

5.338 Deutschen im Bezirk). Zumeist handle es sich um betagte oder arbeitsuntaugliche Personen, die auf eine

Ausreise nach Deutschland hofften. SOkA Děčín, f. ONV Rumburk, kr. 400. 1864 SÚA, f. 05/3 Ideologické oddělení, sv. 35, a.j. 272, Bl. 2-5, Bericht über die Durchführung der

Nationalitätenpolitik im Karlsbader Kreis von Josef Pötzl an den KNV Karlsbad, undatiert (1952).

Page 24: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Integration durch Staatsbürgerschaft (Ende 1948 – 1953)

494

1952 einzige deutsche Blatt „Aufbau und Frieden“ (Erscheinung ab September 1951) argumentierte im Sommer 1952: „Einem fortschrittlich gesinnten Menschen muss es klar sein, dass er seinen Arbeitsplatz nicht einfach verlassen darf, weil er aus rein sentimentalen Gründen mit irgend welchen Verwandten in einem anderen Lande zusammenleben will.“ Zugleich wurde nun wieder die Theorie der politischen Nation hervorgeholt und argumentiert, die tschechoslowakischen Deutschen seien nie Bestandteil des deutschen Volkes gewesen.1865

3 Forcierte Integration: Die universelle Verleihung der Staatsbürgerschaft Der Erfolg der während des Jahres 1952 geleisteten Überzeugungsarbeit war zwar stetig, doch verblieb auch im Frühling 1953 noch eine gewisse Prozentzahl von Deutschen, die sich nicht in den Staatsverband der Tschechoslowaken integrieren liessen (insgesamt handelte es sich wahrscheinlich um weniger als 20% aller Deutschen, in vielen Bezirken um weniger als 10%).1866 Nach Angaben des MV von Ende Februar 1953 hatten aber angeblich noch immer rund 40.000 Deutsche in der Tschechoslowakei nicht die Staatsbürgerschaft beantragt. Diese Zahl wäre fast gleich hoch wie die zitierte Angabe von Anfang Oktober 1951 und es erscheint fraglich, wie aktuell sie war. 1867 Diesen Personen wurde schliesslich im April 1953 durch Gesetz Nr. 34/1953 die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft verliehen (mit Wirkung zum 7.5.1953), sofern sie ihren ständigen Wohnsitz auf dem Gebiet der ČSR hatten und zuvor die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft nach Dekret Nr. 33/45 verloren hatten. 1868 Deutsche, die aus dem „Altreich“ stammten, bzw. „Volksdeutsche“, die erst während oder nach dem Zweiten Weltkrieg auf das Gebiet der Tschechoslowakei eingewandert waren, waren von der Staatsbürgerschaftsverleihung nicht betroffen. Dafür wurden mit dem Naturalisierungsgesetz nun auch noch die wahrscheinlich wenig übrig gebliebenen nationalen „Renegaten“ reintegriert, denen bis zu Ende der vierziger Jahre keine Bescheinigungen über die „nationale Zuverlässigkeit“ ausgegeben worden waren und die sich seither nicht selbst (bzw. nicht erfolgreich) um die Rückgabe der Staatsbürgerschaft gekümmert hatten. Die Behörden waren sich bewusst, dass diese Zwangsverleihung der Staatsbürgerschaft ex lege nicht bei allen betroffenen Menschen auf Zustimmung stossen würde und versuchten daher, die Aktion ohne grössere Publizität über die Bühne zu bringen. Es fehlte auch nicht an Versuchen, die im Grunde im eigenen Machtinteresse des Regimes getroffene Massnahme als „Ausdruck der grosszügigen und wohlwollenden Einstellung unseres Staates“ darzustellen. 1869 Konflikte und „Provokationen“ sollten durch eine vorwiegend auf individueller Ebene geführten „Erklärungskampagne“ unterbunden werden. Einige Deutsche, die nicht zu der Mehrheit derjenigen gehört hatten, die bereits aus eigenem Antrieb die Staatsbürgerschaft beantragt hatten, nahmen den legislativen Schritt des Regimes aber auch mit beträchtlicher Gleichgültigkeit auf. Für sie war das Wichtigste, dass sie sich alle Türchen für eine spätere Ausreise in die BRD dadurch offen hielten, indem sie sich immer darauf

1865 Aufbau und Frieden, 14.8.1952, zitiert nach: URBAN: Sudetendeutsche Gebiete, 29. – Seit Anfang Januar

1953 erschien auch eine an die deutsche Jugend gerichtete Zeitschrift namens „Freundschaft“. 1866 Urban nennt eine Angabe von Babel aus der seit Herbst 1951 erscheinenden Gewerkschafts-Zeitung Aufbau

und Frieden vom 2.10.1952, wonach inzwischen schon 90% „der deutschen Werktätigen“ freiwillig die

tschechoslowakische Staatsbürgerschaft angenommen hätten. Diese Angabe mag nach oben abgerundet sein,

doch muss die Vermutung Urbans, dass zum Zeitpunkt der Staatsbürgerschafts-Zwangsverleihung „die Zahl

der Deutschen, die sich noch gegen eine Annahme der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft sträubten“,

beträchtlich gewesen sein müsse, negiert werden. URBAN: Sudetendeutsche Gebiete, 28f. 1867 Bericht des MV vom 26.2.1953, zitiert nach PEŃEK: Nemci na Slovensku, 278, Anm. 73. 1868 Vgl. die deutsche Übersetzung des Gesetzes in: Dokumentation der Vertreibung IV/1, Anlage 25, S. 314. 1869 Auszug aus dem Motivenbericht des Gesetzentwurfs, zitiert nach PEŃEK: Odvrátená tvár totality, 244.

Page 25: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Integration durch Staatsbürgerschaft (Ende 1948 – 1953)

495

würden berufen können, dass sie ohne gefragt zu werden die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft verliehen bekamen. Nach der in der BRD vorherrschenden Rechtsmeinung besassen tschechoslowakische Deutsche, die nach den Naturalisationsakten zwischen 1938 und 1945 deutsche Staatsbürger wurden und in der Nachkriegszeit nie freiwillig um die Erteilung einer anderen als der deutschen Staatsbürgerschaft angesucht hatten, nach 1953 im Besitze einer deutsch-tschechoslowakischen Doppelstaatsbürgerschaft. Die Zwangsverleihung der Staatsbürgerschaft erforderte trotz ihrer sich durch das Gesetz selbst ergebenden Wirksamkeit eine administrative Massnahme: den Austausch der bisherigen provisorischen Personalausweise durch normale Personalausweise („Bürgerausweise“) auf den Stellen der „Öffentlichen Sicherheit“ (neuer Name des SNB) und die Beantragung einer Bescheinigung über die Staatsbürgerschaft auf den Nationalausschüssen.1870 Es gelang den Behörden bis mindestens zu Ende der 50er Jahre nicht, einige „widerspenstige“ Deutsche zur Beantragung und Annahme dieser Ausweise zu bewegen, obwohl diese im alltäglichen Leben erheblichen Schikanen und Unannehmlichkeiten ausgesetzt waren. Zum 10.4.1954 wurden in den böhmischen Ländern noch immerhin 1.735 Deutsche verzeichnet, die sich weigerten, sich zwangsnaturalisieren zu lassen (in der Slowakei 23 Personen).1871 Im Februar 1955 führte eine Bekanntmachtung des MV eine Strafbelangung für solche Personen ein, die den Kreis der „Rebellen“ erheblich verminderte. Die als weiterhin „staatenlos“ geltenden Deutschen mussten regelmässig ihre Aufenthaltsbewilliung verlängern lassen. Diese Amtshandlungen wurden von den Behörden gezielt zu „Gesprächen“ genutzt, die die Vorteile einer vorbehaltlosen Integration in die ČSR erläutern sollten. Im Budweiser Kreis wurden 1954 ungefähr 500 und 1957 noch rund 100 Deutsche ausgemacht, die bislang ohne Bürgerausweise lebten.1872 Im Zuge der Währungsreform 1953 wurde von den Behörden beobachtet, dass diese stimulierend auf die Akzeptierung der Staatsbürgerschafts-Zwangserteilung gewirkt habe, da bei der Auswechslung von Bargeld die „Bürgerausweise“ (Personalausweise) vorzulegen waren.1873 Nach einem Bericht des KNV Reichenberg gestaltete sich aber die administrative Durchführung der Staatsbürgerschaftsverleihung alles andere als einfach. Besonders schwierig sei die Durchsetzung der vom MV angeordneten Ausweis-Austauschaktion nach dem 17.6.1953, dem Volksaufstand in der DDR geworden. So kam es auf einer Veranstaltung für deutsche Bürger in Gablonz am 24.6.1953, an der rund 700 Personen anwesend waren, zu „antistaatlichen Aussprüchen“ einiger Teilnehmer. Besonders markant gegen die Annahme der Staatsbürgerschaft gerichtet sei die Stimmung im Reichenberger Kreis in den Bezirken Gablonz, Reichenberg, Haida (Nový Bor) und Rumburg gewesen, wo die ihnen angebotenen Staatsbürgerschaftsbescheinigungen „tatsächlich ohne Einwände nur ein geringfügiger Teil der deutschen Staatenlosen angenommen hat“. Trotzdem habe

1870

AMV-Pha, 310-25-14, Bl. 41, Runderlass des MNB (Hauptzentrale der Öffentlichen Sicherheit)

vom 17.6.1953. 1871

GABZDILOVÁ-OLEJNÍKOVÁ – OLEJNÍK: Karpatskí Nemci, 163, Anm. 14. 1872 STANĚK: Německá menńina, 109-111, 139. Vgl. auch die monatlichen Berichte des zuständigen Referenten

über die Erledigung der Staatsbürgerschaftsagenda und Durchführung der Nationalitätenpolitik im Bezirk

Aussig aus den Jahren 1953 und 1954, die auf eine insgesamt reibungslose Applizierung von Gesetz 34/1953

hindeuten. Bis zum Oktober 1953 hätten Deutsche nur in rund zehn Fällen die Annahme eines

„Bürgerausweises“ abgelehnt, doch nach persönlichen Gesprächen hätten sämtliche ihren Widerstand

aufgegeben. AMÚ, f. JNV Ústí n.L., kr. 337. 1873 Ebenda, Bericht vom 6.6.1953 des JNV Aussig an den KNV Aussig über die Durchführung der

Nationalitätenpolitik; SOkA Děčín, f. ONV Děčín, kr. 49, Situationsbericht zur Durchführung der

Nationalitätenpolitik über den Mai 1953. – Mit der Währungsreform wurde aufgrund Gesetz Nr. 41/1953 die

tschechoslowakische Krone abgewertet und alle seit 1945 auf gesperrten Konten „gebundenen“ Guthaben von

Privatpersonen verloren ihre Gültigkeit.

Page 26: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Integration durch Staatsbürgerschaft (Ende 1948 – 1953)

496

man die „Überzeugungskampagne“ fortgeführt, so dass der Bericht auf Ende Oktober 1953 nur noch von 360 „staatenlosen“ Deutschen spricht, wobei bei Einführung von Gesetze Nr. 34/1953 noch ursprünglich 6.896 Deutsche ohne tschechoslowakische Staatsbürgerschaft gewesen seien.1874 Auch an einzelnen Orten im Kreis Aussig sei die deutsche Bevölkerung nach den Ereignissen in der DDR „der Panik erlegen“ (so in Oberleutensdorf und in den Stadteilen Prödlitz/Předlice und Schönpriesen/Krásné Březno in Aussig). 1875 Nach einem Bericht aus dem Kreis Reichenberg seien viele Deutsche auch bei amtlicher Vorladung gar nicht erst erschienen oder hätten die Ausfüllung eines Gesuches um Ausstellung einer Staatsbürgerschaftsbescheinigung von Bedingungen abhängig gemacht (Rückgabe von konfisziertem Eigentum, Rückkehr von Verwandten, Ausreise nach Deutschland u.a.) bzw. die Ablehnung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft mit dem Vorzeigen einer Bescheinigung über die BRD-Staatsbürgerschaft begründet (diese Staatsbürgerschaftsnachweise bzw. Heimatscheine wurden von den tschechoslowakischen Behörden in der Regel nicht anerkannt). Das Auftreten der betreffenden Deutschen sei manchmal „direkt aggressiv“ gewesen. 1876 Ebnefalls im Kreis Reichenberg führten einige Deutsche vor den Behörden teil bis Ende der fünfziger Jahre als Grund für ihr anhaltende ablehnende Haltung an, die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft sei ihnen im Zeitraum zwischen 1951 und 1953 unter Anwendung von Druckmitteln aufgezwungen worden und verwiesen auf ihre seit 1947 abermals gestellten Ausreisegesuche.1877 Im Karlsbader Kreis war Ende 1959 die Rede von noch 234 Deutschen ohne tschechoslowakische Staatsbürgerschaft, deren Mehrheit aber nicht an einer Aussiedlung interessiert sei, sondern nur eine „Abwartehaltung“ einnähme.1878 Nach westdeutschen Angaben waren Ende der 50er Jahre in der Tschechoslowakei noch rund 4.300 Deutsche ohne tschechoslowakische Staatsbürgerschaft anwesend – die meisten von ihnen „Reichs“- oder „Volksdeutsche“, die niemals zuvor die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft besessen hatten.1879

1874 SOA Litoměřice, f. KV KSČ Liberec, kr. 37, Protokoll der Sitzung des KSČ-Kreisausschusses vom

12.11.1953. – Die Zahl der „staatenlosen“ Deutschen zum Frühling 1953 korrespondiert nicht mit der Angabe

von Anfang Oktober 1951, die weiter vorne in dieser Arbeit zitiert wird, es sei denn, eine grössere Zahl von

Deutschen hätte zwischen Herbst 1951 und Frühling 1953 ihre Staatsbürgerschaftsanträge wieder

zurückgezogen. 1875

SOA Litoměřice – Pobočka Most, f. KNV Ústí n.L., kr. 1357, i.č. 709, Protokoll einer Sitzung der

Kreiskoordinationskommission für die Nationalitätenfrage beim KNV in Aussig vom 25.6.1953. 1876

OA Litoměřice, f. KV KSČ Liberec, kr. 37, Beilage zum Protokoll der Sitzung des KSČ-

Kreisausschusses vom 12.11.1953: Bericht des zuständigen KNV-Referenten über die Lage der deutschen

Bevölkerung im Kreis Reichenberg. 1877

SOA Litoměřice – Pobočka Most, f. KNV Liberec, kr. 499, i.č. 347, Material betreffend die Beseitigung der „Staatenlosigkeit“ im Kreis Reichenberg.

1878 SÚA, f. 05/3 Ideologické oddělení, sv. 35, a.j. 272, Bl. 56-61, hier 56, streng geheimes Material über die

Situation der deutschen Bevölkerung im Kreisgebiet vom 18.12.1959. 1879 STANĚK: Německá menńina, 245, Anm. 81. Nach BOHMANN: Die deutsche Bevölkerung in der ČSSR,

Anm. 18, S. 71, weilten in der Tschechoslowakei noch einige Tausend deutsche Schlesier, die 1944/45 nach

Böhmen evakuiert bzw. geflüchtet waren und nie tschechoslowakische Staatsbürger waren.

Page 27: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

497

IX. SONDER- UND SPÄTAUSSIEDLUNGEN

1 Die „Repatriierung“ der deutschen Kriegsgefangenen (1947-1950) Ungefähr eine halbe Million Sudetendeutscher leistete zwischen 1939 und 1945 in bewaffneten deutschen Wehreinheiten Kriegsdienst. Nach den verfügbaren Schätzungen beträgt die Zahl der dabei Gefallenen oder ausserhalb des Kampfes Gestorbenen ungefähr zwischen 175.000 und 197.000 Deutsche aus der früheren Tschechoslowakei (wahrscheinlich nur aus dem Gebiet der böhmischen Länder), davon stammten rund 166.000 bis 170.000 aus dem besetzten Grenzgebiet und rund 8.000 aus dem Protektorat. 1880 Ein grosser Teil der sudetendeutschen Kriegsgefangenen kehrte nach Kriegsende gar nicht erst mehr in die Tschechoslowakei zurück, da zum Zeitpunkt ihrer Entlassung ihre Familienangehörigen bereits vertrieben oder ausgesiedelt waren. Hatten Kriegsgefangene, die an der Rückkehr in die Heimat gehindert wurden, tschechische Frauen und Familienmitglieder, so emigrierten diese manchmal „freiwillig“ aus der Tschechoslowakei.1881 Die Mehrheit der von anderen Gewahrsamsmächten entlassenen Kriegsgefangenen, die 1945 und 1946 zu ihren Familien in die Tschechoslowakei zurückkehrten, wurde bis Ende 1946 wieder vertrieben oder „organisiert“ ausgesiedelt. Dies ermöglichte eine Anweisung des MNO vom 27.7.1946 an die Kommandanten der Kriegsgefangenenlager, wonach alle sudetendeutschen Kriegsgefangenen in ihre Wohnorte zu entlassen waren. Von dort fand zusammen mit ihren Familien deren Aussiedlung statt. Auf nicht wenige der im Ausland bereits aus der Gefangenschaft entlassenen Rückkehrer wartete jedoch in der Tschechoslowakei eine unerwartete, erneute Gefangennahme durch die hiesigen Militärorgane. Besonders in den ersten Monaten nach Kriegsende wurden die Gefangenen nicht immer strikt abgetrennt von reichs-, sudetendeutschen und „volksdeutschen“ sowie tschechischen und andersnationalen Zivilinternierten untergebracht.1882 Angehörige von bewaffneten deutschen Verbänden, die sich bei Kriegsende bereits auf dem Gebiet der neuerrichteten Tschechoslowakei befunden hatten, konnten ganz unterschiedliche Schicksale ereilen. Die US-Armee, in deren Besatzungszone Böhmens Anfang Mai 1945 ganze Massen von deutschen Armeetruppen strömten, trat zwar anfangs als Gewahrsamsmacht deutscher Kriegsgefangener auf; einen wesentlichen, vielleicht den grössten Teil ihrer Gefangenen (angeblich etwa 135.000 Personen) überliess sie aber bald der Roten Armee.1883 Die von der sowjetischen Armee direkt gemachten Gefangenen wurden zunächst in oft improvisierten, unter freiem Himmel befindlichen Sammellagern konzentriert, so etwa bei Prosečnice (Lešany) im Bezirk Benešov südöstlich von Prag. Sodann wurde ein zahlenmässig nicht erfassbarer Teil – offenbar in erster Linie die Arbeitstauglichen – in sowjetische Gefangenenlager direkt in

1880 KURAL, Václav – RADVANOVSKÝ, Zdeněk a kol. (ed.): „Sudety“ pod hákovým kříņem, Ústí nad Labem

2002, 88. Vgl. die dortigen weiterführenden Literaturverweise. 1881

Vgl. dazu die Akten aus dem Jahre 1946 in f. ÚPV-B, kr. 1240, sign. 1456. 1882

Vgl. die Zitate aus Heimkehreraussagen in BÖSS: Die deutschen Kriegsgefangenen in Polen und

der Tschechoslowakei, 25f. und 28f. 1883

BÖSS: Die deutschen Kriegsgefangenen in Polen und der Tschechoslowakei, 21 und 26, Anm. 22.

Page 28: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

498

die UdSSR oder in ostmittel- und südosteuroäische Staaten verbracht. Der Rest, offenbar mehr als 40.000 Personen, wurde im Laufe des Jahres 1945 an die tschechoslowakische Militärverwaltung übergeben, die – zusammen mit einzelnen Partisanenverbänden – zuvor schon selbst Gefangene in ihren Gewahrsam gebracht hatte. Wie viele gefangene Angehörige von bewaffneten deutschen Kampfverbänden sich im Frühling 1945 auf dem Gebiet der böhmischen Länder befanden, kann aufgrund der bekannten Akten bisher nicht einmal grob geschätzt werden. Es dürfte sich aber sicherlich um mehrere Hunderttausend Menschen gehandelt haben. Ende März 1946, also nach Stattfinden der erwähnten Gefangenentransporte der Roten Armee, verzeichnete der tschechoslowakische Generalstab noch 47.964 Kriegsgefangene, die sich auf dem Boden der böhmischen Länder im Gewahrsam der tschechoslowakischen Armee befanden (27.168 in Böhmen und 20.796 in Mähren-Schlesien). Nicht alle dieser Personen waren deutscher Nationalität oder Österreicher.1884 Die Zahl der Kriegsgefangenen verkleinerte sich bis Ende 1946 aufgrund der eingangs erwähnten Aussiedlung von sudetendeutschen ehemaligen Soldaten weiter auf unter einen Viertel. Denn zurückgehalten und nun als zivile Arbeiter in der Republik weiterhin beschäftigt werden durften unter den bisherigen sudetendeutschen Kriegsgefangenen nach der erwähnten Direktive von Ende Juli 1946 nur Inhaber von Spezialistenlegitimationen sowie Gefangene, die ihren Arbeitgebern von den Militärorganen per Revers zur Verfügung gestellt wurden und im Bergbau oder der Landwirtschaft eingesetzt waren, sofern sie in der Tschechoslowakei über keine Familie und keinen zivilen Wohnsitz verfügten. Bei bisherigen sudetendeutschen Kriegsgefangenen, die im Bergbau arbeiteten oder als Spezialisten galten, war ihr ganze Familie vom Abschub befreit. Zu bisher in der Landwirtschaft eingesetzten sudetendeutschen Kriegsgefangenen sollten ihre Familienmitglieder zuziehen und später von dort aus ausgesiedelt werden. Alle reichsdeutschen Kriegsgefangenenlager waren an den bisherigen Plätzen zu belassen (Gefangenenlager oder Betriebe, in denen sie „auf Revers“ arbeiteten).1885 Geographisch waren die Gefangenen weit verstreut. 1886 Eingesetzt wurden die arbeitsfähigen unter ihnen hauptsächlich in der Landwirtschaft und im Bergbau (dazu bestanden besondere Kohlengrubenlager). Besonders während des ersten Nachkriegsjahres gehörten Kriegsgefangene oft zu Opfern aussergerichtlicher Verfolgungsmassnahmen, die auch willkürliche Erschiessungen mit einschlossen. Zudem waren die Verhältnisse in den besonderen Kriegsgefangenen-Lagern, so im berüchtigten Zentrallager in Prag-Motol, noch deutlich schlechter als in den übrigen Lagern für „zivile“ Deutsche. Tod durch Unterernährung oder durch Seuchen war keine seltene

1884

NA, f. MPSP, kr. 398, sign. 2246, tabellarische Übersicht des MNO der bestehenden

Kriegsgefangenenlager und ihrer Insassen in den böhmischen Ländern per Ende März 1946. 1885 SÚA, f. MV-N, kr. 254, i.č. 160, Zirkular des MV vom 29.7.1945 mit dem Wortlaut des Befehls des MNO

vom 27.7.1946; HRABOVEC: Vertreibung und Abschub, 296f. Bereits Mitte Mai 1946 war dieser

Massnahme eine Weisung des MNO vorausgegangen, wonach alle sudetendeutschen Kriegsgefangenen

zwecks Ermöglichung des Abschubs zu ihren Familien zu entlassen waren, falls diese überhaupt noch in der

ČSR waren. Entlassen werden sollten auch Kriegsgefangene im Besitze einer Bescheinigung „B“ (über das

Versprechen der Erteilung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft). Die damalige Richtlinie

berücksichtigte nicht, dass in den Kriegsgefangenenlagern auch Personen aus Antifa-Familien waren, die sich

für die Sondertransporte angemeldet hatten. Ebenda. 1886

Vgl. die Auflistung der Gefangenenlager per Ende März 1946 (Anm. 1884) sowie die (nicht ganz

vollständige) Standortliste und Übersichtskarte der in der Tschechoslowakei bestehenden Lager bei

BÖSS: Die deutschen Kriegsgefangenen in Polen und der Tschechoslowakei, 361-379 und 464f. 1886

Vgl. die Auflistung der Gefangenenlager per Ende März 1946 (Anm. 1884) sowie die (nicht ganz

vollständige) Standortliste und Übersichtskarte der in der Tschechoslowakei bestehenden Lager bei

BÖSS: Die deutschen Kriegsgefangenen in Polen und der Tschechoslowakei, 361-379 und 464f.

Page 29: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

499

Erscheinung. 1887 Nach einem ersten Versuch zur genaueren Eruierung der Zahl der in tschechoslowakischer Gefangenschaft im Zeitraum von 1945 bis 1948 verstorbenen Kriegsgefangenen gelangte Tomáš Staněk kürzlich auf einen grob geschätzten Wert von mindestens 2.000 Menschen. Davon starb etwa die Hälfte bereits 1945.1888 Die in der Tschechoslowakei nach Ende des Transfers noch immer vom MNO verzeichneten Deutschen mit dem Status von Kriegsgefangenen waren grösstenteils „Reichsdeutsche“, stammten also nicht aus der Tschechoslowakei. Im Dezember 1946 sollen auf tschechoslowakischem Gebiet noch an die 11.000 deutsche Kriegsgefangene zurückgehalten worden sein, wovon etwa 7.000 in der Landwirtschaft und rund 3.000 in den Bergwerken arbeiteten. Diese Arbeitskräfte wurden vorläufig für „unverzichtbar“ gehalten. Nach einer inter-alliierten Abmachung waren invalide Gefangene sowie Priester und Gesundheitspersonal unter ihnen zu repatriieren. Die tschechoslowakische Regierung vertrat den Standpunkt, dass sie die übrigen im Einklang mit der Genfer Kriegsgefangenenkonvention aus dem Jahre 1929 weiterhin im Lande behalten werden könnten, zumindest solange, bis die übrigen Alliierten keine anderen Massnahmen ergriffen. Man berief sich darauf, dass nach dieser Vereinbarung, deren Signatar die Tschechoslowakei war, Kriegsgefangene erst nach Abschluss eines Friedensvertrags zu repatriieren waren.1889 Auf der Moskauer Aussenministerkonferenz vereinbarten die Alliierten am 11.3.1947, dass bis spätestens Ende 1948 alle Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs, darunter auch die deutschen, in ihre Heimatländer zu repatriieren seien.1890 Als Reaktion darauf verhandelte die tschechoslowakische Regierung erstmals am 7.10.1947 über die Repatriation der in der Tschechoslowakei befindlichen Kriegsgefangenen (im Falle von „Volksdeutschen“ oder „Reichsdeutschen“ aus den früheren deutschen Ostgebieten stellte die „Repatriierung“ de facto eine Art „Umsiedlung“ in eine meist neue Umgebung dar). Schon vorher hatte Landwirtschaftsminister Ďuriš durchgesetzt, dass die ursprünglich auf den 30.6.1948 geplante Beendung der Repatriierung auf den 31.8.1948 verschoben werde, um die arbeitseingesetzten Kriegseingesetzten noch für die Erntearbeiten nutzen zu können. Auch Industrieminister Laušman war aber daran gelegen, dass „seine“ im Bergbau und der Schwerindustrie eingesetzten Kriegsgefangenen erst als letzte gehen müssten. Ein Kompromiss darüber, welcher Wirtschaftsbereich wie lange wie viele Kriegsgefangene behalten durfte, konnte auf der betreffenden Sitzung nicht erzielt

1887 Vgl. zu den Lebensbedingungen der Kriegsgefangenen in den Jahren 1945/46 aufgrund tschechischer

Archivquellen: STANĚK, Tomáń: Tábory v českých zemích, 39f., 44, 61, 70, 77f., 94f., 115, 142f. und 153f.

Noch detailliertere Angaben zu den Lebensbedingungen der Gefangenen bis Ende 1948 stellte aufgrund von

Heimkehrerberichten und IKRK-Berichten Otto Böss zusammen, BÖSS: Die deutschen Kriegsgefangenen in

Polen und der Tschechoslowakei, 193-298. 1888

Vgl. zur bisher nicht genauer ermittelten Zahl der Todesfälle unter den deutschen Kriegsgefangenen:

STANĚK, Tomáń: Poválečné „excesy“ v českých zemích v roce 1945 a jejich vyńetřování, Praha 2005 (Seńity

Ústavu pro soudobé dějiny AV ČR, 41), 326f. 1889 NA, f. MPSP, kr. 42, sign. 1121, Protokoll einer Beratung auf dem MZV vom 27.12.1946 über das weitere

Vorgehen bezüglich der deutschen Kriegsgefangenen, vgl. auch STANĚK: Odsun Němcŧ, 487, Anm. 68;

ders.: Tábory v českých zemích, 158, 165f. Ebenda auch nähere Angaben über die Lebens- und

Arbeitsbedingungen der Kriegsgefangenen Ende 1946/Anfang 1947. – Genau besagte Artikel 75 der Genfer

Konvention vom 27.7.1929, dass eine Friedensvertrag zwischen verfeindeten Kriegsparteien eine Bestimmung

über die Repatriation der Kriegsgefangenen enthalten müsse und die Rückführung der Gefangenen

baldmöglichst nach Abschluss des Friedensvertrags begonnen werden müsse. Falls keine solche Bestimmung

geschlossen werde, sollten die kriegsführenden Parteien trotzdem baldmögliclhst in Verhandlungen über die

Repatriation der Gefangenen treten. 1890 OVERMANS, Rüdiger: Soldaten hinter Stacheldraht. Deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs,

München 2002, 303.

Page 30: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

500

werden. Beschlossen wurde nur die baldige Repatriierung von nach Angaben des MNO-Staatssekretärs Lichner ungefähr 800 invaliden Kriegsgefangenen im Lager Prag-Motol. 1891 Kriegsgefangene waren als billige und vergleichsweise gut gerüstete Arbeitskräfte gefragt. Die normalen Lohnsätze in den Branchen, in denen sie arbeiteten, galten für sie weder rechtlich, geschweige denn faktisch. Angesichts der erbarmungslosen Ausbeutung dieser meist jungen Männer für Arbeiten war nicht überraschend, dass die Kriegsgefangenen in den Gruben auch zum Mittel der Arbeitsniederlegung griffen, um auf ihre triste Lebenssituation aufmerksam zu machen. 1892 Ein Vertreter des MZ bezeichnete die Erfahrungen, die man mit den deutschen Kriegsgefangenen in der Landwirtschaft gemacht habe, im Juni 1947 als „insgesamt gut“, insbesondere im Vergleich zu den freiwilligen ausländischen Arbeitskräften, die etwa aus Bulgarien angeheuert worden waren. Im Jahr 1946 erwirtschafteten die deutschen Kriegsgefangenen dem Staat durch ihre Arbeit einen Reingewinn von 110 Millionen Kronen, im ersten Quartal 1947 26,5 Millionen.1893 Nachdem die Ressorts sich in der Zwischenzeit geeinigt hatten, beschloss die Regierung am 18.11.1947 die etappenweise Repatriierung der noch im Lande befindlichen Kriegsgefangenen bis spätestens zum 24.12.1948. Das IKRK befriedigte allerdings dieser Termin nicht. Es äusserte gegenüber Aussenminister Masaryk Mitte Dezember 1947 den dringenden Wunsch, dass schon bis Ende 1947 alle Kriegsgefangenen aus der ČSR entlassen würden. 1894 Eine erste Gruppe, die aber 18 % aller noch anwesenden Kriegsgefangenen nicht übersteigen durfte, sollte bis Ende Februar 1948 repatriiert werden. Für die Auswahl dieser ersten Heimkehrer sollten gesundheitlich oder soziale Gründe ausschlaggebend sein. Erst im November und Dezember 1948 sollten alle übrigen Kriegsgefangenen repatriiert werden, um deren wertvolle Arbeitskraft in maximaler Länge nutzen zu können.1895 Es muss darauf hingewiesen werden, dass auf beiden Regierungssitzungen nicht erwähnt wurde, dass im Joachimsthaler Uranabbaugebiet bereits mehrere Tausend Kriegsgefangene, die aus der Sowjetunion bzw. aus Stettin (Polen) herbeigeführt worden waren, arbeitseingesetzt waren. Wie bereits berichtet wurde, wurden diese nicht bis Ende 1948 entlassen. Ob die Regierung in ihrem Beschluss auch die „Joachimsthaler“ Gefangenen berücksichtigte, ja sich deren Existenz bewusst war, ist unklar. Für eine möglichst baldige Repatriierung der deutschen Kriegsgefangenen in der Tschechoslowakei hatte sich auch das IKRK eingesetzt. Dessen Vertreter in Prag, Dr. Lehner, sprach darüber im Januar 1948 mit Aussenminister Jan Masaryk. Masaryk verhandelte daraufhin mit den Ministern Ďuriš und Jankovcová (diese hatte inzwischen von Laušman das Industrieminsterium übernommen). Auf einer Besprechung am 10.2.1948 sollten die Vertreter der involvierten Ministerien einen neuen Regierungsbeschluss vorbereiten. Der Repräsentant des MNO erwähnte dabei, dass per 1.1.1948 noch 6.201 deutsche Kriegsgefangenen auf dem Gebiet der Tschechoslowakei

1891 SÚA, f. 100/24, sv. 145, a.j. 1494, Protokoll der Sitzung des Ministerrats vom 7.10.1947. 1892 Vgl. z.B. Rudé právo, 5.12.1947. Bericht über den von den Behörden gewaltsam vereitelten Versuch einer

Arbeitsniederlegung von 128 deutschen Kriegsgefangenen im Schacht Hedvíka bei Petrvald. Vier der

Streikenden wurden anschliessend vor ein Militärgericht gestellt. 1893

AMV-Ka, f. E-6, kr. 115, i.j. 88, Aufzeichnung über eine interministerielle Besprechung über die

Repatriierung der deutschen Kriegsgefangenen vom 23.6.1947 (der Verfasser dankt Herrn Dozent

Dr. Tomáń Staněk für die Zurverfügungstellung einer Kopie des Dokuments). 1894 NA, f. ÚPV-B, kr. 1240, sign. 1456, Schreiben des MZV vom 30.1.1948 an verschiedene Ministerien. Vgl.

ebenda eine Reihe weiterer Unterlagen über den Aufenthalt und die Entlassung der Kriegsgefangenen in

tschechoslowakischem Gewahrsam in den Jahren 1947/48. 1895 SÚA, f. 100/24, sv. 146, a.j. 1494, Protokoll der Sitzung des Ministerrats vom 18.11.1947.

Page 31: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

501

waren (die „Joachimsthaler“ waren gewiss nicht in dieser Zahl enthalten). Sein Ressort hatte gegen deren sofortige Entlassung keine Einwände, wie sie wohl das IKRK und vielleicht auch das MZV vorschlug. Wie zu erwarten war, kam es zu einem Kampf des Landwirtschafts- und Industrieressorts um möglichst lange Zurückhaltung einer möglichst grossen Zahl von Kriegsgefangenen. Der Vertreter des Landwirtschaftsministers gab bekannt, dass für die 3.751 in der Landwirtschaft eingesetzten Kriegsgefangenen bisher kein Ersatz bestehe, womit man auf den Entlassungsterminen im Regierungsbeschluss vom vergangenen Herbst bestehen bleiben müsse. Es sei höchstens denkbar, die Hälfte der Kriegsgefangenen schon Mitte August und den Rest Mitte November zu entlassen (dieser Vorschlag wurde angenommen). Nach dem Vertreter des Industrieressorts arbeiteten rund 2.500 Kriegsgefangenen im Bergbau. Deren Leistung sei besser als die vertraglich „angeheuerten“ italienischen Lohnarbeiter. Wann die im Industriebereich beschäftigten Gefangenen repatriiert werden sollten, wurde auf der Besprechung nicht definitiv geregelt. Ein gewisser Teil von ihnen sollte aber auch schon Mitte August 1948 entlassen werden. 1896 938 deutsche Kriegsgefangenen (15%) wurden getreu dem Regierungsbeschluss vom 18.11.1947 in zwei Transporten am 26.2.1948 repatriiert. Der erste, kleinere Transport steuerte in die SBZ. Seine Passagiere setzten sich nach der Meldung des MNO ans MZV aus 324 Kriegsgefangenen und 37 Zivilpersonen zusammen (nach einer späteren Meldung von Ende 1948 wurden im Februar 1948 341 Kriegsgefangene in die SBZ repatriiert). 614 Gefangene wurden in die amerikanische (261 Gefangene), britische (309) und französische Zone (44) Deutschlands verbracht. Daneben reisten 25 Zivilpersonen mit. Alle Zivilpersonen stammten aus den Sammellagern Brünn-Malmeritz, Lešany und Ruzyně. Die aus Ruzyně sollen ehemalige reichsdeutsche Kriegsgefangene aus der UdSSR gewesen sein (20 Personen).1897 In einer Meldung an Innenminister Nosek vom 29.4.1948 sprach die Direktion der „Tschechoslowakischen Minen“ davon, dass zum 15.4.1948 noch 1.275 deutsche Kriegsgefangene im Bergbau beschäftigt seien.1898 Im Juni 1948 wurden in der ČSR noch 4.655 deutsche Kriegsgefangene verzeichnet (3.155 in der Landwirtschaft und 1.500 in der Industrie, von letzteren 1.212 in den Ostrauer Kohlegruben beschäftigt). Zum 1.10. betrug deren Zahl nur noch 2.846 (davon waren 1.577 in der Landwirtschaft, 985 im Bergbau, 156 in der Industrie und im Gewerbesektor eingesetzt, 106 Gefangene arbeiteten bei der tschechoslowakischen Militärverwaltung, 22 befanden sich in Krankenhäusern oder in Haft).1899 Aufgrund von zwei Erlassen des MV vom 12. und 17.11.1948 fand danach tatsächlich die Repatriierung der verbliebenen Kriegsgefangenen statt (ohne diejenigen im Joachimsthaler Gebiet). 1900 Obwohl vorgesehen war, die vom Zentrallager in Prag-Motol organisierte Repatriierung bis Ende Dezember abzuschliessen, scheint es, dass diese erst Anfang 1949 abgeschlossen werden konnte. 1901 Während des Jahres 1948 wurden 2.219 Kriegsgefangene (im Februar, September, November und Dezember) in die SBZ überstellt.1902 Bezüglich der in die Westzonen repatriierten Gefangenen sind die genauen Personenzahlen und

1896 SÚA, f. MPSP-R, kr. 757, sign. 3122, Protokoll der Besprechung vom 10.2.1948. 1897 SÚA, f. MV-NR, kr. 7952, sign. B-300, č.j. 5926/48, vertrauliche Mitteilung des MZV ans MV vom 6.4.1948.

Zur alternativen Zahl der in die SBZ repatriierten Gefangenen vgl. die Tabelle im Anhang auf S. 697. 1898 SÚA, f. MV-N, kr. 43, Schreiben vom 29.4.1948. 1899

NA, f. MV-NR, kr. 7994, sign. B-300, č.j. 15439/48, Protokoll einer interministeriellen Beratung

auf dem MZV über die „Repatriierung“ der deutschen Kriegsgefangenen vom 29.10.1948. 1900 STANĚK: Odsun Němcŧ, 252; vgl. auch: Ders.: Tábory v českých zemích, 191. – Wahrscheinlich schon im

Juni wurden nach einer Initiative des IKRK ungefähr 58 Kriegsgefangene aus dem Gefangenenlager bei

Ruzyně bei Prag in die US-Zone entlassen. Vgl. SÚA, f. MV-NR, kr. 7965, sign. B-300, č.j. 9239,

vertrauliches Schreiben des MZV ans MV vom 1.6.1948. 1901 STANĚK: Německá menńina, 36; NA, f. MV-NR, kr. 7994, sign. B-300, č.j. 15439/48, Schreiben des MNO

ans MV vom 3.11.1948. 1902 Vgl. die Tabelle im Anhang auf S. 697.

Page 32: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

502

Transportdaten nicht vollständig bekannt.1903 Von den im November zur Repatriierung vorgesehenen 1.398 Kriegsgefangenen stammten 62 Prozent aus den Westzonen Deutschlands.1904 Das MZV teilte am 1.9.1949 ans MV mit, dass sich nach Auskunft der sowjetischen Behörden noch immer 6.000 ehemalige tschechoslowakische Staatsbürger deutscher Nationalität in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern befänden. Die Sowjetunion bat um Mitteilung, ob die ČSR Interesse an deren Repatriation habe. Ein individuelles Vorgehen bei der Rückführung kam aber nach Auskunft der Sowjetbehörden nicht in Frage. Falls Prag nicht alle 6.000 Gefangenen in die Tschechoslowakei überführt haben wolle, würden diese nach Deutschland transportiert. Das MV schloss sich einen Tag darauf dem Standpunkt des MZV an. Danach hatte Prag kein Interesse an einer Gesamt-Repatriation. Zuerst sollten also alle nach Deutschland überführt werden. Erst von dort aus komme eventuell die Repatriierung von einzelnen in die Tschechoslowakei in Frage, falls sie darauf „Anspruch“ hätten. 1905 Nach einer Angabe aus sowjetischen Quellen waren zum 1.1.1950 nur noch 425 „tschechoslowakische“ Kriegsgefangene in der UdSSR. Die gleiche Quelle spricht davon, dass im Jahre 1945 insgesamt 43.498 Kriegsgefangene mit (bisheriger) tschechoslowakischer Staatsangehörigkeit repatriiert worden seien, 1946 11.796 Gefangene, 1947 1.127 Gefangene, 1948 169 Gefangene und 1949 nur 53 Gefangene – insgesamt, zuzüglich der Jahre 1943 und 1944, 65.684 Gefangene. Es ist anhand der verfügbaren Daten nicht möglich zu bestimmen, bei wie vielen es sich dabei um Deutsche gehandelt hat. Fest steht, dass unter den Repatriierten insgesamt auch Tausende Hultschiner, Teschener „Volksliste“-Träger, südmährische Kroaten und Weitraer waren, daneben auch eine gewisse Anzahl von während der Besatzungszeit wohl als „Deutsche“ geltenden früheren Tschechen aus „Mischehen“. Staatsangehörigkeit und Nationalität (im Sinne von „Volkszugehörigkeit“) waren jedoch in der sowjetischen Kriegsgefangenenstatistik sehr flexible Begriffe. 1906 Diese Angabe kann als Hinweis darauf betrachtet werden, dass die oben in Aussicht gestellte Repatriierung von 6.000 ehemaligen deutschen Tschechoslowaken im Jahre 1949 tatsächlich nach Deutschland zielte. Nach einer Erhebung der deutschen Bundesregierung wurden im März 1950 insgesamt noch 3.797 deutsche Kriegsgefangene aus dem Gebiet der Tschechoslowakei registriert. Davon sollen 1.982 in der Sowjetunion gewesen sein und 1.297 in der ČSR, Ungarn, Polen und Jugoslawien. Da diese Registrierung nur auf dem Gebiet der BRD durchgeführt werden konnte, schätzte Bohmann die Gesamtzahl der damals zurückgehaltenen deutschen Kriegsgefangenen aus der Tschechoslowakei im Ausland auf rund 5.000. Darunter vermutete er ungefähr 1.500 noch immer in der Tschechoslowakei. 1907 Mit der letzten Gruppe konnten nur die Gefangenen im Uranbergbau gemeint sein, die jedoch zur grossen Mehrheit bis Ende

1903 Ausser des bereits erwähnten Repatriierungstransports in die Westzonen vom 26.2.1948 ist bekannt, dass 63

kranke Kriegsgefangene aus dem Lager Ruzyně, die ursprünglich in sowjetischer Gefangenschaft waren und

in die Tschechoslowakei repatriiert wurden, als deren Familien bereits ausgesiedelt worden waren, unter

Vermittlung des Roten Kreuzes am 9.6.1948 über Taus in die US-Zone überstellt wurden. SÚA, f. MV-NR, kr.

7963, sign. B-300, č.j. 8978/48, Vermerke von Kučeras Abschubsreferat vom 8. und 28.6.1948 sowie

Schreiben des MZV ans MV vom 31.5.1948. 1904

NA, f. MV-NR, kr. 7994, sign. B-300, č.j. 15439/48, tabellarische Übersicht der Zusammensetzung nach

Herkunftszone und Beschäftigungssektor der im November 1948 zur Repatriierung vorgesehenen deutschen

Kriegsgefangenen. 1905 Ebenda, kr. 10224, sign. 494, Fernschreiben des MZV vom 1.9.1949 und Konzept der Antwort des MV

(gebilligt von Adamec) vom 2.9.1949. 1906 BORÁK, Mečislav: Českoslovenńtí občané z území dneńní České republiky perzekvovaní v SSSR, in:

BORÁK, Mečislav a kol. (ed.): Perzekuce občanŧ z území dneńní České republiky v SSSR. Sborník příspěvkŧ,

Praha 2003 (Seńity Ústavu pro soudobé dějiny AV ČR, 38/2003), 122f. und 116-118. 1907 BOHMANN: Das Sudetendeutschtum in Zahlen, 251.

Page 33: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

503

Januar 1950 entlassen wurden bzw. sich „freiwillig“ zur weiteren Arbeitsleistung verpflichteten.1908

2 „Aktion Link“ (1949 – 1951)1909 Nachdem in den Verhandlungen mit den Amerikanern, vertreten durch den US-Permit Officer Bowe in Prag, zum Jahresübergang 1948/49 ein Engpass erreicht worden war, fanden 1949 nur noch individuelle Ausreisen von Deutschen statt, die ein Permit der Amerikaner besassen. Ob eine Person im Besitze eines Permits jedoch tatsächlich ausreisen durfte, bestimmten letztlich die tschechoslowakischen Organe. Diese berücksichtigten gezielt Aspekte der „Produktivität“ von Personen, womit Spezialisten und nur noch rein formal dem Abschub unterliegende aber in die Produktion integrierte Personen an der Ausreise gehindert wurden. Wie bereits erwähnt wurde, drang die Grundabsicht der Amerikaner, künftig liberaler Permits zu erteilen, schnell zu den tschechoslowakischen Deutschen und wirkte sich in der Einreichung einer sehr grossen Zahl von Ausreisegesuchen aus. Unter dem Hintergrund der der Nachfrage nicht entsprechenden reellen Ausreisemöglichkeiten ist eine vom Internationalen Roten Kreuz (IKRK) gestartete Initiative zu sehen, die aus humanitärem Beweggrund und zum Zwecke der Familienzusammenführung die Aussiedlung einer grösseren Zahl von Deutschen aus der Tschechoslowakei in die Westzonen Deutschlands zum Ziel hatte. Bereits im Frühling 1948 wandte sich der Leiter der IKRK-Vertretung in Prag, Dr. Lehnert, an die Abschubsabteilung des MV. Nachdem ihm gesagt worden war, dass die geringen Ausreisemöglichkeiten durch die Amerikaner verschuldet seien, fragte dieser, ob Prag etwas gegen Sondierungen des IKRK bei der US-Militärverwaltung in Berlin habe, die die Möglichkeiten für eine Erhöhung der Aussiedlungskontingente abtasten sollten. Die tschechoslowakischen Behörden begrüssten die IKRK-Initiative ausserordentlich.1910 Am 8.3.1949 wandte sich die Prager IKRK-Delegation, vertreten durch ihren neuen Leiter Georges Meier-Moro, erneut ans MV und bekräftige die im Vorjahr geäusserte Absicht des IKRK. Vor seinem Abflug nach Berlin am nächsten Tag, wo er mit der US-Militärregierung verhandelte, ging es ihm darum, nochmals den tschechoslowakischen Standpunkt zu einer vom IKRK getragenen Aussiedlungsaktion einholen, die vorwiegend für arbeitsuntaugliche, betagte und kranke Personen (einschliesslich Häftlinge, in deren Fall eine Haftentlassung möglich war) gedacht sein sollte. Am 28.3.1949 verhandelte die IKRK-Delegation mit Hora und Vlček erneut. Meier-Moro teilte mit, dass seine Verhandlungen in Berlin erfolgreich waren und die neue Aussiedlungsinitiative auch von der IKRK-Zentrale in Genf und den autonomen Landeregierungen der Westzonen unterstützt würden. Aus der Sicht der MV-Vertreter war die Initiative des Roten Kreuzes höchst willkommen, da sie ausdrücklich den Personenkreis unter den zurückgebliebenen Deutschen betraf, den Prag noch immer weitest gehend auszusiedeln getrachtete und in der offiziellen Sicht nur unnötig der Staatskasse zur Last falle. Genau eine Aussiedlung mit diesen Vorzeichen war im Winter 1948/49 ja in den Verhandlungen mit den

1908 Vgl. das Kapitel zu den Kriegsgefangenen im Joachimsthaler Gebiet ab S. 449 in dieser Arbeit. 1909

Soweit nicht anders angegeben, stützen sich die Angaben in diesem Kapitel auf das reichhaltige Aktenmaterial

in: Ebenda, kr. 222. Grundinformationen zur Aktion „Link“ finden sich auch bei: STANĚK: Odsun Němcŧ,

253f.; Ders.: Německá menńina, 37f; Ders.: Retribuční vězni, 97, 104f. 1910 SÚA, f. MV-D, kr. 214, Manuskript des MV aus dem Jahre 1951 „Abschub der Deutschen aus der ČSR“,

Manuskript, I. Teil „Geschichte des Abschubs“, S. 114.

Page 34: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

504

Amerikanern gescheitert. Obwohl die Aktion ausdrücklich als freiwillige Aussiedlung konzipiert war, sollte die Auswahl der aussiedlungswilligen Personen1911 in erster Linie den tschechoslowakischen Behörden obliegen. Prag war unter diesen günstigen Bedingungen bereit, sämtliche Kosten für deren Durchführung bis zum Eintreffen der Aussiedler auf bayerischem Boden zu übernehmen und betrachtete in offizieller Lesart deren Aussiedlung als sozial motivierte Notmassnahme in der Zeit bis zur unwahrscheinlichen Wiederaufnahme des von den Amerikanern einseitig „unterbrochenen“ Potsdamer Transfers.1912 Die Bonner Regierung der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland war gegenüber der neuen Ausreisemöglichkeit – offensichtlich nach komplizierten Verhandlungen mit dem IKRK – grundsätzlich positiv eingestellt und bat die Allied High Commission am 26.10.1949 um Zustimmung zur Ausreise von insgesamt 45.000 Deutschen und „Volksdeutschen“ aus Polen und der Tschechoslowakei.1913 Nach der Übereinkunft zwischen dem IKRK und dem MV sollte es bei der Aktion im Falle der ČSR um rund 20.000 Personen gehen. Ein Zirkular des MV vom 29.8.1949 trug den ONVs die Erstellung von entsprechenden Namensverzeichnissen bis zum 1.10.1949. Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen, dass für die neue Aussiedlungsaktion der Begriff der „Familie“ weniger eng als bisher zu verstehen sei. So reichte es nun beispielsweise, wenn jemand Geschwister oder andere Verwandte im weiteren Sinn in Deutschland geltend machen konnte. Zuzugsgenehmigungen waren nicht erforderlich. Auch Deutsche, die zwar schon um die Wiedererlangung der Staatsbürgerschaft angesucht hatten, deren Gesuch aber noch nicht erledigt war, konnten in die Listen aufgenommen werden. 1914 Ebenso galt dies für Personen mit Spezialisten-Legitimationen, aber nur unter der Bedingung, dass die Betriebsführung mit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses übereinstimmte und das MV letztendlich seine Zustimmung gab. 1915 Die ONVs delegierten die Ausfertigung der Personenlisten an die MNVs. Diese hielten sich oft nicht an die im Zirkular des MV genannten Vorgaben oder erledigten ihre Evidenzaufgaben überhaupt gar nicht. Der ONV Bilin beklagte sich Ende September beim MV, dass bisher erst 7 von insgesamt 35 MNVs im Bezirk ihrer Pflicht um Bekanntgabe der ausreisewilligen deutschen Personen nachgekommen seien und sprach von „absolutem Desinteresse“. In die bisher eingelangten Listen seien „vorwiegend Personen eingetragen worden, die davon gar keine Ahnung haben“. Dabei gehe es um „unerwünschte“ Personen, deren Eintragung die MNVs als „vertraulich“ betrachtet hätten.1916 Dies kann als Hinweis gesehen werden, dass einige Lokalorgane die angekündigte Aussiedlungsaktion immer noch im alten Geist

1911 Nach behördlicher westdeutscher Sprachregelung wurden als „Aussiedler“ bezeichnet: „Solche Vertriebene,

die erst nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmassnahmen ihre Heimat verlassen haben“. Dieser

Definition ist freilich ein gewisser semantischer Widerspruch immanent. Vgl. Die Betreuung der Vertriebenen,

der Flüchtlinge, der Kriegsgeschädigten, der Evakuierten, der Kriegs- und Zivilgefangenen, der Heimkehrer,

der nicht-deutschen Flüchtlinge, hrsg. vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und

Kriegsgeschädigte, Bonn 1962, 13. 1912 NA, f. MV-NR, kr. 10949, sign. 199, Konzept des Schreibens der Abtl. A/6 des MV an den stellvertretenden

Innenminister Ervín Polák, o.D. (Ende August 1949). Auf Befehl Poláks wurde dem Vertreter des Allied

Permit Office Martin Bowe am 23.8.1949 erklärt, dass die ČSR grundsätzlich weiterhin an der Erfüllung der

Potsdamer Aussiedlungsvereinbarung und der Folgebestimmungen festhalte. 1913 BOHMANN: Menschen und Grenzen, Bd. 4, 468. 1914

Die wenigen Personen, denen ihr Gesuch um Rückverleihung der Staatsbürgerschaft erst nach

Ablauf der Anmeldefrist zur Aussiedlungsaktion abgelaufen war, ohne dass sie sich vorher bereits

für die Aussiedlung registriert hatten, verfügten nur über die Möglichkeit, sich beim Allied Permit

Office selbst eine Ausreiseerlaubnis zu besorgen. NA, f. MV-NR, kr. 10955, sign. 199, Anfrage des

ONV Tachov ans MV vom 23.8.1950; Konzept der Antwort des MV vom 30.8.1950. 1915 Das Einverständnis der Betriebsdirektionen war keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Vgl. die

Personenlisten und ablehnenden Bescheide, so den pauschal verfassten Bescheid der Porzellanfabrik

„Thun“ in Kaaden vom 4.10.1949 in: SOkA Chomutov v Kadani, f. ONV Kadaň, kr. 310. 1916 SÚA, f. MV-NR, kr. 10951, sign. 199, Schreiben des ONV Bilin ans MV vom 27.9.1949.

Page 35: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

505

als Zwangsaussiedlung begriffen. Von den angeschriebenen Betrieben, die um Bekanntgabe von abkömmlichen Deutschen gebeten worden waren, habe daneben bisher keine einziger geantwortet. Das MV stellte nach Erhalt der Namenslisten von den Bezirksorganen tranchenweise Teillisten zusammen, die vom US-Entry Office dazu verwandt wurden, die Angaben in Deutschland zu überprüfen. Die erste Teilliste mit 5.000 Personen wurde von den US-Behörden nach dreimonatiger Bearbeitungszeit im vollen Umfang genehmigt. Weitere Listen wurden dann ab dem Frühling 1950 übergehen.1917 Über die technischen Modalitäten der Aussiedlung – sie sollte als „Aktion Link“ (manchmal auch: „Operation Link“) und gleichzeitig als letzte von den tschechoslowakischen Behörden organisierte Massenaussiedlung deutscher Personen in die Geschichte eingehen – handelten Vlček und der neue Leiter der Abschubsabteilung des Innenministeriums (Dr. Miroslav Sapara, Nachfolger Horas) mit Edvard W. Lawrence vom Amt des US-Hochkommissars in Frankfurt/Main, US-Permit Officer Martin Bowe, dem britischen Permit Officer J.D.F. Turnham und den zwei Vertretern der Prager IKRK-Delegation Meier-Moro und Reichard am 28, 30. und 31.1.1950 aus. Kurz zuvor hatte Meier-Moro nochmals mit Vertretern der Bundesregierung in Bonn und des US-Hochkommissariats in Frankfurt verhandelt und erfahren, dass von beiden Seiten grundsätzlich „keine Einwände“ bestehen.1918 Am letzten Januar-Tag wurde ein informelles Abkommen über die technische Durchführung unterzeichnet, worin mit dem Beginn der Transporte in der ersten März-Hälfte gerechnet wurde. Nach dem Bericht des tschechoslowakischen Verhandlungsführers Sapara verliefen die Gespräche mit den Amerikanern zwar formal korrekt, aber in sehr reserviertem Ton. Er ging davon aus, dass die Amerikaner mit der ganzen Aktion nicht besonders zufrieden seien und ihr Einverständnis damit nur deswegen gegeben hätten, um nicht dem Vorwurf der Missachtung von grundlegenden Menschenrechten ausgesetzt zu sein. Offensichtlich hatte das Amt des US-Hochkommissars erst nach längerem Zögern grünes Licht für die neue Aussiedlungsaktion gegeben. Nach Sapara achteten die Amerikaner bei den Verhandlungen darauf, keine Junktims zum 1945 beschlossenen Transfer herzustellen und vermieden es deshalb, das Wort „Transfer“ zu verwenden. Auch die amerikanische Forderung nach strikter Freiwilligkeit der Aussiedlungen sei die tschechoslowakische Seite ohne Vorbehalte eingetreten, „weil bei uns angesichts der gegenwärtigen Situation auf dem Arbeitsmarkt gar nicht die Voraussetzungen dafür bestehen, auf der Durchführung eines gründlichen Zwangstransfers aller Personen deutscher Nationalität zu bestehen, die nicht um die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft angesucht haben“.1919 Innenminister Nosek hatte Anfang 1950 kurz vor den Verhandlungen sein grundsätzliches Einverständnis mit der neune Massenaussiedlung gegeben. Gleichzeitig aber ordnete er die unverzügliche Ausfertigung von genauen Statistiken über die Berufsstruktur der aussiedlungswilligen Personen an, aus denen insbesondere der Prozentsatz von „unproduktiven“ Personen ersichtlich wäre. Anscheinend war Nosek

1917 SÚA, f. MV-D, kr. 214, Manuskript des MV aus dem Jahre 1951 „Abschub der Deutschen aus der ČSR“,

Manuskript, I. Teil „Geschichte des Abschubs“, S. 116. 1918 SÚA, f. MV-T, kr. 22, Bericht für Nosek von Sapara vom 21.1.1950. 1919 SÚA, f. MV-D, kr. 222, Bericht von Sapara an Nosek vom 1.2.1950. Vgl. ebenda ein von allen

Verhandlungspartnern unterzeichnetes Exemplar des zweisprachigen informellen Abkommens vom 31.1.1950.

Der englischsprachige Titel „Minutes of Discussions“ verdeutlicht, dass es bei dem Papier nur um ein

Protokoll ging, da die tschechoslowakische Seite wegen ihrer Nichtanerkennung der BRD einen

diplomatischen Präzedenzfall vermeiden wollte. Vgl. die deutsche Übersetzung des Abkommens in:

Dokumentation der Vertreibung IV/1, Anlage 38, S. 356.

Page 36: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

506

aber darüber besorgt, dass die neue Aktion für einigen Wirbel in der tschechoslowakischen Öffentlichkeit sorgen könnte. Wohl auch deswegen übertrug er die Entscheidung über Ausreisegesuche zentral der Abteilung II/7 des MV (dies war die seit Ende 1949 geltende Bezeichnung für die ehemalige Abschubsabteilung). Besonders war bei der Behandlung der Gesuche auf Staatssicherheitsinteressen Rücksicht zu nehmen. Grundsätzlich abzulehnen waren Gesuche von unabkömmlichen Fachkräften in der Produktion oder wenn ein „begründeter Verdacht auf eventuelle Industriespionage“ oder nachrichtendienstliche Tätigkeit bestand. Genaue Anweisungen an die Bezirksbehörden enthielt des Zirkular des MV vom 9.2.1950. Dieses unterschied grundsätzlich zwischen der nur nach Westdeutschland durchgeführten „Massenaussiedlung“ und individuellen Ausreisen in die DDR und nach Österreich (bezüglich Personen, die nicht den Anlass einer Familienzusammenführung geltend machen konnten, auch in die BRD). 1920 Die Bezirksorgane hatten bei der Übergabe an die Aussiedlungsbestätigungen an die betreffenden Personen diese ausdrücklich nochmals zu fragen, ob sie freiwillig an ihrer Aussiedlung festhielten. Die ausgewählten Personen hatten danach ungefähr einen Monat Zeit, um sich auf ihre Ausreise vorzubereiten. Da die Transporte im Rahmen der „Aktion Link“ nur aus Eger und Reichenberg abgingen, hatten sich die Aussiedler eine Woche vor Abfahrt ihres Transports in den dortigen Sammellagern einzufinden. Die Reise dorthin hatten sie selbst zu bezahlen (in sozial begründeten Fällen waren Ausnahmen davon möglich). Wohl im Hinblick auf einschlägige Erfahrungen während der Übersiedlungen ins Landesinnere 1947/48 wurden die Bezirksorgane ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sämtliche Versuche von Betrieben und anderen Seiten, den Weggang der ausreisenden Personen zu verhindern, zu unterbinden seien. Im Amtsverkehr mit den Deutschen soll ganz und gar korrekt verfahren werden, besonders dürfe es nicht zu „chauvinistischen Auswüchsen und Ungebührlichkeiten“ kommen. Gegenüber den Aussiedlungen der Vorjahre waren die Gesamtbedingungen für die Aussiedler 1950/51 deutlich günstiger. Diese durften ihren gesamten beweglichen Besitz mitführen, allerdings nur bis zur Höchstgrenze von 200 kg pro Person (zuletzt hatten für Aussiedlungen 70 kg/Person gegolten). Möbel konnten jedoch nicht direkt mitgeführt werden, konnten aber nach der Einholung einer Bewilligung der Finanzdirektion gesondert aufgegeben werden. Möbel wurden dann gewöhnlich nach Westdeutschland vorausgeschickt. Nach den üblichen Zollvorschriften von der Ausfuhr ausgeschlossene Gegenstände mussten zurückgelassen werden. Die Ausfuhr von tschechoslowakischer Währung war grundsätzlich verboten. Die Aussiedler konnten ihre allfälligen Guthaben jedoch in Eger oder Reichenberg auf ein Sonderkonto überweisen. Die Überweisung oder Gutschrift dieser Gelder war freilich erst nach Aufnahme des Zahlungsverkehrs mit Deutschland bzw. nach Abschluss eines Friedensvertrags geplant. Schliesslich war pro Person ein Pauschalbetrag für die durchschnittlich einwöchige Unterkunft im Sammellager,1921 die dort stattfindende Zollabfertigung und die Transportkosten nach Deutschland zu bezahlen – für Erwachsene 350 Kronen, für Kinder bis 15 Jahren 150 Kronen (ab 1.1.1951 wurden diese Beträge auf 500 bzw. 180 Kronen erhöht). Anders als im Fall der „Nebenevakuierungsstrasse“ über Asch machte in diesem Fall der tschechoslowakische Staat kein so leichtes Geschäft mit den Aussiedlern und es kann als

1920 Für die individuelle Ausreise galten nur geringfügig andere Bestimmungen. Die Ausreiseerlaubnis war für die

DDR bei deren Botschaft in Prag, für Österreich bei der österreichischen Vertretung oder direkt beim

Innenministerium in Wien zu beantragen. 1921 Da die Zollabfertigung in den beiden Sammellagern mehrere Tage dauerte, wurde die Praxis eingeführt, die

für einen Transport bestimmten Personen gruppenweise – in der Regel an drei verschiedenen Tagen – ins

Sammellager zu bestellen. Die Zollabfertigung des Handgepäcks fand erst am Tag der Abfahrt statt.

Page 37: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

507

gesichert gelten, dass die wahren Kosten durch die Eigenbeteiligung der Aussiedler nicht gedeckt waren (alle späteren Aussiedlungen nach Ende der „Aktion Link“ waren vollumfänglich durch die Aussiedler selbst zu finanzieren). Ein Geschäft wohl eher in privater Natur machten dagegen einige Angestellte der Zollbehörden. Die zuständige Abteilung des MV kommentierte eine durch die Kanzlei des Republikspräsidenten geschickte Beschwerde von Deutschen, die am 20.4.1950 aus Reichenberg über Furth im Wald ausgesiedelt worden waren und von der Beschlagnahmung von persönlicher Wäsche, Bekleidung und Schuhen während der Zollabfertigung im Reichenberger Sammellager sprachen, damit, dass diesen Beschwerden „eine gewisse Berechtigung nicht abgesprochen werden kann“. Selbst die Organe des MV hätten bei einer Inspektion vor Ort feststellen müssen, „dass das Vorgehen der Zollorgane gegenüber den ausgesiedelten Personen in vielen Fällen nicht in Einklang mit den Richtlinien war“, die in diesem Falle das Finanzministerium herausgegeben hatte. Das MV sprach weiter von „einer schroffem und vielfach frechen Art der Behandlung“ und erinnerte daran, dass dies gerade gegen Angehörige der Arbeiterschicht, zu der die Beschwerdensteller zählten, nicht angebracht sei. 1922 Überraschenderweise schloss sich das Finanzministerium im Juni gar einem Vorschlag des Reichenberger KNV an, der die Rückgabe dieser widerrechtlich beschlagnahmten Güter an die bereits ausgesiedelten Personen vorsah. Nun war es aber das MV, das sich gegen einen solchen Schritt aussprach, u.a. mit der Begründung, die zweifellos vorgekommenen Zuwiderhandlungen der Zollorgane dürften auf keinen Fall „öffentlich eingestanden“ werden, da die „feindliche Propanda“ dies keinesfalls als Benevolenz, sondern im gegenteiligen Sinne deuten werde.1923 Im Zusammenhang mit den Bemühungen der tschechoslowakischen Organe, die bisher als „Staatenlose“ betrachteten Deutschen um die Beantragung der Staatsbürgerschaft zu animieren, wurden die am 9.2.1950 eingeführten Bestimmungen über die individuelle Ausreise nach Österreich und in die DDR schon am 14.3.1950 durch einen Erlass wieder aufgehoben und nicht sobald durch neue ergänzt. 1924 Das bedeutete, dass die Ausreisemöglichkeiten dorthin vorerst stark eingeschränkt waren, was ausreisewillige Personen, die in der DDR Verwandte hatten, praktisch gegenüber solchen, die zum Zweck der Familienzusammenführung in die BRD ausreisen wollten, benachteiligte. Eine organisierte Massenaussiedlung in die DDR kam deshalb nicht in Frage, weil die DDR-Botschaft in Prag nach Information des MZV den Wunsch geäussert habe, „jedwede Aktion von Massenaussiedlung, die den Anschein eines Bevölkerungstransfers“ zu vermeiden. Nach Information von Sapara, Vorsteher der für die Aussiedlung von Deutschen zuständigen MV-Abteilung, hatten sich bis zum 12.4.1950 nur etwa 1.800 Personen für die freiwillige und individuelle Ausreise in die DDR angemeldet. Dabei gehe es vorwiegend um „unproduktive“ Personen und um Antifaschisten. 1925 Sapara sprach sich für die Widerermöglichung der individuellen Ausreise in die DDR aus, nachdem die DDR-Botschaft in einer Note vom 4.4.1950 bereits um die Ausreise von 44 Personen angesucht hatte. Obwohl zwei führende Funktionäre im MV (Adamec und Polák) einen negativen Standpunkt gegen eine Aufhebung der individuellen

1922 SÚA, f. MV-D, kr. 222, Beschwerdeschrift der in die BRD Ausgesiedelten von Ende April 1950 und

undatierte Stellungnahme des MV. 1923

NA, f. MV-NR, kr. 10949, sign. 199, Äusserung des Vorstehers der Abtl. II/7, Kočiń, für den

Vorsteher der II. Abtl. des MV vom 27.6.1950. 1924

NA, f. 100/4, sv. 19. a.j. 137, Bl. 39, Erlass des MV vom 14.3.1950. 1925 Nach einem retrospektiven Bericht des MV aus dem Jahr 1951 wurden insgesamt 1.818 individuelle

Ausreisebewilligungen in die DDR erteilt. Die tatsächliche Zahl der dorthin Ausgereisten sei aber höher, da

Kinder bis 15 Jahren auf den Bewilligungen ihrer Eltern aufgeführt waren. Ebenda, kr. 214, Manuskript des

MV aus dem Jahre 1951 „Abschub der Deutschen aus der ČSR“, Manuskript, I. Teil „Geschichte des

Abschubs“, S. 126.

Page 38: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

508

Ausreisemöglichkeiten in die DDR einnahmen und nur die Ausreise in den von der DDR-Botschaft beantragten Fällen erlauben wollten, scheint es noch bis zum Sommer zu einer gewissen Lockerung der Ausreisemöglichkeiten in die DDR gekommen zu sein. Eine Verbalnote der DDR-Botschaft in Prag ans Aussenministerium vom 10.10.1950 erweckt den Eindruck, dass zu diesem Zeitpunkt wieder eine regere Ausreisetätigkeit über die böhmisch-sächsische Grenze eingetreten war. Die Note bemängelte den Umstand, dass von einigen ONVs – so demjenigen in Königgrätz – Ausreisenden in die DDR die Mitnahme eines Teils ihrer beweglichen Güter verwehrt worden sei, wohingegen den aus Reichenberg nach Westdeutschland Ausreisenden alles belassen worden sei. 1926 Ein interner retrospektiver Bericht des MV aus dem Frühling 1953 erwähnt, dass während der nach Westdeutschland laufenden organisierten Massenaussiedlung („Link“) auch 1.601 individuelle Ausreisebewilligungen in die DDR und nach Österreich erteilt worden seien.1927 Nach einer anderen Angabe des MV aus dem Jahr 1951 sollen während der „Aktion Link“ individuelle Ausreisen in die DDR und nach Österreich im Falle von 1.818 Personen bewilligt worden sein, wobei mitreisende Kinder nicht dazugerechnet sind.1928 Ein weiterer vertraulicher Erlass vom 16.3.1950 sprach – einen Tag vor der Abfahrt des ersten Aussiedlungstransports – davon, dass es notwendig sei, die Familienzusammenführungsaktion „besser politisch vorzubereiten“. Auch wenn die Zusammenführung von Familien auf der einen Seite nicht verunmöglicht werden dürfe, sei andererseits darauf zu achten, dass es an einzelnen Orten nicht zur Gefährdung der Fördertätigkeit im Bergbau und der Produktion komme. Neu war nun der Auftrag an die ONVs, noch vor definitivem Bescheid seitens des MV, wer für die Aussiedlung ausgewählt worden sei, Bergbauarbeiter und Industriearbeiter (Spezialisten) von der baldigen Aussiedlung auszuschliessen, deren Weggang grundlegend oder in ernsthafterer Weise den laufenden Betrieb eines Betriebes gefährden könnte. Die Aussiedlung solcher Personen und derer Familien sollte entweder auf später verschoben werden, oder – in ernsteren Fällen – auf diese sollte mit Hilfe der Gewerkschaftsorgane oder Betriebsdirektionen „durch Überzeugung darauf eingewirkt werden, dass sie ihre Anmeldungen überhaupt widerrufen“. Anlass zu diesem verschärfenden Schritt hatte – neben einer Intervention des stellvertretenden Industrieministers und Bergbaubeauftragten Rada bei Nosek von Ende Februar oder Anfang März 19501929 – wohl auch die am Vortag gegebene Auskunft der Abteilung II/7 gegeben, wonach seit Herausgabe des Erlasses vom 9.2.1950, der auch von der Ermöglichung individueller Ausreisen sprach, allein im Bezirk Gablonz rund 800 und im Bezirk Falkenau rund 600-800 Gesuche auf individuelle Ausreise eingelangt seien (dazu weiter eine grosse Menge an Gesuchen aus den Bezirken Mies und Joachimsthal). Gerade in diesen Bezirken jedoch

1926

NA, f. MV-MV, kr. 10949, Verbalnote der Botschaft der DDR ans MZV vom 10.10.1950. Vgl.

auch die Verbalnote der DDR-Botschaft ans MZV vom 22.5.1950, in dem zum Zweck der

Familienzusammenführung die Wiederinbetriebnahme des Personenverkehrs zwischen Vojtanov

und Bad Brambach angeregt wurde und wöchentlich mit Aussiedlergruppen von je 50-70 Personen

gerechnet wurde. NA, f. MV-NR, kr. 10950. 1927 Ebenda, kr. 1284, „Der Abschub der Deutschen aus der ČSR“, retrospektiver Bericht des MV (Abteilung II/3)

aus dem Mai 1953, S. 6. 1928 Ebenda, kr. 214, Manuskript des MV aus dem Jahre 1951 „Abschub der Deutschen aus der ČSR“, Manuskript,

I. Teil „Geschichte des Abschubs“, S. 126. – Einige Meldungen aus verschiedenen Bezirken über die erfolgte

Ausreise von „Deutschen“ nach Österreich und die DDR in den Jahren 1950/51 sind enthalten in: NA, f. MV-

NR, kr. 8070 und kr. 10949, sign. 199. 1929 Ebenda, kr. 222, Bericht von Sapara an Spurný vom 3.3.1950. Der in Aussiedlungsfragen recht humane

Sapara gab für den Fall, dass Rada mit seiner Intervention die generelle Zurückhaltung aller angemeldeten

Bergbauleute-Familien im Sinne gehabt hätte, zu bedenken, dass solch eine Entscheidung sehr sorgsam

abzuwägen sei, da sie für die betroffenen Personen einen harten Schlag bedeutet würden.

Page 39: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

509

lagen besonders wichtige Bergbau- bzw. Industriebetriebe.1930 Nach einem amtsinternen Vermerk des MV aus dem April 1951 wurden „Gesuche dieser Personen [von Spezialisten] systematisch abgelehnt“. 1931 Im Bezirk Graslitz, wo sich anscheinend besonders viele Deutsche zur Ausreise angemeldet hatten, hatte der ONV im Oktober 1949 vom MV die generelle Ausklammerung des Bezirks von der geplanten Massen-Aussiedlungsaktion gefordert und dafür die Weiterführung der bisher (über Asch) praktizierten individuellen Aussiedlungen vorgeschlagen. Der konzentrierte Weggang von Hunderten wenn nicht über 1.000 langjährig eingearbeiteten Beschäftigten wäre für die spezialisierte und stark export-orientierte Industrie im Bezirk (u.a. Glasherstellung und Instrumentenbau) einer Katastrophe gleichgekommen. Zumindest nach dem Stand Anfang 1950 schien das MV den Wunsch der Graslitzer Bezirksbehörden akzeptiert zu haben. 1932 Schliesslich liegt eine bemerkenswerte Kuriosität darin, dass das MV im Frühling „aus wirtschaftlichen und auslandspolitischen Gründen“ auch Personen an der Ausreise nach Westdeutschland hinderte, die sich in den Vorjahren als hochwillkommene „tschechische Reemigranten“ im Karlsbader Kreis niedergelassen hatten. Ein grosser Teil dieser Zuwanderergruppe hatte sich nur schwer in die neue tschechische Mehrheitsgesellschaft integriert und sehne sich zurück nach dem gewohnten Leben in einem deutschen Umfeld, was auch auf die mangelnde Beherrschung der tschechischen Sprache zurückzuführen war.1933 Der erste Aussiedlertransport der „Aktion Link“ fuhr am Abend des 17.3.1950 mit 335 Deutschen aus Eger über Pilsen und Taus nach Bayern. Kurz zuvor, am 13.3.1950, wäre es beinahe zu einem vorzeitigen Scheitern gekommen. Der US-Permit Officer gedachte nämlich pro Person eine Bearbeitungspauschale für die Bearbeitung der Namenslisten von 100 Kronen einzuziehen – eine Bestimmung, die sich nicht auf das Abkommen vom 31.1.1950 stützen konnte. Das MV in Prag protestierte gegen diese Forderung, Bowe gab nicht auf und drohte angeblich damit, dass er keine kollektiven Einreisebewilligungen mehr erteilen werde. Der IKRK-Vertreter Meier-Moro bezeichnete die Absicht, von Aussiedlern zusätzliches Geld zu verlangen, nach Jan Horas Angabe als „schmutzige Angelegenheit“ und drohte Bowe mit der Veröffentlichung dieser Praxis in der westlichen Presse, worauf Bowe seine offensichtlich ohne Abstimmung mit den US-Behörden in Deutschland vorgebrachte Forderung wieder zurückzog. Gemäss dem Abkommen vom 31.1.1950 war vorgesehen, wöchentlich einen Aussiedlertransport mit rund 400 Personen abzufertigen, abwechselnd in Eger und Reichenberg. Die beabsichtigte Aussiedlerquote von 20.000 Personen wurde darin bestätigt. Es wurde damit gerechnet, diese in rund zehn Monaten aussiedeln zu können. Die „Passagierzahlen“ der 46 Transporte, die zwischen dem 17.3.1950 und 27.4.1951 nach Westdeutschland fuhren, schwankten jedoch bis zur Einstellung der Aussiedlung im

1930 Übersicht der Abteilung II/7 des MV vom 17.3.1950, angefordert vom Sekretariat des Ministers, in: Ebenda. 1931 Ebenda, Konzept des Schreibens von Dr. Kropáč (neuer Leiter der Aussiedlungsabteilung des MV) vom

11.4.1951 an den Vorsteher der II. Abteilung des MV, Dvořák. – Vgl. auch das Fernschreiben eines

Textilbetriebes in Asch ans MV vom 27.4.1950, wonach das Bezirkssekretariat angeordnet habe, das

Arbeitsverhältnis mit Deutschen dürfe nicht aufgehoben werden. SÚA, f. MV-NR, kr. 10951, sign. 199. –

Bemerkbar machte sich auch die Tendenz einiger ONVs, besonders unabkömmlichen und in der

Landwirtschaft eingesetzten Deutschen die gewünschte Ausreise (vorerst) zu verwehren. Vgl. Ebenda, kr.

8061, Schreiben des ONV Bischofteinitz ans MV vom 15.8.1950. 1932

NA, f. MV-NR, kr. 8062, Schreiben des ONV Graslitz ans MV vom 4.10.1949 und 10.1.1950.

Ebenda, f. MV-D, kr. 214, tabellarische Aufstellung der Berufsstruktur der zur Aussiedlung angemeldeten

Deutschen, o.D. (Anfang 1950), mit einer Notiz, dass der Bezirk Graslitz um eine generelle Ausnahme

ansuche. 1933

NA, f. MV-NR, kr. 10953, sign. 10953, Anfrage des KNV Karlsbad vom 24.2.1950; Konzept der

Antwort des MV vom 20.4.1950.

Page 40: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

510

April 1951 erheblich und bewegten sich in der Bandbreite zwischen 120 bis 570 Personen.1934 Auch konnte die allwöchentlich abwechselnde Abfertigung in Eger oder Reichenberg nicht immer eingehalten werden (nach tschechoslowakischen Quellen deshalb nicht, da die Amerikaner die von ihnen zu kontrollierenden Personenlisten nicht früh genug retourniert hätten). Erneute „Überprüfungen“ der tschechoslowakischen Behörden und wohl auch Unentschlossenheit bei einigen Familien führten dazu, dass nie die volle Anzahl der für einen Transport vorgeladenen Personen im Sammellager eintraf. Weiter konnten ein hohes Lebensalter, Krankheit, ein Todesfall in der Familie, eine geplante Heirat oder die Annahme der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft dazu führen, dass Personen freiwillig ihre Aussiedlungsabsicht annullierten.1935Die Aussiedler reisten in Personenwaggons mit 60 Sitzplätzen, die jedoch nach einem Bericht des MV meist nur mit rund 45 Personen besetzt waren. In der Regel war die Zahl der Personenwagen ungefähr mit der Zahl der Güterwagen identisch. Unter der Begründung, dass es sich ja um eine freiwillige Aussiedlung handle, mussten sich die Aussiedler vor und während des Transports selbst mit Lebensmitteln versorgen. Nur kurz vor der Abfahrt, die am Abend stattfand, wurde ihnen eine kalte Mahlzeit und Kaffee verabreicht. 1936 Die Fahrt dauerte über die ganze Nacht (mit tschechoslowakischer Passkontrolle am Morgen bei Böhmisch Kubitzen). In Furth im Wald war die gewöhnliche Ankunftszeit gegen 9.30 h vormittags. Zu einem peinlichen, aber für die angespannte Kalt-Kriegs-Atmosphäre sinnbildlichen Zwischenfall kam es gleich bei der Ankunft des ersten Transports am Morgen des 18.3.1950 an der tschechoslowakisch-bayerischen Grenze. Obwohl nach der Vereinbarung vom 31.1.1950 die erste Haltestation in Deutschland Furth im Walde hätte sein sollen, wurde der Zug direkt an der Staatsgrenze durch ein grösseres Aufgebot bewaffneter deutscher Grenzpolizisten, rund 150 gewöhnlichen Polizeikräften und einiger uniformierter amerikanischer Soldaten zum Halten gebracht. Der letzte Wagen stand aber bereits hinter dem Grenzstein auf deutschem Gebiet. Die einzigen im Zug anwesenden zwei tschechoslowakischen SNB-Offiziere fragten die deutschen Organe nach dem Grund des Haltens, worauf ihnen gesagt wurde, dass der Zug vor Überprüfung aller Passagiere durch deutsche Organe nicht auf deutsches Gebiet gelangen dürfe und daher wieder mit allen Wagen hinter den Grenzstein fahren müsse. Die Tschechoslowaken beriefen sich aber auf die Unantastbarkeit des tschechoslowakischen Staatsgebiets und lehnten es ab, dass deutsche Organe in dieses eindrangen und drohten damit, dass der Zug ja auch überhaupt wieder ganz zurückfahren könne und die Angelegenheit über das Aussenministerium geklärt würde. Während sich die deutschen Organe – immer nach dem tschechoslowakischen Amtsbericht – auf eine Anweisung der Amerikaner beriefen und ein Vertreter der bayerischen Landesregierung sich gar für den Zwischenfall entschuldigte, behauptete der ebenfalls anwesend US-Permit Officer Bowe, die Deutschen hätten die US-Anweisung nicht begriffen. Auf Vorschlag der tschechoslowakischen SNB-Leute fuhr der Zug dann tatsächlich um einige Hundert Meter zurück. Danach stiegen alle in einem Wagen befindlichen Personen aus und liessen ihre Papiere direkt am Grenzstein von den deutschen Organen überprüfen. Erst dann konnten sie wieder in ihren Wagen steigen, der inzwischen um einige Meter auf bayerisches Gebiet bewegt worden war. Diese Wagen-für-Wagen-Prozedur wurde insgesamt sieben Mal durchgeführt. Für zusätzliche Nervosität sorgte, dass einige bewaffnete deutsche Polizisten sich vor dem „Eintreten“ des Zuges auf tschechoslowakischen Boden nicht gleich vom Trittbrett der

1934 Vgl. die Verzeichnung der einzelnen Aussiedlungstransporte im Rahmen der „Aktion Link“ im Anhangsteil.

Eine kommentierte Übersicht der im Sammellager Reichenberg abgefertigten Transporte gibt auch

NARWOWÁ: Německé obyvatelstvo v Liberci, 92-101. 1935 Ebenda, 101. 1936 SÚA, f. MV-D, kr. 214, Manuskript des MV aus dem Jahre 1951 „Abschub der Deutschen aus der ČSR“,

Manuskript, I. Teil „Geschichte des Abschubs“, S. 120.

Page 41: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

511

Wagen entfernten, so dass sie von den tschechoslowakischen Organen um unverzügliches Verlassen des Staatsgebietes aufgefordert werden mussten. Die Folge dieser umständlichen Abfertigung war eine rund um vier Stunden verspätete Ankunft in Furth im Walde, wo bereits Vertreter der Presse, des Rundfunks und Fernsehens warteten. Der tschechoslowakische Protest bei einem amerikanischen Vertreter, dass solch eine Prozedur das „reinste Theater“ sei, war anscheinend erfolgreich, denn alle folgenden Transporte wurden erst in Furth im Wald kontrolliert.1937 Tatsächlich scheint der geschilderte Zwischenfall vor allem mit amerikanischen bzw. bundesdeutschen Ängsten vor der illegalen Einreise von Personen zu erklären sein, die weniger aus familiären oder persönlichen, sondern zum Zweck der Spionage oder Agententätigkeit übersiedelten.1938 Den Tschechoslowaken gab die Blamage vom 18.3.1950 reichlichen Anlass für allerlei Spässe, doch vergassen diese dabei wohl, dass ihre Behörden selbst noch in erheblich intensiverem Masse von paranoiden Ängsten geleitet waren und bereits im Rahmen des Anmeldeverfahrens für die Aussiedlungsaktion eine grossen Teil der Ausreisewilligen praktisch zwangsweise in der ČSR zurückhielten. Zwar wurde stets betont, dass die „Aktion Link“ auf reiner Freiwilligkeit beruhe (tatsächlich wurde bei allen Ausreisenden kurz vor der Abfahrt der Züge nochmals streng überprüft, ob sie tatsächlich freiwillig die Tschechoslowakei verliessen), doch ist diese im Falle der am Ende tatsächlich Ausreisenden in der Regel gegebene Freiwilligkeit durch zwei Faktoren zu relativieren: Erstens ging es Prag darum, im Rahmen von „Link“ möglichst viele chronisch Kranke und Betagte aussiedeln zu können. Die einschlägigen Abschlussberichte über die Aussiedlungsaktion 1950/51 sind denn auch bezüglich dieser Personengruppe dahingehend formuliert, dass deren Aussiedlung „versucht wurde“ und dass es insgesamt „gelang“, 156 kranke Personen aus dem Krankenhaus-Stützpunkt für Deutsche in Teplitz, 32 „imbezile Personen“ und Blinde aus der Anstalt in Libnič, 39 Betagte aus dem Sonderaltersheim in Mirošov und 118 „geistig Kranke“ aus der Anstalt in Dobřany auszusiedeln. Bezüglich der letzen Gruppe wurde erwähnt, dass es gerade um die „schlimmsten“ gegangen sei. 1939 Mangels genauerer Angaben ist der Grad der „Freiwilligkeit“, unter dem ein Teil dieser Menschen aus ihrer bisherigen Heimat ausgesiedelt wurde, nur zu erahnen. Der Eindruck einer „Abschiebung“ von mehr oder weniger wehrlosen „Unerwünschten“ ist in ihrem Fall kaum von der Hand zu weisen. Zweitens ist die erhebliche Filterung der Ausreisewilligen durch die tschechoslowakischen Behörden zu beachten. Im Januar 1950 schienen innerhalb des MV noch verschiedene Ansichten darüber zu bestehen, wie rigoros die Personenauswahl ausfallen sollte. Während der Vertreter der 1. Gruppe des MV (aus dieser entstand Monate später das neue MNB), Dr. Broţ, eine zentrale Lustration aller Kandidaten beim MV forderte, lehnte der Leiter der „Aussiedlungsabeilung“ des MV (II/7), Dr. Sapara, solche Praktiken ab und wies darauf hin, dass es „gänzlich untragbar ist, staatenlose Deutsche durch irgendein allgemeines Verbot oder eine Massnahmen bei uns zurückzuhalten. Dies würde zweifellos ein internationales Echo hervorrufen, mit dem Hinweis, dass wir durch die Bestimmungen der Deklaration der

1937 Ebenda, S. 122-125. 1938 Vgl. den ausführlichen Bericht des zugbegleitenden SNB-Offiziers Karel Soukup in: Ebenda, kr. 222 und das

Transkript einer Reportage des Bayerischen Rundfunks vom 17.3.1950 über die Ankunft des ersten

Transports in Furth i.W. in: Ebenda, f. MV-NR, kr. 10950. 1939 Vgl. den Bericht der Abteilung II/3 des MV über die Aussiedlungsaktion in den Jahren 1950 und 1951 vom

April 1951, Teil „E“, in: SÚA, f. MV-T, kr. 22.

Page 42: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

512

Menschenrechte, die im Jahr 1947 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen

angenommen wurde, gebunden sind.“1940 Saparas Vorstellungen verloren in der Folge immer mehr an Relevanz. Daran änderten auch nicht zahlreiche Einsprachen des Allied Military Permit Office beim MV zur Gewährung der Ausreise von Deutschen, denen ihre Gesuche seitens der tschechoslowakischen Behörden schon abgelehnt worden waren.1941 Von rund 25.000 Personen, die aufgrund der mit dem erwähnten Erlass vom 29.8.1949 eingeleiteten Anmeldeaktion Ausreisegesuche gestellt hatten, wurden nur 14.000 Personen ausgewählt.1942 Von diesen wiederum konnte am Ende nur rund die Hälfte aussiedeln, da die Bewilligungskriterien von den Behörden kontinuierlich verschärft worden waren. Schliesslich wurde auf die weitere Erstellung von Listen verzichtet und Anmeldungen wurden nur noch individuell entgegengenommen, „um eine grössere Kontrolle zu ermöglichen“. Diese Massnahme bremste die Zahl der Ausreisegesuche keineswegs.1943 Zu den kontrollierenden Behörden gehörten auch die Staatssicherheits (StB)-Stellen (alle Personenlisten wurden den StB-Kreisbehörden in Reichenberg bzw. Eger vorgelegt, ab 1.1.1951 auch dem 2. Sektor des MNB). Im Zeichen von immer virulenter werdenden Sicherheitsbedenken und des eisigen aussenpolitischen Klimas wurde am 1.3.1951 noch strengere Richtlinien entworfen, zu deren Verabschiedung es aber nicht mehr kam.1944 Inzwischen kam das Ministerium der Nationalen Sicherheit (MNB) nämlich zum Schluss, dass die organisierte Gruppenaussiedlung in der ersten Aprilhälfte überhaupt vorzeitig abgebrochen werden müsse.

1940 Vgl. Broņs und Saparas Stellungnahmen vom 17. bzw. 21.1.1950 in: Ebenda. 1941

Vgl. die schriftlichen Interventionen Martin S. Bowes beim MV von Anfang 1950 in: NA, kr. MV-

NR, kr. 10956. 1942 Die genaue statistische Aufstellung der Zahl aller Gesuche pro Bezirk und Berufssektor mitsamt Angaben

über die Zahl „unproduktiver“ Familienmitglieder führt 23.838 Personen an, die zur Aussiedlungsaktion nach

den Verzeichnissen, die gemäss dem Erlass vom 29.8.1949 angefertigt worden waren, eine Anmeldung

eingereicht hatten. 14.261 Personen waren wirtschaftlich aktiv, 9.577 wurden aus verschiedenen Gründen als

„unproduktiv“ angesehen. Von den Berufstätigen war knapp über die Hälfte (7.795) in der Landwirtschaft

angestellt, 565 in der Forstwirtschaft, 1.454 im Bergbau, Steinbrüchen und in Ziegeleien, 412 in

Hüttenbetrieben (Stahl- und Eisenwerke), 613 in der Glas- und Keramikindustrie, 884 im Textilsektor und

2.295 in anderen Berufen beschäftigt. Für einige wenige Bezirke sind keine Zahlen auf der Liste eingetragen.

Auch muss stark damit gerechnet werden, dass die verwendete amtliche Aufstellung der Anmeldungszahlen

bereits „politisch“ bearbeitet ist – d.h., dass in einigen Bezirken (so in St. Joachimsthal, Gablonz oder

Falkenau) die meisten Anmeldungen von den ONVs bereits aus wirtschaftlichen Gründen abgelehnt worden

waren und daher gar nicht erst zentral erfasst worden sind (für den Bezirk Joachimsthal werden nur die

Anmeldungen von 40 berufstätigen und 142 „unproduktiven“ Personen erwähnt, für Gablonz sind die

entsprechenden Zahlen 385 und 311 Personen, für Falkenau 32 bzw. 41 Personen). SÚA, f. MV-D, kr. 214,

tabellarische Aufstellung der Berufsstruktur der zur Aussiedlung angemeldeten Deutschen, o.D. (Anfang

1950). – Dass das Auswanderungsinteresse unter der deutschen Bevölkerung – nicht nur in diesen Bezirken –

in Wirklichkeit wesentlich höher gewesen wäre, belegt die Information aus dem März 1950, der von ungefähr

800 eingegangenen Gesuchen um individuelle Ausreise im Bezirk Gablonz und von 600-800 Gesuchen im

Bezirk Falkenau gesprochen wird. Ebenda, kr. 222, Vermerk des MV vom 15.3.1950. Sapara führte in einem

Bericht ans Sekretariat des stellvertretenden Innenministers zum 14.1.1950 folgende, nocht nicht ganz

definitive Zahlen auf: 22.473 Angemeldete, davon 12.800 in einem Arbeitsverhältnis befindliche und 7.773

„vollkommen unproduktive“ Personen. Ebenda, f. MV-NR, kr. 8061, Mitteilung des Leiters der Abteilung II/7

(Sapara) an das Kabinett des stellvertretenden Innenministers vom 14.1.1950. Nach einer wohl wenig danach

ergänzten Aufstellung des MV (o.D.) betrug die Gesamtzahl der zur Ausreise in die (fiktiv gewordene) „US-

Zone“ der (von der ČSR nicht anerkannten) BRD angemeldeten Personen 23.024. Davon waren 1.276 Männer

älter als 60 Jahre, 3.493 Frauen älter als 50 Jahre und 4.108 Kinder bis zu 15 Jahre alt (insgesamt 8.877

„Unproduktive“). Ebenda, im selben Karton befinden sich auch Statistiken über die Zusammensetzung der

Ausreisewilligen aus einzelnen Bezirken. 1943 Die eingelangten Ausreisegesuche umfassen insgesamt 85 Archivkartons und sind aufbewahrt in: SÚA, f.

MV-NR, kr. 10863-10948, sign. 199. 1944 Vgl. den Bericht der Abteilung II/3 des MV über die Aussiedlungsaktion in den Jahren 1950 und 1951 vom

April 1951, Teil „C“, in: SÚA, f. MV-T, kr. 22.; dazu den aus dem März oder April 1951 stammenden

internen Bericht des MV über die sich schrittweise verschärfenden Auswahlmodalitäten in: Ebenda.

Page 43: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

513

Dem voraus war bereits Mitte November 1950 der Hinweis des MV ans MNB gegangen, dass die Aussiedlungsagenda eigentlich in den Ressortbereich des kurz zuvor nach sowjetischem Vorbild neu gegründete MNB falle und zukünftig am besten im Einklang mit den normalen Bestimmungen für individuelle Ausreiseanträge durchgeführt werden solle. Ein am 11.11.1950 vom Leiter der Abteilung II/3 des MV verfasster interner Bericht kam überraschend zum Schluss, dass der Hauptzweck der Aussiedlungsaktion, die Zusammenführung von Familienangehörigen ersten Grades und die Aussiedlung von besonders „unproduktiven“ Personen, bereits erreicht worden sei und die ganze organisierte Aussiedlung zu Jahresende 1950 eingestellt werden könne. Begründet wurde dieser Schritt weiter mit den Interessen der Produktion in der ČSR und der politisch heiklen Tatsache, dass für Deutsche, die aus familiären Gründen in die DDR aussiedeln wollten, mangels einer behördlich organisierten Aussiedlung die Realisierung dieser Auswanderung viel kostspieliger und komplizierter war. Weiter würden sich noch immer „Tausend und Abertausende“ Deutsche zur Aussiedlung anmelden, dabei gehe es aber meist nicht mehr um Familienzusammenführungen im engeren Sinn. Der Bericht sprach sich dafür aus, nach der auf Ende Jahr vorgeschlagenen Einstellung der Transporte nach Westdeutschland unter dem Titel einer individuellen Ausreise nur noch Personen auswandern zu lassen, deren Aufenthalt in der ČSR nicht wünschenswert sei oder die besondere Gründe geltend machen könnten. Schliesslich argumentierte der Bericht, dass eine Fortführung der Aussiedlung „psychologisch sehr ungünstig auf die zur Gewinnung der deutschen Staatenlosen [für die Staatsbürgerschaft] gerichtete Kampagne“ wirken würde und unter den Deutschen eine „Aussiedlungspsychose“ hervorriefe, „die durch die feindliche Flüsterpropaganda absichtlich vergrössert und aufrechterhalten wird“.1945 MV-Vertreter Vlček (der operationelle Durchführer der „Aktion Link“ auf dem MV) äusserte dagegen auf einer interministeriellen Besprechung über die weitere Aussiedlung von deutschen Häftlingen am 24.11.1950 die Absicht, die ganze Aussiedlungsaktion nach Westdeutschland erst bis zum 31.3.1951 abzuschliessen und danach Aussiedlungen dorthin nach den üblichen Passvorschriften vom MNB koordinieren zu lassen.1946 Erst genau an diesem Tag kam es zu einer Besprechung zwischen MV- und MNB-Vertretern. Auf dieser wurde die Kompetenzübertragung der Aussiedlungsagenda ans MNB und die Beendigung der Gruppenaussiedlung bis zum 31.5.1951 beschlossen.1947 Im Grundsatz herrschte also Einigkeit über das weitere Vorgehen, doch stellte das MNB – ohne diesen Schritt vorher mit dem MV abzustimmen – am 10.4.1951 die Gruppenaussiedlung nach Westdeutschland abrupt und mit sofortiger Wirkung ein (dieser Schritt, der sich zunächst konkret auf den für den 12.4.1951 geplanten Transport aus Reichenberg bezog, wurde dem MV erst am Morgen des nächsten Tages mitgeteilt), obwohl die Vorbereitung von weiteren Transporten im vollen Gange war.1948 Nach einer vom 11.4.1951 stammenden geheimen Aufzeichnung der Abteilung II/3 des MV wurde die Einstellung der Aussiedlungstransporte vom StB-Kommandanten in Prag angeordnet, und dies aufgrund eines Vorschlags des StB-Kreiskommandos in Reichenberg. Dieses begründete den Schritt damit, weil „von den ausgesiedelten Personen könnten einige illegal zum Zwecke

1945 SÚA, f. MV-D, kr. 215, Bericht des Vorstehers der Abteilung II/3 des MV an den Vorsteher der II. Abteilung

des MV vom 11.11.1950. 1946 SÚA, f. MV-T, kr. 22, Protokoll der Besprechung vom 24.11.1950. 1947 SÚA, f. MV-D, kr. 222, Konzept der Antwort des MV (Dr. Kropáč) auf den Brief von MNB-Minister

Ladislav Kopřiva vom 5.4.1951, datiert mit dem 11.4.1951. Die an Kopřiva abgeschickte Antwort im Namen

von Innenminister Nosek vom 15.4.1951 übernahm den Wortlaut des genannten Konzepts, bis auf die Passage,

in der bezüglich der geplanten Beendigung der Aussiedlungen vom Datum 31.5.1951 die Rede war. Vgl.:

SÚA, f. MV-T, kr. 10, sign. P-T 72. – NA, f. MV-NR, kr. 10949, sign. 199, Protokoll über die Beratung von

MV- und MNB-Vertretern am 31.3.1951. 1948 SÚA, f. MV-D, kr. 222, Konzept eines Schreibens des Vorstehers der Abteilung II/3 des MV, Dr. Kropáč, ans

MNB in Sachen Einstellung der Aussiedlung deutscher „Staatenloser“ nach Westdeutschland vom 13.4.1951.

Page 44: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

514

nachrichtendienstlicher Tätigkeiten für eine fremde Macht auf tschechoslowakisches Gebiet zurückkehren“. Wohl in Prag auf dem MNB-Ministerium wurde dann entschieden, nicht nur den anstehenden Transport aus Reichenberg, sondern überhaupt alle noch vorgesehenen Transporte einzustellen.1949 Das MV wies das MNB umgehend telefonisch auf die schweren Komplikationen hin, die diese abrupte Entscheidung für die zur Aussiedlung vorbereiteten Personen und die öffentlichen Organe mit sich brachte.1950 Die weiteren Motive für diesen drastischen Schritt sind teilweise aus einem Schreiben von MNB-Minister Kopřiva an Nosek vom 5.4.1951 ersichtlich. Kopřiva sprach hier davon, dass „im Rahmen dieser Aktion auch Personen transportiert werden, die nicht gänzlich freiwillig fortgehen und für unsere Produktion beträchtliche Verluste bedeuten“. Unter diesen seien auch Stossarbeiter und Spezialisten, die mit ihrem Lebensniveau in der ČSR angeblich zufrieden seien. Die Schuld für dafür trage die US-Botschaft, die nach neuesten Erkenntnissen Deutschen in der Tschechoslowakei Einladungen zuschicke, sich für den „Abschub“ nach Westdeutschland zu melden, wo sie leicht eine neue Anstellung fänden. 1951 So berechtigt in diesem Schreiben die Hinweise auf die beträchtlichen Produktionseinbussen waren, die der Weggang von deutschen Arbeitskräften für die tschechoslowakische Ökonomie hatte, so wenig haltbar war wohl die Behauptung, dass die Aussiedlung gerade dieser Menschen nicht auf freiwilliger Basis geschähe. Es ist keine geringe Ironie der Geschichte, dass gerade derjenige Mann, der am 12.6.1945 die erste schriftliche Anweisung der Prager Zivilverwaltung über die Aussiedlung der Deutschen unterschrieben hatte (damals als Vorsitzender des böhmischen Landesnationalausschusses), 1952 knapp sechs Jahre später den Befehl zur definitiven Einstellung aller organisierten Aussiedlungstransporte von Deutschen aus der Tschechoslowakei zu verantworten hatte. Dürften Kopřiva im Frühling 1945 ideologische Motive zu seinem damaligen Schritt verleitet haben, so überwog 1951 die Rücksichtnahme auf wirtschaftliche Belange. Freilich war auch sechs Jahre später der Standpunkt des von Kopřiva geführten Ministeriums alles andere als frei von nur vorgeschobenen oder vielleicht auch (im Sinne der allgemeinen Psychose des Kalten Krieges) ernst gemeinten ideologisierten Begründungen. So sprach Kopřivas Stellvertreter Baudyš auf einer Besprechung am 17.4.1951 mit den zuständigen Vertretern des MV davon, dass „die Angelegenheit [die Einstellung der Aussiedlung] notwendigerweise politisch zu beurteilen ist, und das unter besonderer Berücksichtigung der geänderten politischen Verhältnisse“. Im gleichen Atemzug, wie Baudyš sich auf den Verlust von wertvollen Arbeitskräften berief, führte er an, „dass auf dem Agenturweg Fälle festgestellt wurden, in denen Spione aus Westdeutschland in die ČSR entsandt wurden, von denen ¼ Sudetendeutsche sind“. Auf die Frage, wie viele dieser Sudetendeutschen erst durch die nun abgebrochene Aussiedlungsaktion „Link“ nach Westdeutschland gelangt seien, wusste Baudyš keine Antwort.1953 Auch wenn „Sicherheitsbedenken“ und andere Ängste (etwa der Verrat von Produktionsgeheimnissen) in der Entscheidung des MNB ihren Platz hatten, so deutet alles darauf hin, dass ganz zuoberst die Rücksicht auf die Wirtschaftsinteressen der Tschechoslowakei stand. Nach einem internen Bericht des MV vom 17.4.1951 wurden seit März 1950 bis Mitte April 1951 16.088 Personen im Rahmen der Aktion zur Familienzusammenführung von „staatenlosen“ Deutschen nach Westdeutschland ausgesiedelt. Die zwei zum Zeitpunkt des jähen Abbruchs der Aktion in Eger und

1949 Ebenda, kr. 215, geheime Aufzeichnung der Abteilung II/3 vom 11.4.1951. 1950 Ebenda, geheimer Vermerk vom 13.4.1951 des MV. 1951 SÚA, f. MV-T, kr. 10, sign. P-T 72. 1952 SÚA, f. ZÚ-R kr. 1145, i.č. 1145, „Massnahmen zur Aussiedlung der Deutschen“, Zirkular des ZNV Prag

vom 12.6.1945. 1953 SÚA, f. MV-T, kr. 22, Geheimprotokoll der Sitzung vom 17.4.1951.

Page 45: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

515

Reichberg in der Abfertigungsphase befindlichen Transporte wurden am 26. bzw. 27.4.1951 noch nachträglich nach Bayern geschickt, freilich erst nach erneuter strenger Prüfung derer Passagiere, die im Reichenberger Fall zur Zurückhaltung von über der Hälfte der vorgesehenen Passagiere führte (der Transport aus Liberec beinhaltete bei Abfahrt nur noch 120 Personen, der aus Eger 219).1954 Insgesamt wurden im Rahmen der „Aktion Link“ also ungefähr 16.500 statt der vorgesehenen maximal 20.000 Deutschen aus der Tschechoslowakei nach Westdeutschland ausgesiedelt. 1955 Noch am 5.1.1951 hatte der Vorsteher der Aussiedlungsabteilung des MV (II/3) an Nosek mitgeteilt, dass „nach den bisherigen Erfahrungen seitens der amerikanischen Besatzungsbehörden auch in dem Falle keine Vorbehalte bestünden, wenn die festgesetzte Quote [20.000 Aussiedler] überschritten würde“.1956 Ohne die erwähnten letzten zwei April-Transporte setzten sich die Aussiedler aus 7.089 Frauen, 5.719 Männern und 3.280 Kindern zusammen. Von den Männern waren 1.963 älter als 60 Jahre, 2.903 Frauen älter als 55 Jahre. Zusammen mit den chronisch Kranken im arbeitsfähigen Alter waren nach Angaben des MV 9.072 Personen dabei, die „für unsere Arbeitsbemühungen keine Bedeutung haben“. Diese Zahl sei aber noch höher, da unter den Frauen unter 55 Jahren viele „nur“ Hausfrauen gewesen seien.1957 Die genannte Gesamtzahl der Ausgesiedelten schloss daneben auch 237 betagte und kranke Schwestern des Schweizer Hl. Kreuz-Ordens aus einem Kloster in Eger ein, die Anfang Oktober 1950 ausgesiedelt wurden. Im Januar setzte sich ein Transport aus Reichenberg auch aus Deutschen aus der Slowakei zusammen (163 Personen) 1958 Insgesamt sollen 327 aller im Rahmen der „Aktion Link“ ausgesiedelten Deutschen aus der Slowakei gekommen sein.1959 Es liegt auf der Hand, dass sich das MV mit dieser Statistik genötigt sah, sich gegen den Vorwurf seitens des MNB zur Wehr zu setzen, die Aussiedlung habe der tschechoslowakischen Wirtschaft schwere Schäden zugefügt. Im gleichen Kontext ist auch die Angabe darüber zu sehen, welche Kosten der Staat durch die Aussiedlung der auf öffentliche Fürsorge angewiesenen chronisch kranken und allein stehenden betagten Menschen gespart habe und sparen werde (die Zusammensetzung dieser 345 Personen wurd schon weiter vorne erwähnt). Allein seit deren Aussiedlung bis Ende Februar 1951 habe es sich bereits um über zwei Millionen Kronen gehandelt. Dabei seien noch die die ebenfalls gesparten Kosten erwähnt, die durch die (manchmal vorzeitige Entlassung und) Aussiedlung von 1.217 deutschen Häftlingen (in der überwiegenden Mehrzahl Retributionshäftlinge)

1954 SÚA, f. MV-D, kr. 222, Statistische Übersicht über alle Aussiedlungstransporte von März 1950 bis Ende

April 1951. – Vertreter des MNB, MV und der StB hatten auf einer Besprechung am 21.4.1951 beschlossen,

dass die Ausreise nur noch „alten und arbeitsuntauglichen Personen“ erlaubt werden dürfe, und dies lediglich

in Fällen, in denen es sich direkt um eine Familienzusammenführung handelte“. AMV-Pha, 310-31-3, Bl. 58f.,

Protokoll der Besprechung vom 21.4.1951. 1955 Die Passagierlisten der einzelnen Transporte sind aufbewahrt in: SÚA, f. MV-NR, kr. 10960-10964, sign.

199. – Insgesamt gelangten im Rahmen der „Aktion Link“ in den Jahren 1950 und 1951 nach westdeutschen

Angaben rund 68.000 Deutsche in der BRD ein, die in der Mehrheit aus dem Gebiet Nachkriegpolens

stammten. Die Betreuung der Vertriebenen, der Flüchtlinge, der Kriegsgeschädigten, der Evakuierten, der

Kriegs- und Zivilgefangenen, der Heimkehrer, der nicht-deutschen Flüchtlinge, hrsg. vom Bundesministerium

für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Bonn 1962, 11. 1956 SÚA, f. MV-T, kr. 22, geheimer Bericht von Sapara an Nosek vom 5.1.1951. 1957 Bericht der Abteilung II/3 des MV über die Aussiedlungsaktion in den Jahren 1950 und 1951 vom April 1951,

Teil „E“, in: Ebenda. Vgl. auch: STANĚK: Retribuční vězni, 120. 1958 SÚA, f. MV-D, kr. 222, Statistische Übersicht über alle Aussiedlungstransporte von März 1950 bis Ende

April 1951. – Eine Liste der ursprünglich am 2./3.1.1951 zur Aussiedlung aus Reichenberg bestimmten

Karpatendeutschen führt 208 Personen auf. Ebenda, f. MV-NR, kr. 8061, o.D. 1959 GABZDILOVÁ-OLEJNÍKOVÁ – OLEJNÍK: Karpatskí Nemci, 156; PEŃEK: Nemci na Slovensku, 266.

Peńek nennt hinsichtlich des Januar-Transports aus Reichenberg 193 deutsche Passagiere. – Nach der

Meldung des Beaftragtenamts für Inneres in Bratislava ans MV vom 3.10.1949 hatten die slowakischen ONVs

bisher 182 Anmeldungen weitergeleitet, davon 140 die US-Zone Deutschlands betreffend. 32 Bezirke hatten

bis dato keine Meldung vorgelegt. NA, f. MV-NR, kr. 8061.

Page 46: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

516

erzielt worden seien, da diese sonst in der Regel aus öffentlichen Mitteln hätten unterstützt werden müssen.1960 Die Ankunft der Aussiedlertransporte löste in Westdeutschland ein gemischtes Echo aus und fand vor allem in den Reihen der Vertriebenenverbände und in den Äusserungen einiger Politiker ihren Widerhall. Trotz der deutlich menschlicheren Bedingungen der Transportabwicklung fehlten nicht Stimmen, die den physischen Zustand und vor allem die materielle und finanzielle Ausstattung der Ankömmlinge bemängelten. In der Anfangsphase der Aussiedlungen zirkulierten inoffizielle Nachrichten in der Presse, dass statt der vereinbarten 20.000 Personen 80.000 verelendete Deutsche eintreffen würden. Zu den offiziellen Funktionsträgern, die sich nicht zu viel von den offiziellen tschechoslowakischen Erklärungen über die ordnungsgemässe Ausstattung der Aussiedler erhofften, gehörte – zumindest im Frühling 1950 – auch der bayerische Ministerpräsident Ehard.1961 Der tschechoslowakischen Seite missfielen besonders nach ihrer Sicht bewusst propagandistisch ausgeschlachtete Reportagen in den bundesdeutschen Medien über die Ankunft der entlassenen Retributionshäftlinge. Prag schöpfte den Verdacht, dass deren zweifellos meist angeschlagener Zustand dafür genutzt werden sollte, die Verhältnisse in der ČSR überhaupt zu diffamieren. Vor allem aber sollten die Bilder der ankommenden ehemaligen Häftlinge keineswegs die in Westdeutschland verbreitete Meinung verstärken, dass die Haftbedingungen in der ČSR nicht internationalen Standards entsprächen und für Deutsche noch immer besonders hart seien.1962 Die Tschechoslowakei protestierte daneben gegen Reportagen in deutschen Magazinen, die Bilder der ankommenden chronisch Kranken veröffentlichten und – nach tschechoslowakischer Darstellung – den Anschein erwecken sollten, als ob es sich hierbei um Gefangene halten sollte, die vom „Roten Terror“ gekennzeichnet waren. Trotz des Bedauerns von offizieller westdeutscher Seite über diese Art der Berichterstattung und der Existenz einer ausgewogeneren Berichterstattung, die in Prag ebenfalls bekannt war, 1963 entschied das Prager Justizministerium anscheinend vorwiegend aufgrund solcher Vorfälle, dass künftig keine ehemaligen Gefangenen nach Westdeutschland auszusiedeln seien, nachdem zuvor auf einer Besprechung am 9.1.1951 als Gegenmassnahme über die Einstellung der ganzen Familienzusammenführungsaktion erwogen worden war.1964 Als absolut ungerechtfertigt und grob verzerrend bezeichnete das Prager MV Reportagen in westlichen Medien über die Darstellung der Bedingungen, unter denen – wie erwähnt – im Oktober 1950 237 Hl.-Kreuz-Schwestern sudetendeutscher Herkunft aus Eger ausgesiedelt wurden. In den Reportagen war davon die Rede, dass diese unter unhaltbaren Transportbedingungen buchstäblich vertrieben worden seien, als Folge der repressiven Kirchenpolitik des Regimes. Zwar stimmte, dass das Schweizer Mutterkloster in Ingenbohl selbst um die Aussiedlungserlaubnis für die Schwestern angesucht hatte, freilich erst nachdem das tschechoslowakische Amt für

1960 Häftlinge wurden beispielsweise aus dem Sammellager in Reichenberg mit den Transporten vom 18.5. (59

Häftlinge), 24.8. (48), 21.9. 1950 (117), 25.1. (36) und 8.3.1951 (5) ausgesiedelt. NARWOWÁ: Německé

obyvatelstvo v Liberci, 94-100. 1961 Vgl. die vom MZV am 31.3.1950 ans MV intimierte Meldung des tschechoslowakischen Generalkonsuls in

München in: SÚA, f. MV-D, kr. 222. 1962 Vgl. z.B. die Bildreportage in Die Neue Münchner Illustrierte, 6.1.1950. 1963

Vgl. z.B. den Bericht der Presseagentur „Interreport“, veröffentlicht in Wien und Bonn am 28.3.1951. NA, f.

MV-NR, kr. 10950, sign. 199. 1964 SÚA, f. MV-D, kr. 222, Bericht von Sapara an Nosek vom 9.1.1951; Konzept eines Schreibens des

Tschechoslowakischen Roten Kreuzes ans IKRK, verfasst vom MV Ende Februar 1950; Konzept einer

Stellungnahme zu den „amerikanischen Lügenberichten“ für die deutschsprachige Auslandssendung des

tschechoslowakischen Rundfunks, o.D.; Ebenda, kr. 214, Manuskript des MV aus dem Jahre 1951 „Abschub

der Deutschen aus der ČSR“, Manuskript, I. Teil „Geschichte des Abschubs“, S. 125; STANĚK: Retribuční

vězni, 117.

Page 47: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

517

kirchliche Angelegenheiten am 11.9.1949 die Räumung des Egerer Klosters innerhalb von zwei Tagen angeordnet hatte und den Schwestern nur die Wahl gegeben hatte, zwischen dem Einzug in ein „Zentralisierungskloster“ oder der Aussiedlung zu entscheiden. Angesichts dieser Umstände konnte von einer „freiwilligen“ Aussiedlung kaum die Rede sein. Zwei Schwestern verstarben innert zwei Wochen nach der Ankunft in Bayern. Nach dem schlechten Presseecho über die erste Spezialaussiedlung im Oktober lehnte das MV vorerst auch gegenüber dem IKRK eine zweite Gruppenaussiedlung von 395 weiteren deutschen Schwestern des Ordens ab. Diese waren in der Tschechoslowakei in 14 verschiedenen Spitälern im Krankendienst tätig und sollten in Deutschland u.a. die Pflege ihrer zuvor ausgesiedelten Ordensschwestern übernehmen. Ihre Plätze sollten nach den Vorstellungen der Ingenbohler Generaloberin bisher internierte tschechische und slowakische Ordensschwestern übernehmen, was Prags Missgunst ausgelöst haben muss. 1965 Mindestens 152 deutsche Hl. Kreuz-Schwestern waren nach 1950 in „Zentralisierungsklöstern“ interniert und mussten von dort aus Zwangsarbeit leisten. Nach einem erneuten schriftlichen Ansuchen der Ingenbohler Generaloberin stimmte das MV im Februar 1951 der Aussiedlung aller im Lande verbliebenen Schwestern dann doch noch zu, doch verhinderte der bald darauf vom MNB durchgepresste Aussiedlungsstopp deren Ausreise. Ein neuerliches höfliches Gesuch aus Ingenbohl von Mitte Juli wurde vom MV nicht einmal mehr beantwortet, obwohl angeblich alle Schwestern inzwischen im Besitz von gültigen Ausreise-Permits verfügten. 1966 Schliesslich erhielten im Jahre 1954 356 der verbliebenen Hl. Kreuz-Schwestern die Ausreiseerlaubnis in die BRD, nach zähen Verhandlungen, in der vorwiegend das MNB die üblichen Sicherheitsbedenken geäussert hatte.1967 Die frühzeitige und weder regierungsintern, geschweige denn international abgestimmte Einstellung der Aussiedlung löste auch auf Seiten des US-Permit Offices erhebliche Irritationen aus. Dessen Vertreter Martin Bowe erbat im April und Mai 1951 mehrmals eine Auskunft des Prager MZV, ob noch an eine Weiterführung der Aussiedlung gedacht sei. Offensichtlich wurde diesem auf Empfehlung des MV die fadenscheinige Mitteilung gemacht, dass die vorgesehenen weiteren Züge aus Eger und Reichenberg „aus technischen Gründen“ nicht mehr abgefertigt werden könnten. Die wahren Gründe des Aussiedlungs-Stopps blieben trotz strikter Geheimhaltungsaktionen im Ausland nicht verborgen. So verbreitete am 19.4.1951 die österreichische Rundfunkstation „Rot-weiss-rot“ nach Informationen des MZV eine Meldung der „United Press“, die den Abbruch der Aussiedlung klar mit dem in der ČSR herrschenden Arbeitskräftemangel in Verbindung brachte und ausserdem davon berichtete, dass in den Vormonaten in gewissen Fällen auch deutschen Nicht-Spezialisten die Ausreise verweigert worden sei.1968

1965 SÚA, f. MV-D, kr. 222, Schreiben der Generaloberin des Institut der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen

Kreuze in Ingenbohl (Schweiz) ans MV vom 22.10 und 25.11.1950; Konzept des Schreibens des MV/MZV

ans IKRK in Genf vom 24.11.1950. 1966

NA, f. MV-NR, kr. 10950, sign. 573, Schreiben der Ingenbohler Generaloberin ans MV vom 29.1. und

16.7.1951; Konzept einer Anweisung des MV ans Ministerium für Gesundheitswesen vom 12.2.1951. Nach

Angaben der Generaloberin besorgten Hl. Kreuz-Schwestern noch immer in folgenden Krankenhäusern und

Altersheimen den Krankendienst: Eger, Dux, Komotau, Spansdorf (Bez. Aussig), Tetschen, Karlsbad, Plan,

Falkenau, Brüx, Haida, Graslitz, Teplitz-Schönau, Tannwald, Deutsch-Gablonz, Kulm bei Aussig. – Die Hl.-

Kreuz-Schwestern hatten in der böhmischen Provinz ihr Mutterhaus in Eger. Bis zum Zweiten

Weltkrieg hatten rund 1.000 Schwestern des Ordens in der Tschechoslowakei gewirkt. Vgl. zur

Geschichte dieses Ordens in den böhmischen Ländern GRULICH, Rudolf: Die Kirche im

Sudetenland und die Vertreibung, in: Odsun. Die Vertreibung der Sudetendeutschen. Begleitband

zur Ausstellung, Sudetendeutsches Archiv (ed.), München 1995, 153-174, hier 160-162. 1967 STANĚK: Odsun Němcŧ, 339. Nach GRULICH: Die Kirche im Sudetenland, 169, reisten die 1954

ausgesiedelten Schwestern nach Vermittlung des IKRK in die Schweiz aus. 1968 SÚA, f. MV-D, kr. 222, vgl. die vertraulichen Berichte des MZV ans MV vom 16, 23. und 26.4.1951 sowie

den geheimen Bericht vom 31.5.1951.

Page 48: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

518

Gewisse Hinweise sprechen dafür, dass die amerikanische Visa-Erteilungspraxis in direkter Reaktion auf den Aussiedlungsstopp deutlich liberalisiert wurde (vielleicht auch schon in den Vormonaten, als Reaktion auf die sich immer weiter verschärfenden Aussiedlungsrichtlinien der tschechoslowakischen Seite). Während in den Vorjahren eine Einreisebewilligung (Permit) nach Westdeutschland nur auf Grundlage einer Zuzugsgenehmigung erteilt worden war, so war nach neuer Praxis des Prager Permit Offices diese nicht mehr nötig. Es genügte ein Ausweis oder Dokument, mit dem ein tschechoslowakischer Deutscher beweisen konnte, zuvor einmal die deutsche Staatsbürgerschaft besessen zu haben (meist im Zeitraum von 1938/39-1945). Nach einem Bericht des Sicherheitsreferenten des KNV Karlsbad aus dem Mai 1951 reisten täglich 30-40 Deutsche aus Falkenau zum Zweck der Visa-Beschaffung nach Prag, was erheblich die dortige Arbeitsmoral untergrabe.1969 Anfang Juni kam das MV zum Schluss, dass aufgrund der definitiven Einstellung der Massen-Aussiedlung kein direkter amtlicher Kontakt mehr mit dem Allied High Commission Permit Office in Prag notwendig sei. 1970 Tatsächlich löste der Aussiedlungs-Stopp unter den tschechoslowakischen Deutschen grosse Nervosität und eine neue, dieses Mal noch erheblich grössere Auflage des spätestens seit 1949 ausgebrochenen Aussiedlungsfiebers aus. Doch die Verhältnisse hatten sich gegenüber den Vorjahren im Frühling 1951 grundlegend gewandelt. Während die amerikanischen Behörden und noch mehr die bundesdeutschen Organe demonstrativ bekundeten, dass jeder Deutsche im Westen willkommen sei, so hatte sich die ČSR inzwischen für immer von der seit 1945 dominierenden Vorstellung verabschiedet, die Republik sei sicherer, je weniger Deutsche in ihr zurückblieben.

3 Das Schicksal der zurückgebliebenen Aussiedler in Reichenberg und Eger (1951/52) Die brüske Einstellung der Aussiedlungstransporte durch das MNB führte vor Ort, in den als Sammelpunkte dienenden Lagern in Reichenberg und Eger, zu grossen logistischen Schwierigkeiten und vor allem zu grossen Enttäuschungen bei den rund 600 bereits in den Lagern auf die Ausreise wartenden Personen. Diese hatten in den Wochen zuvor alle Brücken hinter sich niedergerissen und waren somit ohne Unterkunft, Beschäftigung und finanzielle Mittel. Deren Mehrheit hatte zudem schon kurz vor der Reise ins Sammellager ihre Möbel nach Westdeutschland verschicken lassen. Ein auf die „sozusagen unüberwindbaren Schwierigkeiten“ und die Möglichkeit von ernsten aussen- wie innenpolitischen Folgen, die der eigenmächtige Aussiedlungsstopp mit sich brachte, hinweisendes Schreiben des MV ans MNB von Mitte April betrachtete es als „umstritten, ob aus dem Blickwinkel der Nationalitätenpolitik, die Grundsätze, die vom ZK der KSČ festgelegt wurden, in diesem Fall nicht wesentlich verletzt sind, weil doch allen Personen nach den geltenden Vorschriften die Aussiedlung erlaubt wurde und ihnen darüber eine schriftliche Bestätigung gegeben wurde“. Mit einer gewissen Verbitterung wurde im Schreiben daran erinnert, dass das MNB in seinem Schreiben vom 2.2.1951 ans MV ausdrücklich damit einverstanden war, dass die Aussiedlungsagende bis zur Beendigung der organisierten Aussiedlung der deutschen „Staatenlosen“ im Kompetenzbereich des MV bliebe. Zudem wurde an die Beschlüsse der gemeinsamen Besprechung vom 31.3.1951 erinnert, die dem MV keinen Anlass zur Befürchtung gaben, dass das MNB in eigener Regie handeln könnte. Trotzdem ging das MV nicht soweit, eine geregelte Beendigung der Aussiedlungstransporte zu fordern, sondern sprach sich nur für die

1969 Vgl. den geheimen Bericht des KNV Karlsbad ans Prager MV vom 10.5.1951, in: Ebenda. 1970

Ebenda, f. MV-NR, kr. 8068, interne Aktennotiz des MV vom 2.6.1951. 1970

Ebenda, f. MV-NR, kr. 8068, interne Aktennotiz des MV vom 2.6.1951.

Page 49: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

519

Entsendung der bereits vorbereiteten zwei Transporte in Eger und Reichenberg aus – freilich erst nach nochmaliger gründlicher Überprüfung derer Passagiere auf „Staatssicherheitsbedenken“. 1971 Die Übernahme der Gruppen- wie Individualaussiedlungs-Agenda durch das MNB sozusagen „im Fluge“ wurde damit grundsätzlich vom MV akzeptiert. Der recht versöhnliche Standpunkt des Innenressorts sagt auch einiges über die damaligen Machtverhältnisse zwischen den Ministerien aus. Während das MNB in den dunkelsten Anfangsjahren der 50er Jahre fast allmächtig war, reduzierte sich der Einfluss des einstigen Schlüsselressorts für die kommunistische Machtdurchsetzung nach 1945 auf die Belange der Zivilverwaltung und Gottwalds treuer Diener Václav Nosek wurde in den Reihen der Regisseure der politischen Prozesse sogar eine Zeitlang als „tschechoslowakischer Rajk“ gehandelt. Dem Wunsch des MV, die bereitgestellten Transporte nach nochmaliger gründlicher „Überprüfung“ aller Aussiedler doch noch abfahren zu lassen, kam das MNB erst nach erheblichem Zögern nach. Anfänglich hatten dessen Vertreter auf einer Besprechung mit MV-Repräsentanten noch die definitive Zurückhaltung beider Transporte gefordert. Nach ihrer Ansicht seien die bereits in den Sammellagern befindlichen Personen gemäss aktuellem Arbeitskräftebedarf besonders im Reichenberger und Ostrauer Kreis zu „zerstreuen“. Dabei sollte ihnen gesagt werden, dass „viele Personen deutscher Nationalität um Repatriation aus Westdeutschland in die ČSR ansuchen, und das vor allem, weil sie arbeitslos sind“. Nach der nicht wenig zynischen Ansicht auch des stellvertretenden MNB-Ministers Baudyš lag der Verbleib in der ČSR im eigenen Interesse derjenigen Personen, die bisher unmissverständlich bekundet hatten, dass sie freiwillig nach Westdeutschland ausreisen möchten.1972 In Reichenberg waren am 14.4.1951 285 Personen im Sammellager, die für den am 29.3. bzw. – nach dem ersten Abfahrtsverbot des MNB – am 12.4.1951 geplanten Transport vorgesehen waren (ihre Güter wurden vor beiden vorgesehenen Abfahrtsterminen verladen). Zudem waren bereits 35 Personen im Lager eingetroffen, die danach abgefertigt worden wären. Insgesamt waren auf dem Lagergelände also 320 Deutsche in einer existentiell äusserst schwierigen Lage. Von den Personen, die am 12.4.1951 Reichenberg Richtung Bayern hätten verlassen sollen bestanden seitens des Kreiskommandos der Staatssicherheit in Reichenberg anfänglich nur gegen 22 Personen Einwände, nach einer zweiten Überprüfung gar nur gegen 13. Erst bei einer dritten und letzten Überprüfung vor Ort wurden dann plötzlich (immer von der gleichen Stelle!) sage und schreibe 244 Personen als für eine Aussiedlung nicht in Frage kommend bezeichnet, dieses Mal mit der Begründung, dass sie im Reichenberger Gebiet arbeitseingesetzt werden könnten. Nach einer ersten schriftlichen Befragung der Reichenberger Lagerinsassen, in der diese auch den Ort angeben sollten, an den sie im Falle einer Nichtabfertigung ihres Transports nach Deutschland sein würden, gab kein einziger Deutscher einen Ort in der ČSR an. Alle forderten kategorisch die Aussiedlung nach Deutschland. In vielen Fällen sollen nach dem Geheimbericht des Bericht erstattenden SNB-Offiziers Äusserungen gefallen sein, „dass sie nirgendwohin zurückkehren werden und sich lieber erhängen werden“. Ihr Ansuchen, die Möglichkeit zu erhalten, eine Deputation ins MV und zur IKRK-Delegation zu entsenden, wurde abgewiesen. Nach der Selbstdeklaration der Lagerinsassen hatten diese im Falle von über 100 Familien bereits ihre Möbel in die BRD vorausgeschickt. Deren Wert soll über zwei Millionen

1971 Ebenda, Konzept eines geheimen Schreibens des Vorstehers der Abteilung II/3 des MV, Dr. Kropáč, ans

MNB in Sachen Einstellung der Aussiedlung deutscher „Staatenloser“ nach Westdeutschland vom 13.4.1951. 1972 SÚA, f. MV-T, kr. 22, geheimes Protokoll der Besprechung vom 17.4.1951, verfasst am 18.4.1951.

Page 50: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

520

Kronen betragen haben. 1973 Nachdem nach einer neuerlichen Überprüfung aller Aussiedlungsanwärter beide bereitgestellten Transporte aus Eger und Reichenberg am 26. und 27.4.1951 doch noch in die BRD durchgelassen wurden, blieben in beiden Sammellagern nach einem Bericht des MV vom 8.5.1951 noch 268 Personen „aus Gründen eines öffentlichen Interesses“ zurück (in Reichenberg 150). Einige hatten sich vor der Abfertigung der Transporte überreden lassen, das Lagergelände zu verlassen und in der ČSR zu verbleiben. 1974 Inzwischen hatten die Behörden entschieden, dass die Zurückgebliebenen entweder an ihren früheren Wohnort zurückkehren sollten, wenn sie daran Interesse äusserten, oder im Reichenberger und Karlsbader Kreis untergebracht werden sollten, wo ihnen günstige Arbeits- und Wohnbedingungen gewährt werden sollten. Zur Überbrückung von finanziellen Engpässen sollte ihnen pro Person ein erster „Lohn“ von 300 Kronen ausbezahlt werden. Auch diese Versprechen, denen viele Betroffene beim besten Willen nach allen erlebten Enttäuschungen nicht mehr glauben konnten, nützten nicht viel. Nach dem erwähnten Bericht des MV von Anfang Juni 1951 verweigerten die Lagerinsassen den Umzug in angeblich bereit gestellte Wohnungen, da sie noch immer glaubten, ihre Aussiedlung nach Deutschland zu erzwingen. Im Rahmen der Überzeugungsaktion der Behörden sollte es zu keinen Drohungen oder gar zur direkten Ausübung von Druck kommen, stattdessen sollte betont werden, dass jegliche Diskriminierungen im Wohnungs- und Arbeitsbereich beseitigt würden. Doch auch Personen, deren Möbel (ohne deren Einverständnis) wieder aus Deutschland zurückbeordert worden waren, weigerten sich, das nur notdürftig eingerichtete Lager zu verlassen. Da alle Lagerinsassen ihre Lebensmittelvorräte längst aufgebraucht hatten und vollkommen ohne Geld waren, musste ihr weiterer Aufenthalt in den Lagern aus der Staatskasse bezahlt werden.1975 Die Aussage über das Ausbleiben von Druckmitteln war jedoch nicht gänzlich korrekt. So wies das MV am 3. bzw. 4.5.1951 den Karlsbader KNV an, die in Eger verbliebenen aussiedlungswilligen Deutschen unverzüglich zur Arbeit zuzuweisen und ihnen bekannt zu geben, dass allen Lagerinsassen ab dem 7.5.1951 die Lebensmittelversorgung gestrichen würde. Diese Anweisung des Vorstehers der II. Abteilung des MV, Dvořák, ist als Reaktion auf eine fernschreibliche Meldung des Karlsbader KNVs zu verstehen, dass auch der neueste Versuch um eine „freiwillige Lösung der Zerstreuung dieser Personen“ gescheitert sei, und das wegen ihres „absolut systematischen und organisierten Widerstandes“. 1976 Trotzdem gelang es während des Sommers 1951, die meisten in Eger verbliebenen Deutschen (bis auf fünf Familien) zum Verlassen des Lagers bewegen zu können. 1977 Fehlende Möbelstücke wurden republiksweit aus dem übrig gebliebenen Konfiskationsgut zusammengewürfelt.1978 Nach einem geheimen Bericht des KNV-Sicherheitsreferenten in Karlsbad, der die Lage im Sammellager Eger am 1.10.1951 inspizierte, waren dort nur noch fünf Familien anwesend.

1973 Vgl. den zitierten Geheimbericht vom 16.4.1951 mit dem Verzeichnis der Familien, die bereits Möbelstücke

nach Westdeutschland verschickt hatten. Ebenda. 1974 Staněk erwähnt zum 30.4.1951 im Sammellager Eger noch 126 Lagerinsassen und im Sammellager

Reichenberg 195 Insassen. STANĚK: Tábory v českých zemích, 187. 1975 SÚA, f. MV-T, kr. 22, geheimes Schreiben des Leiters der Abteilung II/3 des MV ans Sekretariat des

Innenministers vom 8.5.1951. 1976 SÚA, f. MV-D, kr. 222, geheimes Fernschreiben des zuständigen Referenten des KNV Karlsbad ans MV vom

3.5.1951; Fernschreiben des MV vom 4.5.1951 an den KNV Karlsbad. – Am 5.5.1951 wurde auch der KNV

Reichenberg aufgefordert, die Lagerinsassen unverzüglich in den Arbeitsprozess zu integrieren und ihnen die

Einstellung der Lebensmittelversorgung anzukündigen. 1977

NA, f. MV-NR, kr. 10949, sign. 199, geheimer Bericht des KNV Karlsbad ans MV vom 24.8.1951. 1978 Vgl. den Schriftverkehr aus dem Juni 1951 zwischen dem KNV Brünn und dem MV in Sachen Beschaffung

von übrig gebliebenen konfiszierten Wohnungseinrichtungen aus den Beständen des Zentralen

Nationalausschusses in Brünn und des ONV in Nikolsburg für die Zwecke des KNV Karlsbad. SÚA, f. MV-

NR, kr. 10951, sign. 199.

Page 51: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

521

Als Begründung dafür, warum es „absolut ausgeschlossen ist, gegen diese zu irgendeiner administrativen Massnahme zu greifen“, führte er auf, dass es sich ausschliesslich um Arbeiter handle. Ihre Einwände und Beschwerden seien übrigens auch alle begründet (u.a. wurde der Vorwurf erhoben, dass die Behörden sie mit der brüsken Einstellung der Transporte um alle Ersparnisse und vielmals um einen bescheidenen, in harten Jahren zusammengesparten Besitz gebracht hätten). Der Referent anerkannte auch die Beschwerde der verbliebenen Lagerinsassen an, dass sie durch den Aufenthalt im Lager um einen mehrmonatigen Verdienst gebracht wurden, Anspruch auf Urlaub und Weihnachtszuschuss verloren hätten und dazu eine Menge Kosten für die Verschickung der Möbel nach Deutschland. Der Einwand des Referenten, dass ihnen doch Schadensersatz gewährt würde, wurde nach dessen Bericht mit dem Hinweis abgewiesen, dass sie angesichts von zu viel gebrochenen Versprechen nichts mehr glauben würden. Angeblich würden einige, die sich durch ähnliche Versprechen aus dem Lager „herauslocken“ liessen, noch heute irgendwo auf dem Erdboden schlafen. Der KNV-Referent kam denn auch – sichtlich beeindruckt von den berichteten Schicksalen – zum Schluss, „dass dies einer Diskrimination von gröbstem Korn gleichkommt, gegen die wir mündlich [immer] so scharf auf unseren Besprechungen auftreten“.1979 Während das Lager in Eger im Herbst 1951 schliesslich doch geräumt werden konnte, blieb die Situation in Reichenberg auch über den kommenden Winter weiterhin gespannt. Die Mehrheit der dort Verbliebenen hielt noch immer konsequent an ihrer Forderung nach Aussiedlung fest. Um sich Gehör zu verschaffen, verfassten sie nicht nur zahlreiche Briefe an Staatspräsident Gottwald, dessen Frau oder Kanzlei (dort sprachen ihre Delegationen auch mehrmals vor persönlich vor), sondern legten ihre Lage auch Vertretern des IKRK dar (dies führte dazu, dass in der westlichen Presse und im Rundfunk über ihre Lage berichtet wurde). Von den ursprünglich 150 im Reichenberger Lager zurückgebliebenen Personen waren am 14.12.1951 noch 149 Personen, am 15.2.1952 noch 140 Personen anwesend.1980 Aus den in respektvollem aber bestimmten Ton verfassten Briefen an die Staatsbehörden (besonders an Gottwalds Kanzlei) ist herauszulesen, wie seelisch zermürbt die nun nur noch in anderthalb (statt ursprünglich in vier) Baracken „wohnenden“ Familien nach einem zehnmonatigen Aufenthalt auf dem inzwischen in der Bauliquidation befindlichen Gelände waren. Die Gründe, warum sie nicht ausreisen durften, waren ihnen nicht näher bekannt, obwohl während der zahlreichen Untersuchungen recht offensichtlich geworden zu sein schien, dass die Behörden an ihrer Arbeitskraft interessiert waren. In einem neuerlichen Schreiben an die Präsidentenkanzlei vom 6.2.1952 erklärten aber die Lagerinsassen, dass 33 aller 102 Personen als „eventuell arbeitsfähig“ gelten könnten, weitere 8 Personen, die über 50 Jahre waren, als „sehr bedingt arbeitsfähig“. Krank oder arbeitsunfähig waren 20, Greise und Greisinnen waren 9, Frauen mit Kleinkindern 10, schulpflichtige Kinder bis zu 15 Jahren 13, Kleinkinder bis zu 6 Jahren 8 anwesend, dazu ein Säugling. Warum gerade sie nicht ausreisen durften, wurde diesen Menschen gänzlich unklar, wenn sie daran dachten, wem Ende April 1951 die Ausreise bewilligt worden war (darunter waren angeblich Angehörige „gemischter“ deutsch-tschechischer Ehen, eine Familie, die bereits erfolgreich um die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft angesucht hatte und „einige alte Weiblein, die im Reiche überhaupt keine Verwandten besassen“). Aus ihren Protesteingaben ergeht, dass die Betroffenen nicht genau wussten, wer für ihr Schicksal verantwortlich war. Ihr Zorn richtete sich vorwiegend auf die Vertreter des Reichenberger KNV, dessen Verhalten sie als den Prager Ministerialbefehlen

1979 SÚA, f. MV-T, kr. 22, geheimes Schreiben an den stellvertretenden Innenminister G. Spurný vom 2.10.1951. 1980 SÚA, f. MV-D, kr. 222, Schreiben der Abteilung II/3 des MV an das Sekretariat des Innenministers vom

15.2.1952.

Page 52: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

522

zuwiderlaufend verurteilten.1981 Vom Ministerium der Nationalen Sicherheit schienen sie noch nie gehört zu haben. Ihr Glaube, dass die Hauptschuld für ihre Zurückhaltung („ein Akt der Gewalt“, der „an Freiheitsberaubung grenzt“) bei den Regionalbehörden lag, mag mit ein Grund sein, warum sie lange durchhielten und sich von ihren Petitionen an Prager Behörden etwas versprachen. Da die Lagerinsassen nie um die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft angesucht hatten und sich im Besitz der Einreisebewilligung nach Westdeutschland, der erforderlichen Ausreisepapiere der tschechoslowakischen Behörden und der Bescheinigungen über die erfolgte Zollabfertigung befanden und zudem auf Vorladung des Ministeriums um den 20.3.1951 ins Reichenberger Sammellager gekommen waren, anerkannten sie nicht an, dass die tschechoslowakische Staatsmacht ihnen noch etwas gebieten konnte. Zudem hatten sie ordnungsgemäss alle erforderlichen Gebühren zur Teilnahme an der Aussiedlungsaktion entrichtet.1982 Was unermüdlichen Widerständler nicht wissen konnten: Am 29.1.1952 hatte die Abteilung II/3 des MV den KNV Reichenberg mit der Liquidierung des dortigen Sammellagers bis zum 15.3.1952 beauftragt. Schon Anfang Dezember 1951 war vom MV an den KNV ein Kredit von 600.000 Kronen für die Durchführung der Lagerliquidation überwiesen worden. Die Anweisungen des MV sahen vor, dass Personen, die der amtlichen Aufforderung zum Bezug der vorbereiteten Wohnungen nicht nachkamen, Arbeitsverpflichtungen zugeteilt würden und dass sie in ihre neuen Wohnungen „abgeführt“ würden. Bei der Beschaffung von Wohnungseinrichtungen sollte sparsam verfahren werden; nur das Notwendigste sollte bereit gestellt werden. Was die Wohnungen betrifft, so sollten diese sauber sein, die Fenster und Türen verglast und die Fussböden und der Ofen in Ordnung sein. Neu organisierte Wohnungen sollten in erster Linie denjenigen Familien angeboten werden, die nach den bisherigen Erfahrungen den grössten Widerstand geleistet hatten. Bei der Arbeitszuteilung sollte besonders auf die Bedürfnisse der Staatsgüter Rücksicht genommen werden. In die JZDs (LPGs) durfte niemand gegen seinen Willen eingewiesen werden.1983 Der KNV in Reichenberg verschärfte daraufhin sein Vorgehen gegen die widerspenstigen Lagerbewohner und stellte am 14.2.1952 zwei Familien eine Aufforderung zu, nach dieser sie bis zum 20.2. in vorbereitete Wohnungen in Unter-Polaun zu übersiedeln hatten. In der dortigen Glasfabrik waren für sie angeblich Arbeitsplätze vermittelt worden. Im Schreiben des KNV findet sich die Formulierung, dass bei Nichtbefolgung dieser Aufforderung eine Übersiedlung von Amtes wegen erfordern wird. Am 18.2.1952 wandten sich die Lagerbewohner deshalb erneut an die Kanzlei des Republikspräsidenten und erklärten, dass den betreffenden zwei Familien ohne ihr Wissen die bereits verschickten Möbelstücke aus Deutschland zurückbeordert worden seien, unter der falschen Angabe, dass sie freiwillig in der ČSR bleiben wollten. Im erneuten Kontakt mit dem KNV hatte die Lagergemeinschaft erfahren, dass der KNV bereits „eigenmächtig und diktatorisch“ bestimmt habe, auf welche Orte im Reichenberger Kreis die einzelnen verbliebenen Familien verteilt werden sollten, ohne dass dieser Schritt mit ihnen abgesprochen worden wäre.1984 Einige Familien verweigerten

1981 Vgl. z.B. das Schreiben der Lagerkommune vom 6.11.1951 an die Kanzlei des Republikspräsidenten und das

Schreiben von Frau J.P., Lagerinsassen an die gleiche Stelle vom 2.2.1952 in: Ebenda. 1982 Vgl. die Schreiben der verbliebenen Lagerinsassen an die Kanzlei des Republikspräsidenten vom 8. und

6.2.1952 in: SÚA, f. MV-T, kr. 25; daneben die Schreiben vom 31.1. und 2.2.1951 in: SÚA, f. MV-D, kr. 222. 1983 Ebenda, geheime Anweisungen an den KNV Reichenberg, Konzept vom 29.1.1952, unterschrieben von Josef

Kočiń, Leiter der II. Abteilung des MV. Vgl. auch STANĚK: Retribuční vězni, 127. 1984 SÚA, f. MV-T, kr. 25, Schreiben der Lagerinsassen in Reichenberg an die Kanzlei des Republikspräsidenten

vom 18.2.1952, in der Anlage die Abschrift des erwähnten Bescheides des KNV vom 14.2.1952.

Page 53: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

523

jedoch die Mitteilung, wohin sie ihre Möbel im Vorjahr geschickt hatten.1985 Auch die Ende Januar 1952 in einem Schreiben ausgesprochene Möglichkeit, „dass einzelne der Lagerinsassen in ihrer Verzweiflung zu Massnahmen greifen ,die nicht mehr zu rechtfertigen sind und zu menschlichen Tragödien führen müssen, auch bereits zu Nervenzusammenbrüchen geführt haben“ sowie die offen ausgesprochene Drohung, „die Weltöffentlichkeit durch Flucht einzelner Lagerinsassen um Hilfe zu rufen“, zeigte bei den Behörden anscheinend keine Wirkung.1986 Mitte Februar waren nach Angaben des MV für die grosse Mehrheit der Verbliebenen Wohnungen und Arbeitsplätze, meist im Kreisgebiet von Reichenberg, organisiert. Gleichzeitig wurde aber noch immer festgestellt: „Die Stimmung der Mehrheit der Lagerbewohner ist, trotz dauernder Überzeugungsarbeit, gegen ein Weggehen aus dem Lager gerichtet“. Stattdessen würden die meisten noch immer dickköpfig an ihrer Forderung nach Aussiedlung festhalten, obwohl ihnen schon mehrfach klar gemacht worden sei, dass die Aussiedlungsaktion beendet sei.1987 Was in den nächsten Wochen genau in Reichenberg vor sich ging, ist nicht bekannt. Am 25.3.1952 meldete aber das MV an die Kanzlei des Republikspräsidenten, dass mit dem heutigen Tag die Lager-Liquidation in Reichenberg beendet worden sei. Der Grossteil der Deutschen sei im Kreis von Reichenberg untergebracht worden, die meisten Arbeitstauglichen arbeiteten in der Industrie und nur ein kleiner Teil in der Landwirtschaft. Acht Familien seien in den Bezirk Freiwaldau auf die Staatsforste arbeiten gegangen. Sieben Personen seien wegen Arbeitsunfähigkeit in Heimen untergebracht worden. Allen umgesiedelten Familien seien „anständige und passende“ Wohnungen und Wohnungseinrichtungen beschafft worden. Im Lagergelände verbleibe nur noch eine Bergmanns-Familie, die vorübergehend in Reichenberg untergebracht werde. Was sich hinter dem dürren Schlusssatz des Berichts, dass es bei der Umsiedlung der Lagerangehörigen zu keinen „Mängeln“ gekommen sei, verbergen mag, muss angesichts des Fehlens von Archivquellen in den Akten der Zentralbehörden vorerst gänzlich im Dunkeln bleiben. Angesichts des noch in der zweiten Februarhälfte bestehenden energischen Widerstand der Lagergemeinschaft gegen eine Wiederansiedlung auf tschechoslowakischem Staatsgebiet ist es kaum vorstellbar, dass die Umsiedlung von allen Betroffenen ohne die Anwendung von Zwangsmethoden realisiert werden konnte. Wenn dem so wäre, dann stellte der „Fall Reichenberg“ im Jahre 1952 die letzte kollektiv durchgeführte Zwangsumsiedlung von Deutschen in der Nachkriegs-Tschechoslowakei dar.1988

4 Spätaussiedlungen ab 1952 Durch ein Zirkular vom 16.10.1951 stellte das MV mit sofortiger Gültigkeit die Agenda der Aussiedlung von „staatenlosen“ Deutschen ein (ein Grund dafür war, die Hoffnungen der bisher noch „staatenlosen“ Deutschen auf baldige Aussiedlung zu zerstreuen) und übergab die Erledigung von individuellen Fällen dem Ministerium der nationalen Sicherheit. Dieses, bzw. die ihm unterstellten Organe, sollten die Gesuche auf Grundlage der normal geltenden Pass- und Visavorschriften behandeln.1989 Dieser Schritt,

1985 SÚA, f. MV-D, kr. 222, geheimes Schreiben der Abteilung II/3 des MV an das Sekretariat des

stellvertretenden Innenministers vom 7.12.1951. 1986 Ebenda, Schreiben der Lagerinsassen an die Kanzlei des Republikspräsidenten vom 31.1.1952. 1987 Ebenda, Schreiben der Abteilung II/3 des MV ans Sekretariat des stellvertretenden Innenminister vom

15.2.1952. 1988 Ebenda, Schreiben des MV (Konzept) vom 25.3.1952, unterschrieben von Kočiń und Spurný an die Kanzlei

des Republikspräsidenten. Vgl. auch STANĚK: Retribuční vězni, 128. NA, f. MV-NR, kr. 10949, sign. 199,

weitere Akten zur Lage der 1951/52 im Sammellager Reichenberg verbliebenen Deutschen. 1989 SÚA, f. MV-D, kr. 1284, Bericht der Abteilung II/3 des MV, aus der 1. Jahreshälfte 1952.

Page 54: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

524

der die Entscheidung über die Ausreise einer Person gänzlich in die Hände des Staates legte, war – wie bereits erwähnt – nur die Realisierung von bereits seit knapp einem Jahr gemachten Plänen. Die Vorbereitung von neuen Ausreiserichtlinien, die das MV am 14.9.1951 dem MNB unterbreitet hatte und die durchaus noch mit gruppenweisen Aussiedlungen per Eisenbahn in Richtung DDR und Österreich gerechnet hatten, blieb somit nur eine unvollendete Episode. 1990 Die Aussiedlung nach Deutschland oder Österreich unterlag nach dem allgemeinen Stopp Mitte Oktober nun den normalen Pass- und Zollbestimmungen und die massenhaft eingereichten Ausreiseanträge deutscher Personen wurden „aus Sicherheitsbedenken“ äusserst rigide behandelt. Dieser faktische Aussiedlungs- und Ausreisestopp, wie schon die Zurückhaltung einiger Personen aus wirtschaftlichen und politischen Gründen in den Vorjahren, verletzte ein am 10.12.1948 in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von der UNO-Vollversammlung verabschiedestes Prinzip in Artikel 13, wonach jeder ein Recht hatte, „jedes beliebige Land einschliesslich seines eigenen zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren“.1991 Auf der Staatssicherheits-Zentrale wurde im April 1952 erwogen, dass zumindest die Ausreise von betagten Deutschen, die bereits über einen Permit-Schein für die Einreise in die BRD verfügten und sich weigerten, die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit anzunehmen, toleriert werden könne. Ganz an oberster Stelle im MNB wurde jedoch daraufhin die Linie bestätigt, dass Ausreisen nach Westdeutschland „grundsätzlich nicht erlaubt“ werden dürften. Fälle, wo solche Personen zu ihren Familienangehörigen in die DDR ausreisen wollten, seien individuell und im Einvernehmen mit der DDR-Gesandtschaft zu prüfen.1992 Mit Bezug auf noch immer vorhandene Wünsche über die Zusammenführung von getrennten Familien meinte ein MNV-Vertreter im April 1953, dass es nötig sei, „den Deutschen keine unnötigen Versprechen zu machen und ihnen direkt zu sagen, dass die Ausreise oder Einreise in die ČSR von Angehörigen getrennter Familien prinzipiell unmöglich ist“.1993 Gemäss offizieller tschechoslowakischer Statistik wanderten im Zeitraum von 1950 bis 1956 insgesamt 3.779 Personen in die beiden Teile Deutschlands (die Angabe beinhaltet nicht nur Deutsche und versteht sich ohne „Aktion Link“), im ganzen Jahrzehnt von 1950 bis 1960 erwähnen dieselben veröffentlichten Angaben 7.205 Auswanderer. Die offizielle Statistik erfasste das Auswanderungsverhalten der deutschen Bevölkerung erst seit 1954. In der Periode von 1955 bis 1959 sollen 4.595 Deutsche ausgewandert sein. Nach westdeutschen Angaben sind zwischen 1952 und 1960 nur noch 4.923 Deutsche in die BRD ausgereist, obwohl im Februar 1953 beispielsweise nach Angaben des Deutschen Roten Kreuzes noch 65.341 Ausreisegesuche hängig waren und nach tschechoslowakischen Quellen auch 1956 noch 55.000 Gesuche weiterhin bestanden (Mehrfachgesuche derselben Personen wahrscheinlich mitgezählt).1994 Nach der „Lösung“ der Staatsbürgerschaftsfrage der bisher im offiziellen Sprachgebrauch als „Staatenlose“ bezeichneten Deutschen durch die Staatsbürgerschafts-Zwangsverleihung (Gesetz Nr. 34/1953), war die Tschechoslowakei bestrebt, einen Teil der sich noch immer konsequent gegen die Annahme der neuen Personalausweise sich sträubenden Personen nach Westdeutschland auszusiedeln. Dies entsprach durchaus

1990

NA, f. MV-NR, kr. 10949, sign. 199, Schreiben des MV ans MNB vom 13.9.1951. 1991

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, in: Menschenrechte.

Dokumente und Deklarationen, Bonn 1995, 37-43, hier 40. 1992

Vgl. das Schriftmaterial in AMV-Pha, 310-104-6, Bl. 76-88. 1993 SÚA, f. MV-D, kr. 1281, Protokoll der interministeriellen Besprechung über die Nationalitätenpolitik vom

24.4.1953. 1994 STANĚK: Německá menńina, 95.

Page 55: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

525

auch dem Wunsch der betreffenden Personen. Anfang 1954 ging es angeblich noch um 1.758 Personen. Nach einem Beschluss des Politbüros des ZKs der KSČ vom 10.1.1954 wurde nicht nur die Aussiedlung dieser Personen, sondern auch von ungefähr 200 geistig kranken Menschen in Anstalten angestrebt.1995 Obwohl Prag versuchte, die in der BRD willkommene Aussiedlung von freigelassenen Retributionshäftlingen mit der Aussiedlung von noch immer die Annahme der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft ablehnenden Personen (per 15.10.1955 war noch die Rede von 950 Personen) und einer grösseren Zahl „unproduktiver“ Menschen (ungefähr 300 psychisch Kranke, 500 Kranke und Betagte, 80 Ordensschwestern und um die 150 Waisenkinder) zu verknüpfen, kam deren Aussiedlung nicht richtig in Schwung. Mit Unterstützung des Tschechoslowakischen Roten Kreuzes gelang es in der ersten Jahreshälfte 1956, 161 Betagte (davon 146 in die BRD, 14 in die DDR und einen nach Österreich), drei geistig Kranke (alle in die BRD) und 23 Waisenkinder (16 in die BRD, drei in die DDR, zwei nach Österreich) auszusiedeln. Von 119 noch immer „staatenlosen“ Deutschen, die um die Ausreise ansuchten, wurde die Auswanderung nur 43 Personen erlaubt. 1996 Diese Angaben sind kaum vollständig und konnten die bisher nicht verfügbaren Akten zur nach 1953 erneut in der Kompetenz des MV befindlichen Auswanderungsagenda nicht berücksichtigen. In der zweiten Hälfte der 50er Jahre kursierten in der westlichen Presse Gerüchte, wonach einige tschechoslowakische Gesandtschaften im Ausland (so in Wien) Interesse an der Rückkehr von ausgesiedelten Deutschen geäussert hätten. Im Zentrum des Interesses sollen dabei Fachkräfte gestanden haben. Im September 1956 soll eine Regierungsdelegation aus der DDR in Prag über die Möglichkeit der Rückkehr einer grösseren Zahl ausgesiedelter Deutschen verhandelt haben. Im Rahmen dieser angeblich von der Sowjetunion initiierten Gespräche soll es um bis zu 60.000 Personen gegangen sein.1997 Diese Sondierungen und Verhandlungen – falls es sie überhaupt gab – stellten jedoch nichts mehr als Planspiele dar. Die organisierte Rückkehr von ausgesiedelten Deutschen in die Tschechoslowakei fand weder in den 50er Jahren, noch später irgendeinmal statt. Die 60er Jahre brachten eine sich langsam durchsetzende Erhöhung von Auswanderungsmöglichkeiten. Während die Zahl der registrierten Auswanderungsgesuche in die BRD im Jahre 1961 immer noch mit 51.385 angegeben wurde (darunter waren angeblich 11.137 „harte Fälle“), wanderten nach der offiziellen tschechoslowakischen Statistik zwischen 1960 und 1964 nur 7.549 Deutsche aus (westdeutsche Angaben erwähnen für den gleichen Zeitraum 7.514 Personen, die in die BRD ausgewandert seien). Dies ansteigende Aussiedlerzahl1998 setzte sich Mitte der 60er Jahre fort und erreichte am Ende des Jahrzehnts, im Zuge der allgemeinen gesellschaftlichen und aussenpolitischen Lockerung, ein Ausmass, dass schon fast von Ausreisefieber gesprochen werden kann. Während die tschechoslowakische Statistik für den Zeitraum von 1965 bis 1969 von 29.208 ausgewanderten Deutschen spricht, so berichten westdeutsche Angaben im gleichen Zeitraum von 48.219 Deutschen, die allein in die BRD auswanderten. Die letztgenannte Angabe ist auch deswegen höher als die

1995 Ders.: Retribuční vězni, 138. 1996 Ebenda, 155, 157, 159f. 1997 STANĚK: Německá menńina, 95f. 1998 Eine grafische Darstellung der in der BRD ausgenommenen deutschen Aussiedler aus der Tschechoslowakei

und anderen Ländern des östlichen Europas im Zeitraum von 1950 bis 1965 gibt Tafel 8 in: Tatsachen zum

Problem der deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge, hrsg. vom Bundesministerium für Vertriebene,

Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Bonn 1966.

Page 56: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

526

tschechoslowakische, da sie auch illegale Auswanderung (nur aufgrund von Touristenvisa) und Familienangehörige, die in der ČSSR nicht als Deutsche galten, berücksichtigt.1999

5 Die Aussiedlung der deutschen Retributionshäftlinge (1948-1956) Die im Zeitraum von 1945-1948 im Rahmen der beiden Phasen der so genannten Retributionsrechtssprechung zu Haftstrafen von minimal fünf Jahren verurteilten Häftlinge stellen eine sehr spezifische Untergruppe der in der Tschechoslowakei nach Ende des grossen Transfers verbliebenen Deutschen dar. Auch wenn sie nur knapp drei Prozent aller noch im Lande verbliebenen Deutschen ausmachten, so fand deren Lage besonders in Westdeutschland nicht nur das Interesse der Vertriebenenverbände. Die Tatsache, dass die grosse Mehrheit der Häftlinge, denen ab 1950 in grosser Zahl die Gefängnisstrafen endeten, nach Westdeutschland auszuwandern trachtete und dort bereits jahrelang Familienangehörige auf sie warteten, verlieh der Frage der Aussiedlung dieser ehemaligen Häftlinge eine besondere humanitäre Note. Auf den folgenden Seiten soll es nicht um eine Gesamtdarstellung der Situation der deutschen Retributionshäftlinge, sondern um eine geraffte Schilderung von deren schrittweiser Aussiedlung im Zeitraum von 1948 bis 1956 gehen. Die Haftbedingungen für deutsche Gefangene in der ČSR veränderten sich analog zum Wandel des Gefängniswesens, der im Zeichen einer Sowjetisierung der angewandten Haftmethoden und der grossflächigen Applizierung von Zwangsarbeitslagern (v.a. im Uranabbau) stand. Durch die rasante Zunahme der Häftlingszahlen nach 1949 (die Mehrheit von ihnen stellten bis in die zweite Hälfte der 50er Jahre nun immer klarer tschechische und slowakische politische Häftlinge, daneben „kriminelle“ Häftlinge) schwand der relative Anteil der Retributionshäftlinge innerhalb der gesamten inhaftierten Bevölkerung in der Tschechoslowakei stetig dahin. Die Durchsetzung der neuen Nationalitätenpolitik des „proletarischen Internationalismus“ wirkte sich auch im Gefängniswesen aus – wenigstens, was die ausgegebenen Direktiven anbelangt. So erliess das Justizministerium am 15.9.1950 Anweisungen, die „nationale Diskrimination oder nationalistische Aussprüche bei Gerichten oder in Gefängnissen“ als unzulässig geisselten. Einen Monat später formulierte das gleiche Ressort ausführliche Materialien zum Stand des Retributionshaftwesens und zu dessen Anpassung an die geänderten politischen Verhältnisse. Darin war zu lesen, dass „das Vertreten eines unterschiedlichen Vorgehens gegen Personen slawischer Nationalität und deutscher Nationalität nun aufgegeben wird“. Die Realisierung dieser Leitlinie war natürlich nicht sofort überall umzusetzen, denn lange nicht überall war der notwendige gute Wille dafür gegeben.2000 Anfang Januar 1949 sassen in den böhmischen Ländern 7.070 deutsche Retributionshäftlinge in Haft (nebst 5.091 Tschechen). Am 15.5.1950 wurden in der Tschechoslowakei noch 6.264 deutsche Retributionshäftlinge verzeichnet (weitere 425 in Haft befindliche Deutsche waren ausserhalb der Retributionsrechtssprechung zu Gefängnisstrafen verurteilt worden).2001 Die vorzeitige Einstellung des Potsdamer Transfers hatte die Gültigkeit des im Frühling 1946 beschlossenen Prinzips „Abschub vor Bestrafung“, das bei kleineren Vergehen nach der Retributionsrechtssprechung gelten sollte, stark relativiert. Schliesslich liefen nur

1999 Ebenda 147f. Vgl. ebenda die jährlichen Auswanderungszahlen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre; Ebenda,

254, die Information, dass bis zum Jahr 1964 individuelle Ausreisegesuche von den tschechoslowakischen

Behörden gewöhnlich nur bereits pensionierten Deutschen bewilligt worden seien. Vgl. BOHMANN:

Menschen und Grenzen, Bd. 4, 469-471 für die zitierten westdeutschen Angaben und einige Teildaten zur in

ihrem Umfang deutlich geringeren Ausreise in die DDR sowie nach Österreich und in übrige Länder. 2000 STANĚK: Retribuční vězni, 111,113. 2001 Ebenda, 96, 108.

Page 57: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

527

noch Ergänzungstransporte, die der Familienzusammenführung dienten. Nach Antonín Kučeras anfänglicher Entscheidung vom Mai 1947 sollten diese für die nur gruppenweise vorzunehmende Aussiedlung von Deutschen, die bisher im Rahmen der Retributionsrechtssprechung als Untersuchungshäftlinge oder verurteilte „Verbrecher“ festgehalten worden waren, nicht in Frage kommen.2002 Knapp ein Jahr darauf allerdings bereite das Justizministerium trotzdem Listen von Deutschen vor, denen aus gesundheitlichen Gründen eine vorzeitige Haftentlassung und die Aussiedlung nach Deutschland ermöglicht werden sollte. Ende April 1948 wurde dieses Vorhaben aber vorläufig wieder auf Eis gelegt. Trotzdem gelangten im Rahmen der Familienzusammenführung in die US-Zone Deutschlands (wahrscheinlich auch in die SBZ) einige Hundert frühzeitig haftentlassene deutsche Häftlinge nach Deutschland (eine Gesamtzahl ist nicht bekannt – aus dem Gefängnis in Valdice wurden rund 200 Häftlinge ausgesiedelt, aus Pilsen-Bory 57, aus Prag-Pankrác 29). Über die Frage der vorzeitigen Entlassung und Aussiedlung entschied die Staatssicherheitszentrale mit.2003 Nach einer Weisung des MV vom 20.10.1948 unterlagen auch Retributionshäftlinge, die aufgrund von Dekret 33/1945 die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft verloren hatten und in nächster Zeit (vorzeitig oder nach Absitzen der regulären Haftdauer) entlassen würden, der Umsiedlungsaktion ins Landesinnere, sofern sie nicht zu denjenigen Personengruppen gehörten, die davon ausgenommen waren oder im Rahmen der Familienzusammenführung ausreisen konnten. 2004 Die von den kommunistischen Machthabern nach ihrer endgültigen Machtübernahme im März mit Gültigkeit bis Ende 1948 erneuerte Retributionsrechtssprechung schuf weitere – auch deutsche – Retributionshäftlinge.2005 1949, als die ganze Aussiedlungsagenda stagnierte, gelangten entlassene deutsche Häftlinge höchstens noch über den Weg bei Eger/Asch in die US-Zone. In diesem Jahr wurden auch zusätzliche Häftlinge in die SBZ/DDR ausgesiedelt.2006 Insgesamt dürfte die Zahl der ausgesiedelten ehemaligen Häftlinge im Jahr 1949 relativ niedrig gewesen sein.2007 Schon die Verhandlungen zwischen dem IKRK und dem MV vom März 1949 hatten – wie bereits erwähnt – den Einbezug von bereits entlassenen oder aus Krankheits- bzw. Altersgründen vorzeitig zu entlassenden deutschen Häftlingen in die Aussiedlungsaktion vorgesehen. Das MV bat das Justizministerium (MS) um das diesbezügliche grundsätzliche Einverständnis am 31.8.1949. 2008 In der Folge fanden zwischen diesen beiden Ministerien und dem MZV mehrere Beratungen zu dieser Frage

2002

NA, f. MS-D, kr. 1999, i.č. 405, Amtsvermerk des Justizministeriums vom 27.5.1947 über eine

Besprechung mit Antonín Kučera vom 24.5.1947; Schreiben des MV ans Justizministerium vom

19.11.1947 (Anweisung, dass vorzeitige Haftentlassungen von Retributionshäftlingen zwecks ihrer

Aussiedlung bis auf weiteres nicht vorzunehmen seien). 2003 STANĚK: Retribuční vězni, 91. 2004

NA, f. MV-NR, kr. 7992, sign. B-300, č.j. 15073/48, Erlass des MV vom 20.10.1948. 2005

Vgl. zur sog. zweiten (erneuerten) Retributionsphase: KOČOVÁ, Kateřina: Druhá retribuce.

Činnost mimořádných lidových soudŧ v roce 1948, in: Soudobé dějiny XII (2005), 586-625. 2006 GABZDILOVÁ: Germans in Slovakia, 6. Nach Gabzdilová, die sich hier auf Material aus dem Archiv des

Tschechischen Aussenministeriums stützt, verhandelte eine tschechoslowakische Delegation am 17.6.1949

mit General Gorochov (Goročov), der erklärt haben soll, dass die SBZ bisher mehr als 800 deutsche

Kriegsverbrecher, die zu mehr als 20 Jahren Haft verurteilt worden seien, aufgenommen habe. 2007

Vgl. die offensichtlich nur als Torso erhaltenen Personenlisten des Gebietssammellagers in

Reichenberg, von wo aus die ehemaligen Häftlinge in die SZB überführt wurden. So wurden am

6.4.1949 in einem Transport 283 (nach einer anderen Liste nur 158) entlassene deutsche Häflinge

ausgesiedelt, am 25.4.1949 deren 9. NA, f. MV-NR, kr. 8069. 2008 Bericht der Abteilung II/3 des MV über die Aussiedlungsaktion in den Jahren 1950 und 1951 vom April 1951,

Teil „A“, in: SÚA, f. MV-T, kr. 22.

Page 58: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

528

statt.2009 Gerade während der beabsichtigten Dauer der Aktion „Link“ lief einer grösseren Zahl von deutschen Retributionshäftlingen ihre Haftzeit ab. Meist handelte es sich um Personen, die zu fünf Jahren Haft wegen blosser Mitgliedschaft oder der Ausübung von niedrigeren Funktionen in nationalsozialistischen Organisationen verurteilt worden waren. Ihre Zahl wurde im Frühling 1950 auf 800-1.000 geschätzt. Insgesamt wurden Anfang 1950 in den böhmischen Ländern noch 6.372 deutsche Retributionshäftlinge gezählt (davon 535 Frauen). Während das MV im Frühling 1950 die Meinung vertrat, dass diese Personen nach der Haftentlassung freigelassen werden sollten, nahm das MS den regiden Standpunkt ein, dass im Grundsatz nur solche Häftlinge nicht weiterhin bis zum Aussiedlungstermin interniert werden sollen, die in der ČSR Familienangehörige besassen, dauerhaft im Land bleiben wollten und keinen Anlass für „Bedenken“ gaben.2010 Mitte Februar 1950 hatte der Vertreter des MS, Klos, gar die Ansicht vertreten, dass frühere Angehörige von SS-, SA-Formationen, der HJ und andere politisch belastete Subjekte aus Staatssicherheitsgründen generell nicht freigelassen, geschweige denn nach Deutschland ausgesiedelt werden dürften. Diese Personen – selbst arbeitsunfähige und invalide – seien nach der Haftentlassung in die Zwangsarbeitslager (TNP) oder ähnnliche Einrichtungen einzuweisen und „bis auf weiteres“ interniert zu halten.2011 Obwohl das MV und MZV sich für eine liberalere Praxis aussprachen, 2012 verschärfte das Justizministerium aber offenbar im Sommer 1950 seine Praxis, was die Freilassung von offiziell haftentlassenen deutschen Retributionshäftlingen betraf, deren Familien noch immer in der ČSR waren. Besonders wenn diese Deutschen tschechische Ehefrauen, Kinder oder deutsche Familienangehörige hatten, wurden sie vom Justizministerium nun weiterhin in Haft gehalten. Das MV wies jedoch am 8.7.1950 darauf hin, dass es dieses Vorgehen „weder für den geltenden rechtlichen Vorschriften entsprechend, noch für zweckmässig“ hielt. und dass „ein weiteres Andauern der Haft ungesetzlich ist und mit sich sehr harte Folgen für die Familienmitglieder der Sträflinge bringt, die so weiterhin ohne Ernährer bleiben“.2013 Die ersten deutschen Retributionshäftlinge reisten im Mai 1950 im Rahmen der „Aktion Link“ nach Westdeutschland aus. Bis Oktober waren schon 958 von ihnen auf diesem Wege ausgesiedelt worden – davon war 315 von ihnen die reguläre Haftzeit abgelaufen und 643 wurde diese aus Gesundheits- oder Altersgründen zum Zweck der Aussiedlung verkürzt. Angeblich seien nur knapp 10 Prozent dieser Personen arbeitstauglich gewesen. Auf einer interministeriellen Beratung über die weitere Aussiedlung von deutschen Häftlingen am 24.11.1950 schlug der faktische Koordinator der „Aktion Link“ und der das geistige Erbe seines ehemaligen Chefs Antonín Kučera vertretende Miroslav Vlček vor, die bis 31.3.1951 vorgesehene organisierte Aussiedlung intensiv zum „Abschub“ deutscher Retributionshäftlinge zu nutzen, wenn bei diesen die Voraussetzungen zur vorzeitigen Entlassung gegeben waren. Dabei empfahl Vlček

2009 Deren Verlauf und weitere Einzelheiten zur Aussiedlung deutscher Retributionshäftlinge nach Deutschland in

den Jahren 1950/51 beschreibt ausführlich STANĚK: Retribuční vězni, 105-120. Wenn nicht anders

angegeben, beziehen sich die Ausführungen in diesem Teil auf dieses Werk. 2010 Ebenda, 105. – Das Justizministerium plädierte auch deswegen dafür, die übrigen haftentlassenen Deutschen

bis zu Aussiedlung „beim einem grossen Betrieb /am besten im Bergbau/ unter SNB-Aufsicht als zivile

Angestellte“ zu internieren, da es davon ausging, dass viele dieser Personen nur deswegen zu fünf Jahren Haft

verurteilt worden waren, weil man ihnen während des Prozesses nicht nachweisen konnte, welcher

Verbrechen sie sich an ihren „Wirkungsstätten“ schuldig gemacht hatten. Es wurde befürchtet, dass diese

Personen bei einer Freilassung eine „antistaatliche Tätigkeit“ und eine Spionagetätigkeit für fremde Staaten

aufnehmen könnten. AMV-Pha, 300-23-1, Bl. 39-41, Stellungnahme des MS zu Handen des MV, o.D. (1950). 2011

NA, f. MV-NR, kr. 10949, sign. 199, Protokoll einer Besprechung über die bevorstehende

Haftentlassung und weitere Behandlung der Retributionshäftlinge vom 17.2.1950. 2012

Vgl. die Stellungnahmen aus dem März 1950 ebenda. 2013 SÚA, f. MV-D, kr. 222, Schreiben von Vlček (MV) ans MNB vom 8.7.1950.

Page 59: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

529

generell alle Fälle in Betracht zu ziehen, in der das Strafmass bis zu zehn Jahre betrug, bei den übrigen Fälle, in denen angesichts des begangenen Delikts oder des Gesundheitszustands „das Interesse an ihrer Abschiebung aus dem Republiksgebiet überwiegt“. Auf der Sitzung fielen auch Äusserungen, dass alte und arbeitsunfähige Häftlinge für die Gefängnisverwaltung nur „Ballast“ darstellten. „Wenn nicht die jetzige Situation zu ihrer Abschiebung genutzt wird, besteht die Gefahr, dass es in späterer Zeit nach ihrer Haftentlassung nicht mehr möglich sein wird, sie über die Grenze abzuschieben, womit die entlassenen Häftlinge auf lange Zeit oder gar dauerhaft der öffentlichen Fürsorge zur Last fielen.“ Argumentiert wurde auch damit, dass die bisherigen Erfahrungen ja gezeigt hätten, dass „in häufigen Fällen Deutschen angesichts der Art ihrer Verschuldung unverhältnismässig hohe Strafen auferlegt worden sind“. Die Frage der Haftentlassung und Aussiedlung deutscher Retributionshäftlinge hatte auch ihre bedeutende aussenpolitische Relevanz. Eine wichtige Forderung von Vertretern der Vertriebenen in der BRD betraf die Verbesserung der Haftbedingungen für die in ihrem Verständnis „politischen Häftlinge“ in der ČSR und vor allem deren Freilassung und Aussiedlung zum Zwecke der Familienzusammenführung. Dass bisher bereits an die 1.000 solcher Häftlinge nach Westdeutschland entlassen worden waren, so befürchtete man in Prag im Herbst 1950, könnte dort auch als Zeichen tschechoslowakischer Schwäche verstanden werden – in dem Sinne, dass diese Häftlinge nur unter dem Druck der westlichen öffentlichen Meinung freigelassen worden seien. Auf der erwähnten Sitzung Ende November 1950 wurde deshalb auch die Möglichkeit ins Auge gefasst, zukünftig freigelassene Retributionshäftlinge nur in die DDR auszusiedeln, um die Wirkung der westlichen „Propaganda zu paralysieren“. Dass „sozusagen alle Häftlinge, um die es geht, ihre Familienangehörigen in der Westzone haben“, änderte an diesen Überlegungen nichts. Zweitens erwartete man von solch einem Vorgehen eine bedeutende Stärkung des internationalen Prestiges des sozialistischen Nachbarn im Norden.2014 Tatsächlich wurde Ende 1950 festgestellt, dass die erwähnten Bedingungen für eine vorzeitige Haftentlassung bei wahrscheinlich mehr als der Hälfte der verbliebenen 5.561 deutschen Retributionshäftlinge gegeben wären. Die Mehrheit von diesen „Aussiedlungskandidaten“ hätte eine Haft bis maximal zum Jahre 1955 zu verbüssen gehabt. Das MS nahm aber den Standpunkt ein, dass Häftlinge mit mehr als zehnjährigen Strafen, auch wenn es sich um „vollkommene Lazarusse“ handeln sollte, grundsätzlich nicht in die laufende Aussiedlungsaktion nach Westdeutschland eingereiht werden sollten. Das inzwischen gegründete MNB dagegen äusserste sein Interesse an einer möglich hohen Zahl von ausgesiedelten deutschen Retributionshäftlingen. Anfang März wurde geschätzt, dass rund 60% aller deutschen Retributionshäftlinge im Sinne hatten, nach der Entlassung auszuwandern. Trotz der grundsätzlichen Einigkeit innerhalb der Prager Ministerialbürokratie und des Einverständnisses, ja eminenten Interesses der DDR-Vertretung in Prag an einer zukünftig über die DDR zu erfolgenden Aussiedlung deutscher Häftlinge verzögerte sich die Realisierung dieses Planes um Monate. Grund war die langwierige Überprüfung jeder einzelnen Person durch das MNB. Erst Anfang April 1951 gab schliesslich MNB-Minister Kopřiva sein Einverständnis mit der Aussiedlung von 114 solcher Personen in die DDR. In deren Fall war daran gedacht, dass diese dauerhaft dort verblieben. Für später geplante Transporte in die DDR war jedoch vorgesehen, dass deren Passagiere (entlassene Retributionshäftlinge) in die BRD weiterreisen könnten. Am 6.6.1951 wurden erstmals 111 ehemalige deutsche Häftlinge, die zuvor im Kreisgefängnis in Pilsen-Bory

2014 Vgl. SÚA, f. MV-T, kr. 22, geheimes Protokoll der Sitzung vom 24.11.1950.

Page 60: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

530

konzentriert worden waren, in die DDR ausgesiedelt. 2015 Zuvor waren nach einem Bericht der Abteilung II/3 des MV im Rahmen der „Aktion Link“ 1.217 ehemalige Retributionshäftlinge nach Westdeutschland ausgesiedelt worden, wobei betont wurde, dass sie alle „arbeitsuntauglich“ gewesen seien.2016 Mitte Juni 1951 wurde die Praxis eingeführt, alle bereits wegen Ablaufs der regulären Haftzeit entlassenen deutschen Retributionshäftlinge, die um die Aussiedlung nach Deutschland ansuchten, wie auch aus verschiedenen Gründen vorzeitig Entlassene ins Zwangsarbeitslager (TNP) Ostrau-Gross Kunzendorf (Kunčice) zu verlegen. Ende des Monats hielten sich schon 98 Retributionshäftlinge dort auf. Die Betroffenen empfanden diese Internierung als Ungerechtigkeit, und schreiben in einer Petition ans Justizministerium Anfang August, dass diese Art der Konzentrierung immer noch einer Art Haft entspreche. Die Mehrheit unter ihnen besass bereits Einreisegenehmigungen in die BRD oder DDR. In einem Brief an Präsident Gottwald von Ende August schrieben sie, dass „die Zerstörung der langfristigen Hoffnung“ auf die Zusammenkunft mit ihren Familien nach der Strafverbüssung „nicht ohne Folgen auf den Lebenswillen und überhaupt auf unsere psychische Kondition geblieben ist“. Die ehemaligen Häftlinge verstanden nicht, warum gerade sie, die sie doch meist nur wegen blosser Mitgliedschaft oder niederen Funktionen in NS-Organisationen verurteilt worden waren, nach der Haftverbüssung zurückgehalten werden. Ende September wurde zwar das TNP in Ostrau-Gross Kunzendorf aufgelöst, doch das Sammellager für die ehemaligen deutschen Häftlinge bestand weiterhin. Nach einem Bericht des MV über die Lage unter den in Ostrau festgehaltenen Deutschen waren diese bereits äusserst ungeduldig. Durch einen begonnenen Hungerstreik versuchten sie ihre Aussiedlung zu beschleunigen. 2017 Während die Staatssicherheit Anfang Oktober mitteilte, dass sie keine Einwände gegen die Aussiedlung von rund 350-400 Häftlingen in die DDR (und von dort ggf. weiter in die BRD) habe (freilich unter Ausschluss von früheren Gestapo- und SD-Angestellten und ohne Fachmänner in der Waffen- und Uranindustrie), so vertrat das MNB bald darauf einen rigideren Standpunkt als zuvor. Nun vertrat dieses einflussreiche Ressort die Meinung, dass eine Aussiedlung in die DDR nur dann in Frage käme, wenn die DDR garantiere, dass die Ausgesiedelten nicht in die BRD weiterziehen würden.2018 Getreu

2015 NA, f. MV-NR, kr. 10950, Protokoll einer interministeriellen Besprechung vom 4.4.1951; Ebenda, f. MV-D,

kr. 222, Statistische Übersicht über alle Aussiedlungstransporte von März 1950 bis Ende April 1951. Vgl.

auch STANĚK: Retribuční vězni, 123f. 2016 Bericht der Abteilung II/3 des MV über die Aussiedlungsaktion in den Jahren 1950 und 1951 vom April 1951,

Teil „E“, in: SÚA, f. MV-T, kr. 22. Vgl. STANĚK: Retribuční vězni, 120. – Das Justizministerium hatte auch

über den Winter 1950/51 kontinuierlich Listen von zur Ausreise nach Westdeutschland freigegebenen

ehemaligen Häftlingen ans MV gesandt, was bezeugen dürfte, dass diese auch in dieser Zeit weiterhin in die

Aktion „Link“ einbezogen worden waren. Vgl. die Listen aus dem Zeitraum vom 25.11.1950 bis zum

22.1.1951 in: NA, f. MV-NR, kr. 8069. 2017 SÚA, f. MV-T, kr. 22, Bericht des Vorstehers der Abteilung II/3 des MV an Spurný von Ende September

1951. 2018 Vgl. das Protokoll einer Beratung zwischen Vertretern des MS, MV und MNB vom 30.11.1951, auf dem

grundlegende Fragen bezüglich des weiteren Vorgehens in der Aussiedlung von entlassenen deutschen

Retributionshäftlingen besprochen wurden. SÚA, f. MV-D, kr. 222. Auf der Beratung wurde erwähnt, dass in

rund 20 Fällen entlassene deutsche Retributionshäftlinge, die auszureisen wünschten, noch immer ihre

Ehefrauen, ggf. auch Kinder in der ČSR hätten. Der MNV-Vertreter hatte keine Einwände dagegen, auch

deren Familienangehörige ausreisen zu lassen. Vorher müsse aber gründlich überprüft werden, „ob vielleicht

die Ehefrau mit dem Ehemann nicht nur deswegen ausgesiedelt werden möchte, um nach Deutschland zu

gelangen, wo sie ihren Mann dann verlässt.“ Deshalb sollten solche Ehen auf ihre andauernde

„Beständigkeit“ überprüft werden, „damit so keine Arbeitskräfte verloren gehen“. Ein StB-Vertreter, der mit

den Insassen des Lagers in Gross Kunzendorf in persönlichem Kontakt war, sagte, dass eine ganze Reihe von

diesen „die Bereitschaft geäussert“ habe, in der ČSR zu verbleiben, doch hindere sie daran der Umstand, dass

ihre Frauen und Kinder bereits nach Deutschland ausgesiedelt worden waren. Derselbe sprach daneben von

beträchtlichen Unterschieden zwischen der „politischen Reife“ der deutschen Retributionshäftlinge mit bzw.

ohne Tschechischkenntnissen. Auf der Beratung wurde auch beschlossen, in Fällen von Prominenten oder von

Page 61: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

531

dieser Forderung versprachen DDR-Vertreter Ende Oktober die Einhaltung dieses Grundsatzes. Der Wegzug der entlassenen Häftlinge aus der DDR in den Westen sollte durch Sicherheitsorgane verhindert werden. Nach dieser Garantieerklärung wurde am 27.12.1951 der seit Anfang Juni zweite Transport mit deutschen Retributionshäftlingen aus Ostrau nach Bad Schandau abgefertigt. Mit ihm reisten 252 Personen aus, 16 weitere waren zuvor wieder einmal „aus Staatssicherheitsgründen“ aus der Transportliste gestrichen worden. 2019 Die Haltung der tschechoslowakischen Justiz- und vor allem Sicherheitsorgane gegenüber der Aussiedlung von entlassenen Retributionshäftlingen blieb weiterhin äusserst vorsichtig. Am Prinzip der konzentrierten Zurückhaltung in Ostrau wurde nichts geändert, trotz stetigem „Zufluss“ neuer entlassener Personen (am 30.6.1951 war das dortige Sammellager bereits wieder mit 152 Personen gefüllt). Erst am 17.10.1952 wurde erneut ein Transport in die DDR abgefertigt, dieses Mal mit 93 Personen. Im Oktober änderte das MNB (dem das Lager in Ostrava nun unterstellt war) auch die Praxis bezüglich der Freilassung bzw. Aussiedlung von aus der Haft entlassenen Deutschen. Ausreisewillige Personen waren zwar weiterhin nach Ostrau zu überweisen, doch entlassene Deutsche im Besitze eines Versprechens über die Erteilung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft sollten wie tschechische und slowakische Häftlinge ohne Zwischenstadium freigelassen werden. Ende Oktober folgte eine weitere Liberalisierung, wonach die bedingte Entlassung in die Freiheit nicht mehr mit dem Versprechen über die Erteilung der Staatsbürgerschaft zusammenhängen sollte. Ende 1952 jedoch trat die Aussicht auf zusätzliche Aussiedlungen wieder in den Hintergrund, da den tschechoslowakischen Organen bekannt wurde, dass ehemalige Häftlinge aus beiden Ostrauer Transporten vom Dezember 1951 und Oktober 1952 – auch als Folge einer gewissen Benevolenz der DDR-Behörden – in grösserer Zahl in die BRD übersiedeln konnten. Das MNB beschloss daher, dass künftige Aussiedlungen nicht mehr in Frage kämen, da den Versprechen der ostdeutschen Seite nicht mehr zu glauben sei. Somit blieb es dabei, dass seit Ende der Einstellung der Aussiedlung von Retributionshäftlingen nach Westdeutschland im Rahmen der „Aktion Link“ bis Ende 1952 nur insgesamt 456 ehemalige deutsche Häftlinge in die DDR ausgesiedelt wurden.2020 Anfang 1953 wurden in der Tschechoslowakei noch 4.800 deutsche Retributionshäftlinge gezählt. Eine lebenslange Haftstrasse verbüssten 467 von ihnen. Die Blockade in der Aussiedlungsfrage bedeutete für zahlreiche getrennte Familien eine unerwartete Verlängerung der bisherigen Entbehrungen. Dies war den ČSR-Organen auch durch viele Briefe von deutschen Familien, die um die Aussiedlung ihrer haftentlassenen Männer bzw. Väter ansuchten, bekannt. Im Frühling 1953 stellte sich eine entscheidende Trendwende ein, die vor allem als Ergebnis des Tauwetters nach Stalins und Gottwalds Tod und konkret als Folge der Anfang Mai 1953 vom neuen Präsidenten Antonín Zápotocký ausgerufenen Häftlings-Amnestie zu sehen ist. Ende Mai gab auch die Staatssicherheits-Hauptverwaltung ihr Einverständnis damit, dass künftig ehemalige deutsche Häftlinge in den Teil Deutschlands ausgesiedelt werden könnten, wo ihre Familienangehörigen lebten. Dies sollte aber fürs ganze restliche Jahr noch keine Aussiedlungen bedeuten. Mitte 1953 waren bereits 237 frühere Häftlinge im Lager in Ostrau, davon suchten 235 um Aussiedlung an (204 in die BRD, 22 in die DDR, 9 nach

Angehörigen der SS, der Gestapo oder des SD eine Haftentlassung ins zivile Leben innerhalb der

Tschechoslowakei nur nach vorheriger Stellungnahme des MNB zuzulassen. 2019

STANĚK: Retribuční vězni, 124-131. Vgl. die Dokumentation über die Vorbereitung des Dezember-

Transports zwischen dem MV, MNB und Justizministerium sowie die Eintrittsvisa in die DDR mit

Personendaten und Fotos zu allen ausgesiedelten ehemaligen Häftlingen in: NA, f. MV-NR, kr. 10959. 2020 STANĚK: Retribuční vězni, 124-131.

Page 62: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

532

Österreich). Eine Komplikation in der Aussiedlungsfrage ergab sich durch das seit 7.5.1953 geltende neue Staatsbürgerschaftsgesetz (Nr. 34/1953 vom 24.4.1953), das allen Personen deutscher Nationalität mit dauerhaftem Wohnsitz in der Tschechoslowakei automatisch die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft verlieh. Die Behörden einigten sich auf die Interpretation, dass die Staatsbürgerschafsverleihung ex lege für ausreisewillige ehemalige deutsche Häftlinge nicht gelte. Die erwähnte Amnestie eröffnete die Möglichkeit, rund 1.500-1.700 deutsche Retributionshäftlinge zu entlassen (insgesamt, einschliesslich der Möglichkeit einer Haftverkürzung, sollten rund 2.500 von ihr betroffen sein). Die Staatssicherheit forderte aber, bei Amnestievorschlägen Deutsche, die in besonders wichtigen Industriezweigen arbeitseingesetzt waren (so in der Uranindustrie), besonders gründlich zu untersuchen. Ende Oktober spitzte sich die Situation im Sammellager Ostrau-Gross Kunzendorf weiter zu. Dessen Insassen drohten mit Streik, falls es nicht bald zu ihrer Aussiedlung käme. Wie selbst das MV feststellte, war die weitere Zurückhaltung dieser Personen in der ČSR „im Widerspruch zu unseren Gesetzen“. Einige der Zurückgehaltenen entlassenen Häftlinge wandten sich ans Oberste Verwaltungsgericht der ČSR und erinnerten an einen Beschluss der XVIII. Internationalen Rote-Kreuz-Konferenz von Toronto im Juli 1952, die auch von der Tschechoslowakei akzeptiert worden war. Der Beschluss des Politischen Sekretariats der KSČ vom 21.12.1953, mit der Aussiedlung der Lagerinsassen aus Ostrau bald zu beginnen, war nicht zuletzt auch im Kontext des tschechoslowakischen Interesses über die Abschliessung eines Handelsvertrags mit der BRD zu sehen.2021 Beginnend mit dem 15.1.1954 wurden anschliessend bis zum 26.3.1954 – immer in kleineren Gruppen von rund 20 Personen – in insgesamt elf Transporten weitere ehemalige deutsche Häftlinge ausgesiedelt. Die Transporte (von je einem Transport in die DDR und nach Österreich abgesehen gingen alle in die BRD ab) sollten jeweils mitten in der Nacht ankommen, um in der bundesdeutschen Presse und Öffentlichkeit möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erhaschen. Insgesamt wurden damit 251 Deutsche ausgesiedelt (davon 23 in die DDR und acht nach Österreich). Im September rechnete das Justizministerium weiterhin mit rund 1.218 ausreisewilligen durch die Amnestie vom Frühling 1953 zu entlassenden deutschen Retributionshäftlingen.2022 Die grösste Aussiedlungswelle brachte das Folgejahr. Waren Anfang März 1955 noch 2.160 deutsche Retributionshäftlinge in der ČSR zu verzeichnen (daneben 16 Österreicher), so waren es Anfang Dezember des gleichen Jahres nur noch 535. Grundlegend war der Beschluss des Politbüros des ZK der KSČ vom 10.1.1955, der die kontinuierliche Aussiedlung von entlassenen deutschen Retributionshäftlingen ermöglichte. Bisher in den Uranabbaugebieten von Joachimsthal, Schlaggenwald oder Příbram eingesetzte deutsche Häftlinge sollten aber vor der Ausreise noch ein halbes Jahr an einem anderen Ort sozusagen in „Quarantäne“ gehen. Diese Bestimmung betraf beinahe die Hälfte der verbliebenen deutschen Retributionshäftlinge. Den übrigen sollte die Ausreise innert Monatsfrist nach der Haftentlassung ermöglicht werden. Die Aussiedlunge begannen Ende April 1955 und wurden nun über Eger abgewickelt.2023 In den Kontext gehört die Erklärung des tschechoslowakischen Präsidenten Antonín Zápotocký vom 3.2.1955 über die Beendigung des Kriegszustandes mit Deutschland.2024 Ab Anfang Oktober reisten auch die ersten früheren „Uran-Häftlinge“ nach Deutschland

2021 Ebenda, 132-137; BOHMANN: Menschen und Grenzen, Bd. 4, 468f.; AMV-Pha, 310-117-6, Bl. 3f.,

Protokoll einer streng geheimen interministeriellen Beratung auf dem MZV vom 8.9.1953. 2022 STANĚK: Retribuční vězni, 137-141. – Vgl. zum Aufenthalt im Lager Mährisch Ostrau-Gross Kunzendorf im

Jahre 1953 und zur Aussiedlung Anfang 1954 den Erlebnisbericht in: Dokumentation der Vertreibung Bd.

IV/2, Nr. 125, 545-549. 2023

STANĚK: Retribuční vězni, 150-160. 2024

Abgedruckt in: VESELÝ: Československá zahraniční politika 1945-1989, 153f.

Page 63: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Sonder- und Spätaussiedlungen

533

aus. Bis zum 15.10.1955 waren bereits 1.170 Häftlinge ausgesiedelt worden (90 davon in die DDR, 34 nach Österreich, alle übrigen in die BRD), davon 113 aus den Uranfördergebieten stammende. Gleichzeitig entschieden sich 266 (davon 113 „Uran-Häftlinge“) der in der Zwischenzeit freigekommenen Häftlinge für einen dauerhaften Verbleib in der ČSR. Die Aussiedlungen liefen in der ersten Jahreshälfte 1956 weiter. Mitte Juni stellte das tschechoslowakische Rote Kreuz fest, das 1955/56 mehr als 2.000 frühere deutsche Häftlinge in insgesamt 72 Transporten ausgesiedelt worden waren (das MV bzw. MS sprachen Ende Juni für den gleichen Zeitraum von 2.056 bzw. 2.032 ausgesiedelten ehemaligen Retributionshäftlingen). Annähernd 1.800 Personen unter ihnen gelangten in die BRD. Unter den Deutschen, die in der Mitte der fünfziger Jahre die ČSR verlassen durften, befand sich auch eine grössere Zahl von ehemaligen Gestapo- und SD-Beamten. Es fehlten nicht Fälle prominenterer Personen, die ihr früheres aktives Engagement fürs NS-Regime gegen Dienstleistungen für das kommunistische Prager Regime ausgetauscht hatten. 2025 Anfang April 1956 wurden in tschechoslowakischen Gefängnissen nur mehr 62 Deutsche gezählt, Anfang Oktober 1957 noch sieben. Der letzte deutsche Retributionshäftling wurde 1968 freigelassen.2026

2025 STANĚK: Retribuční vězni, 150-160. – Vgl. zur Heimkehr der vormals in den Uranminen beschäftigten

deutschen Häftlinge: KARLSCH – ZEMAN: Urangeheimnisse, 67-69. 2026 STANĚK: Retribuční vězni, 159, 162 und 168.

Page 64: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

534

X. NATIONALITÄTENPOLITIK IM ZEICHEN DES

„PROLETARISCHEN INTERNATIONALISMUS“ (1950-1953)

1 Demographisches Profil der deutschen Bevölkerung zu Beginn der 50er Jahre Die erste reguläre Volkszählung seit 1930 fand in der Tschechoslowakei am 1.3.1950 statt. Zum ersten Mal beruhte die Registrierung der Nationalität auf einer subjektiven Selbstdeklaration,2027 so dass den Zählkommissaren im Vergleich zur Zwischenkriegszeit auf diesem Feld keine Vollmachten mehr zur „Korrektur“ der diesbezüglichen Angaben einer gezählten Person gegeben waren.2028 Da die Ergebnisse der Volkszählung von 1950 aus übertriebenen Sicherheitsgründen in gewohnt ausführlicher Form erst sieben Jahre später in einer streng limitierten Auflage für den Amtsgebrauch erschien, sind deren Ergebnisse auch in Bezug auf die deutsche Bevölkerung bislang in der Literatur nicht ausreichend berücksichtigt worden. In den böhmischen Ländern wurden zum 1.3.1950 insgesamt 159.938 Personen deutscher Nationalität gezählt (1.8% der gesamten anwesenden Bevölkerung), in der Slowakei bekannten sich nur mehr 5.139 Personen zur deutschen Nationalität.2029 Personen deutscher Nationalität in der ČSR nach offiziellem Ergebnis der Volkszählung vom 1.3.1950 nach Kreisen:

Kreis Personen absolut Personen relativ (in ‰)

Hauptstadt Prag 1.304 1.4

Prag (ohne Stadt Prag) 5.772 5.3

Budweis 5.889 11.8

Pilsen 7.569 13.7

Karlsbad 43.153 141.1

Aussig 29.190 46.7

Reichenberg 26.326 54.8

2027 In den infolge des „Münchener Abkommens“ 1938 reichsangeschlossenen Grenzgebieten wurde bereits bei

der Volkszählung vom Herbst 1939 die subjektive Bekenntnismethode gewählt. 2028

Nach den Anweisungen des MV an die Zählkommisare und Revisoren durften diese die zu

zählenden Personen auf keinen Fall bei der Bestimmung ihrer Nationalität beeinflussen. Einzig im

Fall, dass die Betreffenden zwei oder mehrere Nationalitäten anführte oder die keine Nationalität

angab, oder aber eine „nicht existierende“ Nationalität angab, waren die Zählorgane angewiesen,

die Betreffenden auf die „Unrichtigkeit“ ihrer Angaben hinzuweisen. Zeigte eine erneute

Aufforderung um Nennung der Nationalität ebenfalls keine Wirkung, so hatte der Zählkommissar

diesen Umstand in einem Vermerk festzuhalten. GABZDILOVÁ-OLEJNÍKOVÁ – OLEJNÍK:

Karpatskí Nemci, 153f. 2029 Sčítání lidu a soupis domŧ a bytŧ v republice Československé ke dni 1. března 1950, díl I. Nejdŧleņitějńí

výsledky sčítání lidu a soupisu domŧ a bytŧ za kraje, okresy a města (Čs. statistika, řada A, sv. 3), Praha 1957,

74. – Vgl. die Zahl der deutschen Bevölkerung zum 1.3.1950 nach der administrativen Einteilung des Jahres

1960 bei STANĚK: Německá menńina, 87f.

Page 65: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

535

Königgrätz 12.038 21.4

Pardubitz 1.807 4.2

Iglau 2.917 6.9

Brünn 6.116 6.5

Olmütz 10.049 16.7

Gottwaldov 723 1.2

Ostrau 7.085 8.6

Pressburg 1.573 1.9

Neutra 1.396 2.0

Neusohl 522 1.1

Sillein 1.070 2.1

Kaschau 535 1.1

Prešov 83 0.2

Insgesamt 165.117 1.34

Der seit den fünfziger Jahren vor allem von westdeutschen Autoren vorgebrachte und noch immer recht geläufige Einwand, dass diese Zahlen nicht vollständig seien, da viele „eigentliche“ Deutsche sich aus Angst vor Diskriminierungen nicht als solche, sondern als Tschechen oder Slowaken registrieren liessen, ist nur zum Teil berechtigt. Der individuell vorgenommene Nationalitätenwechsel je nach „Grosswetterlage“ oder lokalen Verhältnissen (in Mischgebieten) war in den böhmischen Ländern seit dem 19. Jahrhundert ein verbreitetes Phänomen. Was aber die (von den Behörden gebilligte) Abkehr vom Deutschtum und gleichzeitige Bekennung zum Tschechen- oder Slowakentum anbelangt, so fanden diese Prozesse zumeist schon 1945/46 statt.2030 Am meisten Personen, die vor 1918/20, teilweise in der Zwischenkriegszeit und vor allem in

2030 Dies scheinen die von Maria Rhode veröffentlichten Zwischenergebnisse einer aufwendigen statistischen

Analysierung des Phänomens Nationalitätenwechsel in der Tschechoslowakei von 1930 bis 1950 nicht zu

berücksichtigen. Die Autorin scheint sich insbesondere nicht ganz klar zu sein über das Prozdere des

Nationalitätenwechsel von Personen, die sich 1939 im „Reichsgau Sudetenland“ als Deutsche bekannten und

1950 als Tschechen meldeten. Die von ihr erwähnte Möglichkeit eines „stillens Wechsels“ war angesichts der

Notwendigkeit einer amtlichen Beglaubigung (vgl. Anm. 284 auf S. 88) kaum möglich, der von Rhode

erwähnte „Weg über die Wiedergewährung der tschechischen Staatsbürgerschaft nach der

Regierungsverordnung vom 29.11.1949“ war nicht gegeben, da sich deren Bestimmungen nur auf Personen

deutscher Nationalität bezogen und die Staatsbürgerschaftserteilung mit keinem Nationalitätenwechsel

verbunden war. Vgl. RHODE, Maria: Der Wechsel des nationalen Bekenntnisses in der Tschechoslowakei

1930-1950 und seine Bedeutung für die Zahl der sudetendeutschen Vertreibungsopfer, in: BRANDES –

IVANIČKOVÁ – PEŃEK (ed.): Erzwungene Trennung, 183-200, hier 193. Aufschlussreich sind aber Rhodes

vorläufige Ergebnisse über die Zahl und Struktur der Nationalitätenwechsler zwischen 1939 und 1950, die

sich nur auf das Gebiet des „Reichsgaus Sudetenland“ beziehen. So hätten in diesem Zeitraum etwa 91.000

Personen das Nationalitätenbekenntnis gewechselt (i.d.R. von deutsch zu tschechisch), fast zwei Drittel der

Wechsel seien weiblichen Geschlechts. Auch wenn die so hochrechnungsmässig ermittelte Zahl der

Wechseler durchaus plausibel erscheint, scheint Rhodes Auswahl von nur 32 Gemeinden auf dem Gebiet des

„Reichsgaues“ als recht dünn und bedürfte einer genaueren methodischen Begründung. Es ist nämlich

anzunehmen, dass der Nationalitätenwechsel in Gebieten, die vor dem Zweiten Weltkrieg bereits einen hohen

nationalen Mischcharakter besassen, ein besonders häufiges Phänomen war. Reflektiert werden solltel auch,

dass sich nach der Volkszählung von 1939 bis Kriegsende wahrscheinlich noch mehr bisher

„tschechische“ Personen als Deutsche deklarierten und nach dem Krieg wieder zum Tschechentum

zurückkehrten. Im Sinne der weiter unten folgenden Ausführungen ist Rhodes lapidarer Schluss, dass unter

Hinzurechnung der von ihr ermittelten Wechseler und 40.000 Hultschinern zu den 1950 amtlich ermittelten

etwa 160.000 Deutschen die Gesamtzahl aller Deutschen in den böhmischen Ländern ca. 290.000 betragen

habe, zu undifferenziert und höchstens im Kontext einer ohnehin auf Hochrenungswege gänzlich unmöglichen

Ermittlung der „Vertreibungsverluste“ zulässig. – Im „Protektorat“ sollen sich zum 1.3.1940 etwa 20.000

Tschechen „ihrer deutschen Abstammung erinnert“ haben und zum Deutschtum übergewechselt sein. Auch

hier ist zu vermuten, dass die Zahl dieser Personen während der Okkupation weiter anstieg. BRANDES:

Nationalsozialistische Tschechenpolitik, 132.

Page 66: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

536

der Besatzungszeit als „Deutsche“ galten und nach 1945 das nationale Bekenntnis wechselten, waren in den böhmischen Ländern unter den national gemischten Ehen und den national traditionell indifferenten Hultschinern, einigen verbliebenen Bewohnern des Teschener Gebietes und des südböhmischen Weitra-Gebiets (Vitorazsko) zu finden.2031 Die Gruppe der Personen, die sich beim Zensus von 1950 zum Deutschtum bekannten, war fast vollständig identisch mit der vom MV zuletzt Mitte Februar 1949 registrierten Personengruppe, die aus Sicht der Behörden Deutsche waren (damals wurden in den böhmischen Ländern 163.181 Deutsche, also nur rund 3.000 Personen mehr, verzeichnet, wobei 1949 noch einige Tausend Deutsche ausgesiedelt wurden). 2032 Ein weiteres Eingehen auf die Diskussion der vergangenen Jahrzehnte über die „tatsächliche“ Zahl der Deutschen in der Nachkriegstschechoslowakei erscheint mir überhaupt als wenig gewinnbringend, ja schon fast als komisch, da ich – wie einleitend erklärt – von der Prämisse ausgehe, dass sämtliche Einteilungen von Menschen in Nationalitäten keinen wissenschaftlichen Charakter haben können und der historischen Forschung nichts anderes übrig bleibt, als den Begriff der Nationalität bzw. Ethnizität ausschliesslich als soziales Phänomen zu begreifen. Daher ist die einzige Ebene, auf der es Sinn macht, mit ethnischen Gruppenbegriffen zu operieren die empirische, für die die zeitgenössischen amtlichen oder subjektiven Angaben darüber, „wer von wem als wer betrachtet wurde“ als einziger Ausgangspunkt dienen können. Die Eröffnung einer Meta-Ebene, in der – wie so oft in der bisherigen Literatur – untersucht werden soll, wie verlässlich die eine oder andere Angabe ist und wie viele Angehörige einer so genannten Nationalitätengruppe „wirklich“ auf einem Gebiet anwesend waren, ist Pseudo-Wissenschaft. 2033 Ein krampfhaftes Bemühen um Objektivität bezüglich der Fassbarmachung eines Gruppenbegriffes, der nicht objektivierbar zu machen ist, wäre nämlich von vorn herein zum Scheitern verurteilt.2034 Bereits 1950 zeichnete sich anhand der Zensusergebnisse der im Vergleich zu den anderen anwesenden Bevölkerungsgruppen äusserst anomale demographische Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung ab. Charakteristisch war einerseits das

2031 Von der anfänglichen Absicht, die Hultschiner pauschal als Deutsche zu behandeln, wurde 1945 bald Abstand

genommen. Die Zahl der als „deutsch“ geltenden Hultschiner betrug Mitte August 1945 noch 11.759

Personen (29 % aller Bewohner des Bezirks Hultschin), ein Jahr später handelte es sich nur noch um 2.180

Personen, Mitte Dezember 1946 galten nur noch 1.35% der Einwohner des Bezirks Hultschin als Deutsche

(543 Personen), nachdem etwa 3.000 von ihnen bei Kriegsende geflüchtet oder ausgesiedelt worden waren

(inkl. Hultschiner aus dem Bezirk Troppau-Land). Im Teschener Gebiet waren nach Kriegsende gegen

100.000 Einwohner in der „Deutschen Volksliste“ der NS-Besatzer eingetragen, die den „Grad des

Deutschtums“ einzelner Personen nach vier Kategorien bezeichnen sollten. Die Eintragung in der

„Volksliste“ konnte freiwillig oder unter starkem Druck geschehen sein. Angehörige des Typs 1 und 2 galten

als Deutsche mit reichsdeutscher Staatsbürgerschaft. Die übrigen waren deutschen Staatsbürgern nur teilweise

gleichgestellt (Angehörigen des Typs 3 wurde die reichsdeutsche Staatsbürgerschaft „versuchsweise“ auf zehn

Jahre zugeteilt). Die überwiegende Mehrheit dieser Personen wurde bis Ende 1946 rehabilitiert und damit

wieder als tschechoslowakische Staatsbürger anerkannt (insgesamt waren rund 80.000 Gesuche gestellt

worden). Nur 4.-6.000 von ihnen wurden als „Deutsche“ ausgesiedelt. GAWRECKI: Dějiny Českého Slezska,

Bd. 2, 423f.; SÚA, f. ÚPV-B, kr. 725, sign. 762.3, Bericht des ÚPV an Premier Fierlinger vom 1.6.1946 über

die Lösung der Situation der „Volkslisten-Träger“ im Teschener Gebiet. 2032 Nur in der Slowakei ist diese Aussage nicht zu bestätigen. Dort war die Zahl der Deutschen nach dem

Zensusergebnis von 1950 um ein Vielfaches tiefer als die Zahlen der Behörden über die Personen, die in ihrer

Sicht als Deutsche galten. Vgl. dazu auch: PEŃEK: Nemci na Slovensku, 267. 2033 Etwas anderes wäre die Feststellung von Angehörigen bestimmter Sprachgruppen, doch in Gebieten mit weit

verbreiteter Zweisprachigkeit wie den böhmischen Ländern und der Slowakei würde sich auch diese Art der

Unterscheidung von Menschen als nicht ganz unproblematisch erweisen. 2034 Vgl. einige weitere offizielle und geschätzte Angaben über die Vertretungsstärke der deutschen Bevölkerung

in der Tschechoslowakei in den 50er Jahren bei STANĚK: Německá menńina, 86-88, 90; BOHMANN:

Menschen und Grenzen, Bd. 4, 496f. und Ders.: Das Sudetendeutschtum in Zahlen, 251, Bohmann schätzte

die Zahl der Personen, die noch 1939 als Deutsche gezählt wurden (Angehörige des „bodenständigen

Sudetendeutschtums“) und sich 1950 als Tschechen bekannten auf 75.000 Personen.

Page 67: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

537

deutliche Übergewicht der weiblichen Bevölkerung (54.3% aller Deutschen in der ČSR waren Frauen), andererseits die starke Vertretung von Personen die über 40 Jahre alt waren (je höher die Altersgruppe, desto relativ stärker waren Deutsche im Vergleich zu Tschechen vertreten). Die deutsche Bevölkerung gliederte sich in 15.4% Kinder bis zu 14 Jahren, 48.6% Erwachsene zwischen 15 und 49 Jahren und 36% über 50-Jährige. Angesichts dieser Altersstruktur überrascht es nicht, wenn in den 50er Jahren die Zahl der Eheschliessung von Deutschen mit Nicht-Deutschen konstant im Steigen begriffen war. 2035 Ungefähr 54% aller Deutschen arbeiteten im Industriesektor (Angaben inkl. nicht-erwerbstätige Familienangehörige), 3% im Gewerbe, 16% in der Landwirtschaft, 13% waren allein stehend und nicht erwerbstätig (meist Betagte und chronisch kranke), der Rest arbeitete in anderen Zweigen. Von den Erwerbstätigen waren 89.6% Arbeiter (dělníci) – unter der tschechischen Bevölkerung aber nur rund die Hälfte davon (45.4%). Dieser Vergleich macht die fast restlose „Proletarisierung“ der deutschen Bevölkerung deutlich, die natürlich eine direkte Folge der Zeit der Entrechtung nach 1945 war.2036 Nach den Zensusangaben von 1950 war die überwiegende Mehrheit der verbliebenen deutschen Bevölkerung römisch-katholischen Glaubens (143.620 Personen). 6.666 waren ohne Glaubensbekenntnis, 5.389 waren deutsch-evangelisch, nur gerade 91 Deutsche bekannten sich zum israelitischen Glauben.2037 Nach Ende des Transfers sollen an die 150 deutsche Geistliche in den böhmischen Ländern verblieben sein, deren Zahl sich bis 1956 auf 130 verringerte und schliesslich bis 1965 auf 84 Personen gesunken war (Schwerpunkte lagen in den Bistümern Leitmeritz und Olmütz).2038

2 Sozialpolitische Massnahmen zur Verbesserung der existentiellen Lage der deutschen Bevölkerung Nach der von den Zentralbehörden Ende 1949/Anfang 1950 durchgeführten Inventarisierung bestehender diskriminierender Vorschriften oder Praktiken und dem grundsätzlichen ZK-Beschluss von Ende Februar 1950, der aussenpolitisch eine differenzierte Optik und innenpolitisch eine allmählich flächendeckende Lockerung in der „Deutschen Frage“ bedeutete, wurden vor allem in den ersten acht Monaten des Jahres 1950 und im Sommer des Folgejahres neue Normen unterhalb der Gesetzesebene erlassen, die eine weitgehende soziale Gleichbehandlung der anwesenden deutschen Bevölkerung zur Folge haben sollten. Diese normative Gleichstellung, die konzeptionell an die bereits im Herbst 1947 im „Ideenprogramm“ des Innenministeriums vorgeschlagenen Vorschläge anknüpfte, 2039 geschah wohlgemerkt ex nunc. Eine Wiedergutmachung von zu Unrecht ergangenen Besitzkonfiskationen, Lohnkürzungen und anderen sozialen Diskriminierungen der ersten fünf Nachkriegsjahre, die auf Normen beruhten, die inzwischen aufgehoben waren, wurde zwar in gewissen Fällen nicht ausgeschlossen, doch nur selten konsequent verfolgt. Ein limitierender Faktor für

2035 1950 sollen 33.5% der deutschen Bräute deutsche Männer geheiratet haben, 1955 nur noch 30%. Angaben

nach HERGET, Toni: Die Deutschen in der Tschechoslowakei seit 1945, Wien 1979, 20. Vgl. zum

Heiratsverhalten auch: BOHMANN: Menschen und Grenzen, Bd. 4, 505. 2036 Vgl. zur Alters-, Geschlechts- und Berufsstruktur der deutschen Bevölkerung die Angaben in: Sčítání lidu a

soupis domŧ a bytŧ v republice Československé ke dni 1. března 1950, díl II. Věkové sloņení a povolání

obyvatelstva, Praha 1958, 15, Tab 4b bzw. 146, Tab. 4b. Siehe auch die Angaben für die Gesamt-ČSR bei

STANĚK: Německá menńina, 94f. 2037 Sčítání lidu a soupis domŧ a bytŧ v republice Československé ke dni 1. března 1950, díl I. Nejdŧleņitějńí

výsledky sčítání lidu a soupisu domŧ a bytŧ za kraje, okresy a města (Čs. statistika, řada A, sv. 3), Praha 1957,

6, Tab. 13. 2038

GRULICH: Die Kirche im Sudetenland, 165f. 2039 Vgl. Punkte II und III des in dieser Studie bereits erwähnten 16-seitigen internen Memorandums des MV bei:

SÚA, f. MV-T, kr. 2, sign. T 1023/3.

Page 68: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

538

alle Verbesserungen im sozialen Bereich ist selbstverständlich in den allgemeinen Bedingungen einer stark nivellierten und am Anfang der 50er Jahre gerade besonders intensiv in einem von oben gelenkten weiteren sozialen Nivellierungsprozess stehenden Gesellschaft zu sehen. Bedeutete die gnadenlose Planierungspolitik des kommunistischen Regimes für weite Bevölkerungsschichten eine Statusverschlechterung, so muss die deutsche Bevölkerung – nur im relativen Sinne und mit grossen Einschränkungen – in der Gesamtheit als Gewinner dieses Politikkurses betrachtet werden. Vor allem durch einen Erlass des MV vom 31.3.1950 wurde eine qualitativ neue Etappe in der Deutschen- und Nationalitätenpolitik eingeleitet, deren Hauptgrundsatz es war, keine Diskriminierungen aufgrund der Nationalität mehr zuzulassen. Unter der Begründung, dass die „Frage der Deutschen mit dem Abschub, der Retribution und Konfiskation feindlichen Vermögens im Grundsatz gelöst“ sei, wurden die Nationalausschüsse aller Ebenen angewiesen, in ihrem Kompetenzbereich fortan keine „rassistischen oder chauvinistischen Auswüchse“ mehr zu dulden. Diese gäben der „ausländischen Reaktion“ nur unnötige Argumente für ihre anti-tschechoslowakischen Umtriebe. Ausdrücklich trug das MV den Nationalausschüssen auf, Personen deutscher Nationalität im Besitz und in der Nutzung der bisher bewohnten Häuser mitsamt Inventar zu belassen, keine Mitverträge mehr unter Hinweis auf die Nationalität aufzukündigen und schliesslich endgültig verschiedene gegebenenfalls noch bestehende Verbote (Besuch von öffentlichen Veranstaltungen, Einrichtungen, Wäldern und Parkanlagen usw.) aufzuheben. Zwischen Deutschen tschechoslowakischer Staatsbürgerschaft und Staatenlosen sei kein Unterschied zu machen. 2040 Diese Anweisungen wurden in den folgenden Monaten durch ebenfalls durch die Exekutive erlassene Normen zur Gleichstellung von Personen deutscher Nationalität im Sozialfürsorge-, Bildungs- und Gesundheitswesen ergänzt.2041 Ende Juli 1950 wurde der Fonds der Nationalen Erneuerung (FNO) vom Finanzminister beauftragt, künftig auch den Kauf der einzigen Güter, die im Zeichen der „Klassenpolitik“ überhaupt noch an Privatpersonen zugeteilt wurden (Familienhäuser und Kleingüter) durch Deutsche zuzulassen. Gleichzeitig erhielt der FNO die Anweisung, bei Restitutionsverfahren künftig in der deutschen Nationalität von Personen, die in der ČSR lebten, keine „nationale Unzuverlässigkeit“ zu erblicken, wobei der Fonds aber nach wie vor verpflichtet war, „die Prinzipien der Klassenpolitik anzuwenden“.2042

Das Jahr 1950 wurde somit zu einem Jahr der schnell vorwärts schreitenden und weitgehenden normativen Gleichstellung von Personen deutscher Nationalität, vor allem dann, wenn sie sich bereits um die Staatsbürgerschaft beworben hatten. Das MV konnte Ende 1950 an KSČ-Generalsekretär Slánský melden, dass nach Sondierung bei allen Ressorts sämtliche rechtlichen Diskriminierungen bis auf die noch immer grösstenteils ungelöste Konfiskations- und Zuteilungsfrage und ein paar andere finanzielle Aspekte beseitigt worden seien. Betreffs des verbleibenden Problemgebietes wurde festgestellt, dass „eine völlige Beseitigung der Ungleichheit mit ziemlich beträchtlichen Ausgaben aus der Staatskasse verbunden wäre“ (Auszahlungen aus den konfiszierten gebundenen Einlagen, Ergänzungszahlungen im Sozialversicherungsbereich). Das MV schlug nun dem Partei-ZK vor, eine Massnahme zu verabschieden, die die Aufhebung der Konfiskation von Familienhäusern ermöglichte, wenn darin noch immer ihre früheren

2040 AMÚ, f. JNV Ústí n.L., kr. 9, sign. 49; vgl. auch STANĚK: Německá menńina, 104. – Zur Genese des

Zirkulars vgl. NA, f. 100/4, sv. 19, a.j. 137, Bl. 35-36, Schreiben des stellvertretenden Innenministers Ervín

Polák an Marie Ńvermová (ZK der KSČ) vom 15.3.1950. 2041 Vgl. die näheren Erläuterungen dieser Bestimmungen bei: KUČERA: Rechtliche und soziale Stellung, 331f. 2042 SÚA, f. MV-T, kr. 40, sign 320, geheime Beilage des Schreibens von Finanzminister Kabeń an Nosek vom

25.7.1950.

Page 69: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

539

deutschen Eigentümer hausten. Gleichzeitig sollte normativ die Zuteilung von bisher nicht zugeteilten und unbewohnten konfiszierten Häusern an Bürger deutscher Nationalität ermöglicht werden (bislang war nur die Belassung in der Nutzung möglich, die Eigentumszuteilung von kleinen Gewerbebetrieben und Einfamilienhäusern aus dem Konfiskationsgut war nach 1947 verabschiedeten Normen selbst für „Slawen“ nur mittels einer vom MV und MNO erteilten Ausnahmebewilligung möglich, wenn diese mit einem oder mehreren Deutschen oder Magyaren im gemeinsamen Haushalt lebten).2043 Das MV und die kommunistischen Parteiorgane hatten die Möglichkeit einer Änderung der sensiblen Konfiskationsbestimmungen vorher bereits sorgfältig sondiert. Eine Übersicht des MV vom November 1950 spricht in den sechs Kreisen Aussig, Reichenberg, Pilsen, Gottwaldov, Karlsbad und Ostrau von insgesamt 6.781 bisher an niemanden zugeteilten Häusern, die noch von ihren ursprünglichen deutschen Besitzern bewohnt würden. Daneben ist die Rede von 2.920 Häusern, die zwar schon zugeteilt worden seien, in die jedoch der „slawische“ neue Eigentümer noch nicht eingezogen sei (die letzte Zahl lag nach Ansicht des MV aber tatsächlich deutlich niedriger). 2044

Gleichzeitig wurde gegen Ende 1950 vom MV der Entwurf eines Zirkulars mit Richtlinien über die bald darauf „Dekonfiskation“ genannte Ermöglichung der Konfiskations-Aufhebung und Eigentumszuteilung von Einfamilienhäusern ausgearbeitet.2045 Dieser wurde – vielleicht auf Geheiss des ZKs – im Frühling 1951 angesichts seines heiklen Inhalts nochmals stilistisch verändert, ohne dass jedoch grundsätzliche inhaltliche Änderungen vorgenommen wurden. Ende Mai 1951 schickte Nosek den neuen Entwurf dem Partei-ZK zur Genehmigung.2046 Am 12.6.1951 wurden die Richtlinien vom MV schliesslich den Nationalausschüssen zugeleitet. Eingeleitet wurden diese durch schön klingende Phrasen über die Einhaltung der Verfassungsgrundsätze über die Gleichbehandlung aller Bürger der Republik. Erinnert wurde daran, dass Deutsche im Grenzgebiet oft „Pioniere der Arbeit“ seien und dass die Rückgabe von konfiszierten Familienhäusern (also solche wurden Häuser mit maximal zwei kleineren Wohnungen bezeichnet) bei diesen „das Bewusstsein stärkt, dass der volksdemokratische Staat sich um sie kümmert“. Erwartet wurde von der Aktion nichts Geringeres als die Entstehung eines „Gefühls der Rechtssicherheit für alle Bürger“. Die Richtlinien selbst beriefen sich wiederum auf die Mai-Verfassung des Jahres 1948 und mahnten an, das Konfiskationsdekret Nr. 108/45 in diesem Sinne „auszulegen“. Dies hiess, dass keine weiteren Konfiskationsbescheide über Familienhäuser ausgestellt werden durften, wenn in diesen noch ihre ursprünglichen deutschen Bewohner wohnten. Möbel und anderes Wohnungszubehör durfte Deutschen nicht mehr beschlagnahmt oder auf andere Weise weggenommen werden. Die Konfiskations-Aufhebung von Familienhäusern, die noch von ihren ursprünglichen deutschen Eigentümern bewohnt wurden und noch nicht an Bürger „slawischer“ Nationalität zugeteilt worden waren, nahm der ONV vor – Bedingung war aber, dass die betreffenden Deutschen tschechoslowakische Staatsbürger waren oder sich im Besitz einer Bescheinigung über deren Beantragung befanden und „sich nach ihren Möglichkeiten an der Aufbauarbeit

2043 SÚA, f. 100/1 ÚV KSČ, sv. 49, a.j. 374, Bl. 134-137, Schreiben von Papeņ an Slánský vom 19.1.1951, als

Beilage Nr. 3 der zitierte Bericht des MV vom 15.12.1950. – Zu den erwähnten Zuteilungsbestimmungen vgl.

Gesetz Nr. 31/1947 und die Regierungsanordnungen Nr. 106 und 163/1947. Eine Ausnahmebewilligung

durfte nicht erteilt werden, wenn die zugeteilten Güter im Grenzgebiet lagen und bei Vorliegen einer

„Mischehe“ diese nach dem 21.5.1938 geschlossen worden war. 2044 SÚA, f. MV-N, kr. 30, č.j. 2622, i.č. 25. – Zum Vergleich: Ende 1947 erwähnte der leitende OÚ-Mitarbeiter

Dr. Rubina gegen über seinen sozialdemokratischen Genossen, dass bisher noch 10.000 konfiszierte

Einfamilienhäuser von Deutschen bewohnt seien (von insgesamt 203.000). A ČSSD, f. 71, a.j. 166, Bl. 31-33,

hier 31, Protokoll der Sitzung der ČSSD-Besiedlungskommission vom 19.12.1947. 2045 Ebenda, vertraulicher Entwurf der Abteilung IV/2 des MV, undatiert (November oder Dezember 1950). 2046 SÚA, f. 100/1 ÚV KSČ, sv. 49, a.j. 374, Bl. 167-170, Schreiben von Nosek an Slánský vom 22.5.1951 mit

Beilage.

Page 70: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

540

des tschechoslowakischen Volkes beteiligen“. Komplizierter gestaltete sich die „Dekonfiskation“, wenn die betreffenden Häuser zwar noch von den ursprünglichen deutschen Eigentümern bewohnt wurden, aber rein formal schon an jemanden anderen zugeteilt waren. In diesem Fall sollte eine dreiköpfige Kommission von Vertretern des ONV, Bezirks-Aktionsausschusses und der Gewerkschaften eine Vereinbarung zwischen den beiden involvierten Partei zu vermitteln versuchen (in den Bezirken mit besonders vielen Deutschen, wo im Herbst 1950 sog. „Koordinationskommissionen für die Nationalitätenfrage“ eingerichtet worden waren, behandelte sämtliche „Dekonfiskations“-Fälle dieses Gremium). Falls keine Einigung erzielt werden konnte, sollte der KNV entscheiden. „Slawische“ Bürger, die zugunsten eines Deutschen auf ein bereits zugeteiltes Haus verzichten mussten, hatten Anrecht auf ein Ersatzhaus. Auch Deutschen, die nicht mehr in ihren angestammten Häusern wohnten, durften fortan konfiszierte Häuser zugeteilt werden. In diesem Fall wurde vom zu entrichtenden Übernahmepreis der Wert des ihnen zuvor konfiszierten eigenen Hauses abgezogen. Ausdrücklich wiesen die Richtlinien schliesslich darauf hin, dass sich an der Konfiskation von Häusern, die nicht mehr von ihren ursprünglichen deutschen Eigentümern bewohnt wurden, nichts ändere.2047 Ersparnisse und im Sperrdepot hinterlegte Wertgegenstände sowie Versicherungsansprüche wurden nach wie vor nicht zurückerstattet, wobei aber Anträge auf Rückgabe von konfiszierten Sparguthaben „in besonders begründeten Fällen“ beim Finanzministerium gestellt werden konnten. Eine generelle Freigabe der „gebundenen“ (gesperrten) Kontoguthaben wurde abgelehnt.2048 Wie rigide die Praxis des Finanzministeriums aber war, zeigt die Tatsache, dass selbst für die diejenigen (meist betagten und arbeitsunfähigen) Deutschen, die mit einer monatlichen Unterhaltszahlung von nur 700 Kronen auszukommen hatten, keine Verwendung von ihren oft beträchtlichen gesperrten Ersparnissen machen konnten. Diese Menschen, deren Angehörige sich oft bereits in Deutschland befanden, konnten sich in vielen Fällen nur durch privat gewährte Almosen über über Wasser halten. 2049 Das Landwirtschaftsministeriums hatte seine unterstellten Organe schon Ende Juli 1950 (durch das Zirkular Nr. 859 vom 29.7.1950) angewiesen, dass konfisziertes „kleines landwirtschaftliches Eigentum“ (darunter fielen sowohl kleinste landwirtschaftliche Anwesen wie auch Gärten, die beide nur zur eigenen Versorgung dienten) an Deutsche zurückgegeben werden konnte, sofern dieses noch nicht zugeteilt war und die Deutschen noch darauf lebten. Dabei sollten besonders Deutsche ausgewählt werden, die „ein gutes Verhältnis zur volks-demokratischen Ordnung“ hatten. Laut Information des Finanzministers war eine Rückgabe sogar möglich, wenn die betreffenden Güter bereits im Besitz eines Tschechen waren. Ob in der Praxis allerdings solche Fälle realisiert wurden, ist nicht bekannt.2050

2047 ZA Opava, f. OÚ-FNO, kr. 10, i.č. 18, Zirkular des MV vom 12.6.1951 mit den zitierten Richtlinien. 2048 KUČERA: Rechtliche und soziale Stellung, 333; SÚA, f. MV-T, kr. 40, sign 320, geheime Beilage des

Schreibens von Finanzminister Kabeń an Nosek vom 25.7.1950. 2049

SOA Litoměřice, f. KNV Liberec, kr. 31, i.č. 669, Bericht des zuständigen Referenten für die

Sitzung des KNV-Rates Reichenberg vom 30.10.1951. 2050 Ebenda, Schreiben des Sekretariats des Landwirtschaftsministers an Nosek vom 22.7.1950; geheimes

Schreiben von Finanzminister Kabeń an Nosek vom 31.8.1950. – Nach einer bereits älteren Angabe vom

11.4.1947 wurden zu dieser Zeit 694 landwirtschaftliche Anwesen verzeichnet, die ursprünglich im Besitz von

deutschen Spezialisten waren (i.d.R. handelte es sich hier um Kleinstbetriebe). Daneben wurden 900 Anwesen

von Antifaschisten erwähnt. SÚA, f. MZ-IX. odbor po roce 1945, kr. 3, i.č. 4, vertrauliches Protokoll einer

interministeriellen Besprechung vom 11.4.1947 über die Frage der Belassung von landwirtschaftlichem Besitz

an deutsche Spezialisten. Nach einem Zirkular des Nationalen Bodenfonds (NPF) vom 25.2.1949 war noch

immer eine unbestimmte Zahl von Deutschen auf ihren angestammten doch konfiszierten Höfen wirtschaftend,

freilich nur in Gebieten, wo bisher keine Siedler Interesse dafür bekundet hatten. SÚA, f. NPF, kr. 4, i.č. 6,

Zirkular des NPF Nr. 20/49 an seine Aussenstellen.

Page 71: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

541

Die durchgesetzten Massnahmen reformierten zwar die 1945 und endgültig erst 1947 verabschiedeten, auf ethnischen Kriterien beruhenden Zuteilungsbestimmungen von Familienhäusern, Wohnungseinrichtungen und kleinen Bauerswirtschaften wesentlich, doch bedeutete die Bestimmung, dass ein ursprünglicher deutscher Eigentümer die Jahre der Wirren seit Frühling 1945 unbeschadet in seinem angestammten Haus durchlebt hatte (oder wieder in dieses zurückgekehrt war), eine sehr grosse Einschränkung. Die übergrosse Mehrheit der deutschen Bevölkerung war seit 1945 gleich mehrmals „umgezogen worden“, selbst wenn dies nicht mit einer Zwangsumsiedlung ins Landesinnere verbunden war, und konnte daher nicht auf die Rückgabe ihrer Häuser hoffen (in Frage kam für diese Menschen nur der Kauf eines anderen Hauses, soweit noch vorhanden und soweit sie dieses angesichts ihrer meist sehr geringen Kaufkraft überhaupt bezahlen konnten). Das lange Abwarten der Behörden und die nicht zu übersehende Vorsichtigkeit, ja Zaghaftigkeit, mit der an den Besitzverschiebungen im Namen der „Präsidentendekrete“ („Beneš-Dekrete“) am Rande etwas geändert werden durfte, stand für die grosse Angst in Partei- und Regierungskreisen vor einer ablehnenden Reaktion der tschechischen und slowakischen Bevölkerung. 2051 Eine weitergehende „Aufweichung“ der Konfiskationsmassnahmen oder gar eine Entschädigung wurde vom Regime aus wirtschaftlichen und politischen Gründen nach wie vor strikt abgelehnt.2052 Dementsprechend bescheiden fielen die Ergebnisse der „Dekonfiskation“ aus. Diese wurde vor Ort, meistens auf Ebene der erwähnten „Koordinierungskommissionen für die Nationalitätenfrage“, umgehend umgesetzt. Ihr zeitlicher Schwerpunkt lag im Zeitraum von Sommer 1951 bis ungefähr Ende 1953. Da keine Übersichtszahlen der Zentralbehörden über den Gesamtverlauf der „Dekonfiskation“ zur Hand sind, mögen zur Veranschaulichung einige Teilergebnisse dienen. Im ganzen Karlsbader Kreis wurden bis Ende November 1951 nur gerade 720 Häuser „dekonfisziert“.2053 Im Bezirk Gablonz waren bis Ende August 1951 von 58 strittigen Konfiskationsfällen, die Personen betrafen, denen die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft „bewahrt“ worden war (Antifaschisten), auf dem Verhandlungsweg nur 30 Fälle gelöst worden. Auf der Sitzung des KNV-Rates in Reichenberg vom 21.8.1951 wurde auch festgestellt, dass nicht alle „Koordinationskommissionen“ regelmässig Sitzungen einberiefen und somit die „Dekonfiskation“ auch deswegen nicht richtig in Fahrt kam. 2054 Im November 1953 waren im Kreis Reichenberg noch 167 Konfiskationsfälle zur Überprüfung hängig und es

2051 Nach einer Erkundung vom 18.-20.7.1951 in den Bezirken Königgrätz, Dvŧr Králové, Trautenau, Náchod und

Senftenberg stellten Repräsentanten des MV fest, dass die Existenz des MV-Erlasses vom 13.6.1951 der

tschechischen Öffentlichkeit bekannt geworden sei und dass dessen Inhalt so auslegten, dass bereits

zugeteilter Besitz Deutschen, die die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erteilt bekämen, zurückgegeben

werden müsse. Diese Interpretation habe dazu geführt, dass ein gewisser teil der tschechischen Öffentlichkeit

nun mit noch grösserem Misstrauen und Voreingenommenheit auf die Deutschen schaue. SÚA, f. MV-D, kr.

1284. 2052 So schickte Finanzminister Kabeń am 25.7.1950 ein Memorandum, in dem sein Ministerium darauf hinwies,

dass „es kein wie auch immer gearteter Durchbruch der Konfiskationsmassnahmen politisch und

wirtschaftlich vertretbar wäre [und] dass [damit] die Ergebnisse der Besiedlungspolitik gefährdet wären [und]

dass unerwünschte Folgen hinsichtlich der internationalen Gültigkeit der Konfiskationen eintreten könnten“.

Zudem sei nicht sicher, ob für einen allfälligen Ersatz des konfiszierten Besitzes die Mittel des Fonds der

Nationalen Erneuerung (FNO) überhaupt genügten. Aus dem gleichen Papier geht hervor, dass der FNO Ende

Juli 1950 vom Finanzministerium die Anweisung erhielt, bei Restitutionsverfahren künftig in der deutschen

Nationalität von Personen, die in der ČSR lebten, keine „nationale Unzuverlässigkeit“ zu erblicken, wobei der

Fonds aber „nach wie vor verpflichtet ist, die Prinzipien der Klassenpolitik anzuwenden“. SÚA, f. MV-T, kr.

40, sign 320, geheime Beilage des Schreibens von Kabeń an Nosek vom 25.7.1950. 2053 SÚA, f. MV-D, kr. 1284, Bericht über die Durchführung der Nationalitätenpolitik im Karlsbader Kreis, 19.-

22.11.1951. 2054 SOA Litoměřice, f. KNV Liberec, kr. 30, Protokoll der Sitzung des KNV-Rates vom 21.8.1951.

Page 72: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

542

wurde damit gerechnet, dass diese bis Ende Jahr erledigt werden könnten.2055 Im Bezirk Tetschen wurden im Jahr 1952 insgesamt 800 Fälle vom ONV-Wirtschaftsreferat behandelt, davon waren zu Jahresende 360 noch ungelöst. Nur bei 16 Fällen war die Einschaltung der „Koordinationskommission“ notwendig.2056 Im Bezirk Aussig wurden bis Jahresende 1952 von deutschen Bürgern 265 Gesuche um Aufhebung einer Konfiskation und Rückgabe von Familienhäusern eingereicht. Positiv beschieden wurden 151 Gesuche, abgelehnt wurden 32, die restlichen wurden noch von auf der KNV-Koordinationskommission oder auf anderen Stellen behandelt. Die „Dekonfiskations“-Bestimmungen waren nach Information der Bezirksverwaltung in Aussig anfänglich bei einigen MNV „auf Unverständnis gestossen“, doch wurde Ende 1952 der Verlauf der Aktion durchaus positiv bewertet. 2057 Im Kreis Budweis bestand keine statistische Übersicht über die gelösten Fälle, da die Nationalausschüsse angeblich keine Evidenz führten. Nach einem Bericht aus dem November 1952 waren die fraglichen Häuser bereits an „slawische“ Empfänger zugeteilt und geeignete Ersatzobjekte fehlten, womit Gesuchen der deutschen Bevölkerung nicht entsprochen werden könne.2058

In der zweiten Jahreshälfte 1951 wurde von den Behörden auch eine gewisse Entschädigung für konfiszierte und bereits zugeteilte bewegliche Güter (hauptsächlich Wohnungseinrichtungen) erwogen. Eine endgültige Entscheidung über die Handhabe in dieser Frage wurde aber bis Mitte Dezember nicht getroffen.2059 Eine Entschädigung in natura gestaltete sich auch in diesem Bereich sehr schwierig, da die meisten Konfiskate inzwischen vom Fonds der Nationalen Erneuerung an „slawische“ Bürger zugeteilt waren. Für finanzielle Entschädigungen fehlte das Geld oder die Bereitschaft, dieses aufzuwenden. Trotzdem wurden im Laufe der 50er Jahre offenbar einzelne Entschädigungen geleistet, besonders in Fällen, in denen es zu Unrecht zu einer Konfiszierung gekommen war (Antifaschisten). Der zuständige Referent des KNV Reichenberg sprach sich im Januar 1952 dafür aus, Antifaschisten in Ausnahmefällen ihr Eigentum in natura zurückzugeben, wenn der gegenwärtige Besitzer nachweislich an der unrechtmässigen Konfiszierung beteiligt war. 2060 Waren die Wohnungseinrichtungsgegenstände bereits an andere Personen zugeteilt, so wurden Ersatzzahlungen geleistet, die sich freilich nach den weit unter Marktwert liegenden „sozialverträglichen“ Zuteilungspreisen der Jahre 1946-1951 richteten. Wie der ONV in Saaz im März 1952 berichtete, seien die früheren deutschen Eigentümer mit dieser Praxis ganz und gar nicht einverstanden, denn die Ersatzzahlungen erreichten nicht einmal einen Zehntel des aktuellen Kaufpreises für die entrissenen Güter.2061 In einem internen Bericht aus dem Jahre 1957 ist die Rede davon, dass Entschädigungen für konfiszierten

2055 SOA Litoměřice, f. KV KSČ Liberec, kr. 37, Protokoll der Sitzung des KSČ-Kreisausschusses vom

12.11.1953, Beilage: Bericht des zuständigen KNV-Referenten über die Lage der deutschen Bevölkerung im

Kreis Reichenberg. 2056 SOkA Děčín, f. ONV Děčín, kr. 49, Bericht des ONV-Referats III an den KNV in Aussig vom 31.12.1952.

Die reichhaltigen Aufzeichnungen ebenda aus den Jahren 1951 bis 1953 über die Lösung der

Nationalitätenfrage bezeugen zahlreiche Fälle, in denen die „Koordinationskommission“ zu vermitteln

versucht hatte. 2057 AMÚ, f. JNV Ústí n. L., kr. 337, Bericht des JNV (Jednotný národní výbor) Aussig an den KNV Aussig vom

30.12.1952. 2058 SÚA, f. MV-D, kr. 1284, Bericht über eine Erkundung in Sachen Nationalitätenpolitik im Kreis Budweis vom

5.-8.11.1952. 2059 Vgl. die Hinweise auf diesbezügliche Verhandlungen zwischen Nosek, Spurný und verschiedenen KNV-

Vertretern in: SOA Litoměřice, f. KNV Ústí n.L., kr. 83, Protokoll der Sitzung des KNV-Rates vom

11.12.1951. 2060 SOA Litoměřice, f. KV KSČ Liberec, kr. 26, Elaborat „Probleme der Nationalitätenpolitik im Reichenberger

Kreis und deren Lösung“, Januar 1952. 2061

SOA Litoměřice – Pobočka Most, f. KNV Ústí n.L., kr. 1699, i.č. 946, Schreiben des ONV Saaz an

den KNV in Aussig vom 17.3.1952. Vgl. zur „Dekonfiskation“ von beweglichen Gütern die

Berichte aus der ersten Jahrehälfte 1952 aus weiteren Bezirken des Kreises Aussig.

Page 73: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

543

Besitz nur noch in sozial begründeten Fällen geleistet würden. Nach der Währungsreform von 1953 wurden Entschädigungen im Verhältnis von 50:1 berechnet. Für ein Familienhaus wurden minimal 4.000 Kronen bezahlt, andere Immobilien wurden grundsätzlich nicht entschädigt. Für bewegliches Gut wurden höchstens 2.500 Kronen vergütet (Angaben in der neuen, nach der Währungsreform von 1953 gültigen Währung). Unter diesen Bedingungen wiesen realisierte Entschädigungen nur mehr einen geringfügigen Wert auf, da sie von dem Verkaufswert eines konfiszierten Gutes in der zweiten Hälfte der 40er Jahre ausgingen.2062 Im Rahmen der „Dekonfiskation“ waren die Behörden in den frühen 50er Jahren mit einer grossen Zahl von Gesuchen um Rückerstattung von zu Unrecht getätigten Lohnabzügen oder nicht ausbezahlten Lohnzulagen (für Bergarbeiter) im Zeitraum von Ende 1945 bis in den Frühling 1948 konfrontiert. Die 20%igen Lohnabzüge und sonstigen Einsparungen (z.B. infolge nicht gewährten Urlaubs), die die Beschäftigung von deutschen Arbeitskräften in den ersten Nachkriegsjahren für tschechische Arbeitgeber bedeuteten, hätten eigentlich an die zuständigen Nationalausschüsse abgeführt werden sollen, doch war die Einforderung dieser Gelder durch die Staatsorgane mehr ein Anspruch denn Wirklichkeit (Ende 1950 soll der „Zahlungsrückstand“ der Arbeitgeber insgesamt 46.079.272 Kronen betragen haben). Während die Motivation des MV die aktuellen Interessen der Nationalitätenpolitik darstellten, für die man aber in diesem Fall nicht kompetent sein wollte, so war für das MNB die 1950 widerwillig übernommene Agenda ein lästiger Klotz am Bein, für den man weder 1952 noch 1953 Mittel im Budget einplante. Halbherzige Pläne um (teilweise bzw. pauschale) Rückvergütung der Abzüge an die Betroffenen rechneten mit verschiedenen Szenarien. Nach der Schätzung des MNB vom Juni 1953 kamen etwa 6.000 Rückzahlungsfälle in Frage, sollte nur Gesuche von Personen berücksichtigt werden, denen die Lohnsteuer seinerzeit nachweislich gegen die geltenden Normen abgezogen worden war (bei einer durchschnittlich angenommenen Rückzahlungssumme von 8.000 Kronen hätten sich 48 Millionen Kronen in „alter“ Währung ergeben). Sollte die ganze verbliebene deutsche Bevölkerung in die Rückzahlungen eingeschlossen werden, so wurde grob geschätzt mit einem Aufwand von rund 460 Millionen Kronen gerechnet. In diesem Falle hätte die Rückzahlung aber qualitativ eine neue Form angenommen und nichts weniger als die Revision von seinerzeit rechtlich einwandfreien Abzügen bedeutet. Am Ende kam es nie zu einer breit angelegten Rückzahlungsaktion. (Gemäss Angaben des MNB vom Juni 1953 waren aber in den vergangenen Jahren ungefähr 2.000 Personen ungerechtfertigte Abzüge zurückgezahlt worden.) Nach der Währungsreform im Frühling 1953 war die Angelegenheit endgültig passé, da die früheren Ansprüche in ihrem Nominalwert nun auf einmal auf das 50fache geschrumpft waren.2063

2062 SÚA, f. ÚPV-B, kr. 720, sign. 753, i.č. 2908, Aufzeichnung für eine Verhandlung auf dem ZK der KSČ vom

22.11.1957 über Anfragen aus dem Ausland über das Schicksal von zu Unrecht konfisziertem und von

Antifaschisten hinterlassenen Besitzes. Vgl. auch KUČERA: Rechtliche und soziale Stellung, 333 und

STANĚK: Německá menńina, 105f, der erwähnt, dass nach einem Bericht aus dem Jahr 1954 die

„Dekonfiskations-Aktion“ unter der deutschen wie tschechischen Bevölkerung ein „unverhältnismässiges

Echo“ und „viel Verwirrung“ ausgelöst habe. 2063 Ebenda, 106f.; SÚA, f. MV-D, kr. 1281, Aufzeichnung des MV vom 29.11.1952; geheime Analyse des MNB

über die Frage der Lohnabzüge, Beilage des Schreibens ans Finanzministerium vom 12.6.1953. Das MV

schrieb am 19.6.1953 ans MNB, dass zwar immer noch ein gewisser Teil der Deutschen über die Rückzahlung

des 20%igen Lohnabzuges spreche und Gesuche einreiche, doch habe sich die Mehrheit der deutschen

Bevölkerung damit abgefunden, dass die Abzüge nicht zurückgezahlt würden. Eine Rückzahlung im

Verhältnis von 50:1 sei darüber hinaus sicherlich auch kein Gewinn für die Nationalitätenpolitik, da man dann

mit dem Vorwurf rechnen müsse, dass absichtlich bis zur Währungsreform gewartet worden sei. Eine solche

Aktion würde nur unnötig in einer Wunde stochern, die schon aufgehört habe zu heilen. Deswegen vertrat das

MV den Standpunkt, dass die 20%igen Lohnabzüge notwendigerweise zu den „schwer

Page 74: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

544

3 Die Folgen des neuen Kurses für die Zwangsumgesiedelten Aus zahlreichen Berichten über die Stimmung der deutschen Bevölkerung in der ersten Hälfte der 50er Jahre ergeht, dass das Hauptanliegen der arbeits- und sozialrechtlich schrittweise gleichberechtigten Deutschen die ungelöste Konfiskationsfrage war. 2064 Nicht wenige erhofften sich vom Schritt der Beantragung der Staatsbürgerschaft die Rückgabe wenigstens eines Teils des nach 1945 verlorenen Besitzes, doch wurden sie fast alle bitter enttäuscht. Hingegen versprachen sich diejenigen Deutschen, die seit dem Jahr 1947 von der Zwangsumsiedlung ins Landesinnere erfasst wurden und sich noch immer dort aufhielten vom spürbaren neuen Wind in der Nationalitätenpolitik an erster Stelle etwas anderes: Die Möglichkeit, wieder an den angestammten Wohnort zurückzukehren und einen ihrer Qualifikation entsprechenden Beruf ausüben zu können.2065 Die harten Folgen des als Rechtsgrundlage für die Zwangsübersiedlung instrumentalisierten Präsidentendekrets 71/1945 waren inzwischen – im März 1949 – aufgrund ihrer Kollision mit den allgemein geltenden zivil- und arbeitsrechtlichen Bestimmungen und den Verfassungsgrundsätzen auch dem Vorsteher der Abschubsabteilung beim MV, Dr. Hora, unbehaglich geworden.2066 Doch obwohl der Unwille der grossen Mehrheit der Zwangsumgesiedelten am Verbleib in der fremden Umgebung offensichtlich war und von den Behörden immer wieder registriert wurde, brachte auf der normativen Ebene erst ein vertraulicher Erlass des MV vom 29.3.1950 den Durchbruch. Dieser gesellte sich zu den bereits erwähnten Neuregelungen des Jahres 1950, die Angehörige der deutschen Nationalität im Sozialfürsorge-, Bildungs- und Gesundheitswesen wieder mit den übrigen Bürgern gleichstellten. Der Erlass hob im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ und der von Gottwald auf der KZ-Sitzung vom 24.2.1950 ausgegebenen Losung „Es ist kein Deutscher wie der andere“2067 für umgesiedelte Deutsche, die sich um die Rückverleihung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft beworben hatten oder diese schon besassen, mit sofortiger Wirkung sämtliche Rückkehrbeschränkungen auf. Für den Ortswechsel waren nun keine besonderen Bewilligungen mehr erforderlich. Für die übrigen, die Staatsbürgerschaft bisher nicht beantragt habenden Personen deutscher Nationalität galt dieselbe Freizügigkeit innerhalb der Republik, unter der Bedingung, dass die Bezirksbehörden mit Rücksicht auf den „begründeten Bedarf der Produktion“ dem

wiedergutzumachenden Folgen des Zweiten Weltkriegs zu rechnen sind“. Ebenda, von Spurný autorisiertes

Konzept des Schreibens vom 19.6.1953. 2064 Vgl. das umfangreiche Material bei: Ebenda, kr. 1281, 1284, 1290 und SÚA, f. 05/3 Ideologické oddělení, sv.

33, a.j. 253; sv. 33, a.j. 256; sv. 34, a.j. 260 und sv. 35, a.j. 272. 2065 SÚA, f. MV-D, kr. 1284, Bericht des MV über eine Erkundungsreise in die Bezirke Rokycany, Beroun, Saaz,

Brüx und Teplitz am 5.-7.6.1951, und Bericht über den Stand der Nationalitätenpolitik aufgrund der

Erkundung in 18 Bezirken für das 2. Jahresquartal 1951. 2066 Dieses Eingeständnis machte Hora am 10.3.1949 in einem Bericht über den Stand der Abschubsagenda an

Nosek und legte die Aufhebung des betreffenden Dekrets nahe, mit der auch das MSP einverstanden sei. Die

zentrale Steuerung des Arbeitskräftemarktes sei immer noch durch die weitere Anwendung des auch

gegenüber tschechoslowakischen Staatsbürgern anzuwendenden Dekrets 88/1945 über die allgemeine

Arbeitspflicht und durch die Vorschriften über Arbeitskräftemobilisierung möglich. Ebenda, kr. 220, S. 6. –

Im Gegensatz dazu informierte Hora selbst noch am 28.3.1950 den KNV in Mährisch-Ostrau dahingehend,

dass die Umsiedlungsaktion ins Landesinnere 1949 zwar „definitiv beendet“ worden sei, doch in „vereinzelten

schwerwiegenden Fällen“ seien Verlegungen dorthin aufgrund von Dekret Nr. 71/1945 noch immer möglich.

NA, f. MV-NR, kr. 10954, sign. 199, Konzept von Horas Antwort an den KNV Mährisch-Ostrau

(Kreiskommando der Nationalen Sicherheit) vom 28.3.1950. 2067 Vgl. S. 481 weiter vorne.

Page 75: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

545

Ortswechsel zustimmten (dieser durfte nur aus triftigen Gründen verwehrt werden).2068 Freilich bedeutete diese Regelung für viele Betroffene keine unmittelbare Rückkehr oder Ausreise, da ein Ortswechsel mangels finanzieller Mittel scheiterte oder angesichts inzwischen neu entstandener zwischenmenschlicher Banden nicht mehr vorrangig erschien. Auch wurden nach der Zahl nicht näher zu bestimmende Beschäftigtenverhältnisse, die im Rahmen der Umsiedlungsaktion der Jahre 1947/48 aufgrund von Dekret 71/1945 entstanden waren, in Angestelltenverhältnisse nach Dekret 88/1945 umgewandelt, wonach deren Aufhebung nur dann möglich war, wenn die neue Arbeit innerhalb eines wichtigeren Wirtschaftszweigs geschähe.2069 Durch den Hinweis, dass die Arbeit auf einem Staatsgut angesichts der anhaltenden Arbeitskräfteknappheit im Landwirtschaftssektor wichtiger sei als eine andere Arbeit am früheren Wohnort, konnten Rückkehrgesuche auch noch im Frühling 1951 abgelehnt werden 2070 und die Rückführung von deutschen Fachkräften, die in den Vorjahren aufgrund von Dekret 71/45 zu Arbeiten zugeteilt wurden, die ihrer Qualifikation nicht entsprachen, in ihre angestammten Berufe war auch Anfang 1952 noch ein Problem.2071 Nach einem streng vertraulichen Zirkular des MV vom 25.4.1951 hatte das MSP bereits vor diesem Zeitpunkt die Anwendung von Dekret 71/1945 in allen Fällen aufgehoben. Auch für Deutsche galten nunmehr die üblichen Regelungen des tschechoslowakischen Arbeitsrechts.2072

Die ambivalente Haltung der Zentralbehörden gegenüber der Rückkehr von Zwangsumgesiedelten bestätigte Ende Juni 1951 ein Vertreter des MV auf einer Sitzung der Kreis-Koordinationskommission für die Lösung der Nationalitätenfrage in Karlsbad. Im Falle eines Konflikts zwischen Organen im Grenzgebiet und KNVs oder ONVs im Landesinnern, die „ihre“ deutschen Arbeitskräfte nicht gehen lassen wollten, sollte das MV vermitteln, falls der Arbeitseinsatz im Grenzgebiet in einem wichtigeren Wirtschaftssektor möglich war. Dabei müssten die Interessen des Arbeitskräfteplanes

2068 SOkA Chomutov v Kadani, f. ONV Kadaň, kr. 310. Das MP intimierte den Inhalt der betreffenden

Bestimmungen mit einem eigenen Zirkular vom 20.4.1950 an alle Organe der verstaatlichten Industrie. NA, f.

MV-NR, kr. 10949, sign. 199. – Freilich empfahl das MV, zusammen mit dem MSP, schon in den

Vormonaten in Einzelfällen den entscheidenden Bezirksnationalausschüssen die Rückkehr von Personen, v.a.,

wenn es sich um qualifizierte Fachkräfte handelte, die von ihrem früheren Betrieb in den Grenzgebieten

angefordert wurden (vgl.. SOkA Louny, f. ONV Louny, kr. 453, Schreiben des MV an den ONV Louny vom

13.1.1950, und: Ebenda, kr. 454, Schreiben des MV an den ONV Louny vom 5.1.1950; NA, f. MV-NR, kr.

10949, sign., 199, verschiedene Akten aus dem Herbst/Winter 1949/50), bei Deutschen, denen inzwischen die

tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erteilt bzw. in Aussicht gestellt worden war (NA, f. MV-NR, kr.

10954, sign. 199, Konzept der Antwort des MV an den ONV Rumburg vom 21.2.1950) oder bei

Antifaschisten, die widerrechtlich ins Landesinnere verschickt worden waren (NA, f. MV-NR, kr. 10953, sign.

573, Konzept eines Schreibens des MV ans MSP vom 3.3.1950; in diesem Fall handelte es sich um

Antifaschisten aus dem Reichenberger Gebiet, für deren Rückkehr sich das Bezirkssekretariat der KSČ stark

gemacht hatte). 2069 Vgl. als Beispiel den Zuteilungsbescheid nach Dekret 88/1945 über den Wechsel eines deutschen

landwirtschaftlichen Arbeiters von einem Privatbauern in ein Staatsgut von Ende März 1950, als Faksimile

abgedruckt in: Čeńi a Němci. Doba podeklarační. Deutsche und Tschechen. Zeit nach der Erklärung, Praha

1997, 102. 2070 So im Falle des ONV Louny, der am 6.12.1950 mit dieser Begründung das Rückkehrgesuch von K. und A.

Bartl ablehnte, obwohl diese bereits zuvor die Rückverleihung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft

beantragt hatten. SOkA Louny, f. ONV Louny, kr. 454. Nach einem Bericht für die Sitzung des KNV-Rates

Reichenberg vom 7.3.1951 lehnten Vertreter des Kreises Prag (Mittelböhmen) noch immer die vom KNV

Reichenberg auf Veranlassung des deutschen Antifaschisten Hünigen geforderte Rückführung von einst

zwangsumgesiedelten Deutschen, die in der Landwirtschaft arbeiteten, ab. SOA Litoměřice, f. KNV Liberec,

kr. 27, Protokoll der Sitzung des KNV-Rates vom 7.3.1951, beiliegende Nachricht des Referenten für

Sozialfürsorge. 2071 SOA Litoměřice, f. KV KSČ Liberec, kr. 26, Elaborat „Probleme der Nationalitätenpolitik im Reichenberger

Kreis und deren Lösung“, Januar 1952. Danach gehe es v.a. um Personen, die 1947 und 1948 ins

Landesinnere umgesiedelt worden waren und im Grenzgebiet in der Industrie vermisst würden. 2072 SÚA, f. MV-D, kr. 1284.

Page 76: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

546

berücksichtigt werden. „Wenn wir nicht nach diesem Grundsatz verfahren würden, würden wir den Plan stören und nationalökonomische Schäden verursachen.“2073 Trotzdem überwog bei den Zentralbehörden seit dem Frühling 1950 der Wunsch, die Folgen der Zerstreuungsaktion von 1947 bis 1949 als eine der bisherigen Diskriminierungen der früheren Nationalitätenpolitik schrittweise zu beseitigen. 2074 In diesem Zusammenhang ging es nicht nur um die physische Rückführung der Umgesiedelten, sondern auch um materielle Aspekte. Da bei der Umsiedlungsaktion lange nicht immer die geltenden Bestimmungen über den Mittransport von Wohungseinrichtungen und der übrigen beweglichen Habe respektiert worden waren, verlangten die Rückgekehrten die meist längst an tschechische Siedler verkaufte „Konfiskationsware“ zurück – ein Konfliktpotential, das das Werben der Behörden um die Gunst „ihrer“ Deutschen torpedierte und weit in die 50er Jahre hinein wirkte.2075 Die bescheidenen „Dekonfiskationsmassnahmen“, die die Behörden in den Jahren 1950 bis 1952 erliessen, besassen für noch immer im Landesinnern weilende Deutsche praktisch keine Relevanz. 2076 Die ab 1950 rechtlich gegebene Möglichkeit für Deutsche, Einfamilienhäuser aus dem Konfiskationsgut käuflich zu erwerben, wurde in den nachfolgenden Jahren dagegen auch für zurückkehrende Zwangsumgesiedelte ein oft genutztes Instrument der existentiellen Konsolidierung. Der allmähliche Rückkehr- und Ausreisetrend, der bereits seit 1947 und v.a. 1948 ununterbrochen angehalten hatte, setzte sich bis zur Einstellung der organisierten freiwilligen Aussiedlung im Frühling 1951 auch – und wahrscheinlich besonders – bei den umgesiedelten Deutschen im Innern des Landes fort. Es wird geschätzt, dass Ende 1951 nur noch deutlich weniger als die Hälfte der bei der Zählung am 15.2.1949 anwesenden „zerstreuten“ Deutschen am Ort ihrer Verschleppung weilte.2077 Die These, dass unter ihnen der Wille zur freiwilligen Ausreise (die auf eigene Kosten zu finanzieren war) besonders gross war, kann durch die Analyse der behördlichen Daten über die von März 1950 bis in den April 1951 laufenden, vom Internationalen Roten Kreuz initiierten

2073 SOkA Chomutov v Kadani, kr. 300, streng vertrauliches Protokoll der Sitzung der KNV-

Koordinierungskommission in Karlsbad vom 28.6.1951. – In einem Bericht den Stand der

Nationalitätenpolitik von Anfang 1952 schreib die zuständige Abteilung II/3 des MV denn auch: „Eine

Rückführung in den ursprünglichen Wohnort und Arbeitsplatz wird bisher nur in besonderen Fällen

durchgeführt, wenn keine Gründe bestehen, die eine solche Massnahmen ausschliessen und dies gleichzeitig

zweckmässig und aus wirtschaftlichen Gründen möglich ist.“ Insbesondere sei die Rückführung bisher im

Falle von Industriefachkräften erlaubt worden. SÚA, f. MV-D, kr. 1284, Bericht der Abteilung II/3,

vorbereitet für eine Konferenz der KNV-Referenten für Inneres vom 8.2.1952. 2074 Dies erwähnt auch STANĚK: Německá menńina, 103, der der Ansicht ist, dass die Behörden mit einer

Beseitigung der Folgen der Zerstreuungsaktion auch zu Anfang der 50er Jahr im grösseren Umfang noch nicht

gerechnet hätten. 2075 Vgl. das streng vertrauliche Schreiben des ONV Falkenau an den Kreisnationalausschuss in Karlsbad vom

3.5.1951, SOkA Sokolov v Jindřichovicích, f. ONV Sokolov, sign. 215, kr. 225. Das MV schlug am

15.10.1951 in einem streng vertraulichen Schreiben dem Finanzministerium vor, einen gewissen Teil der

Ressortmittel im Jahresbudget 1952 für den materielle Satisfaktion der von „unrechtmässiger

Konfiskation“ Betroffenen zu fördern. Solche Fälle habe es besonders im Rahmen der Überführungsaktion ins

Landesinnere gegeben. Das Ressort reagierte damit auf ein Schreiben der Finanzprokuratur in Karlsbad vom

8.10.1951, in dessen Amtsgebiet die Problematik der Zerstreuungs-Liquidation (likvidace rozptylu) besonders

virulent war. Das Amt schlug vor, zur materiellen Entschädigung Güter zu verwenden, die dem Staat in

Strafverfahren zugegangen waren. SÚA, f. MV-D, kr. 1290. – Noch im Juni 1954 überwies das MV dem

Kreisnationalausschuss Karlsbad Mittel zur Lösung von Fällen, in denen rückgekehrte „zerstreute“ Deutsche

ohne ihre frühere Habe und Wohnung in existentiellen Problemen steckten. Ebenda, kr. 225, sign. 215,

Schreiben vom Kreisnationalausschuss Karlsbad an den ONV Falkenau vom 18.6.1954. 2076 Die geringe Bedeutung der „Dekonfiskation“ für die Zwangsumgesiedelten bestätigt auch der Bericht über die

Durchführung der Nationalitätenpolitik im Prager Kreis vom 29.2.1952. SÚA, f. MV-D, kr. 1284. 2077 Die Schätzung beruht auf den Angaben in den Berichten aus den Kreisen Prag, Pardubitz und Gottwaldov in:

Ebenda.

Page 77: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

547

„Aktion Link“ bestätigt werden. Von den 14.261 behördlich zur Aussiedlung registrierten deutschen Arbeitskräften stammte über die Hälfte, nämlich mindestens 7.347 Personen aus eindeutigen Bezirken des Landesinnern (gezählt ohne frühere „Mischbezirke“ und die grossen Städte sowie ohne „unproduktive“ Familienangehörige bzw. betagte, kranke und allein stehende Personen). Das beweist – unter Berücksichtigung, dass die grosse Mehrheit der deutschen Bevölkerung ja immer noch in den Grenzgebieten lebte – die um ein Vielfaches grössere Bereitschaft der Zwangsumgesiedelten, ihre im engeren Sinne schon verlorene Heimat endgültig zu verlassen.2078 Die gleichen Daten bezeugen daneben, dass die Beschäftigungsstruktur der am Ort belassenen deutschen Bevölkerung in den Grenzgebieten und die der Zwangsumgesiedelten gänzlich unterschiedlich aussah. Während in den Grenzgebieten, je nach Region, insgesamt verschiedene Industriezweige überwogen, so arbeiteten rund 80% der Zwangsumgesiedelten als Hilfskräfte in der Landwirtschaft (einige weitere als dafür überqualifizierte Hilfskräfte in Steinbrüchen oder Ziegeleien). Von in den böhmischen Ländern 7.795 im Landwirtschaftssektor (nach der Kollektivierung vorwiegend auf den Staatsgütern) Beschäftigten und für die Aussiedlung Registrierten hielten sich 5.688 in eindeutigen Bezirken Innerböhmens- und mährens auf.2079 Dass mehr als die Hälfte der im Rahmen der „Aktion Link“ auch tatsächlich von März 1950 bis April 1951 ausreisenden Personen aus Bezirken im Landesinnern stammte, belegen daneben die vorhandenen Transportunterlagen aus dem Bestand des Sammellagers in Reichenberg.2080 Die Unterkunfts- und allgemeinen Lebensbedingungen waren auf den Staatsgütern von Fall zu Fall verschieden. Nach einem Vertreter des Kreises Pilsen „wohnen die Deutschen in Ställen und Schuppen, ohne dass sich jemand nur im geringsten für ihr Leben interessieren würde“.2081 Obwohl sich die Lohndisparität zwischen im ersten und zweiten Wirtschaftssektor Beschäftigten verringert hatte, so waren die Durchschnittslöhne in der Land- und Forstwirtschaft noch immer um ca. einen Drittel geringer als in der Industrie. Im Kreis Gottwaldov (Zlín) betrug Ende 1951 der Durchschnittslohn eines auf den Staatsgütern eingesetzten deutschen Arbeiters zwischen 3.000 und 3.500 Kčs, bei Frauen lag die Spannweite zwischen 1.800 und 2.500 Kčs monatlich. Nach dem Bericht über die Durchführung der Nationalitätenpolitik im Pilsener Kreis vom Dezember 1952 konnten sich die zwangsumgesiedelten Deutschen auf den Staatsgütern noch immer nicht an die zu leistende Arbeit gewöhnen und forderten unaufhörlich den Abschub. Ihren Kindern werde damit entgegengekommen, dass ihnen der Wechsel in die Industrie oder andere Branchen ermöglicht werde. „Wie überall, so sind die Deutschen auch in der Landwirtschaft sehr gute Arbeiter und verdienen viel, so dass sie wirklich anständig leben können. Ein Hindernis sind hier aber die tatsächlich unhaltbaren Wohnbedinungen. In einem Raum leben etwa sieben Personen, gewohnt wird in früheren Pferdeställen und die Staatsgütern kümmern sich um keine Verbesserung, obwohl sie

die Möglichkeit hätten.“2082

Aus dem Budweiser Kreis wurde im November 1952 gemeldet, dass die umgesiedelten Deutschen die Arbeit in der Landwirtschaft als

2078 Ebenda, kr. 214, Übersicht der Berufsstruktur der zur Familienzusammenführung angemeldeten Deutschen,

undatiert (wahrscheinlich Anfang 1950), Bearbeitung der Daten durch den Autor. Die Übersicht führt die

aufgrund des Erlasses vom 29.8.1949 registrierten Anmeldungen zur angekündigten

Gruppenaussiedlungsaktion auf. 2079 Ebenda. 2080 SOkA Liberec, f. OSS Liberec, kr. 11-13, i.č. 271. Vgl. die Aufführung der Herkunftsbezirke der Aussiedler

und deren Zahl in: NARWOWÁ: Německé obyvatelstvo v Liberci, 92-99. 2081 SÚA, f. MV-D, kr. 1281, Beratung über die Nationalitätenfrage in Aussig, 14.10.1951. 2082 Ebenda, kr. 1284.

Page 78: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

548

„ein bestimmtes Unrecht betrachten, besonders deshalb, weil ihre erwachsen werdenden Kinder, die den Eltern bei der Arbeit helfen, so schlecht aus der Landwirtschaft z.B. eine Lehrstelle im Gewerbe erlangen können. Einige Funktionäre der Nationalausschüsse [im Grenzgebiet] versuchten für ihre früheren Beschäftigten die Entlassung zu erreichen, stiessen aber auf Widerstand der Staatsgüter-Direktionen und [der zuständigen Referate der Nationalausschüsse], die erklärten, dass Tschechen eine solche Arbeit nicht machen würden, so dass die Staatsgüter nach dem Weggang der Deutschen ohne Arbeitskräfte bleiben würden“.

Die Gesuche der Umgesiedelten um Rückkehr in ihren angestammten Wohnort und Beschäftigung wurden auch im Prager Kreis wegen Arbeitskräftemangels im primären Sektor „nur allmählich“ erledigt und ebenfalls im Karlsbader Kreis wurde im Juni 1951 nur eine individuelle Bewilligung von Rückkehrgesuchen empfohlen, je nachdem ob Ersatzkräfte zur Verfügung stünden.2083 Nebst Heimat- und Besitzverlust sowie der ungewohnten Art der Beschäftigung lag ein weiterer Grund für die Entschlossenheit der Zwangsumgesiedelten, ihre Wohnorte zu wechseln, in den auch für die übrige deutsche Bevölkerung unterdurchschnittlichen Unterkunftsbedinungen, die ihre Stellung als sozial schwächste und am stärksten benachteiligte Gruppe aller verbliebenen Deutschen weiter verschärfte.2084 Eine behördlich registrierte Anmeldung musste aber noch nicht eine tatsächlich von allen Entscheidungsorganen gebilligte und tatsächlich stattgefundene Ausreise bedeuten. Nach den einschlägigen Bestimmungen des MV aus dem Jahre 1949 und 1950 sollten die Aussiedlungen vor allem der Zusammenführung von getrennten Familien dienen oder für die „Aufbauarbeit“ nicht zu verwendende und nur der öffentlichen Hand zur Last fallende „unproduktive“ Menschen betreffen und sollten nicht die Einhaltung des Fünfjahresplanes gefährden. Natürlich kamen weiter nur Personen in Frage, die noch nicht im Besitz der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft waren und diese auch nicht beantragt hatten.2085 Während die Zahl der im Rahmen der freiwilligen Ausreise 1950/51 nach Deutschland gelangten Umgesiedelten wohl trotzdem bei mindestens 5.000 Personen (inkl. Familienangehörige) liegen dürfte, ist das Ausmass der Rückkehr in die Grenzgebiete auch in der ersten Hälfte der 50er Jahre statistisch kaum nachzuverfolgen. Nach einigen Hinweisen aus dem Jahre 1952 kehrte die Grosszahl ohne amtliche Bewilligung auf eigene Faust zurück, während nur eine kleine Minderheit offizielle Gesuchte einreichte.2086 Die Rückkehrbewegung ist quellenmässig mindestens bis ins Jahr 1953 nachweisbar. Doch auch noch im Januar diesen Jahres tauchten bei einigen Ortsorganen „Sicherheitsbedenken“ auf, ob die Anwesenheit von Deutschen (von denen einige bereits die Staatsbürgerschaft zurück erworben hatten) in unmittelbarer Nähe der

2083 Ebenda. 2084 Vgl. die vorangegangene Anmerkung und ein Memorandum von Kočiń vom 11.2.1953 in: Ebenda. 2085 Vgl. die die Modalitäten der Spätaussiedlungen der Jahre 1949 bis 1951 regelnden Zirkulare des MV vom

7.2.1949, 5.4.1949 und 9.2.1950 bei: Ebenda, kr. 214 und 222. Die Bestimmung des Zirkulars vom 5.4.1949,

wonach die Ausreisebewilligung behördlicherseits bei Fehlen einer qualifizierten Ersatzkraft verweigert

werden sollte, wurde im Zirkular vom Februar 1950 nicht mehr explizit bekräftigt. Trotzdem enthalten die

Berichte der KNVs vom Frühling 1951 über den Verlauf der Spätaussiedlungen einige Hinweise, dass

besonders auf den Staatsgütern oder in gesamtstaatlich besonders wichtigen Betrieben beschäftigte Deutsche

an ihrer Ausreise gehindert wurden. Die Berichte geben auch Auskunft über den Verlauf der behördlichen

Entscheidung von Aussiedlungsgesuchen auf den verschiedenen Verwaltungsebenen. Ebenda, kr. 222. 2086 Berichte über die Durchführung der Nationalitätenpolitik im Kreis Karlsbad und im Kreis Budweis vom

November 1952, ebenda, kr. 1284. Danach wurden im Kreis Karlsbad ungefähr 25 Rückkehrgesuche positiv

beschieden, aber ungefähr die zehnfache Anzahl von Personen sei ohne Bewilligung zurückgekehrt. Im

Budweiser Kreis seien gar keine Gesuche eingelangt, da die Deutschen um deren geringe Erfolgschancen

wüssten. In den Krumauer Bezirk kehrten aber andauernd illegal zwangsumgesiedelte Deutsche zurück.

Page 79: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

549

Staatsgrenzen zu dulden sei. Die Entscheidung der örtlichen Organe wurde durch den Wunsch der Rückkehrwilligen, wieder in ihre angestammten Häuser einziehen zu können, nicht gerade erleichtert. 2087 Wie viele der in den Jahren 1947/48 umgesiedelten Deutschen dauerhaft am Ort ihrer unfreiwilligen Ansiedlung verblieben, ist quellenmässig äusserst schwer zu beantworten. Es handelte sich höchstens um einige Tausend Personen.2088

4 Gleiche Instrumente – neue Opfer: Zwangsumsiedlung als Konzept und Wirklichkeit in der kommunistischen Tschechoslowakei Nationale Motive Angesichts des erwähnten Paradigmenwechsels in der staatlichen Deutschen- und Nationalitätenpolitik, der in den ersten Monaten des Jahres 1950 anzusetzen ist und die Aufgabe von Zwangsumsiedlungskonzeptionen und die Betonung der Integration am angestammten Wohn- und Arbeitsort bedeutete, vertraten in den Folgejahren nur noch einzelne, meist zweitrangige Funktionäre den Gedanken, gewisse unliebsame Angehörige nationaler Gruppen zur „politischen Behandlung“ umzusiedeln. Im Visier standen nun vorwiegend die noch immer „staatenlosen“ Deutschen, die sich hartnäckig weigerten, um die Erteilung der Staatsbürgerschaft anzusuchen. So forderten einige Kreis- und Ministerialvertreter auf einer wichtigen Beratung von MV- und Kreisvertretern vom 14.10.1951 in Aussig eine strikte Anwendung der Bestimmungen über den Aufenthalt von Ausländern und Staatenlosen auf „störrische Deutsche, die zu uns eine negative Einstellung haben“, womit über deren Aufenthaltsort je nach Bedarf die Behörden entscheiden können würden. Andere Vertreter lehnten eine solche Massnahme als diskriminierend und als unerwünschten Eingriff in den Arbeitsmarkt ab. Zudem würden die Deutschen so nur dazu genötigt, illegal nach Deutschland zu flüchten.2089 Nach Meinung des Karlsbader Vertreters würde man die Staatenlosen bei einer Zerstreuung nur dem „diskriminierenden Einfluss seitens unserer Bevölkerung aussetzen und so das, was wir politisch aufwendig gewonnen haben, auf einmal wieder verlieren, und die Deutschen würden wir zu unseren Feinden machen, die jederzeit bereit wären uns zu verraten“. Der KNV-Vertreter aus Königgrätz sprach sich ebenfalls gegen eine Zwangsumsiedlung aus, da es „am sichersten ist, diese Leute zusammen im Grenzgebiet zu haben als im Inneren des Landes, wo sie nur Gerüchte verbreiten würden“. Dagegen war einer der Aussiger Gastgeber der entgegengesetzten Meinung, dass „wir die schlimmsten Elemente umsiedeln werden müssen, das lässt sich aber nicht für immer durchführen“. Nach Meinung eines Vertreters des MV, Kropáč, war auch die Applikation der Ausländerbestimmungen auf die „Staatenlosen“ kein gangbarerer Lösungsweg, da bei Verweigerung des Aufenthaltsrechts durch das unberechenbare Ministerium der Nationalen Sicherheit nur noch die Ausweisung über die Grenze

2087 AMÚ, f. JNV Ústí n.L., kr. 337, Schreiben des MNV Peterswald an den JNV in Aussig. vom 31.1.1953, in

dem um Instruktion darüber gebeten wird, wie die sich in letzter Zeit häufenden Rückkehrgesuche nach

Peterswald zu behandeln sind. Eine grössere Zahl von im Jahre 1947 ins Landesinnere Überführten sei bereits

zurückgekehrt und in die Produktion integriert worden. Die Antwort des JNV wurde nicht gefunden. 2088 Vgl. auch den von Urban zitierten Bericht aus dem Jahre 1957 über in der Landwirtschaft beschäftigte

Deutsche im Bezirk Jičín. URBAN: Sudetendeutsche Gebiete, 24. Bohmann schätzte 1961 die Zahl der „im

tschechischen Siedlungsgebiet Böhmens“ aktuell anwesenden Deutschen auf ungefähr 15.000 Personen.

BOHMANN: Die deutsche Bevölkerung in der ČSSR, 25. 2089 SÚA, f. MV-D, kr. 1281, Beratung über die Nationalitätenfrage in Aussig, 14.10.1951.

Page 80: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

550

verbliebe, womit genau das erreicht wäre, was man ja verhindern wolle, nämlich die Ausreise der für die Aufbauarbeit wichtigen Personen.2090 Anderen Vertretern ging es um die noch immer „faschistischen“ Deutschen, die es „zu erfassen und zu isolieren“ galt, wobei „es auch möglich wäre, sie zur Arbeit bei den Staatsgütern zu benutzen, womit die Rückkehr der zerstreuten Deutschen ermöglicht würde“.2091 Auf der Aussiger Beratung manifestierte sich die bisher uneinheitliche Praxis bezüglich der „Liquidation der Zerstreuung“. Während die Vertreter des MV und der Grenzgebiets-KNVs im Herbst 1951 eher die Rückkehr der Umgesiedelten befürworteten (in der Regel auch gegen den Einspruch der bisherigen Arbeitgeber), so wiesen einige Repräsentanten der Kreise, in denen die zerstreuten Deutschen auf den Staatsgütern noch immer ein wichtiges Arbeitskräftepotential darstellten, darauf hin, dass die Rückführung der Deutschen „die Nichtbestellung riesengrosser Flächen landwirtschaftlichen Bodens“ bedeutete. Einige Regionalbehörden, so angeblich im Kreis Prag, stemmten sich offenbar besonders energisch gegen den Abfluss an wertvollen Arbeitskräften in einer Branche, in der noch immer zu wenig Tschechen gewillt waren zu arbeiten.2092 Die Dominanz des nach dem Februar 1948 im Zeitraum von ungefähr einem halben Jahr Überhand nehmenden politischen und sozialen Rasters,2093 anhand dessen das Regime nun Menschen bestimmte, die an ihrem bisherigen Wohnort nicht mehr länger bleiben dürften, verdeutlicht aus der vom ZK-Präsidium am 24.10.1949 kurz nach seiner durch einige slowakische Genossen begonnenen Realisierung jäh abgebrochene neuerliche Versuch, mehrere tausend südslowakische Magyaren zwangsweise in die böhmischen Länder zu deportieren. Ein wichtiger Grund für das Scheitern der Planungen war der Protest der ungarischen Kommunisten. 2094 Ethnisch motivierte Zwangsumsiedlungen waren schlicht nicht mehr hoffähig und international vertretbar. Machtpolitische, Klassen-, religiöse und „Sicherheitsmotive“ Die alte, schon aus den Jahren 1947/48 bekannte Debatte über die Zweckmässigkeit von Zerstreuung bzw. Konzentrierung erfuhr in der ersten Hälfte der 50er Jahre trotzdem

2090 Ebenda. 2091 So der Vorschlag des Vertreters der I. Abteilung des MV, Lapáček, auf einer Beratung am 24.4.1953. Ebenda.

In eine ähnliche Richtung schien der Vorschlag des KNV-Vertreters aus Reichenberg am 14.10.1951 zu zielen.

Ebenda, Beratung über die Nationalitätenfrage in Aussig, 14.10.1951. 2092 Ebenda, Beratung über die Nationalitätenfrage in Aussig, 14.10.1951. Die Widerstände gegen eine Rückkehr

in die Grenzgebiete galten natürlich gleichermassen in Bezug auf eine Ausreise nach Deutschland. Vgl. dazu

die Berichte über die Aktion „Link“ der Kreisnationalausschüsse vom Frühling 1951 in: Ebenda, kr. 222. Die

Absicht des MV, die Rückkehr der meist nicht nach ihrer angestammten beruflichen Qualifikation

eingesetzten Umgesiedelten fortan ungehindert zuzulassen, manifestier sich auch in einem Programmpapier

von Anfang 1952. Ebenda, kr. 1284, ausführliches Memorandum des MV (wahrscheinlich vom Februar 1952)

über die Nationalitätenfrage in der ČSR. 2093 Das Überhandnehmen dieses Rasters war im Herbst 1948 massgeblich durch die „Verschärfung des

Klassenkampfes“ nach der Jugoslawien-kritischen Kominform-Resolution von Ende Juni 1948 bestimmt und

wurde auf dem IX. Parteitag der KSČ im Frühling 1949 weiter verstärkt. 2094 Die Zahl der zur Verschleppung in die böhmischen Länder bestimmten Magyaren sank in der Planungsphase

von 3846 Familien auf 644 Personen, wobei am Ende auch mit ihrer teilweisen Ansiedlung in der Slowakei

gerechnet wurde. ŃUTAJ, Ńtefan: „Akcia Juh“. Odsun Maďarov zo Slovenska do Čiech v roku 1949. Ńtúdia,

Praha 1993 (Seńity Ústavu pro soudobé dějiny, sv. 8), 46 und 55f.; HRABOVEC, Emilia: „Aktion SÜD“. Die

ungarische Frage in der südlichen Slowakei von September bis Oktober 1949, in: LUKAN, Walter –

SUPPAN, Arnold (ed.): Nationalitäten und Identitäten in Ostmitteleuropa. Festschrift aus Anlass des 70.

Geburtstages von Richard Georg Plaschka, Wien u.a. 1995, 97-118.

Page 81: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

551

noch manchen Nachhall, doch rang sich das Regime nie mehr zur breiten Anwendung von siedlungsgestützten Massnahmen auf ethnischer Basis durch. 2095 Die geringe Berührungsangst einiger Funktionäre hinsichtlich solcher Methoden kann auch als Folge der von der kommunistischen Staatsmacht vor allem im Zeitraum von Herbst 1948 bis 1953 in grösserem Mass praktizierten Zwangsumsiedlung der Mitglieder von nun politisch oder nach sozialer Herkunft definierten Gruppen („Kulaken“, politisch „Unzuverlässige“ und deren Familienangehörige, geistliche Würdenträger etc.) oder der Bevölkerung in den 1950/51 neu geschaffenen „Grenz-„ bzw. „Verbotszonen“ entlang der Staatsgrenze zu Österreich und Bayern (teilweise auch zu Sachsen) gesehen werden. Ungefähr gleichzeitig mit der Ankunft der letzten Transporte, die verschleppte Deutsche zur Zwangsarbeit ins Joachimsthaler Uranrevier führten, eröffnete das Regime eine qualitativ neue Welle der Repression. Diese bediente sich weitgehend der gleichen „physischen“ Mittel wie schon die Segregationspolitik mit dem Primat des Ethnischen seit 1945, mit nur geringfügigen Abweichungen. Nur die Zielgruppen dieser in ihrem Grundsatz noch immer migrationsgestützten Repression wurden – relativ schnell und gründlich – ausgetauscht. An dieser Stelle kann nicht erschöpfend auf die verschiedenen im Namen der Theorie über die Verschärfung des Klassenkampfes nach einer kommunistischen Machtergreifung bzw. des neuen „scharfen Kurses gegen die Reaktion“ praktizierten Persekutionsmassnahmen mit „physischen“ Instrumenten eingegangen werden. Es macht jedoch Sinn, wenigstens auf einige bezeichnende Parallelen mit in dieser Arbeit breit behandelten ethnischen Zwangsumsiedlungskonzepten hinzuweisen. Dabei sei noch einmal auf die Ausführungen im Kapitel über die Uranförderung bei Joachimsthal hingewiesen, wo bereits von Kontinuitäten der Repression zwischen der Kriegszeit bis Ende der 50er Jahre die Rede war.2096 Bereits im Herbst 1948 wurde im Rahmen der Ausarbeitung und Verabschiedung des Gesetzes über die Zwangsarbeitslager (Tábory nucené práce – TNP; Gesetz Nr. 247/48 vom 25.10.1948) in Parteikreisen von der Möglichkeit der Einweisung von 30.000 Personen und der damit kombinierbaren Ausweisung auch derer Familienangehörigen aus den bisherigen Wohngemeinden gesprochen.2097 Bei der danach folgenden Einrichtung von Zwangsarbeitslagern, für deren Management man oft auf die bestehenden Infrastrukturen und reichen Erfahrungen des bisher zur Internierung der deutschen Bevölkerung (bzw. in der Kriegszeit: der Gegner, Verfolgten, Zwangsarbeiter und

2095 Eine Ausnahme bildet die staatliche Roma-Politik, besonders zwischen 1958 und 1968. Vgl. dazu weiter

hinten. 2096 Die verschiedenen Repressionsaktionen, die Zwangsumsiedlungen beinhalteten, sind bezüglich der

böhmischen Länder bisher nicht gesamtheitlich bearbeitet worden, dafür existieren Einzelstudien und –

dokumentationen (vgl. die in den folgenden Anm. zitierte Literatur). Für die Slowakei liegen

Gesamtdarstellungen vor. Vgl. nebst den ebenfalls weiter unten erwähnten Werken die gelungene

Kurzübersicht von PEŃEK, Jan: Vysídľovacie akcie na Slovensku v rokoch 1948-1953, in: Soudobé dějiny

III/1 (1996) 42-59. 2097 SÚA, f. 02/1, Protokoll der Sitzung des ZK-Präsidiums vom 20.9.1948. Der hohe Funktionär des

Innenministeriums, Jindřich Veselý, ging davon aus, dass für die TNP-Lager alle bisher bestehenden

„Abschubs-Zentren“ für Deutsche genutzt werden könnten. Vgl. auch: KAPLAN, Karel: Tábory nucené práce

v Československu v letech 1948-1954, Praha 1992 (Seńity ÚSD; 3), 77-195, hier 81f., vgl. das dortige Kapitel

zur „Aktion T 43“ auf den S. 114-127. – Zuvor war es ab dem März 1948 in der Slowakei schon zu ersten

aussergerichtlichen Einweisungen von als „politisch unzuverlässig“ oder „asozial“ befundenen Personen in

sog. „Arbeitseinheiten“ gekommen. BORÁK, Mečislav: Činnost komisí pro zařazování osob do táborŧ

nucené práce, in: BORÁK, Mečislav – JANÁK, Duńan: Tábory nucené práce v ČSR 1948-1954, Opava 1996,

15-134, hier 75. Zu Zeiten der „Dritten“ Republik von 1945 bis zum Februar 1948 bestanden in der Slowakei

(nicht in den böhmischen Ländern) spezielle Zwangsarbeitslager, die vor allem für „Asoziale“ und

„Arbeitsunwillige“ gedacht waren und in denen häufig auch Angehörige von nationalen Minderheiten

interniert waren. Vgl. dazu: VARINSKÝ, Vladimír, Nútené práce na Slovensko v rokoch 1945-1948, in:

Soudobé dějiny I/6 (1994) 724-736.

Page 82: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

552

Kriegsgefangener des NS-Regimes) dienenden Lagersystems zurückgreifen konnte, verfolgte das Regime nicht nur politische Absichten (Ausschaltung potentieller Gegner, Demonstration der eigenen Stärke, „Erziehung von Asozialen“), sondern versuchte auch ein Mittel zur Beschaffung billiger Arbeitskraft einzuführen. Noch immer war – vor allem als Folge der Massenaussiedlung der Deutschen – in zahlreichen Branchen und Gegenden ein akuter Arbeitskräftemangel vorhanden. Die über die Einweisungen von Personen entscheidenden dreiköpfigen Kommissionen auf Kreisebene besassen auch die Befugnis, „flankierende Sanktionen“ zu verhängen – so die Wegnahme von Gewerbescheinen, die Absprechung bzw. Einführung von Nationalverwaltungen, die Sequestrierung von Besitz, die Ausweisung aus Wohnungen und das Verbot bzw. Gebot über den Aufenthalt in einem gewissen Staatsgebiet. Die Entscheidungen der Kommissionen waren von Willkür geprägt und die „Beweise“, die zur Verhängung gewisser Massnahmen führten, hätten der Prüfung vor einem ordentlichen Gericht oft nicht standgehalten. Offiziell wurde zwar bezüglich der neuen Repressionsmethode nur vom Zweck der „Umerziehung“ gesprochen, doch überwog hinter dieser Fassade der Usus, die Betroffenen als „Bestrafte“ zu betrachten (so wurde der Aufenthalt in den TNP-Lagern ins Strafregister eingetragen). Das TNP-Gesetz wurde im Juli 1950 aufgehoben (u.a. wegen des Problems, dass die erwünschte „soziale Filterung“ der zur Lagereinweisung Bestimmten nicht erreicht werden konnte), doch bestanden die entsprechenden Lager weiter. Ein Jahr darauf wurden aus den TNP-Insassen normale Häftlinge. Inzwischen waren die Einweisungen in die Lager minimal geworden. Die letzten zwei TNP-Lager wurden Anfang 1954 aufgehoben. Insgesamt wurden in der Periode des Zwangsarbeitslagersystems in der Tschechoslowakei leicht über 21.000 Personen in die Lager verschickt, am meisten davon in der Anfangsphase im Jahre 1949.2098 Von Ende 1948 bis in den Sommer 1949 wurde die „freiwillige“ Umsiedlung von über 400 Personen aus der slowakischen Metropole Pressburg mit ihren Familien in kleinere Städte erzwungen. Es handelte sich grösstenteils um Repräsentanten des slowakischen Kriegsregimes, der im Zeitraum 1945-1948 wirkenden „Demokratischen Partei“ oder um anderer „unzuverlässige“ Personen. 2099 Ob diese Aktion gleichzeitig auch in den böhmischen Ländern praktiziert wurde, ist nicht bekannt. Ab dem 31.5.1949 – wenige Monate nach den letzten Zwangsumsiedlungen von Deutschen ins Landensinnere und in die Uranminen – wurden auf mehreren Beratungen von ZK-Sicherheitsfunktionären und ranghohen Vertretern des MV schon vorher im Grundsatz beschlossene Massnahmen zur gewaltsamen Umsiedlung von Familienangehörigen der Insassen der neu errichteten Zwangsarbeitslager in Dörfer und kleinere Städte eingeleitet. Die Richtlinien der geheimen Aktion mit dem Aktenzeichen-Decknahmen „T-43“ sahen vor, dass bereits im Oktober damit begonnen werde, aus Prag und bis Ende Jahr auch aus übrigen Städten der böhmischen Länder insgesamt bis zu 10.000 Familien entweder zu nötigen, zu ihren Verwandten aufs Land oder – wenn vorhanden – in ein eigenes Wochenendehaus und dergleichen umzuziehen. Falls diese Möglichkeiten nicht gegeben waren, so sollten diese Familienangehörige der „Klassenfeinde“ im Rahmen einer in den Akten unverhohlen „Zwangsumsiedlung“ genanten Aktion in leer stehende Häuser im Grenzgebiet umgesiedelt werden (Bezirke entlang der bayerischen und österreichischen Grenze waren als Aufnahmezonen ausgeschlossen). Die Distribution der betreffenden Personen sollte dabei nach einem vorgegebenen Schlüssel erfolgen, der die weitgehend gleichmässige

2098 BORÁK: Činnost komisí, 75-77. 2099 PEŃEK: Odvrátená tvár totality, 112-114.

Page 83: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

553

Zerstreuung zu garantieren hatte. Neben der „Unschädlichmachung des Klassenfeinds“ sollte in den nächsten zwei bis drei Jahren mit diesem „Wohnungswechsel im Grossen“ nichts Geringeres als die weitgehende Auswechslung der Bevölkerung der tschechischen Industrie- und Grossstädte erreicht werden, da in die frei gewordenen Stadtwohnungen nun Angehörige der „Arbeiterklasse“ ziehen sollten. Zusätzlich versprach man sich davon die Linderung des Arbeitskräfteproblems auf dem Lande, wo nach dem Wegzug der verschiedenen „fremden“ Hilfskräfte (u.a. Magyaren, Deutsche, Rumänen, Bulgaren) die chronischen Engpässe in der Land- und Forstwirtschaft noch grösser geworden waren.2100 Zweck der Aktion „T-43“ war auch die Steigerung der Einweisungen in die TNP-Lager, deren Netz ausgebaut werden sollte. Die Motivation hinter der Verstärkung des Lagersystems war wachsender Widerstand gegen das Regime und der immer grösser werdende Arbeitskräftehunger des Uranbergbaus.2101 Am 4.10.1949 wurde die Aktion in Prag damit begonnen, dass Innenminister Nosek den Auftrag erhielt, allein in der Hauptstadt 40.000 Personen dingfest zu machen. Sogleich breitete sich in der Stadt angesichts der Verhaftungswelle grosse Unruhe in der Bevölkerung aus, viele potentielle Opfer flüchteten aufs Land. Schliesslich wurden die Verhaftungen – wahrscheinlich nach einer Weisung Gottwalds – am 13.10.1949 vorläufig „unterbrochen“ und im Januar 1950 definitiv eingestellt. Bisher waren aus Prag 778 Personen in die TNP-Lager überwiesen worden. Die Aktion konnte sich damit nicht mehr auf die Regionen ausserhalb Prags ausweiten, doch lief die Einweisung von Personen in die TNP-Lager weiter. Nach einigen ursprünglichen Vorstellungen der Planer hätten im Zeitraum von 1949 bis 1953 um die 150-200.000 Personen von der Deportation in die Lager betroffen sein sollen, minimal also jeder hundertste Bürger der Republik. Da aber besonders Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren zur Zielscheibe wurden, kann geschätzt werden, dass ungefähr jeder 20. bis 30. Mann in diesem Alter mit seiner Überführung in ein Zwangsarbeitslager hätte rechnen müssen. Durch den erwähnten Umsiedlungsplan für Familienangehörige wären davon auch die Familienangehörigen betroffen gewesen. 2102 Insgesamt enthielten die im Rahmen der Aktion „T-43“ in allen Kreisen der böhmischen Länder erstellten Karteien von Einweisungskandidaten die Namen von rund 210.000 Personen.2103 Es liegt auf der Hand, dass es sich bei diesem Repressionsschritt des Regimes im Kern um eine Zwangsumsiedlung, und nicht „nur“ um eine temporäre Lagereinweisung handeln sollte, da die Rückkehr in den früheren Wohnort unmöglich gemacht werden sollte. In den Jahren 1952/53 wurde eine ähnlich angelegte Umsiedlungsaktion im grossen Stil wieder aufgenommen und durch die Aussiedlung von mehreren Tausend Familien aus Prag, Pressburg und den meisten übrigen Kreisstädten auch realisiert („Aktion B“, B = byty, dt. „Wohnungen“). Die Personenauswahl folgte dabei dem „Klasseninstinkt“, wobei Personenlisten aus der Zeit der Aktion „T-43“ wieder hervorgeholt wurden. Die Beschlagnahmung von „überschüssigem Eigentum“ war auch hier die Regel, wobei „falls nötig auch künstlich Gründe zur Beschlagnahmung des Besitzes zu suchen, zu konstruieren“ waren.2104

2100 Vgl. das reichhaltige Archivmaterial zur „Aktion T 43“ in: SÚA, f. MV-T, kr. 74, sign. T/43. 2101 JANÁK, Duńan: Tábory nucené práce 1948-1954, in: BORÁK – JANÁK: Tábory nucené práce, 135-260, hier

159. 2102 JIRÁSEK, Zdeněk – ŅÁČEK, Rudolf: Příprava masových represí v ČSR roku 1949. Akce T-43, in: Dějiny a

současnost 4 (1991) 38-41, hier 38. 2103 JANÁK: Tábory nucené práce, 159. 2104 KAPLAN: Tábory nucené práce, 127. Vgl. auch: Ders.: Akce B – vystěhování "státně nespolehlivých osob" z

Prahy, Bratislavy a dalńích měst 1952-1953, Praha o.J. (Dokumenty o perzekuci a odporu). Vgl. zur Aktion B

in der Slowakei PEŃEK: Odvrátená tvár totality, 115-123 und BÁŤA, Ľubomír: Akcia B – „očista“ miest, in:

Zločiny komunizmu na Slovensku 1948-1989, díl. 1, Preńov 2001, 455-471.

Page 84: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

554

Formen von Zwangsumsiedlung bediente sich das Regime auch während der ersten Kollektivierungsphase im Landwirtschaftssektor im ersten Drittel der 50er Jahre. Im Rahmen der forcierten Kollektivierung wurden von Herbst 1951 bis Mitte August 1953 in der so genannten „Aktion K“ (K für Kulake) mindestens 2.000 Landwirtefamilien mit meist überdurchschnittlich grossem Grundbesitz (über 15 ha) oder einer kollektivierungskritischen Haltung zwangsumgesiedelt, oft auf Staatsgüter in den Grenzgebieten der böhmischen Länder oder – im Falle slowakischer Landwirtefamilien – auch innerhalb der Slowakei. Dabei wurde eine möglichst weitgehende „Zerstreuung“ der Familien angestrebt. Natürlich gehörte zu den Begleitumständen, dass der Grossteil des Besitzes der Betroffenen dem Staat verfiel. Eine von Zdeněk Fierlinger geleitete interministerielle Kommission plante im Frühling 1953 die Zwangsumsiedlung von weiteren mehreren Tausend „Kulakenfamilien“. 2105 Instrumente der Zwangsumsiedlung (inklusive der Einweisung in Arbeitslager oder Internierung) setzte das Regime daneben zum Beispiel im Rahmen der Unterdrückung von Protesten gegen die Währungsreform vom Frühling 1953 ein,2106 weiter bei der Zwangsaussiedlung infolge der Errichtung von militärischen Truppenübungsplätzen (seit 1946 in den böhmischen Ländern, seit 1950 in der Slowakei)2107 und seit Mitte 1949 bzw. dem Frühling 1950 während der „Isolierung“ und der Liquidierung kirchlicher Orden bzw. der Macht (nicht nur) der (katholischen) Kirche überhaupt und der erzwungenen Konvertierung vom griechisch-katholischen zum orthodoxen Bekenntnis.2108 Mit Instrumenten der unfreiwilligen Umsiedlung und der Einschränkung der Bewegungsfreiheit operierte die kommunistische Staatsmacht daneben auch im Rahmen der „Grenzsicherung“, v.a. entlang der Staatsgrenze zu Österreich und Bayern, ab 1950 auch teilweise zu Sachsen. Erste Zutrittsbeschränkungen setzten bereits in den ersten Tagen nach dem Februarumsturz ein, Zwangsaussiedlungen aus der 1951 eingeführten „Verbotszone“ (in der Breite von maximal zwei km hinter der Staatsgrenze) und der im Innern des Landes daran anschliessenden „Grenzzone“ (in der Breite von bis zu vier, ausnahmsweise bis zu zehn km) setzten die Reihe der staatlich durchgeführten Siedlungsregulierung – nun mit teils qualitativ neuen, aber den bisherigen politischen und Klassenkriterien kombinierten „Sicherheitsmotiven“ – in der Zeit des Kalten Krieges fort. Aus der Verbotszone waren grundsätzlich alle Personen auszusiedeln, aus der Grenzzone „unzuverlässige Elemente“. Die letzteren durften sich nicht in Bezirken der ČSR ansiedeln, die ebenfalls über eine Grenzzone verfügten, weiter nicht in denjenigen Bezirken, die an die DDR grenzten. Nach den Richtlinien war dafür zu sorgen, dass

2105 JECH, Karel: Soumrak selského stavu 1945-1960, Praha 2001 (Seńity Ústavu pro soudobé dějiny; 35), hier

bes. 71-156. Die Zahl der betreffenden Familien wird in den im Buch verwendeten Quellen verschieden hoch

angegeben und kann bis zu 4.000 Familien einschliessen. Vgl. zur Realisierung der „Aktion K“ in der

Slowakei: Ders.: Vystěhování selských rodin ze Slovenska do českých zemí v Akci K (Kulaci) 1951-1953, in:

PEŃEK, Jan (ed.): V tieni totality. Politické perzekúcie na Slovensku v rokoch 1948-1953, Bratislava 1996,

66-75. Von der ursprünglichen Absicht, für slowakische „Kulaken“ vorwiegend grenznahe südslowakische

Bezirke als Aufnahmegebiete auszuwählen wurde Abstand genommen. Stattdessen wurden rund vier Fünftel

der slowakischen Familien auch in den böhmischen Ländern „zerstreut“. Bezirke in Grenznähe zur BRD und

Österreichs waren als Zielgebiete ausgenommen. Dokumentationscharakter besitzt die Publikation JECH,

Karel (ed.): Vystěhování selských rodin v Akci K (kulaci) 1951-1953, Praha, o.J. (Dokumenty o perzekuci a

odporu). 2106 Vgl. dazu: JIRÁSEK, Zdeněk – ŃŦLA, Jaroslav: Velká peněņní loupěņ v Československu. Aneb 50:1, Praha

1992; KAPLAN, Karel – VÁCHOVÁ, Jana (ed.): Perzekuce po měnové reformě v Československu v roce

1953, Praha o.J. (Dokumenty o perzekuci a odporu). 2107 VÝBOH, Jozef: Vojenské obvody a vojenské výcvikové priestory ASR a vojenské lesy a majetky SR – Ich

vznik a stručný vývoj do roku 1999, in: Vojenská história 4, č. 2/2000, 57-75; PEŃEK, Jan: Vysídľovacie

akcie na Slovensku v rokoch 1948-1953, in: Soudobé dějiny 1/3/1996, 42-59, hier 58. 2108 KAPLAN, Karel: Stát a církev v Československu v letech 1948-1953, Praha u.a. 1993; Kaplan, Karel: Akce

K – likvidace kláńterŧ v roce 1950. 2. Bde., Praha o.J. (Dokumenty o perzekuci a odporu).

Page 85: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

555

„unzuverlässige Personen“ in Gegenden umzogen, „so dass ihre Verbindung und Banden mit der Grenzzone unterbrochen werden“. Für das zurückgelassene Eigentum waren Entschädigungszahlungen vorgesehen, weiter sollte der Staat für die Umzugskosten aufkommen und eine Pauschale von 5.000 Kčs für die Einrichtung der neuen Wohnung auszahlen. Über die Personen, die auszusiedeln waren, entschied in jedem Bezirk eine speziell eingesetzte Kommission, die Dreier-Kommissionen auf Kreis-Ebene und diese wiederum der Zentralen Umsiedlungskommission beim MV unterstanden. Die Umgesiedelten waren vor allem für die Arbeit auf den „grossen Baustellen des Sozialismus“, in der Land- und Forstwirtschaft und in anderen wichtigen Wirtschaftszweigen zu gewinnen.2109 Die einschlägigen Bestimmungen konnten wegen eines komplizierten Personenauswahlverfahrens in einigen Bezirken erst bis zu einjähriger Verspätung durchgesetzt werden. Die ersten Zwangsumsiedlungen aus der Verbots- und Grenzzone begannen zu Anfang des Jahres 1952. Das MV rechnete vor Beginn der Umsiedlungen mit etwa 3.800 Personen, die nicht länger in der Verbotszone bleiben würden können.2110 Wie zu erwarten war, wehrten sich einige Betroffene und mussten unter Einsatz von physischer Gewalt umgesiedelt werden. Dies betraf besonders Familien, die schon vor dem Krieg an der Grenze lebten. Im Bezirk Eger sollen die Deutschen Bewohner der Grenzdörfer im Sommer 1951, als erste Gerüchte über die bevorstehenden Umsiedlungen kursierten, erklärt haben, dass kein einziger unter ihnen ins Landesinnere umziehen werde und die einzige Richtung, die für sie in Frage käme, in die BRD führe (möglicherweise war diese Einstellung durch Erinnerungen an die Jahre der „Zerstreuung“ ins Landesinnere beeinflusst). 2111 Nach dem – trotz seiner Bezeichnung nicht ganz definitiven – Abschlussbericht von Anfang Juni 1952 über die durchgeführten Aussiedlungen entlang der Grenzzonen wurden bis Ende April insgesamt ungefähr 4.300 Personen (1.249 Familien) umgesiedelt, davon 443 Familien aus der Verbotszone und 806 aus der Grenzzone (die Angaben verstehen sich mit dem Kreis Pressburg). 2112 Eine eingehendere Untersuchung der Motive, nach denen die auszusiedelnden Personen in den böhmischen Ländern ausgewählt wurden, wurde bisher von niemandem unternommen. 2113 Somit kann auch nicht genauer beurteilt werden, welche Rolle „nationale“ Beweggründe im Entscheidungsprozess der Sicherheitsbehörden noch immer spielten. Gewisse Schlüsse ermöglicht ein aus dem Frühling 1952 stammender Bericht über die zu diesem Zeitpunkt praktisch abgeschlossene Auswahl der Personen, die für eine Umsiedlung ausgewählt worden waren. Dabei habe es sich um Personen gehandelt, „die kein positives Verhältnis zum volksdemokratischen System haben“, weiters um Personen, die bereits wegen „antistaatlicher Tätigkeit“ bestraft worden waren, die verdächtigt wurden, sich an der illegalen Überführung von Menschen über die Staatsgrenze beteiligt zu haben. Bei vielen der Vorgeschlagenen handle es sich um frühere öffentliche Angestellte, die seit 1948 von

2109 SÚA, f. ÚPV-T, kr. 543, sign. 228/2/3, i.č. 2032, geheime Richtlinien des MV an die KNVs vom 12.11.1951

und geheime Bestimmungen über das Grenzgebiet, geschickt vom MNB-Ministerium an alle KNV- und

ONV-Vorsitzenden am 30.5.1951. 2110 SÚA, f. 100/24, sv. 45, a.j. 852, geheimes Elaborat des MV an Gottwald (undatiert, 1952) über die Errichtung

der Verbots- und Grenzzone. 2111

AMV-Pha, 310-96-2, Bl. 20f., geheimes Schreiben des 1. Sektors des MNB an den

stellvertretenden Minister für Nationale Sicherheit Baudyń vom 1.8.1951. 2112 SÚA, f. MV-T, kr. 25, sign. 968, Schlussbericht über die Umsiedlungsaktion vom 2.6.1952. In der Slowakei

wurden nur ein paar Hundert Personen ausgesiedelt. Siehe dazu S. 354. – Vgl. zur Genese der Normen über

die Grenzsicherung auch VANĚK, Pavel: Konstituování pohraničního území v letech 1948-1951 jako prvku

ochrany státní hranice, in: Západočeský sborník historický 7 (2001) 331-338. 2113

Grundlegende Erkenntnisse über die Aussiedlungen aus der Verbots- und Grenzzone in den Jahren 1951/52

bietet KOVAŘÍK, David: „V zájmu ochrany hranic“. Přesídlení obyvatel ze zakázaného a hraničního pásma

(1951-1952), in: Soudobé dějiny 3-4/XII (2005) 686-707. Detailliertere Angaben, einschliesslich Stichproben

aus einzelnen Bezirken, wird die im Abschluss befindliche Dissertation des gleichen Autors enthalten.

Page 86: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

556

den Aktionsausschüssen von ihren Posten entfernt worden waren. Eine grosse Gruppe bildeten zudem Personen deutscher Nationalität, sowohl solche, die sich weigerten, die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit zu beantragen als auch solche mit bereits erteilter (erhaltener) Staatsangehörigkeit, „die aber stark gegen unseren Staat eingestellt sind“.2114 Einen zusätzlichen Hinweis darauf, dass „nationale“ Motive nach wie vor eine gewisse Relevanz besassen, geben die weiter vorne in dieser Arbeit bezüglich des slowakisch-österreichischen Grenzabschnitts erwähnten Aussiedlungen.

Kontinuität von Plänen, Motiven und Massnahmen: Das Schicksal der autochthonen Bevölkerung des südböhmischen Weitra-Gebiets Eine spezifische Note besass im Rahmen der siedlungsgestützten Massnahmen zur „Grenzsicherung“ in den Jahren 1952 und 1953 das Vorgehen gegen die autochthone slawischstämmige, aber traditionell eher zu Österreich tendierende Bevölkerung des südböhmischen Weitragebietes (Vitorazsko). Um die konzeptionelle Tragweite der Massnahmen in den 50er Jahren zu verstehen, muss die Entwicklung der Jahrzehnte zuvor berücksichtigt werden.2115 Für die national indifferenten Bewohner dieses Gebiets, das nach dem Ersten Weltkrieg und jahrhundertelanger Zugehörigkeit zu Niederösterreich zu etwa einem Fünftel und mit rund 12.000 Einwohnern an die ČSR gefallen war und 1938 nach „München“ erneut österreichisch-reichsdeutsch wurde, blieben in deren Selbstwahrnehmung die Attribute „deutsch“ oder „tschechisch“ lange irrelevant. In der Epoche des gesellschaftlich immer relevanter werdenden ethnischen Nationalismus gerieten diese Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gleich mehrfach zwischen die Mühlsteine des Deutsch- und Tschechentums. Schätzungsweise zwischen 4.500 und 5.000 während des „Dritten Reiches“ zum Deutschtum „übergelaufene“ Personen wurden nach Kriegsende am 24. Mai 1945 durch eine tschechische Armee- und Partisaneneinheit unter Kommando von Oberst Hobza nach Österreich vertrieben. Im Hauptort des Gebiets, in Rottenschachen (Rapšach), verblieben danach gerade noch ungefähr 16 Familien. Am selben Tag wurden Dutzende Weitraer von spontan eingesetzten „Volksgerichten“ zum Tode verurteilt und 22 von ihnen umgehend hingerichtet. Die tschechischstämmigen, österreichisch fühlenden Vertriebenen kehrten zum großen Teil bis Frühling nächsten Jahres wieder halbillegal zurück. Besitzstreitigkeiten setzten ein, v.a. mit zugezogenen Neusiedlern, die in der Mehrheit ihre neu erlangten Anwesen und Häuser wieder an die Rückkehr zurückzugeben hatten. Die soziale Atmosphäre in der Region blieb konstant von Gehässigkeit und Missgunst geprägt, um so mehr, als dass die Alteingesessenen sich unter sozialdemokratischen Fahnen des MNV von Rottenschachen bemächtigen konnten. 2116 1952/53 wurde die Mehrheit der Weitraer, formal im Rahmen der „Grenzsicherung“, nochmals vertrieben und diesmal in mehrere Bezirke im Landesinnern verstreut. Das Bemerkenswerte dabei ist, dass die Pläne dazu bereits aus den Jahren 1945-1948 stammten, einschließlich genauer Namenslisten der zu

2114

NA, f. 23, a.j. 323, Bl. 1-4, Bericht über die Erfüllung des Partei- und Regierungsbeschlusses über

die Umsiedlung von Bevölkerung aus dem Grenzgebiet, o.D. (März/April 1952). 2115 Vgl. für einen Abriss der geschichtlichen Entwicklung des böhmischen gewordenen Weitragebietes:

KATZENSCHLAGER, Wolfgang: Vitorazsko-Weitraer Gebiet?, in: Das Waldviertel 46/2 (1997) 124-166. 2116 AMV-Ka, f. A 14, i.č. 558, Bericht der SNB-Gebietskommandantur Budweis an die SNB-

Landeskommandantur Prag vom 2.5.1947. NA, f. MV-NR, kr. 7462, sign. B-300, č.j. 1674/46, Protokoll einer

Besprechung beim ONV in Wittingau vom 9.2.1946; Schreiben der Abteilung für politischen

Nachrichtendienst des MV ans Referat B des MV vom 19.2.1946; Protokoll einer interministeriellen Beratung

auf dem MV am 6.3.1946. – Dem Nachkriegsschicksal der Weitraer ist ein kürzlich erschienenes Buch

gewidmet: MLYNARIK, Jan [sic]: Fortgesetzte Vertreibung. Vorgänge im tschechischen Grenzgebiet 1945-

1953, München 2003. Die erwähnte Zahl der Vertriebenen wiedergibt Mlynáriks Schätzung auf S. 139.

Page 87: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

557

Vertreibenden. Die Kontinuität der Vertreibungsabsicht ist durch Dokumente eindrücklich zu beweisen. Unmittelbar nach der Rückkehr der ersten vertriebenen Weitraer begannen mit ihnen um materiellen Besitz und politischen Einfluss buhlende Tschechen (meist Neusiedler) die Aussiedlung, zumindest aber Umsiedlung der Zurückgekehrten ins Landesinnere zu propagieren. Ihren Forderungen reichten sie in Form zahlreicher Petitionen an die Prager Zentralbehörden ein. Gestützt wurden diese Bestrebungen von der Kommunistischen Partei und der von ihr dominierten Widerstandsverbänden einschliesslich des Verbands der befreiten politischen Häftlinge. Teilweises Gehör fanden diese Eingaben beim Prager ZNV, der mehrmals Untersuchungskommissionen ins Weitragebiet entsandte.2117 So kam es, dass einige MNVs und SNB-Stationen bereits vor dem Februar 1948 detaillierte Personenlisten ausfertigten. Diese gaben darüber Auskunft, wer als Umsiedlungskandidat betrachtet werden solle und wer bleiben können werde. Operiert wurde dabei gewöhnlich mit tatsächlicher oder mutmasslicher Verwicklung der alteingesessenen Weitraer in nationalsozialistische Organisationen während der Besatzungszeit, doch reichten manchmal blosse familiäre Beziehungen zu Verwandten, die seit jeher oder seit der Vertreibung im Mai in Österreich lebten. Die SNB-Station in Erdweis schlug zum Beispiel Bewohner der Gemeinde Erdweis und Zuggers aus folgenden Gründen zur „Zerstreuung“ im Landesinnern vor: „ledig, Hausfrau, Deutsche und deswegen ist sie aus Staatssicherheitsgründen als unzuverlässig zu betrachten“ – „Bauersfrau, ledig, Deutsche, ihr Sohn ist bisher nicht aus dem Krieg zurückgekehrt, an dem er als Soldat der früheren deutschen Armee teilnahm, aus dem Staatssicherheits-Gesichtspunkt ist sie deshalb unzuverlässig“ – „Deutsche, Witwe eines deutschen Soldaten und deswegen aus Staatssicherheits-Gesichtspunkten unzuverlässig“ – „1862 geboren, Witwe, Hausfrau, Deutsche und deswegen aus Staatssicherheits-Gesichtspunkten unzuverlässig“ – „sein Sohn B.K. flüchtete im Winter 1945 nach Deutschland a hat sich dort mit einer Deutschen verheiratet, aus Staatssicherheits-Gesichtspunkten ist er deshalb unzuverlässig“.2118 Höhepunkt der Umsiedlungsvorbereitungen und –gerüchte war das Jahr 1947, doch kam es in diesem Jahr trotz der Unterstützung solcher Pläne durch die Staatssicherheit, Armee und anderer kompetenter Organe noch zu keinen Zwangsaussiedlungen, obwohl der ONV in Wittingau „für den Fall einer freiwilligen Umsiedlung“ bereits Personen ausgewählt hatte, doch alle Betroffenen hätten abgelehnt. 2119 Definitiv zu Gunsten der Neusiedler und Hardliner schlugen die

2117 Ein Beispiel, wie die Neusiedler und einige stramme alteingesessene Tschechen das Verhalten ihrer

autochthonen Mitbürger während der Besatzungszeit interpretierten, gibt eine Eingabe von Rottenschachenern

Bürgern ans MV vom 18.1.1946, in: SÚA, f. MV-NR, sign. ZS-2145, kr. 8295. Vgl. auch die Resolutionen an

den Prager ZNV von Neusiedlern aus dem Weitra-Gebiet vom 6.8.1946 und 28.12.1945 in AMV-Ka, f. B 2,

i.j. 68. Die zweite Eingabe ist von 37 Personen unterschrieben und äusserst die Hoffnung, „dass auch viele

[der zurückgekehrten Vertriebenen] sich gut im Landesinnern zurecht fänden, wo sie wohl nicht so schädlich

wären“. Insgesamt wurden diese Menschen folgendermassen bewertet: „Sie haben lieber alles, wo deutsch

denn tschechisch ist, sie sprechen deutsch lieber als tschechisch. Die Kinder sprechen tschechisch, also

würden sie im Landesinnern wohl bald mit der tschechischen Nation verschmelzen und wären in einigen

Jahren nicht mehr schädlich.“ 2118 Ebenda. An gleicher Stelle auch Personenlisten von „nicht ganz“ oder gänzlich

„unzuverlässigen“ Einwohnern der Gemeinden Tuńť (Schwarzbach), Witschkoberg (Halámky),

Rottenschachen (Rapńach) und Gundschachen (Kunńach). – Vgl. auch die verschiedenen Personenlisten in

AMV-Pha, 302-160-164, die nicht nur Namen derjenigen enthalten, die 1938 die „Initiatoren zur Abtrennung

der Gemeinde“ von der Tschechoslowakei waren, in der Wehrmacht dienten (nur wenige bei der SS), in der

NSDAP oder im „Verband für die Zusammenarbeit mit den Deutschen“ waren, sondern auch Namen von

1929 geborenen Jugendlichen aufführen, daneben Personen ohne Parteimitgliedschaft und ohne

Kriegsdienstleistung. Eine undatierte Liste mit 369 Personennamen wurde dem MV weitergeleitet. 2119 AMV-Ka, f. B 2, i.j. 68, Protokoll einer am 23.6.1947 in Wittingau abgehaltenen Besprechung des ZNV-

Präsidiums mit Vertretern des ONV Wittingau, der lokalen Widerstandsorganisationen, der Armee, des MNV

Rottenschachen.

Page 88: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

558

Verhältnisse im Weitra-Gebiet nach dem 25.2.1948 um. Die Machtpositionen der besonders sozialdemokratisch organisierten Alteingesessenen wurden umgehend gebrochen, einigen wurde ihr Besitz konfisziert oder die schon zugesprochene Staatsbürgerschaft wieder aberkannt. Wie schon in den Vorjahren standen auch dieses Mal nebst nationalen („nationale Zuverlässigkeit“), zu einem grossen Teil materielle und machtpolitische Motive im Hintergrund.2120 Nach der Bereinigung der Machtverhältnisse wurden die bestehenden Personenlisten der Umsiedlungskandidaten erweitert. Schon kurz zuvor, im Januar 1948, waren 124 Personen zur Umsiedlung bestimmt worden, „die man vom nationalen Gesichtspunkt aus nicht für voll zuverlässig halten kann“. Nach einer Aufforderung durch den Bezirksaktionsausschuss in Wittingau erstellte der Ortsaktionsausschuss in Rottenschachen Anfang April eine Liste von 27 Familien, die wegen „nationaler und staatlicher Unzuverlässigkeit“ ins Landesinnere umgesiedelt werden sollten. Keine der aufgeführten Personen unterlag aber nach den einschlägigen Bestimmungen des MV der Abschubs- oder Umsiedlungspflicht, da es sich um Personen handelte, man als „Tschechen“ betrachtete und die mehrheitlich auch (wieder) im Besitz der tschechoslowaksichen Staatsbürgerschaft waren. Durch den Budweiser Gebietsbevollmächtigten auf diese Säuberungsinitative aufmerksam gemacht, verhinderte Antonín Kučeras Referat am 15. Juli – vorläufig – deren Zwangsumsiedlung.2121 Der Grenzabschnitt im Gebiet erwies sich besonders in den Jahren 1948/49 als sehr durchlässig und diente allerlei politischen Flüchtlingen als Schlupfloch in den Westen. Dieses Faktum, das der tatkräftigen Mithilfe von Weitraern beim illegalen Grenzübertritt zu verdanken war, wie auch die engen Familienbanden nach Österreich waren den Staatsorganen ein Dorn im Auge. Die Weitraer selbst gehörten zu den Republiksflüchtlingen und wurden verdächtigt, nachrichtendienstlich „in imperialistischen Diensten zu stehen“. Bis April 1951 wurden ausgewählte Weitraer individuell zum Verlassen des Gebiets veranlasst. Dazu sollten sie wiederum durch teilweise Konfiskation ihres Besitzes „überzeugt“ werden. Ausgewählt wurden vorwiegend Personen, denen man irgendein Vergehen aus der NS-Zeit oder Mithilfe beim illegalen Grenzübertritt anlasten konnte. Trotzdem liessen sich nur einzelne Personen zur Umsiedlung überreden.2122 Die bereits zuvor erwähnten gesamtstaatlich konzipierten Massnahmen zur „Grenzsicherung“ entlang der Grenze zu Österreich, Bayern und teilweise Sachsen gaben im November 1951 (nach der Herausgabe der betreffenden Richtlinien des MV vom 12.11.1951 über die Umsiedlungen aus der Verbots- und Grenzzone) einen willkommenen Anlass zur Aussiedlung einer grösseren Zahl von Weitraern. Die Vorbereitung von Aussiedlungen entlang der Grenze war Ende 1951 und Anfang 1952 nichts Ungewöhnliches. Im Weitra-Gebiet bildete das Spezifische bei der Personenauswahl der erwiesene Rückgriff auf seit 1945 in mehreren „Runden“ erstellte Personenlisten. Wie überall in dieser Phase, geschah die Personenauswahl streng geheim, die Ortsfunktionäre wurden erst kurz vor Beginn der Aussiedlungen eingeweiht. Im Fall des Ortes Rottenschachen (Rapšach) stemmten sich gar einige kommunistische Lokalpolitiker dagegen, anfänglich leistete gegen die Errichtung der Verbotszone auch der ONV-Vorsitzende Widerstand.2123 Die Behörden zögerten nach Beginn der Aktion Anfang März 1952 mit Gewaltanwendung und versuchten die betreffenden Familien in

2120 MLYNARIK: Fortgesetzte Vertreibung, 259-261. 2121

Vgl. das Aktenmaterial in NA, f. MV-NR, kr. 7956, sign. B-300, č.j. 6616/48. 2122 MLYNARIK: Fortgesetzte Vertreibung, 263, 267f., 273f. 2123 AMV-Ka, f. B 2, i.j. 51, geheimer Bericht des StB-Kommandos in Neuhaus an das Kreis-StB-Kommando in

Budweis vom 16.11.1951.

Page 89: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

559

persönlichen Gesprächen von den Vorteilen einer Umsiedlung zu überzeugen, wozu materielle Anreize herhalten sollten. Die Existenzgrundlage einiger Weitraer war durch Bestrebungen der Behörden bedroht, Renten, die sich aus dem Tod von in der Wehrmacht gefallener Ehemänner ergaben, zu kürzen oder zu streichen. Doch alles nützte nichts: Bis zum 15.4.1952 war keine einzige Familie dem Druck gewichen. Einige drohten gar mit Selbstmord und äusserten, dass sie es im Falle einer Umsiedlungspflicht vorzögen, die Staatsbürgerschaft zu verlieren und nach Österreich auszuwandern.2124 Am 17.4.1952 fasste daher der KNV Budweis den Entschluss zur gewaltsamen Aussiedlung der dafür bestimmten Personen in der Gemeinde Rottenschachen. Zwischen dem 15. und 29.4.1952 wurden 41 Familien (134 Personen), davon 12 Personen aus der Verbotszone und 122 „unzuverlässige“ Personen aus der Grenzzone, aus sieben Dörfern in übrige Gemeinden des Bezirks Wittingau, vor allem aber (im Fall von 81 der 122 „unzuverlässigen“ Personen aus der Grenzzone) in entferntere traditionell tschechische Bezirke wie Hodonín, Soběslav, Písek, Budweis und Milevsko zwangsumgesiedelt.2125 Die Umsiedlungen gingen dabei wie ein Überraschungsangriff vonstatten: Frühmorgens wurden zu jeder Familie ein Kommando von sieben Personen geschickt (darunter drei bewaffnete Polizisten). Nennenswerter Widerstand war nicht möglich. Hastig musste Gepäck und Möbel auf Lastwagen verladen werden. Eine MNB-Minister Bacílek Ende April empfohlene Ausweitung der Verbotszone auf das „Widerstandsnest“ in Rottenschachen wurde in der Folge zwar nicht realisiert, doch ordnete der Minister an, einen „Vorschlag für Formen der zwangsweisen Aussiedlung“ zu unterbreiten. Dabei gedachte er aber nochmals auf Überzeugungsarbeit zu setzen.2126 In einem Entwurf des zuständigen MNB-Referenten zur weiteren Aussiedlung der Gemeinden Rottenschachen, Gundschachen und Erdweis wird angegeben, dass „die Mehrheit der Einwohner in Rottenschachen und Gundschachen reaktionär eingestellt ist und besitzt nicht das erforderliche Mass nationalen Bewusstseins. Ein Viertel der Einwohnerschaft hat nahe Blutsverwandte und die Hälfte entfernte Verwandte im angrenzenden Teil Österreichs“.2127 Nebst den für die Zeit typischen „Sicherheitsmotiven“ und Hinweisen auf eine mangelnde politische Einstellung (dabei wurde bezüglicher einzelner Personen auf das Wahlverhalten bei den Parlamentswahlen 1948 hingewiesen, kollektiv wurde an den für die KSČ ungünstigen Wahlausgang 1946 erinnert) spielte also noch immer der Vorwurf eine Rolle, die autochthonen Weitraer seien nicht vollwertige Tschechen. Trotz grundsätzlicher Einigkeit sowohl in Prag also auch auf Kreisebene wurden im Sommer und Herbst 1952 keine weiteren Aussiedlungen vorgenommen. Mlynárik setzt dies in direkten kausalen Bezug mit angeblichen geopolitischen Interessen der Sowjetunion. Danach seien weitere Umsiedlungsschritte nur im Falle einer Niederlage der Kommunisten bei den anstehenden österreichischen Wahlen als notwendig erachtet

2124 MLYNARIK: Fortgesetzte Vertreibung, 274-278, 281f. Mlynárik beschreibt die Vorbereitungen und die

Durchführung der Aussiedlungen in seinem Werk zwar minutiös, verpasst aber den nicht unwesentlichen

Hinweis, dass die Aussiedlungen der Jahre 1951/52 gesamtstaatlich konzipiert waren und durchgeführt

wurden, so dass der Leser den Eindruck erlangen muss, dass es dabei um eine aufs Weitra-Gebiet

konzentrierte Aktion handelte. Überhaupt mangelt es Mlynáriks Darstellung an breiterer Kontextualisierung.

So stellt er im ganzen Buch keine Parallel zum Schicksal der südmährischen Kroaten, bzw. zu den

vergleichbar national indifferenten Hultschinern und Schlonzaken her, obwohl sich diese Bezüge geradezu

angeboten hätten. 2125 AMV-Ka, f. B 2, i.j. 67, Bl. 63ff, Bericht über die Umsiedlungsaktion entlang der Grenze im Bezirk

Wittingau. Die Ausgesiedelten stammten aus den sieben Gemeinden Gmünd-Bahnhof (České Velenice), Nová

Ves nad Luņnicí (Erdweis), Rottenschachen (Rapńach), Witschkoberg (Halámky), Gundschachen (Kunńach)

und Nová Ves u Klikova (Kösslersdorf). 2126 MLYNARIK: Fortgesetzte Vertreibung, 283-288. 2127 AMV-Pha, 305-261-1, Vorschlag zur Ausweitung der Verbotszone und Umsiedlung der unzuverlässigen

Personen aus den Gemeinden Rottenschachen, Gundschachen und Erdweis vom 13.2.1953, vorgelegt dem

Sicherheitskollegium des Ministeriums der Nationalen Sicherheit.

Page 90: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

560

worden.2128 Tatsache ist, dass die Prager Staatssicherheits-Zentrale erst Ende November 1952 eine letzte und nun deutlich umfassendere Umsiedlungswelle einleitete. Die endgültigen Beschlüsse über die Durchführung einer erneuten Aussiedlungsaktion fielen im Januar 1953. Der KSČ-Kreisausschuss und KNV-Rat in Budweis beschlossen am 12.1.1953 bzw. einen Tag danach auf Vorschlag der Grenzwache und Kreiszentrale der StB, vier Fünftel der betroffenen Familien ausserhalb des Kreisgebietes anzusiedeln, da sie als „Personen, die durch ihre Vergangenheit und Beziehungen mit dem Ausland verbunden sind“ als besonders unzuverlässig galten. Die anderen konnten im Kreisgebiet bleiben, „zuverlässige“ Personen aus der Verbotszone konnten in die Grenzzone zur „Aufsiedlung“ überwechseln. Die „Unzuverlässigkeit“ eines einzelnen Familienmitglieds wurde auf die ganze Familie übertragen. 2129 Verständigt wurden die Umsiedler am 19.5.1953, nachdem der KNV-Vorsitzende Škoda und KSČ-Kreissekretär Hendrych bis zum 15.5.1953 ihr Placet gegeben hatten. Die Transporte begannen bald darauf, am 25.5. und dauerten bis Mitte Juli 1953. Bis Ende Mai wurden 75 Familien umgesiedelt, in der Folge rechnete die Kreis-Umsiedlungskommission in Budweis mit der Umsiedlung von täglich rund 15 Familien. Da es nicht gelungen sei, die Umsiedler von einer Ansiedlung in anderen Kreisen des Landesinnern zu überzeugen, seien alle ausser fünf Familien bisher im Kreis Budweis untergebracht worden. 2130 Die Bedingungen waren mit denen des Vorjahres weitgehend identisch. Aus Rottenschachen traf es 77% der Einwohner. Mehrheitlich handelte es sich dabei um Menschen, die im Mai 1945 schon einmal vertrieben worden waren.2131 Die Orte Gundschachen und Erdweis, dazu die Einzelhöfe östlich von Rottenschachen wurden anschliessend eingeebnet. Obwohl die Zahl der tatsächlich Ausgesiedelten nicht gänzlich rekonstruierbar ist, handelte es sich nach einem Verzeichnis aus dem Jahr 1953 in Rottenschachen um 240 Familien, aus Gundschachen um 25 Familien und acht Familien aus Erdweis. Zusammen mit den im Vorjahr Ausgesiedelten ging es um 313 Familien. Mlynárik leitet aus dieser Angabe wahrscheinlich eine überhöhte Zahl von rund 1.500 Personen her.2132 Die Berechnung von fünf Personen pro Familie scheint zu hoch zu sein, denn nach dem ursprünglichen Entwurf der StB-Kreisstelle in Budweis vom 20.1.1953 waren die 260 ursprünglich zur Aussiedlung vorgeschlagenen Familien identisch mit nur 856 Personen.2133 Es kann also angenommen werden, dass die Zahl der in den Jahren 1952/53 insgesamt zwangsumgesiedelten Weitraer „nur“ knapp über 1.000 Personen beträgt. Trotz der geographisch weit verstreuten Neuansiedlung der ihrer Heimat beraubten Weitraer kämpften viele von ihnen energisch gegen ihr er Schicksal an und schickten unermüdlich Interventionen an Prager stellen, so an die Kanzlei des Präsidenten. Zu Allerheiligen und Allerseelen (31.10/1.11.1953) besuchten nach einem Bericht der Kreis-Verwaltung des MV an die 400 frühere Bewohner den knapp ausserhalb der Grenzzone liegenden Friedhof von Rottenschachen und versammelten sich dort mit nicht

2128 MLYNARIK: Fortgesetzte Vertreibung, 303f. 2129 Vgl. die 216 Seiten umfassende Personenliste, die wahrscheinlich Ende 1952/Anfang 1953 erstellt wurde, und

die detaillierte Charakterisierung der einzelnen Familien mit Aussagen über die Zeit seit dem Ersten

Weltkrieg in AMV-Pha, 305-261-2. 2130 AMV-Ka, f. B 2, i.j. 67, Bl. 107, Protokoll der Sitzung der Kreis-Umsiedlungskommission beim KNV

Budweis vom 30.5.1953 und Ebenda, Bl. 132, Protokoll der Sitzung der derselben Kommission vom

15.5.1953. 2131 Nach StB-Angaben wurden aus dem von den Aussiedlungen des Jahres 1953 betroffenen Gebiet im Jahre

1945 insgesamt 398 Familien vertrieben, wovon 365 wieder zurückgekehrt sind. AMV-Pha, 305-261-1, streng

geheimer Vorschlag über die Aussiedlung unzuverlässiger Personen aus den Gemeinden Erdweis,

Rottenschachen und Gundschachen der StB-Kreisstelle Budweis vom 20.1.1953. 2132 MLYNARIK: Fortgesetzte Vertreibung, 323. 2133 AMV-Pha, 305-261-1, streng geheimer Vorschlag über die Aussiedlung unzuverlässiger Personen aus den

Gemeinden Erdweis, Rottenschachen und Gundschachen der StB-Kreisstelle Budweis vom 20.1.1953.

Page 91: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

561

ausgesiedelten Dorfbewohnern. „Alle sprachen in dem Sinne, dass sie wieder an ihre Wohnorte zurückkehren werden und forderten die Siedler auf, ihnen ihren Besitz zu reparieren, ihre Häuser instand zu halten, die Fenster nicht zu zerschlagen und ähnlich. Den Gedanken an die Rückkehr beweisen sie dadurch, dass sie seit ihrer Aussiedlung schon vier gestorbene Personen überführen und auf dem Friedhof begraben liessen.“2134 Allgemein hatte sich jedoch nach einem Bericht der StB-Bezirksabteilung in Wittingau von Ende August 1953 hatte nach der letzten Aussiedlungswelle die Lage im Gebiet erheblich beruhigt.2135 Die Information Mlynáriks, „dass die ausgesiedelten Einwohner des Weitra-Gebiets trotz des behördlichen Versprechens zur Erstattung aller Verluste doch nichts vom Staat erhalten hatten, folglich einfach bestohlen worden waren“, ist nur beschränkt zutreffend. 2136 Das ZK-Politbüro hatte dem Innneminister am 25.10.1954 aufgetragen, bis Ende 1954 den besitzrechtlichen Ausgleich mit allen ausgesiedelten Weitraern aus den Gemeinden Erdweis, Gundschachen und Rottenschachen zu beenden und in persönlichen Gesprächen den vielen Beschwerdestellern „offen zu begründen, warum es zur Umsiedlung kommen musste“. Nach einem Bericht des MV vom 14.12.1954 handelte es sich in der Verbotszone um 84 Entschädigungsfälle. In 64 davon wurde bis dato eine beidseitige Einigung auf Grundlage eines Kaufvertrags erzielt (für 33 bisher ausbezahlte Kaufverträge bezahlte das MV 1.555.958,10 Kčs, also pro Fall durchschnittlich 47.150 Kčs). 15 Fälle wurden vom MV durch Enteignung gelöst, ein Fall blieb infolge unbekannter Adresse des Eigentümers ungelöst. Anders sah die Situation bezüglich der Grenzzone, in der Gemeinde Rottenschachen aus. Von den dortigen ausgesiedelten Besitzern bot kein einziger sein Eigentum dem Staat zum Kauf an. In 50 Fällen wurde deshalb zur Enteignung geschritten. Entschädigungen wurden bisher keine ausbezahlt, da die Enteignungsbescheide noch keine Rechtskraft besassen. In allen übrigen Fällen war der Staat nicht notwendigerweise auf die Nutzung der zurückgelassenen Güter angewiesen und beliess diese daher formal im Eigentum der bisherigen Besitzer. Im Zuge des Ausbaus des Staatsgutes Wittingau bei Rottenschachen war jedoch eine weitere Enteignung in ungefähr 120 Fällen absehbar.2137 Das bedeutet, dass die Mehrheit der Zwangsumgesiedelten bis Ende 1954 noch keine Entschädigungszahlungen für ihr Eigentum erhielt. In den 90er Jahren stand die Justiz in der Tschechoslowakei (Tschechischen Republik) vor dem delikaten Problem, Restitutionsgesuche von Betroffenen zu beurteilen. Die Beurteilung dieser Fälle war besonders delikat, da die früheren Weitraer zu einem grossen Teil – streng genommen – wegen ihres Bekenntnisses zur deutschen Nationalität während der Besatzungszeit unter die Konfiskationsbestimmungen der Präsidentendekrete („Beneš-Dekrete“) Nr. 12 und 108/45 hätten fallen sollen.2138 Ohne die staatlichen vollzogenen Massnahmen irgendwie rechtfertigen zu wollen, so muss darauf hingewiesen werden, dass in den Jahren 1952/53 weniger als die Hälfte der autochthonen Weitraer ins Landesinnere verbracht wurden. Um die tatsächliche Bedeutung, die nationale Motive bei ihrer Aussiedlung wirklich spielten, besser abschätzten zu können, wäre es unerlässlich, auch die Grenzsicherungsaktionen in den übrigen an Österreich grenzenden Gebieten näher zu untersuchen. Der sich anbietende Vergleich mit den in einer ähnlich unsicheren rechtlichen und sozialen Stellung befindlichen südmährischen Kroaten ist nicht möglich, da diese fast restlos schon vor den gezielten Grenzsicherungsmassnahmen in nordmährischen Bezirke

2134 AMV-Ka, f. B 2, i.j. 67, Bl. 134, Meldung der Kreis-Verwaltung des MV an KSČ-Kreissekretär Hendrych

vom 8.11.1853; MLYNARIK: Fortgesetzte Vertreibung, 308-314, 322f. 2135 AMV-Ka, f. B 2, i.j. 68, Bl. 96-116, geheimer Bericht vom 29.8.1953. 2136 MLYNARIK: Fortgesetzte Vertreibung, 328. 2137 AMV-Ka, f. A 2/1, i.č. 699, streng geheimer interner Bericht des MV vom 14.12.1954. 2138 Vgl. dazu den Presseartikel in Práce, 4.4.1996, S. 10.

Page 92: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

562

„verstreut“ wurden. Zumindest kann festgehalten werden, dass in einer Zeit, in der Diskriminierungen auf nationaler Grundlage eigentlich nach den Massgaben der obersten Instanzen nicht mehr hätten existieren dürfen, diese noch immer toleriert wurden, wenn inzwischen als wichtiger befundene Motive des Kalten Krieges (Spionagetätigkeit, Kontakt mit dem westlichen Ausland) diese zusätzlich „unterstützten“.

* * * Hinter der gross angelegten „Säuberung der Grossstädte von der Reaktion“ (geplant war Mitte 1949 auch die im gleichen Sinne erwünschte „Säuberung“ einiger Grenzgebietsbezirke wie Joachimsthal, Asch, Eger und Eisenstein), dem TNP-Lagersystem, der Zwangsumsiedlungen im Rahmen der forcierten Kollektivierung und teilweise auch den übrigen Persekutionsmassnahmen des kommunistischen Regimes im Zeitraum von Ende 1948 bis Anfang 1954, verbarg sich – im Vergleich mit in der Vorzeit von den nationalsozialistischen Besatzern und den nach 1945 nun von tschechoslowakischer Seite in nicht weniger grossem Umfang gepflegten Bevölkerungstransplantationen auf ethnischer Basis – ein gemeinsames Grundmuster. Dieses kann idealtypisch folgendermassen umrissen werden: Erstens waren davon Menschen kollektiv betroffen, auch wenn sie individuell keine nachweisbare Schuld traf oder (etwa bei Kindern und anderen Familienmitgliedern) treffen konnte. Zweitens folgt daraus, dass Zwangsumsiedlungen in den 40er und 50er Jahren fast immer aussergerichtliche Massnahmen darstellten, deren wahre Ziele auch nicht vorwiegend die Bestrafung der Betroffenen verfolgten. Drittens verband sie der Aspekt der materiellen Umverteilung der beschlagnahmten Güter an bevorzugte Gruppen oder den Staat. Waren es im Krieg deutsche bzw. „volksdeutsche“ Empfänger, denen die Enteignung von als „jüdisch“ betrachteten Besitzes zu Gute kam, handelte es sich nach 1945 v.a. um die Neusiedler in den Grenzgebieten, die von der physischen Entfernung oder Abschiebung deutscher Bürger und „Kollaboranten“ in minderwertige Unterkünfte profitierten. Nach 1948 sollten es die bisher durch die gelaufenen Besitzübertragungen zu kurz gekommenen „Proletarier“ im Landesinnern (in Wahrheit aber vorwiegend Angehörige der „Sicherheit“, der Armee oder anderer Staatsorgane) sein, die aus der Ausweisung von neuen Gruppen Nutzen zogen.2139 Viertens sollte der „Gegner“ oder nationale „Kontrahent“ wirtschaftlich und sozial weiter durch die Degradierung zur Verrichtung manueller und schlecht bezahlter Arbeiten geschwächt werden. Fünftens sollte dieser auch physisch durch möglichst weitgehende geographische „Zerstreuung“ ausgeschaltet und isoliert, wenn nicht dauerhaft durch Aussiedlung in einen anderen Staat oder physische Liquidierung aus dem Weg geräumt werden. Nebst diesen frappanten ideellen Kontinuitäten zu früheren bevölkerungspolitischen Massnahmen bestehen zwischen der „Übergangsetappe“ von 1945-1948 und der Zeit danach nicht wenige Kongruenzen personeller Art. Die Karrieren der tschechischen und slowakischen „social engineers“ im Bereich der Siedlungspolitik harren noch weitgehend einer genaueren Untersuchung.2140

2139 Die Richtlinien zur „Aktion T-43“ sprechen jedoch davon, dass sämtlicher bewegliche und unbewegliche

Besitz den in die TNP-Lager Internierten und ihren Familienangehörigen belassen werden soll. Die Kosten für

die Übersiedlung hatten sie selbst zu tragen. Die Bestimmungen über die Besitzbelassungen wurden oft nicht

eingehalten. Das MV selbst riet zur Tarnung der materiellen Besitzabsichten: „Es wäre nicht tragbar, wenn

wir in die Lager einwiesen und uns sofort an die Wohnungen machten.“ KAPLAN: Tábory nucené práce, 122. 2140 Dies gilt auch für den bereits früher erwähnten Robert Obrusník. Personelle Kontinuitäten sind besonders

unter einigen hohen Funktionären des MV auszumachen. So sollten die vom MV geleiteten

Zwangsüberweisungen aufs Land zentral von Bedřich Pokorný, dem Organisator des so genannten „Brünner

Todesmarsches von Ende Mai/Anfang Juni 1945, beaufsichtigt werden, der im MV der Abteilung für die

TNPs vorstand. SÚA, f. MV-T, kr. 74, sign. T-43, Protokoll der Sitzung von ZK- Sicherheitsfunktionären und

Vertretern des MV vom 30.8.1949. Jan Hora, ab Ende 1948 Nachfolger Antonín Kučeras als Chef der

Page 93: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

563

Formen der Zwangsumsiedlung gegenüber der Roma-Bevölkerung bis Ende der 60er Jahre Kurz vor Mitte der 50er Jahre nahm der Repressionscharakter des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei insgesamt deutlich ab. Von nun an wurden innerhalb der staatlichen Bevölkerungspolitik keine klassischen Zwangsumsiedlungsinstrumente auf Gruppenbasis mehr eingesetzt. Vereinzelte lokale „Exzesse“, die in der Regel gegen die Roma-Bevölkerung gerichtet waren, waren trotzdem auch in der zweiten Hälfte der 50er Jahre nicht zu unterbinden.2141 Auch die Regierung ging gegen Ende der 50er Jahre zu einer wiederum repressiveren Roma-Politik über. Dieser waren Aspekte der gewaltsamen Siedlungspolitik nicht fremd, doch kann keine geradlinige Parallele mit den Methoden der vierziger und frühen fünfziger Jahre gezogen werden. Generell verfolgte das Regime in der Tschechoslowakei gerade in der Periode der dunkelsten Repression von 1949 bis 1958 eine Roma-Politik, die jedwede Diskrimination auf nationaler Basis zu vermeiden trachtete. Insgesamt besass die Politik gegenüber den Roma in diesem Zeitraum wenig Stringenz. Betont wurde die soziale Gleichberechtigung und eine eingeschränkte Akzeptanz von speziellen kulturellen Bedürfnissen. Da dieser Ansatz keine befriedigenden Ergebnisse erbrachte, wurde ab 1958 bis Mitte der 60er Jahre eine gewaltsame Assimilation betrieben, die an die repressive Roma-Gesetzgebung aus der Zwischenkriegszeit anknüpfte. 1958 trat wiederum ein Gesetz über das Verbot des freien Umherziehens (Fahrens) ohne festen Wohnsitz in Kraft (bereits von 1927 bis 1950 hatte ein Gesetz gegolten, das diese Art der Lebensführung staatlich streng regulierte).2142 Die Bewegungsfreiheit war somit wieder eingeschränkt, freilich beruhten die Bestimmungen des Gesetzes auf keinen „nationalen“ Gesichtspunkten. 1965 beschloss die Regierung gar eine „organisierte Zerstreuung“ von Roma „aus Orten einer unerwünschten Konzentration“, die bis zu ihrem Scheitern 1968 praktiziert wurde (der Name der entsprechenden Regierungsrichtlinien von Ende 1965 erinnerte an die Terminologie der Zerstreuungsaktion gegenüber der deutschen Bevölkerung Ende der 40er Jahre: „Grundsätze zur Organisation der Zerstreuung und Überführung der Zigeunerbevölkerung“). Vor allem sollten durch die Aktion Roma-Siedlungen in der Ost-Slowakei aufgelöst werden, deren Bewohner danach innerhalb der Slowakei und zu einem grossen Teil in den böhmischen Ländern „zerstreut“ werden sollten. Daneben

Abschubsabteilung des MV, arbeitete Ende der 30er Jahre bei der Prager Polizeidirektion und war dort unter

anderem für die Observierung von kommunistischen Parteiangehörigen zuständig. Von ihm war bekannt, dass

er im März dabei half, der Gestapo wichtiges Material aus Polizeiprovenienz zu übergeben. Während der

Protektoratszeit war er in leitender Funktion bei der Bezirksverwaltung Boskovice in Mähren angestellt. Nach

1945 war er in „Pokornýs Team“ (nun mit kommunistischem Parteibuch) im MV für die

nachrichtendienstliche Auswertung von NS-Akten und Verhörung von mutmasslichen Kollaboranten und

Kriegsverbrechern zuständig, bevor er Chef der StB-Zentrale wurde. STANĚK: Retribuční vězni, 32. 2141 Ein Beispiel für eine aussergerichtliche Strafmassnahme mit kollektivem Sanktionscharakter stellt die

Aussiedlung von 43 Roma-Angehörigen (inkl. minderjährige Kinder) aus den Gemeinden Alt und Neu Petrein

im Bezirk Znaim in den Bezirk Malacky in der Slowakei im Februar 1960 dar. Als zwei nur wenige Monate

zuvor im Zuge der „Aufsiedlung“ des Grenzgebiets aufgenommene sesshafte Roma-Familien weitere

Familien aus der Slowakei einluden, brach kurz darauf in einem Gasthaus ein gewaltsamer Streit zwischen

ansässigen Slowaken und den in den beiden Gemeinden anwesenden Roma aus, der einem Slowaken das

Augenlicht kostete. Daraufhin forderten die Slowaken die Aussiedlung aller Roma aus beiden Gemeinden.

Der ONV-Rat in Znaim kam dieser Forderung nach und führte die Zwangsaussiedlung unverzüglich unter

Polizei-Assistenz durch. SÚA, f. 05/11, sv. 139B, Schreiben der Hauptverwaltung der Öffentlichen Sicherheit

in Prag ans ZK der KSČ vom 25.2.1960. – Im Bezirk Tetschen verbreitete sich 1957 das Gerücht über die

Ermordung eines Tschechen durch Roma. Daraufhin mobilisierte sich eine Gruppe von Angehörigen der

Mehrheitsgesellschaft gegen fahrende Roma-Angehörige und wies diese eigenmächtig aus dem Bezirksgebiet

aus. PAVELČÍKOVÁ: Romové v českých zemích, 57. 2142 JUROVÁ, Anna: Rómovia na Slovensku. Náčrt povojnového vývoja a jeho problémov, in: GAJDOŃ,

Marián – KONEČNÝ, Stanislav (ed.): Etnické minority na Slovensku. História, súčasnost, súvislosti, Końice

1997, 49-67, hier 50-52.

Page 94: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

564

wurde aber auch eine Zersiedlung der Roma-Bevölkerung auf der Ebene von Kreisen, Städten, ja einzelnen Stadtvierteln betrieben. Das Hauptmotiv für diese drastische Massnahme der Regierung lag in der gesellschaftlichen und kulturellen Assimilierung der Roma-Bevölkerung und der „Ausmerzung“ von deren traditionellem Lebensstil. Nach den ursprünglichen Vorstellungen des zuständigen Regierungsausschusses sollte die Umsiedlung auf freiwilliger Grundlage beruhen, doch wurde dieser Grundsatz auf der Ebene der unterstellten Regional- und Lokalbehörden lange nicht immer ernst genommen. Die grossangelegte Umsiedlung, die zwischen 1966 und 1970 9.320 Personen aus der Slowakei bringen sollte, scheiterte vor allem an der geringen Bereitschaft der Behörden in den Zielgebieten, neue „Zigeuner“ aufzunehmen, und am unberechenbaren Migrationsverhalten der Betroffenen. Bis 1968 wurden schliesslich „nur“ 494 Familien in die böhmischen Länder überführt und 235 Familien innerhalb von tschechischen Kreisen umgesiedelt (weitere Umsiedlungen fanden in der Slowakei statt). Selbstständig gelangten in der gleichen Zeit 2.254 Familien in die böhmischen Länder.2143 Trotz offensichtlicher Parallelen bezüglich der Grundidee der geographischen Zerstreuung und Assimilierung kann diese Aktion nur bedingt mit den Zwangsumsiedlungen auf tschechoslowakischem Gebiet von 1945 bis 1954 in Bezug gesetzt werden. Nebst des angesprochenen „nur“ subtilen oder in gewissen Fällen kaum vorhandenen Zwangscharakters des Ortswechsels hatten die Betroffenen Anrecht auf eine Entschädigung für ihre zurückgelassenen Wohnobjekte, ihre Unterkünfte am Zielort boten meist bessere hygienische Standards und auch die Aufnahme einer Arbeit im tschechischen Landesteil konnte materiell vorteilhaft sein. Eine andere Frage allerdings war, ob die Betroffenen an dieser „Statusverbesserung“ überhaupt interessiert und gewillt bzw. in der Lage waren, am neuen Ort Fuss zu fassen, was die weitgehende Anpassung an den Lebensstil der Mehrheitsgesellschaft bedeutete. Die Staatsmacht verfolgte nach 1945 gegenüber den Roma nie eindeutig eine scharfe Repressions- oder Diskriminierungspolitik, die nachweislich auf „nationalen“ oder rassischen Grundlagen beruht hätte. Gänzlich fehlte das Handlungsmotiv der Strafsanktion für tatsächliche oder nachgesagte „Vergehen“ in der Vergangenheit, wie es gegenüber den Deutschen nach dem Krieg kollektiv angewandt worden war. Stattdessen probierte das Regime nacheinander verschiedene Mittel aus, wie das Problem der gesellschaftlichen Integration einer nur sehr beschränkt integrationswilligen Gruppe mit kulturell stark unterschiedlichem Gepräge zu lösen war, wobei auch zu drastischen Gewaltmassnahmen gegriffen wurde (vor allem von 1945 bis 1948 und von 1958 bis 1968). Diese verfolgten aber nach 1950 zweifellos das grundsätzlich hehre Ziel, die betroffenen Roma zu integrieren und – nach den Massstäben der Industriegesellschaft – sozial besser zu stellen.2144

5 Die politische Durchsetzung einer neuen Deutschenpolitik – Anspruch und Realitäten Historische Altlasten So sehr es die Zentralbehörden in Prag und die Spitzen der Partei seit Beginn der 50er Jahre mit der Beseitigung jeglicher Diskriminierungen auf ethnischer Grundlage und der auf dem „proletarischen Internationalismus“ beruhenden „Stalinschen Nationalitätenpolitik“ ernst meinten, so uneinheitlich war die Ausführung in den

2143 PAVELČÍKOVÁ: Romové v českých zemích, 86-93. 2144 Ebenda, 133.

Page 95: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

565

Bezirken und auf der Ebene der Ortsnationalausschüsse. 2145 Während auf höchster Staats- und Parteiebene eine weitgehende Auswechslung der die Deutschenpolitik bestimmenden Beamten und Genossen stattgefunden hatte,2146 so waren – besonders auf MNV-Ebene – zahlreiche Kader „draussen in der Provinz“ noch immer die gleichen wie schon in der Zeit des ungebremsten anti-deutschen Nationalismus der ersten Nachkriegsjahre.2147 Am schwierigsten gestaltete sich aber die Aufgabe, der Bevölkerung die wieder einmal gründlich ausgefallene Kurskorrektur der Kommunistischen Partei in der Nationalitätenpolitik verständlich zu machen. So blieben konkrete Diskriminierungen und Schikanierungen von deutschen Personen (ob Staatsbürger oder nicht) im Amtsverkehr auch in den Folgejahren nicht aus, doch konnte sich niemand mehr stillschweigend auf deren Duldung durch die vorgesetzten Amstsinstanzen verlassen.2148 Die tschechoslowakische Nationalitätenpolitik stand nach dem von der Staatsspitze verordneten Gleichstellungskurs im weiteren zeitlichen Verlauf noch sehr lange vor einem theoretischen Grunddilemma, das ihr – besonders in der „Deutschen Frage“ – ein enges Korsett aufsetzte: Wie war eine positive Nationalitätenpolitik auszugestalten, wenn sie weder die Infragestellung der Berechtigung der nach dem Krieg praktizierten Zwangsaussiedlung der Deutschen noch ein Wiederanknüpfen an die Minderheitenpolitik der Ersten Republik bedeuten durfte? In der nun – nach der Mai-Verfassung 1948 – als „Nationalstaat der Tschechen und Slowaken“ geltenden Republik existierte kein gesetzlich kodifizierter Minderheitenschutz, der beispielsweise Sprach- oder Schulfragen regelte, sondern es galten bloss einige von oben ausgegebene Leitparolen, nach denen die Behandlung der nationalen Minderheiten ausgerichtet werden sollte. Nach dem bereits zitierten, wahrscheinlich aus dem Februar 1952 stammenden ausführlichen Memorandum des MV über die Nationalitätenfrage in der ČSR durfte

„eine gründliche Applizierung der Grundsätze des proletarischen Internationalismus aber unter keinen Umständen als Revision der Politik ausgelegt werden, die gegen die deutsche Bevölkerung in den Jahren 1945-1948 angewandt wurde. Es gibt keinen grundlegenden Widerspruch zwischen der damaligen Politik und der Politik von heute. Der Inhalt der allgemeinen Massnahmen zur

2145

Die Notwendigkeit, gegen „die Überbleibsel des bourgeoisen Nationalismus kompromisslos anzukämpfen“,

wurde auf einer interministeriellen Beratun am 21.11.1950 auch offen vom damaligen Vorsteher der II.

Abteiliung des MV, Dr. Neumann, geortet. NA, f. MV-NR, kr. 10949, sign. 199, Protokoll der Beratung. 2146

Im MV hiess der Hauptgestalter der Nationalitätenpolitik in der ersten Hälfte der 50er Jahre nun J. Kočiń

(Nachfolger von Dr. Neumann als Vorsteher der II. Abteilung), doch ging ein Teil der Agenda im Herbst 1951

ans Ministerium der Nationalen Sicherheit über (dessen Akten sind – nach Auskunft der Archivare des

Archivs des MV in Prag und Kanice – grösstenteils nicht erhalten). Auf Parteiebene war hauptsächlich die

Agitprop-Abteilung des ZKs für die Nationalitätenagenda zuständig. Bei den in der Nationalitätenpolitik eine

Schlüsselrolle besitzenden Gewerkschaften war Josef Lenk der Hauptverantwortliche. Die früheren

„Macher“ Kreysa, Kučera und Steiner wurden politisch kaltgestellt (Kreysa), altersbedingt in die Rente

entlassen (Kučera) oder in andere Politikfelder „umgeleitet“ (Steiner, der zum Vizeminister für Binnenhandel

wurde und sein Abgeordnetenmandat beibehielt). Die Kontinuität blieb ganz an der Spitze immer noch durch

Gottwald, Slánský (bis Herbst 1951), Nosek und seinen Sekretär Spurný erhalten. 2147 Auf dieses Problem wurde beispielsweise im Oktober 1950 auf einer Beratung über die Nationalitätenfrage

beim KNV in Aussig hingewiesen, an der hochrangige Vertreter des MV anwesend waren. SOA Litoměřice –

Pobočka Most, f. KNV Ústí n.L., kr. 1699, i.č. 946, Protokoll der Besprechung vom 23.10.1950. Vgl. auch die

Aussage des zuständigen Referenten des KNV Aussig vom Mai 1952, dass „unsere tschechische Bevölkerung

in der grossen Mehrheit die neue Nationalitätenpolitik noch nicht begreift und dass diesen Einflüssen auch

unsere Funktionäre ausgesetzt sind. Man kann [nur] wenig Funktionäre der MNVs für eine grössere Aktivität

gewinnen.“ SOA Litoměřice, f. KNV Ústí n.L., kr. 84, Bericht für die Sitzung des KNV-Rates in Aussig vom

10.5.1952. 2148 Vgl. die Berichte aus den verschiedenen Landesteilen aus den Jahren 1951/52 in: SÚA, f. MV-D, kr. 1284.

Page 96: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

566

Lösung der deutschen Frage in der ČSR entspricht nämlich und war im Einklang mit den Erfordernissen der damaligen internationalen und innenpolitischen Situation“.2149

Ein paar Monate zuvor gab der damalige Hauptgestalter der tschechischen Deutschenpolitik Josef Kočiš auf der bereits mehrfach erwähnten Generalberatung in Aussig durchaus selbstkritisch zu bedenken:

„Wenn wir als Bolschewiken zu einer Lösung [in der Nationalitätenfrage] schreiten, müssen wir auch das sehen, was war – eine vom Gift des Nazismus, der Okkupation, der nationalen Opfer, der Ermordung tschechischer Menschen verseuchte Nation. [...] Der Hass gegen die Deutschen war etwas Spontanes, über die Schwierigkeiten, die wir noch heute haben, darf man sich nicht wundern. [...] Man darf sich nicht wundern darüber, dass bei uns in der Nationalitätenfrage keine Klarheit herrschte, obwohl Genosse Stalin die richtige Leitlinie schon während des Krieges geprägt hatte, als er erklärte, dass die Sowjets den Krieg nicht gegen das deutsche Volk, sondern zur Auslöschung des Nazismus führen. Über all das haben wir nicht reflektiert, weil alles, das wir wissen sollten und was wir wissen, durch die jüngste Vergangenheit gestört wurde.“2150

Ein etwa aus dem Herbst 1950 stammendes Memorandum über die „kulturell-aufklärerische Hilfe an die deutsche Bevölkerung“ ging davon aus, dass neben etwa 6.000 im Lande verbliebenen Antifaschisten die übrigen Deutschen „politisch neutral“ (neuvědomilí) sei oder zu den von Hitler „Verführten“ gehöre. Es sei bedauerlich, dass ihre politische Entwicklung 1938 unterbrochen worden sei und danach der Einwirking des Nationallsozialismus unterlegen habe. Über die Zeit nach 1945 wurde lakonisch festgehalten, dass seitens der tschechoslowakischen Staats- und Parteiorgane „nicht genügend Zeit bestanden hatte, sich gründlicher mit dieser Frage zu beschäftigen“.2151

Eine der nur inoffiziell ausgegebenen Leitlinien besagte, alle Überbleibsel des „bourgeoisen Nationalismus“ zu beseitigen und nicht nur die Bürger deutscher Nationalität im Geiste der sozialistischen Nationalitätenpolitik zu „erziehen“, sondern auch dafür zu sorgen, dass „derjenige Teil der tschechischen Öffentlichkeit, der sich bisher nicht von den Vorurteilen des bourgeoisen Chauvinismus löste“, mit der neuen Politik identifizierte. Das Problem des Fortdauerns der Gültigkeit zahlreicher durch keine Rechtsakte abgeschaffter normativer Bestimmungen aus den ersten Nachkriegsjahren (Präsidentendekrete, Gesetze, Regierungsanordnungen, Bekanntmachungen), die expressiv verbis Benachteiligungen auf ethnischer Grundlage bedeuteten, sollte kurzerhand dadurch gelöst werden, dass „allen Organen der öffentlichen Verwaltung der Befehl erteilt wird, die vor der Verfassung vom 9. Mai [1948] erlassenen Gesetze nach dem verfassungsmässigen Grundsatz über die Gleichberechtigung der Bürger auszulegen“.2152 Die Kommunistische Partei versuchte damit – wieder einmal – die Quadratur des Kreises, nachdem ihre eigene, mehr durch Opportunismus denn Standhaftigkeit bestimmte Politik in der Vergangenheit sie in beträchtliche ideologische Widersprüche verstrickt

2149 Ebenda, Bericht der Abteilung II/3 für eine Konferenz der KNV-Referenten für Inneres vom 8.2.1952. 2150 Ebenda, kr. 1281, Beratung über die Nationalitätenfrage in Aussig, 14.10.1951. 2151

Ebenda, f. MV-NR, kr. 10949, sign. 199, Memorandum o.D. (ca. Herbst 1950) über die „kulturell-

aufklärerische Hilfe an die deutsche Bevölkerung bei uns“, vermutlich vom Ministerium für

Schulwesen und Volksauflärung oder vom ZK der KSČ. 2152 Ebenda, kr. 1284, ausführliches Memorandum des MV (wahrscheinlich vom Februar 1952) über die

Nationalitätenfrage in der ČSR, dort auch eine Auflistung der betreffenden Rechtsnormen, deren

Bestimmungen mit der Verfassung vom Mai 1948 in Bezug auf die Gleichberechtigung aller Staatsbürger

teilweise kollidierten.

Page 97: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

567

hatte. Für allfällige „Übergriffe“ und die ungerechte oder sehr harte Behandlung von Menschen, die die frühere anti-deutsche Politik trotz antinazistischer Einstellung getroffen hatte, waren nun offiziell „die internationale Lage“ und vor allem die „bourgeoise Reaktion“ verantwortlich, die – politisch längst kaltgestellt – als alleiniger Antreiber des blinden nationalistischen Egotrips nach 1945 hingestellt wurde. Beispielhaft dafür, wie selbstgerecht und schamlos Vertreter des Regimes versuchten, ihren neuen deutschen Mitbürgern eine „richtige“ Interpretation der vergangenen Jahre zu vermitteln, sind die Worte eines kommunistischen Funktionärs auf einer Versammlung der deutschen Beschäftigten der „Vereinigten keramischen Betriebe“ in Teplitz-Schönau im Oktober 1951. Ein gewisser Genosse Brixi machte seine Zuhörer darauf aufmerksam, dass „sie einen Unterschied zwischen den Jahren 1945 bis 1948, wo erst unsere kommunistische Partei zur Macht kam, machen müssen. Was früher verschiedene Parteien verschuldet haben, will jetzt die kommunistische Partei wieder gut machen. Wir wollen wieder alles gut stellen, aber es ist nicht möglich in 3 Jahren alles in Ordnung zu bringen.“2153

Die „Exzesse“ der ersten Nachkriegsjahre wurden nach dessen Beseitigung und Hinrichtung auch dem „Verräter“ Slánský mit seiner „wüsten chauvinistischen Hetze“ in die Schuhe geschoben. 2154 Kaum einer anderen jahrzehntelang wirkenden politischen Partei war die Veranlagung so zu eigen wie der KSČ, die Häufigkeit der Strategie- und Positionssänderungen ungefähr in ein reziprokes Verhältnis zur Bereitschaft, frühere Irrungen zuzugeben, zu stellen.

Assimilation oder nationale Eigenart? Die Negation rechtlich verankerter Minderheitenrechte auf Gruppenbasis bedeutete jedoch keine Nicht-Existenz einer positiven (affirmativen) Minderheitenpolitik. Diese wurde praktiziert, nur wurde über die Behandlung jeder Nationalitätengruppe individuell, d.h. unter Berücksichtigung der vorausgegangenen Entwicklung und vor allem der gegenwärtigen internationalen Lage, bestimmt. Während so die polnische Minderheit im Teschener Gebiet und schrittweise auch die Magyaren in der Südslowakei die weitere Existenz Nationalitätengruppe sichernde Vorteile genossen (polnisch- bzw. ungarischsprachige Schulen, zweisprachige Ortstafeln, eigene Zentralorganisation und mehrere Presseorgane u.a.), so fand auch in der ersten Hälfte der 50er Jahre und danach die traditionell zurückhaltendere Lockerungspolitik gegenüber der deutschen Bevölkerung ihren Fortgang. Deutschen wurde 1953 die Staatsbürgerschaft als letzter Gruppe zurückverliehen, seit 1953 war ihnen wieder das aktive und passive Wahlrecht gegeben (die ersten Wahlen in die Nationalausschüsse fanden ein Jahr später statt), eine eigene „Kulturorganisation“ bestand bis 1969 nicht, von einer politischen Vereinigung ganz zu schweigen, die Presselandschaft blieb lange von einem einzigen Organ für Erwachsene und ab 1953 von zweien für Kinder und Jugendliche geprägt, deutsche Schulen wurden nicht zugelassen, deutsche Rundfunkprogramme nur in minimaler Länge, in der neuen „sozialistischen“ Verfassung von 1960 wurden die Deutschen weiterhin nicht als Nationalitätengruppe im Staat anerkannt, was sich bis 1968 nicht änderte.2155

2153

SOA Litoměřice – Pobočka Most, f. KNV Ústí n.L., kr. 1699, i.č. 946, Protokoll einer

Versammlung der deutschen Angestellten des Nationalunternehmens „Spojené keramické

závody“ in Teplitz-Schönau vom 18.10.1951. 2154 Aufbau und Frieden, 22.5.1953, zitiert nach URBAN: Sudetendeutsche Gebiete, 27. 2155 Vgl. STANĚK: Německá menńina, 133, 142-144, und URBAN: Sudetendeutsche Gebiete, 29. Nach Staněk

begann die 15-minütige Ausstrahlung von deutschen Rundfunkprogrammen 1957, nach einem Bericht des

MV vom Herbst 1953 wurden schon damals Rundfunkprogramme in deutscher Sprache ausgestrahlt. Vgl.

SÚA, f. MV-D, kr. 1281, geheimes Memorandum des MV vom Oktober 1953 über die Durchführung der

Page 98: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

568

Die erste Massenorganisation, die grundsätzlich allen „werktätigen“ Deutschen offen stand, waren die natürlich gleichgeschalteten Gewerkschaften (Revoluční odborové hnutí – ROH). Bestand die Möglichkeit einer Mitgliedschaft schon zuvor für Deutsche mit tschechoslowakischer Staatsbürgerschaft, so beschloss das Gewerkschafts-Präsidium am 10.8.1950, dass fortan alle Deutschen ohne Rücksicht auf ihre Staatsbürgerschaft in die Gewerkschaften eintreten könnten. Die Einbindung der deutschen Bevölkerung in die Gewerkschaften gelang innert kurzer Zeit weitgehend. 1951 sollen schon 45 bis 50% aller ökonomisch aktiven Deutschen, im Jahr 1954 nun schon 80 bis 85% gewerkschaftlich organisiert gewesen sein. Die Gewerkschaften wurden somit gewissermassen zu einem Ersatz-Sammelbecken für die Deutschen. Ab September 1951 wirkte in der Zentrale in Prag ein spezielles von Josef Lenk geleitetes Referat für die Arbeit unter den deutschen Bürgern. Immer mehr Deutsche übernahmen gewerkschaftliche Funktionen und nahmen an speziellen Schulungen für Deutsche teil. 2156 Die Mitgliedschaft in der KSČ blieb dagegen zu Anfang der 50er Jahre noch immer altgedienten Genossen oder besonders eifrigen Stossarbeitern vorenthalten. Dabei war ein gewisses Misstrauen in Bezug auf die Wertung der jüngsten Vergangenheit und Animositäten zwischen früheren Sozialdemokraten und Kommunisten festzustellen. Ein Dokument aus dem ZK-Sekretariat von Ende 1951 spricht noch immer davon, dass auch „frühere KSČ-Mitglieder deutscher Nationalität bisher nicht voll die Bedeutung des Abschubs der Deutschen begreifen“.2157 Als bald danach das Regime der Aufnahme von Deutschen in die Partei keine Hindernisse mehr entgegensetzte und versuchte, in jeder Gemeinde bzw. jedem Stadtquartier „Vertrauensmänner“ für die Durchführung der neuen Nationalitätenpolitik zu gewinnen, hielt sich die Bereitschaft unter den Deutschen, sich politisch aktiv zu beteiligen in engen Grenzen. Ein Teilnehmer einer Veranstaltung unter dem bezeichnenden Titel „Aufklärungs-Gespräch“ (osvětová beseda) in Teplitz-Schönau brachte im April 1952 die Befindlichkeit vieler seiner deutschsprachigen Mitbürger auf den Punkt, wenn er anmerkte, „dass [uns] die Politik schon bis zum Hals heraus hängt und dass es genügt, wenn wir uns kulturell vergnügen können“.2158 So konnte es wenig überraschen, wenn ein knappes Jahr später ein Vertreter des Kreisgewerkschaftsrats in Aussig feststellte, „ist es sehr schwierig, Deutsche zur [politischen] Schulung zu bewegen, denn sie wollen nicht in die Schulung, sie fürchten sich vor aktiver Arbeit, weil sie infolge der internationalen Situation vorsichtig sind.“2159

In einigen Regionen der böhmischen Länder bestanden in den ersten Jahren der 50er Jahre weiterhin so genannte Antifa-Büros, die meist von deutschen Altkommunisten geleitet wurden (manchmal zusammen mit linksorientierten ehemaligen Sozialdemokraten). Besonders aktiv waren Vertretungen in Reichenberg (Genosse

Nationalitätenpolitik, adressiert ans ZK der KSČ und einige Regierungsstellen. – Die Anerkennung als

ethnokulturelle Gruppe brachte die Verabschiedung des Gesetzes über die Stellung der nationalen

Minderheiten (Nr. 144/1968), das auch das Recht auf Bildung und den Amtsverkehr in der Muttersprache

garantierte – freilich nur in der Theorie. Vgl. den auszugsweisen Abdruck des am 1.1.1969 in Kraft gesetzten

Gesetzes in deutscher Übersetzung: HABEL, Fritz Peter (ed.): Die Sudetendeutschen, München, 2. Auflage

1998, 122 (Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, Bd. 1). 2156 STANĚK: Německá menńina, 114f. 2157 Ebenda, 116f. 2158

SOA Litoměřice – Pobočka Most, f. KNV Ústí n.L., kr. 1357, i.č. 709, Protokoll der Sitzung der

Kreiskoordinationskommission für die Nationalitätenpolitik in Aussig vom 20.5.1953. 2159

Ebenda, Protokoll einer Sitzung der Kreiskoordinationskommission für die Nationalitätenpolitik in

Aussig vom 24.3.1953.

Page 99: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

569

Edmund Hünigen),2160 Tanvald (Alfred Pohl), in Rumburg, Warnsdorf, Gablonz und im Karlsbader Kreis beispielsweise in Asch. Der Aufgabenbereich dieser von den Behörden und der Partei tolerierten Einrichtungen, die ursprünglich nur die Angelegenheiten der behördlich anerkannten Antifaschisten erledigten, vergrösserte sich ständig und umfasste nach dem Kurswechsel in der Deutschenpolitik im Grunde die Betreuung der gesamten deutschen Bevölkerung – ob Antifaschisten oder nicht. Ein wichtiger Grund für die Popularität der Antifa-Büros war die Tatsache, dass sie für Deutsche, die des Tschechischen nicht mächtig waren, praktisch als einzige semi-offizielle Kontaktstelle zu den Behörden dienten. Die Antifa-Büros wandelten sich damit zu Anlaufstellen bei Problemen im Zusammenhang mit Staatsbürgerschaftsfragen, der so genannten „Dekonfiskation“, der Auswanderung und für allgemeine Rechtshilfe. Nebenbei sollten sie für die „Umerziehung“ der deutschen Bevölkerung sorgen, um diese so effizient wie möglich der „Folgen der faschistischen Erziehung zu entledigen“, die „Liebe zur Sowjetunion“ fördern und Tschechisch-Kurse organisieren. Obwohl die Vertreter der Antifa-Büros es nie wagten, in ihren Erklärungen und Petitionen an die Zentrale vom offiziell gültigen Generalkurs abzuweichen, standen sie doch nicht selten und nicht immer unbegründet im Verdacht, die Separierung der deutschen Bevölkerung zu fördern, eine fest an die Partei angebundene aber eigene deutsche politische Repräsentation aufzubauen oder gar gewisse Kollektivrechte für Deutsche erringen zu wollen. Der zuständige Referent bezeichnete in einem Papier über die Antifa-Vertretungen im Kreis Reichenberg für den dortigen KSČ-Kreisausschuss Anfang 1952 die Antifas als „sektiererische Organisation der Bürger deutscher Nationalität, die sich von den Tschechen isolierte“. Zu diesem Urteil führten ihn angebliche Äusserungen von „Nationalismus“, so in Gablonz, wo gewisse Antifa-Vertreter deutsche Schulen und eine Art FDJ-Gruppe (nach Muster der DDR-Jugendorganisation) gefordert hatten, oder in Haida, wo der blosse Wunsch nach deutschsprachigen Gottesdiensten erhoben worden war. Die Antifa-Vertretungen hätten danach ihre politische Aufklärungsarbeit nach den Vorgaben der Partei vernachlässigt und seien dafür zu einer „Anwaltskanzlei“ geworden, wobei sie Aufgaben erledigten, die der Volksverwaltung oder den Gewerkschaftsorganen vorbehalten seien. Durch ihre ständige Hilfe bei Interventionen an die Zentralorgane trügen die Büros nicht zur Eliminierung der Probleme der Deutschen, sondern zu deren weiterer Vermehrung bei. Angesichts einer durchwegs kritischen Bewertung der Rolle der Antifa-Büros wurden diese bis in den Frühling 1952 (in Einzelfällen erst 1953) aufgehoben, nachdem Liquidierungsanweisungen schon seit Herbst 1950 erfolgt waren. Dieser Schritt – die Auflösung einer eigentlich nützlichen Institution, die an die Partei angebunden war, doch bei der deutschen Bevölkerung relatives Vertrauen genoss – verdeutlichte die engen Grenzen der staatlichen Deutschenpolitik, die die auch nur minimste Vertretung von nationalen Partikularinteressen nicht zuliess, jedenfalls dann nicht, wenn diese autonom von Deutschen repräsentiert wurden.2161 Die Rolle der Antifa-Büros sollten vorwiegend speziell für die Arbeit unter der deutschen Bevölkerung eingesetzte Funktionäre der Kreisgewerkschaftsräte übernehmen. Nach Aufhebung der Antifa-Kanzleien sollte die deutsch sprechende Bevölkerung verstärkt auf sog. „Aktiv-

2160

Vgl. zum deutschen Alt-Kommunisten Edmud Hünigen, der nach der Rückkehr aus dem KZ

Flossenbürg begonnen hatte, sich im Antifa-Büra in Reichenberg für die Belange seineri

Mitgenossen stark zu machen und auch bei vielen Tschechen grosses Ansehen genoss, das

Familien-Porträt in WAGNEROVÁ, Alena (ed.): Helden der Hoffnung. Die anderen Deutschen

aus den Sudeten 1935 – 1989. Berlin 2008, s. 76-92. 2161 SOA Litoměřice, f. KV KSČ Liberec, kr. 26, vertraulicher Bericht über den Stand der Antifa-Agenda für die

Sitzung des Präsidiums des KSČ-Kreisausschusses in Reichenberg vom 25.1.1952; vgl. auch ähnliche und

weitere Vorwürfe an die Antifa-Leiter aus der Sitzung des KSČ-Kreisausschusses vom 30.3.1951 in: Ebenda,

kr. 22; SÚA, f. MV-D, kr. 1281, Schreiben der Antifa-Vertreter aus Warnsdorf vom 28.11.1950 gegen die

Auflösung ihrer Vertretung; STANĚK: Německá menńina, 119-121.

Page 100: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

570

Versammlungen“ die Möglichkeit zur freien Artikulierung ihrer Anliegen und Interessen erhalten. Der Verlauf solcher meist rege besuchten Veranstaltungen, auf denen eigentlich an erster Stelle über Fragen des Weltfriedens, der Wiedervereinigung Deutschlands und des gemeinsamen Kampfes der tschechischen und deutschen Arbeiter gegen den Kapitalismus diskutiert werden sollte, konnte den Organisatoren leicht entgleiten. So zogen es die 220 deutschen Teilnahmer einer solchen „Aktiv-Veranstaltung“ am 23.9.1953 in Bilin vor, stattdessen – und dies im Rahmen einer „verhältnismässig stürmischen Diskussion“ – die sie viel mehr interessierenden Fragen der Rückgabe der Staatsbürgerschaft, der Ausreisemöglichkeiten nach Deutschland, der Familientrennung, der Errichtung von deutschen Grundschulen und der Restitution des konfiszierten Besitzes anzusprechen. Wenn ein Teilnehmer an der besagten Abendveranstaltung zu Protokoll gab „Wir haben hier kein Zuhause“, dann sprach er für viele andere.2162 Zudem hätten die Teilnehmer dieser Veranstaltungen „dauernd an das Jahr 1945 erinnert“.2163 Die erwähnten sozialpolitischen Massnahmen zu Anfang der 50er Jahre wurden von einer parallel einsetzenden Integrierung ins „sozialistische“ Kulturleben flankiert. Als Startschuss dafür kann das so genannte „Programm von Soběslav“ gelten, das am 30.7.1950 einer der Hauptideologen der KSČ, Informationsminister Václav Kopecký verkündete. Im Programm, dem insgesamt als erster gesamtheitlicher Direktive für eine planmässige Kulturarbeit auf dem tschechischen Land eine gewisse Bedeutung zukam, wurde ein Absatz auch den nationalen Minderheiten in den böhmischen Ländern gewidmet. Hierbei wurden die Deutschen mit den Magyaren, Polen und Slowaken in einem Atemzug genannt: „Ladet deren Kulturgruppen ein, damit sie gemeinsam mit Euch ihre öffentliche Kulturtätigkeit planen und helft ihnen im Geiste einer richtigen stalinschen Nationalitätenpolitik in ihrem Bemühen um die Aufrechterhaltung und Entwicklung einer eigenständigen nationalen Kultur“.2164 Dieser und in der Folge viele ähnliche Aufrufe standen im krassen Gegensatz zu weiterhin vorkommenden national motivierten Übegriffen vorwiegend lokaler Organe. So wurde nach einer amtsinternen Meldung eine kulturelle Versammlung der deutschen Jugend in Eger zum Jahresübergang 1950/51 angeblich durch einen „bewaffneten Angriff“ von Angehörigen der tschechoslowakischen Finanzwache „gestört“.2165 Als sich bei Weipert anlässlich eines Treffens von Deutschen aus der ČSR und DDR im Sommer 1951 einige Jungen mit Mädchen aus der DDR bekannt gemacht hatten, kam es ungefähr eine Woche später zu einem tragischen Zwischenfall. Nachdem die Jungen die DDR-Mädchen auf der anderen Seite der Grenze besucht hatten, wurden bei ihrer Rückkehr nach Weipert zwei von ihnen von den tschechoslowakischen Grenzschutztruppen erschossen. Die Jungen hatten keine andere Wahl gehabt, als die Grenze illegal zu überschreiten, da damals noch kein Grenzverkehr zwischen beiden Staaten eingerichtet war. Der deutschen Bevölkerung wurde darauf verboten, am Begräbnis der Jungen teilzunehmen, worauf sich ein Teil der Deutschen trotzdem zusammenscharte und von bewaffneten Sicherheitskräften auseinandergetrieben wurde.2166

2162

SOA Litoměřice – Pobočka Most, f. KNV Ústí n.L., kr. 1700, i.č. 946, Protokoll eines „Aktivs der

Bürger deutscher Nationalität“ in Bilin vom 23.9.1953. 2163

Ebenda, kr. 1357, i.č. 709, Bericht des KNV Aussig über die „kulturell-erzieherische Betreuung

der Bürger anderer Nationalität“, 24.2.1953. 2164 KNAPÍK, Jiří: Únor a kultura. Sovětizace české kultury 1948-1950, Praha 2004 (Otázky nańich dějin), 308;

STANĚK: Německá menńina, 113. 2165

NA, f. MV-NR, kr. 10949, sign. 199, Schreiben des Vorstehers der Abtl. I/5 Cihlář an den

Vorsteher der Abtl. II des MV vom 8.1.1951. 2166

AMV-Pha, 310-96-2, Bl. 20f., geheimes Schreiben des 1. Sektors des MNB an den

stellvertretenden Minister für Nationale Sicherheit Baudyń vom 1.8.1951.

Page 101: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

571

Die grössten staatlicherseits ungelösten Fragen blieben vermögens- bzw. sozialversicherungsrechtlicher Art oder ergaben sich als Folge der Nicht-Anerkennung eines kollektiven Minderheitenschutzes, der die gezielte Förderung der Erhaltung der kulturellen und sprachlichen Eigenart zum Ziel gehabt hätte. Historisch bedingte Faktoren wie die geographische Zerstreutheit der deutschen Bevölkerung, ihre ungünstige Alters- und Bildungsstruktur, zahlreiche noch immer wirkende Ressentiments im Zusammenleben mit der tschechischen Bevölkerung förderten insgesamt Assimilations- bzw. Auswanderungstendenzen im Vergleich zu den anderen ethnischen Minderheiten nachhaltig und sorgten für eine kontinuierliche Verschlechterung der inneren Selbsterhaltungskraft der deutschen Volksgruppe.2167 Nach Vize-Innenminister Spurný, der hier den Standpunkt von Innenminister Nosek wiedergab, war auch Anfang 1952 die Kardinalfrage noch nicht beantwortet, ob die Deutschen „eine Entwicklungsperspektive als Nationalitätengruppe“ haben würden, oder „ob die Entwicklung auf ihre Assimilation herausläuft“. 2168 Unmittelbar danach jedoch schien es – bis etwa 1955 -, als ob die Behörden das Ziel der sprachlichen bzw. nationalen Assimilation aufgeben wollten. So wurde im März 1953 auf einer Sitzung der Aussiger Kreiskoordinationskommission für die Nationalitätenpolitik als Argument für die verstärkte Förderung der Muttersprache unter deutschen Kindern geltend gemacht: „Als Internationalisten haben wir kein Interesse daran, dass wir die Deutschen tschechisieren /assimilieren/, aber wir haben ein Interesse daran, sie im Geiste des Marxismus-Leninismus zu erziehen, damit sie auf diesem Feld von gleicher Gesinnung wie wir sind, damit kein Unterschied zwischen einem tschechischen und deutschen Bürger bestehen wird.“2169

Einen Monat später konstatierte auch Josef Kočiš, der damalige Hauptkonstrukteur der Nationalitätenpolitik innerhalb der Ministerialbürokratie, auf einer interministeriellen Beratung über „Korrekturen“ in der Nationalitätenpolitik, dass es – im Gegensatz zu den ersten Nachkriegsjahren – „nicht möglich ist, mit einer Assimilation zu rechnen“, und dass ein solches Vorgehen „nicht richtig wäre“, wobei er auf die acht Jahre Abstand vom Ende des Zweiten Weltkriegs, die Existenz der DDR und die „revolutionäre Welle in

2167 Vgl. dazu auch: KUČERA: Rechtliche und soziale Stellung, 336f. Auch nach Meinung des Vorstehers der II.

Abteilung des MV von Ende 1951 sei es notwendig „anzuerkennen, dass es in breiten Massen der

Bevölkerung bisher nicht gelingen ist, die nationale Voreingenommenheit gegenüber Personen deutscher /und

in der Slowakei magyarischer/ Nationalität auszutilgen“. Das treffe sogar bei zahlreichen KSČ-Mitgliedern zu.

SÚA, f. 05/3 Ideologické oddělení, sv. 34, a.j. 260, Bl. 1-4, hier 1, Schreiben von Kočiń ans ZK der KSČ vom

28.12.1951. Hinweise auf anhaltende nationale Ressentiments unter der tschechischen wie auch deutschen

Bevölkerung finden sich daneben in zahlreichen weiteren Dokumenten, auch aus späteren Jahren; vgl. z.B.

den Bericht von Rudolf Tomis, Beamter des Schul- und Kulturministeriums, über eine Reise in den Pilsener

Kreis Ende September 1960, in der von anhaltendem „tschechischem Nationalismus“ und „schwereren Fällen

von Diskrimination“ deutscher Bürger, v.a. seitens von Tschechen, die erst seit kurzem in Grenzgebiet

anwesend seien, die Rede ist. Ebenda, sv. 35, a.j. 272, Bl. 69-75, Beilage Nr. 1, hier 70. Zu Reibereien

nationaler Art kam es im November 1959 in der Gemeinde Silberbach (Bezirk Graslitz), als kurz vor den

Feierlichkeiten der „Grossen Oktoberrevolution“ von unbekannten Tätern das dortige Denkmal für die

gefallenen Rotarmisten geschändet wurde. Das Ereignis teilte die Gemeinde in zwei Lager – in Deutsche und

Tschechen. Nach dem Bericht eines mit der Deutschenpolitik beauftragten Funktionärs kam es dabei zu

„Äusserungen eines bourgeoisen Nationalismus und Chauvinismus, wobei sich dies in viel grösserem Masse

bei der tschechischen Bevölkerung äusserte“. Dabei seien auch Forderungen ausgesprochen worden, wonach

es notwendig sei, die Deutschen auf Autos zu verladen und wegzuführen. Ebenda, Bl. 56-61, hier 57, streng

geheimes Material über die Situation der deutschen Bevölkerung im Kreisgebiet vom 18.12.1959. – Vgl.

andere Beispiele für Konflikte mit nationalem Unterton bei STANĚK: Německá menńina, 117. 2168 SÚA, f. 05/3 Ideologické oddělení, sv. 34, a.j. 260, Bl. 6, geheimes Schreiben von Spurný an Genosse Buřival

(Kult-Prop-Abteilung des ZKs der KSČ) vom 15.1.1952. Vgl. auch: STANĚK, Tomáń: Němci v českých

zemích v první polovině 50. let. Část II., in: Slezský sborník 90 (1992), 33-44, hier 35. Spurný schrieb, dass

im erstgenannten Fall „selbstverständlich die Errichtung von deutschen Schulen und eine weitere Behandlung

des ganzen Verhältnisses vorauszusetzen wäre“. 2169

SOA Litoměřice – Pobočka Most, f. KNV Ústí n.L., kr. 1357, i.č. 709, Protokoll der Sitzung der

Kreiskoordinationskommission Aussig vom 24.3.1953.

Page 102: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

572

Westdeutschland“ verwies. Konsequent schlug Kočiš daher die Einrichtung von parallelen deutschen Schulklassen vor, deren hauptsächliche Unterrichtssprache das Deutsche wäre (bisher waren seit 1952 nur ungefähr 120 sog. „Sprachzirkel“ auf Grundschulen vorhanden, in denen Kinder vorwiegend aus deutschen, teils aber auch aus anderen Familien meist zwei Mal pro Woche und unter der Leitung von vorwiegend tschechischen oder „zuverlässigen“ deutschen Lehrern Deutsch als Fremdsprache lernten). 2170 Nach dem Vertreter des Schulministeriums waren gegenwärtig ungefähr 15.000 deutsche Kinder in tschechischen Schulen. Trotz der auf der Beratung von allen Teilnehmern geteilten Absicht, deutsche Klassen zuzulassen, wurde der Plan in der Folge, wahrscheinlich aus Furcht vor einer Förderung von Isolationstendenzen, nicht verwirklicht. Die Tatsache, dass an einigen Orten nach einem Aufruf des Schulministeriums bereits mit den Anmeldeaktionen für die geplanten deutschen Parallelklassen begonnen worden war und diese dann auf einmal wieder jäh abgebrochen werden mussten, förderte nicht gerade das Vertrauen zwischen der deutschen Bevölkerung und dem Regime. 2171 Wie Vorabklärungen in einzelnen Gemeinden der Bezirke Teplitz-Schönau, Komotau und Brüx im Frühling 1954 ergeben hatten, bestand Widerstand gegen eigene deutsche Klassen nicht nur in der Bevölkerung (hier angeblich besonders bei „alteingesessenen“ Tschechen, die sich an den Kampf für die Errichtung von tschechischen Minderheitenschulen vor 1918 erinnerten) und im Lehrkörper, sondern auch bei örtlichen KSČ-Funktionären. 2172 Im Herbst 1954 beschloss die Regierung, ab dem dritten Schuljahr an Schulen, wo mindestens 10 Anmeldungen bestanden, besondere Klassenabteilungen einzurichten, in denen die deutsche Sprache intensiver gelehrt wurde (parallel sollten auch Abteilungen für slowakische und magyarische Kinder eingerichtet werden). In Kraft trat diese minimale Verbesserung wieder nur mit Verspätung, ab dem Schuljahr 1955/56. Das Interesse der deutschen Eltern und Kinder hielt sich – wie schon in den Jahren zuvor – in Grenzen, war aber grösser als etwa bei slowakischen Familien. So meldeten sich bis Anfang 1955 im Kreis Aussig nur 70 Prozent aller deutschen Schulkinder (zum Vergleich: 51 Prozent aller slowakischen Kinder). Die Beherrschung der deutschen Sprache seitens deutscher Schulkinder und Jugendlicher in schriftlicher Form war bereits Mitte der 50er Jahre relativ dürftig und stellte eine direkte Folge der Nicht-Zulassung eines Schulwesens mit deutscher Unterrichtssprache dar. Warum ein solches für die deutsche Minderheit nicht eingeführt wurde, obwohl es in der Republik für Polen, Magyaren und Ukrainer eigene Schulen gab, war auch im Vergleich mit anderen Staaten, in denen eine „stalinistische Nationalitätenpolitik“ betreiben wurde und Minderheitenschulen selbst für kleinste Gruppen existierten, durch die Staatsvertreter nur schwer zu erklären. Für die weitere Entwicklung der Deutschen in der Tschechoslowakei war die Nichtbereitschaft des Staates, ihnen eigene Schulen zu gewähren, ein zentraler Faktor, der die sprachliche Assimilation entscheidend beschleunigte. Die Benutzung der deutschen Sprache in der

2170

Die Errichtung von deutschen Sprachzirkeln (sowie die baldige Herausgabe einer deutschen Zeitschrift)

schien unter den beteiligten Ministerialorganen schon im Herbst 1950 beschlossene Sache gewesen zu sein.

Vgl. NA f. MV-NR, kr. 10949, sign. 199, Memorandum o.D. (ca. Herbst 1950) über die „kulturell-

aufklärerische Hilfe an die deutsche Bevölkerung bei uns“, vermutlich vom Ministerium für Schulwesen und

Volksauflärung oder vom ZK der KSČ. – „Aus politischem Gesichtspunkt“ war den Behörden daran gelegen,

dass an den Sprachzirkeln auch Kinder aus nicht-deutschen Familien teilnahmen. Auch sollten deren Leiter in

„Verbindung“ mit der Bezirks-Koordinationskommission für die Natinonalitätenpolitik stehen, um „die

richtige politische Linie“ der Sprachzirkel zu garantieren. SOA Litoměřice – Pobočka Most, f. KNV Ústí n.L.,

kr. 1699, i.č. 946, Konzept des Schreibens des Leiters des Referats für innere Angelegenheiten und Sicherheit

des KNV Aussig vom 23.10.1951 ans Referat IV desselben KNVs. 2171 SÚA, f. 05/3 Ideologické oddělení, sv. 33, a.j. 253, Bl. 50-62, hier 54 und 60, Bericht „Situation unter den

Bürgern deutscher Nationalität“, ca. 1955. 2172

SOA Litoměřice – Pobočka Most, f. KNV Ústí n.L., kr. 1357, i.č. 709, Bericht über eine

Inspektionsreise in die genannten drei Bezirke Ende März/Anfang April vom 5.4.1954.

Page 103: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

573

Arbeitswelt der Erwachsenen war kein seltenes Phänomen, freilich hingen die Möglichkeiten dazu von der spezifischen Lage in den Betrieben ab (teilweise erschienen Betriebsperiodika zweisprachig, gleiches galt für den „Betriebsrundfunk“). Die Benutzung der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit war dennoch mancherorts mit Problemen und Ärger verbunden, so dass das Deutsche weiterhin vor allem in Dialektform innerhalb der Familie weitergepflegt wurde.2173 Ab etwa Ende 1951 wurde gezielt die Verfügbarkeit an deutschsprachigen Büchern in öffentlichen Büchereien und Betriebs-Bibliotheken gefördert. Das Interesse der deutschen Bevölkerung an diesem Angebot war beträchtlich. Ein Problem lag allerdings darin, dass von erhaltenen früheren Bibliotheksbeständen ein grosser Teil der Literatur wegen „nazistischer Tendenzen“ nicht zur Ausleihe in Frage kam. Genutzt werden konnten weiterhin wissenschaftliche Handbücher und belletristische Klassiker, die vor 1933 erschienen waren. Das grösste Gewicht wurde allerdings der sozialistischen Literatur beibemessen (einerseits den marxistisch-leninistischen „Klassikern“, andererseits dem sozialistischen Roman aus der Sowjetunion, der DDR und der Tschechoslowakei). Gerade dieser Typ schien allerdings unter den Deutschen nicht besonders gefragt zu sein, abgesehen von älteren Klassikern der russischen Literatur. Den anfänglichen Mangel an „neuer“ Literatur und das Problem, dass nicht wenige Deutsche in abgelegenen kleinen Dörfern wohnten, versuchte man mit mobilen Bibliothekssammlungen zu kompensieren. Der Umstand, dass die ideologisch entsprechende Belletrie oft aus der DDR importiert werden musste, wurde eher kritisch beurteilt, da man die Loyalität der einheimischen Deutsche eher anhand von Übersetzungen von eigener tschechoslowakischer Literatur zu gewinnen glaubte. Das Leseangebot in den Bibliotheken konkurrierte noch lange mit der verbreiteten Praxis unter den Deutschen, miteinander unter der Hand Bücher aus privaten Beständen auszutauschen, die von den Behörden in der Mehrheit als „Schundliteratur“ qualifiziert wurde.2174 Auf einer Besprechung auf dem ZK der KSČ wurde über die Arbeit unter den Bürgern deutscher Nationalität im Juni 1953 konstatiert: „Die Arbeitenden der Gewerkschaften und Volksverwaltung, die für die Arbeit unter den Deutschen verantwortlich sind, haben keine Klarheit. Mancherorts wird von Assimilation gesprochen, mancherorts über kulturelle Eigenständigkeit und allgemein über die Stalinsche

Nationalitätenpolitik.“2175

Als Ergebnis dieser unkoordinierten Politik wurde ein „ungenügendes staatsbürgerliches und Klassenbewusstsein“ der deutsch sprechenden Bürger diagnostiziert. Deshalb sollte verstärkt zwischen der mittleren und älteren Generation gearbeitet werden, und das besonders „in erzieherischer Hinsicht“, damit die Deutschen „gleichberechtigte Bürger

2173 SÚA, f. MV-D, kr. 1281, Beratung vom 24.4.1953; ebenda, geheimes Memorandum des MV vom Oktober

1953 über die Durchführung der Nationalitätenpolitik, adressiert ans ZK der KSČ und einige

Regierungsstellen. SOA Litoměřice, f. KNV Liberec, kr. 60, i.č. 32, Grundlagenpapier über die Arbeit unter

den Bürgern deutscher Nationalität des zuständigen Referenten für die Sitzung des KNV-Rates in

Reichenberg am 12.2.1957; ebenda, f. KNV Ústí n.L., kr. 93, Beilage zum Protokoll der Sitzung des KNV-

Rates in Aussig vom 25.1.1955. – Zur Ablehnung deutscher Schulen bzw. Klassen vgl. STANĚK: Německá

menńina, 131-133, 143; URBAN: Sudetendeutsche Gebiete, 33f. und BOHMANN, Alfred, Bd. 4, 508. 2174

SOA Litoměřice – Pobočka Most, f. KNV Ústí n.L., kr. 1357, i.č. 709, Bericht des

Bibliotheksinspektors des Bezirks Teplitz-Schönau für den Januar und Februar 1952 vom

22.2.1952; ebenda, Protokoll der Sitzung der Kreiskoordinationskommission Aussig vom

20.5.1952; SOA Litoměřice, f. KNV Liberec, kr. 37, i.č. 961, Bericht über die Natinoalitätenpoltik

für die Sitzung des KNV-Rates in Reichenberg vom 26.8.1953KNV . 2175 SÚA, f. 05/3 Ideologické oddělení, sv. 33, a.j. 256, Bl. 1, Aufzeichnung für Genossen Mucha der ZK-

Abteilung für Kulturpropaganda vom 24.6.1953.

Page 104: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

574

unseres volks-demokratischen Vaterlandes werden“. Deshalb sei für sie in gleichem Masse „zu sorgen“ wie für die übrigen Staatsbürger, und das in ihrer Muttersprache. Ihre Kulturtätigkeit dürfe aber „keine Eigenheiten haben, die dem allgemeinen tschechoslowakischen Kulturleben fremd sind“ (darunter wurde explizit die sog. „deutsch-böhmische Kultur“ gefasst, was immer man darunter verstehen mochte). Kurz: „Wir müssen unter allen Bedingungen dagegen kämpfen, dass sie [die Deutschen] sich in unserem Staat als Ausländer fühlen oder als solche betrachtet werden. Es ist notwendig, entschieden Meinungen entgegenzuwirken, wonach sie ´zu Deutschland´ gehören und

[gleichzeitig] unter keinen Umständen eine Minderheitenpolitik zuzulassen.2176 Im Geiste der neuen Nationalitätenpolitik war den Deutschen auch die Möglichkeit zu geben, „dass sie sich in ihrer Muttersprache auch vergnügen können“. Schliesslich trage auch dies zur „Entwicklung der Aufbaubemühungen unserer deutschen Werktätigen“ bei. Die Programme für an deutsche Personen gerichtete „Kulturabende“, Tanzveranstaltungen und „Estraden“ waren allerdings vorher vom zuständigen ONV-Referat „sorgfältig darauf zu überprüfen, damit sie mit unserer heutigen politischen Linie übereinstimmen“. 2177 Ein ausführliches Elaborat aus Partei- oder Regierungskreisen aus der Mitte der 50er Jahre zog noch immer eine durchzogene Bilanz über die neue Nationalitätenpolitik seit 1950: „Auch wenn sich seit dem Jahr 1950 viel geändert hat und sich die Verhältnisse der deutschen Werktätigen beträchtlich konsolidiert haben, bleibt ein grundlegender Mangel. Es gibt keine klaren politischen Richtlinien, die die weitere Entwicklung der deutschen Nationalitätengruppe in der Tschechoslowakischen Republik bestimmen würden. Das Fehlen dieser Richtlinien äussert sich darin, dass keine systematische kulturelle Erziehungsarbeit, keine Koordination zwischen einzelnen Institutionen existiert, dass die Lösung aller Fragen der deutschen Bürger dem Willen und der Reife der einzelnen Kreis-, Bezirks- und Ortsnationalausschüsse und anderen Behörden überlassen ist. Die Uneinheitlichkeit in den Meinungen und dem Vorgehen äussert sich dann darin, dass unsere Politik gegenüber den deutschen Mitbürgern in den einzelnen Regionen zwischen einer Politik der gewaltsamen Assimilierung und einer Politik, die geradezu

verschiedene bourgeoise nationalistische Tendenzen unterstützt, schwankt.“2178

Im Juni 1957 wurde auf einer gesamtstaatlichen Zusammenkunft von Gewerkschaftsfunktionären, die mit der Arbeit unter der deutschsprachigen Bevölkerung betraut waren, gefordert, dass deren historische Entwicklung berücksichtigt werden müsse und im Kontakt mit ihnen „gewisse eigenständige und spezifische Züge“ respektiert werden müssten. In einem Gesamtrahmen, der im Prinzip keine Sonderwege oder gar eine Kulturautonomie zuliess, stellte die Realisierung dieser Linie jedoch eine kontinuierliche Gratwanderung und unter den konkreten Bedingungen vor Ort (so in den Betrieben, in denen zweisprachige Besprechungen für viele tschechische Arbeiter zu lange dauerten) eine grosse Herausforderung dar. Denn als Problem wurde gleichzeitig bereits die Abhaltung von „separaten Aktionen der Deutschen wie Tanzveranstaltungen, Ausflüge in die Berge und Treffen in Berg-Gaststätten, die sie sehr schnell zu organisieren verstehen“, wie auch die Programme einiger Kulturveranstaltungen, die „manchmal auch in ideologischer Hinsicht unerwünscht sind“,

2176 Ebenda, Bl. 2-5, hier 4, Bericht über die kulturelle Arbeit zwischen den Bürgern deutscher Nationalität vom

Frühling 1953. 2177

SOA Litoměřice – Pobočka Most, f. KNV Ústí n.L., kr. 1699, i.č. 946, Konzept des Schreibens des

KNV Aussig an den ONV Komotau vom 2.1.1952. Vgl. als Beispiele einige Programme von

Unterhaltungsveranstaltungen der Jahre 1951/52 ebenda. 2178 SÚA, f. 05/3 Ideologické oddělení, sv. 33, a.j. 253, Bl. 50-62, hier 54f., Bericht „Situation unter den Bürgern

deutscher Nationalität“, ca. 1955.

Page 105: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

575

gesehen (so wurde auch bemängelt und als „Separatismus“ bezeichnet, dass in Karlsbad ein „Konzert für die deutsche Bevölkerung“ abgehalten worden sei, auf dessen Programm Strauss, Schubert usw. standen, jedoch weder Smetana noch Dvořák, „obwohl die Deutschen diese gern haben“; kritisiert wurde aber gleichzeitig, wenn für deutsche Musikgruppen nicht „ältere, fortschrittliche Sachen“ ausgewählt würden, sondern für die Werktätigen dagegen „sentimentale Limonaden“ komponiert würden oder diese sich mangels der Belieferung mit Musiknoten „etwas irgendwo auf dem Dachboden zusammenkramen“). Noch immer wurde eine beträchtliche Zurückhaltung deutscher Angestellter vor der aktiven Teilnahme an Gewerkschafts- oder politischen Aktivitäten festgestellt, was wie üblich auch „der feindlichen Propaganda“ aber nicht zuletzt auch noch immer ausgemachten „chauvinistischen Einstellungen“ unter tschechischen Parteigenossen zugeschrieben wurde. Die Arbeit zwischen den deutschen Werktätigen sei „Vertrauenssache“. Das Vertrauen habe man verloren, weil man sich nicht genügend um „unsere Deutschen“ gekümmert habe, währenddessen „der Feind und der Pfarrer gearbeitet haben“. Viele hätten schlicht „noch nicht begriffen, dass sie vollberechtigte Bürger sind“, was man daran sehe, dass sie „eigene Verbände, eigene Aktionen“ wollten. Auf der erwähnten Besprechung forderte der Budweiser Gewerkschaftsvertreter die Abschiebung von „örtlichen Elementen, die auf die anderen ungünstig einwirken“ und diese von der Einbindung ins politische Leben abzuhalten versuchten, ins Landesinnere. Der Karlsbader Vertreter, Abgeordneter Pötzl, erwähnte seine Erfahrungen, wonach „noch viele Deutsche aus der ČSR [in die DDR] auf Besuch fahren und dies zu Äusserungen der Unzufriedenheit und zur Anschwärzung der ČSR ausnutzen“. Grosse Sorgen bereiteten den Behörden die in der zweiten Hälfte der 50er Jahre zunehmende Besucherwelle aus der BRD und eine nicht geringe Zahl von ČSR-Deutsche, die zu Besuchszwecken in die BRD reisen durften und – falls sie zurückkehrten – ihre Eindrücke über das prosperierende Westdeutschland weitererzählten. Das Ausreisefieber vom Herbst 1956 (zur Ausreise angemeldet hätten sich 55.000 Deutsche, also ein ganzes Drittel) hatte auch nach Meinung des stramm linientreuen Josef Lenk „gezeigt, dass etwas nicht in Ordnung ist“. Probleme erkannte Lenk in angeblich noch immer vorhandenen Tendenzen zum „Sozialdemokratismus, Militarismus, Kapitalismus“. Obwohl sich die Frage der Konfiskate und Entschädigungen seit den ersten Jahren der 50er Jahre merklich beruhigt hatte, war diese auch 1957 noch aktuell. Bei den meisten Deutschen blieb eine tiefe Verbitterung über die Entbehrungen der ersten Nachkriegsjahre vorhanden, die sie nicht so einfach wegzustecken vermochten.2179 Die relativ rege Tätigkeit der Behörden, der Partei und Gewerkschaften im Bereich der Nationalitätenpolitik während der 50er Jahre, innerhalb der dem Regime am meisten Kopfschmerzen die deutsche und die Roma-Minderheit bereiteten, ging gegen Ende des Jahrzehnts in eine Phase des verstärkten laissez-faire über. Organisierte, auf die Angehörigen der deutschsprachigen Minderheit fokussierte politische und kulturelle Veranstaltungen nahmen merklich ab, wie bisher wurde der freiwillige Unterricht in deutscher Sprache in den „Sprachzirkeln“ auf keine Weise propagiert, bei Kulturveranstaltungen sollte künftig grösserer Bedacht auf gemeinsame tschechisch-deutsche Unterhaltungsabende und dergleichen gelegt werden. Diese Tendenz, die nur in quantitativer, aber nicht in qualitativer Hinsicht eine Neuerung darstellte, wurde durch den optimistischen Glauben an die baldige Durchsetzung einer „sozialistischen

2179 Ebenda, a.j. 256, Bl. 7-12 und 14-35, Protokoll der gesamtstaatlichen Besprechung von

Gewerkschaftsfunktionären vom 25.6.1957. Vgl. zur Situation und Stimmung der deutschen Bevölkerung in

den 50er Jahren auch: URBAN, Sudetendeutsche Gebiete, 32-38.

Page 106: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

576

Assimilation“ nicht nur der deutschen Nationalitätengruppe genährt.2180 Im August 1960 veröffentlichte einer der seit der Zwischenkriegszeit einflussreichsten Kommunisten, Bruno Kühler, einen vielbeachteten Artikel im Blatt für Parteifunktionäre „Ţivot strany“, in dem er nicht nur die Meinung vertrat, dass es in der ČSSR (so der Name der Republik nach der neuen „sozialistischen Verfassung vom 11.7.1960) schon jetzt keine deutsche Minderheit gäbe (sondern nur noch Bürger deutscher Nationalität oder deutscher Abstammung), sondern bezüglich der Deutschen ganz offen von einer „freiwilligen Assimilation“ sprach. Diese Stellungnahme sollte begründen, warum in der neuen Verfassung nur die Deutschen (zusammen mit den Roma) nicht explizit als Nationalitätengruppe der ČSSR anerkannt wurden. Köhler sprach von einem „vollständigen Zusammenleben und Zusammenfliessen“ (úplné sţití a splynutí) der verbliebenen Deutschen mit der Mehrheitsgesellschaft, das die Partei- und Staatsorgane unterstützen würden. Ausdrücklich wies er aber darauf hin, dass niemand gewaltsam zur Assimilation oder Ablegung seines Deutschtums gezwungen werden dürfe. Sich aber gegen den Prozess einer freiwilligen Assimilierung zu stemmen und sich zu bemühen, „jede deutsche Seele“ zu retten, wäre nach Köhler nichts anderes als Nationalismus und nationale Beschränktheit. 2181 Nach Josef Lenks zutreffender Einschätzung verkündete Köhler damit nicht viel Neues, was nicht schon vorher seitens des Regimes verfolgt worden wäre, doch freute sich Lenk, „dass dies [nun] endlich offen in einem Artikel ausgesprochen wurde“.2182 Es ist schwer zu beurteilen, wie viele höhere Funktionäre des Regimes in der Erhaltung von nationalen Gruppen deshalb eine nicht besonders verdienstvolle Aufgabe sahen, weil sie – ähnlich wie der Autor – an die unheilvollen Folgen eines aufgepeitschten ethno-zentrischen Nationalismus dachten, der Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwei Mal in den Krieg stürzte und zwischen 1938 bis 1948 für eine „nationale“ Flurbereinigung von noch nie dagewesenem Ausmass verantwortlich zeichnete. Es mag sein, dass die kommunistischen Chefideologen tatsächlich aus innerer Überzeugung den „proletarischen Internationalismus“ predigten, weitgehend ist dies (zumindest bei der kommunistischen Führungsriege aus der Ersten Republik) gar wahrscheinlich. Fest steht jedenfalls, dass diese kritische Haltung gegen die Aufrechterhaltung von ethnischen Identitäten praktisch nur (und nicht gleichmässig intensiv) gegenüber Minderheitengruppen zum Tragen kam. Der tschechischen und slowakischen Mehrheitsbevölkerung wurde ihr ethno-zentrisches Nationalgefühl belassen, stellenweise wurde dieses gar mit ausgewählten Ingredienzien der „Volkskultur“ genährt. Somit waren die Träger des Regimes selbst nicht befreit vom ethnischen Nationalismus, die Bevölkerung schon gar nicht. Klar ist auch, dass das Regime an einer Förderung der deutschen Identität nur schon aus eigenem Machterhalts-Interesse nicht interessiert sein konnte. Denn Gottwald und seine Erben wussten gut genug, dass ihr Siegeszug nach 1945 zu einem nicht geringen Teil den damals ausgegebenen strammen anti-deutschen Losungen zu verdanken war. Die Legitimation der Moskauer Statthalter in Prag bröckelte im Laufe der Zeit dahin – doch zu ihren beständigsten Elementen gehörte die Verteidigung der „nationalen Interessen“ gegen die deutsche Übermacht, die vor allem in

2180 STANĚK: Německá menńina, 143f., 151, 154; BOHMANN: Menschen und Grenzen, Bd. 4, 487. 2181 KÖHLER, Bruno: Vyřeńení německé otázky a nová ústava republiky, in: Život strany Nr. 16 (1960), 985-988.

Vgl. auch: STANĚK: Německá menńina, 152; REINDL-MOMMSEN: Die Sudetendeutschen in der

Tschechoslowakei, 322. 2182 SÚA, f. 05/3 Ideologické oddělení ÚV KSČ, sv. 35, a.j. 272, Bl. 76f., Bericht die Kreiskonferenz von

Funktionären deutscher Nationalität in Karlsbad vom 28.9.1960. – Die letzte programmatische Direktive in

der Deutschenpolitik beschloss das ZK-Politbüro am 19.11.1956, als den Deutschen das Recht auf ein

kulturelles Leben in der Muttersprache und der Schutz vor jedweder nationaler Diskriminierung zugesichert

wurde.

Page 107: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

577

der schnell erstarkenden und westangebundenen BRD wahrgenommen werden konnte. Zwar gab es einen deutschen „Bruderstaat“, die DDR, doch richtete sich das Augenmerk der meisten tschechoslowakischen Deutschen auf den deutschen Nachbarn, wo die meisten vertriebenen Bekannten und Verwandten lebten und über den man infolge zahlreicher persönlicher Kontakte, Besuche und des Verfolgens westdeutscher Rundfunk- und Fernsehprogramme gewöhnlich mehr wusste als über den ostdeutschen Nachbarn.

* * * Die Staatspolitik verfügte in der ersten Hälfte der 50er Jahre (und danach) über kein schlüssiges Konzept, wie die „Deutsche Frage“ in der Republik zu behandeln sei. Zwar hatte sich das Regime definitiv von Abschubstendenzen verabschiedet und verfolgte nun eindeutig das Ziel einer möglichst nachhaltigen Integration der deutschen Bevölkerung in die Gesellschaft. Doch bestand keine Klarheit, mit welchen Mitteln diese Integration zu erreichen sei und wie weit diese wünschenswerterweise gehen sollte. Der überzeugte und glaubwürdige Versuch, die deutsche Bevölkerung sozial gleichzustellen, gelang weitgehend – freilich mit der Einschränkung, dass es sich um eine Gleichstellung ex nunc handelte, die die oft markanten Folgen der Ungleichbehandlung der Vorjahre nicht einfach aus der Welt schaffen konnte. Während der Staat im sozialen Bereich eine konsequente Linie verfolgte (nämlich die einer Art sozialen Assimilation), so tat man sich ungemein schwerer in der Beantwortung der eigentlichen Gretchenfrage, ob hinsichtlich der Deutschen auch eine sprachliche und ethnokulturelle Assimilation zu fördern, oder wenigstens zu tolerieren sei. Klar war nur, dass eine gewaltsame Assimilierung, wie sie in der zweiten Hälfte der 40er Jahre versucht wurde, nicht mehr in Frage kam. Auf der anderen Seite bestand der Grundkonsens, dass eine zielbewusste Förderung von nationalen Minderheitenidentitäten auch nicht in Frage kam. Als Resultante einer in der Kernfrage noch auf lange Sicht unentschlossenen Politik blieb ein von Halbherzigkeit und Widersprüchen geprägtes „Sich-Durchwursteln“, das bis zum Ende des kommunistischen Regimes 1989 bewirkte, dass sich immer weniger Personen in den böhmischen Ländern als Deutsche fühlten und bekannten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich dieser Trend unter den gegebenen geopolitischen und demographischen Realitäten zwischen 1950 und 1989 ohnehin eingestellt hätte, auch wenn die Staatspolitik eine deutlich affirmativere Deutschenpolitik betrieben hätte, wie sie etwa gegenüber den (freilich kompakt siedelnden) Magyaren und Polen umgesetzt wurde. Alle geographisch zerstreuten Minderheiten in den böhmischen Ländern unterlagen nach 1945 weitreichenden Assimilationstendenzen, selbst wenn sie eine wesentlich günstigere Sozialstruktur besassen (Slowaken, Rusynen/Ukrainer, Magyaren, Griechen, in geringerem Masse die Roma). Es war und ist nichts weiter als normal, dass sich die Kultur einer „nationalen“ Bevölkerungsgruppe stetig verändert und an die aktuelle Umgebung anpasst. Betrachtet man die ethnische Umkrempelung der Bevölkerung der böhmischen Länder nach 1945 als gegebene Tatsache, so musste es nach der erzwungenen Entfernung von über neun Zehnteln der Sudetendeutschen auf der Hand liegen, dass sich auch die „Volkskultur“ (im weiteren Sinne) bzw. der Charakter der „Ethnizität“ der verbliebenen Restdeutschen wandeln würde – ganz unabhängig davon, wie die kommenden Regimes die „Deutsche Frage“ behandeln würden. Angesichts einer Zauderpolitik, die in höchst ambivalenter Manier mal eine „nationale Eigenart“ durch die Zulassung der deutschen Sprache und deutscher Folkloregruppen förderte und ein andermal sprachlichen oder kulturellen Emanzipationsforderungen Separatismus und Isolationismus vorwarf, schritt die sprachliche und kulturelle Assimilation der deutschen Bevölkerung besonders schnell voran. Diese Entwicklung war für die Machthaber –

Page 108: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

578

gelinde gesagt – nicht unerwünscht, für einige Vertreter des Regimes war sie unter der Hand willkommen, viele rechneten nach sowjetischem Vorbild mit dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, in der nationale und soziale Differenzen keine nennenswerte Rolle mehr spielen würden. Es stellt sich die Frage, ob angesichts der charakterisierten ambivalenten Politik und der Nichtverleihung von kollektiven Minderheitenrechten von einer anhaltenden nationalen Diskriminierung der Deutschen in der Tschechoslowakei gesprochen werden kann. Eine faktisch wirksame Benachteiligung ergab sich zweifellos aus der weitgehenden Tschechisierung (Slowakisierung) aller öffentlichen Lebenssphären. Wer die Staatssprache nicht solide beherrschte, musste im Alltag zwangsläufig Nachteile erleiden, auch wenn eine solche Benachteiligung nicht beabsichtigt sein musste. Ganz unabhängig von der Tatsache, dass der Autor Begriffen wie „Volksgruppe“, „Nationalität“ und somit auch „nationale Eigenart“ sehr kritisch gegenübersteht, bestand in der Nachkriegstschechoslowakei eindeutig eine sprachliche Diskriminierung gegenüber einer Sprachgruppe, die in einigen Bezirken über 10% und in zahlreichen Gemeinden bis über die Hälfte der Einwohner zählte. Zwar wurde im mündlichen Amtsverkehr (manchmal auch bei schriftlichen Eingaben an die lokalen Behörden) nicht selten Deutsch akzeptiert, doch bestand kein Recht darauf, sich der deutschen Muttersprache vor einer Behörde oder einem Gericht zu bedienen. Die Folgen konnten in der Tat für den Einzelnen schwerwiegend sein, vor allem, wenn es sich um Menschen handelte, die für den aktiven Erwerb einer Fremdsprache zu alt waren. Es erscheint diskutabel, welche übrigen „nationalen Eigenheiten“ nebst der angestammten Sprache, die gleichzeitig Kulturerbe und –träger ist, sonst noch von allen verbliebenen deutsch sprechenden Personen geteilt wurden und unter den Bedingungen des herrschenden Systems gemeinsam hätten erhalten werden können. Eine Minderheit, die – mit abnehmender Tendenz – weniger als zwei Prozent der Staatsbevölkerung stellte, verstreut siedelte, weitgehend ihrer Intelligenz beraubt war und eine solch stark deformierte soziale wie demographische Struktur besass, wäre auch unter den denkbar besten Rahmenbedingungen kaum in der Lage gewesen, langfristig autarke sprachliche und kulturelle Strukturen aufrechtzuerhalten. Solange in der Tschechoslowakei kein demokratisches und pluralistisches System herrschte, war die Erhaltung irgend welcher „Eigenarten“ überdies generell ein Problem – nicht nur für „nationale Minderheiten“. Eine Unifizierung des Alltagslebens war die logische Konsequenz einer stark gleichgeschalteten sozialistischen Gesellschaft. Abgesehen vom wahrhaft wesentlichen Einschnitt auf der Ebene der Sprache wandelte sich auch der Alltag eines „normalen“ tschechischen Einwohners der böhmischen Länder in der Nachkriegszeit als Folge der globalen systemübergreifenden Modernisierung und Sozialisierung der Gesamtgesellschaft in der Tschechoslowakei. Ein echter Minderheitenschutz wäre ohnehin nur im Rahmen einer funktionierenden demokratischen Ordnung möglich gewesen, in der zumindest ein minimaler Grundkonsens über die Staatsform und Gesellschaftsordnung geherrscht hätte. Zu diesem Grundkonsens hätte natürlich auch die freiwillige Entscheidung jedes Bürgers gehört, ob er in der angestammten Republik bleiben oder auswandern wollte.2183 Ebenso wären für den Minderheitenschutz dezentrale Strukturen nötig gewesen, deren Erfüllung mit Kompetenzen im System des „demokratischen Zentralismus“ enge Grenzen gesetzt waren. Wer von Minderheitenschutz oder gar der Wahrung von „ethnischen

2183 Wie die enorme Ausreisewelle in den 60er Jahren zeigen sollte, war dieser Grundkonsens auf Seiten der

deutschen Bevölkerung keine Selbstverständlichkeit.

Page 109: Zwischen Vertreibung und Integration - is.muni.cz Karlova v Praze Fakulta sociálních věd Institut mezinárodních studií Zwischen Vertreibung und Integration Tschechische Deutschenpolitik

Nationalitätenpolitik im Zeichen des „proletarischen Internationalismus“ (1950-1953)

579

Rechten“ spricht, sollte sich aber im Klaren sein, was mit diesen Instrumenten eigentlich geschützt werden sollte. Das ganze Register der meist nur scheinbar „objektiven“ Merkmale von „Wissenschaften“ wie der Volkskunde oder Ethnologie, die in Mitteleuropa über ein Jahrhundert lang vor allem zur künstlichen Abgrenzung von meist bloss eine verschiedene Sprache sprechenden Menschen beitrugen? Aus Sicht des Autoren hat sich ein zweckmässiger und die Interessen einer Gesamtgesellschaft berücksichtigender Minderheitenschutz um nicht viel mehr als darum zu kümmern, dass kein Staatsbürger wegen seiner Muttersprache in irgendeiner Form des öffentlichen Lebens diskriminiert wird. Alle übrigen möglichen Diskriminierungen wären durch strikte Einhaltung der für alle Bürger gleichermassen (aber auf individueller Basis) geltenden demokratischen Ordnung zu unterbinden. Kollektivrechte an „nationale Gruppen“, die mehr als Sprachenfragen regelten, oder gar das Operieren mit Territorialautonomien, können gerade bei historisch belasteten Verhältnissen zwischen verschiedenen Gruppen in einer Staatsgesellschaft viel mehr Schaden als Nutzen anrichten. Wenn die Angehörigen von sprachlichen oder nationalen Gruppen physisch eng ineinander verschränkt siedeln, sind Territorialautonomien in Verbindung mit nationalen Vorzeichen von vorn herein nicht zu empfehlen. Überdies verleiten kollektive Rechte leicht zu kollektiven Strafen und verhärten Gruppenstereotype. Wären die hier postulierten Grundbedingungen in der sozialistischen Tschechoslowakei erfüllt gewesen, so müsste dem intensiv und rapid vorangeschrittenen sozialen und „ethnischen“ Assimilierungsprozess, dem die Angehörigen der ehemals deutschsprachigen Minderheit besonders stark unterlagen, nicht a priori eine bedauernswerte Note anhaften.2184

2184 Vor allem in älteren bundesdeutschen Publikationen, die oft von vertriebenen Sudetendeutschen verfasst

wurden, wurde ein düsteres und kaum nüchternes Bild vom gewaltsamen „Volkstod“ der verbliebenen

deutschen Minderheit an die Wand gemalt, wobei das verwendete Vokabular noch erkennbar an die Zeiten

des „Volkstumskampfes“ seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erinnerte. In der Publikation Menschen

vor dem Volkstod. 200.000 Deutsche in der ČSSR, München 1961, ist bezüglich der verbliebenen Deutschen

von einer „Tragödie, die zu denken gibt“ und von „Menschen, die ihres Volkstumes beraubt werden“, aber

auch von einer „volksbiologischen Entwicklung“ die Rede (Vorwort und Beitrag von A. Bohmann). Vgl. auch

folgende Publikationen: Zur gegenwärtigen Lage der Deutschen in der Tschechoslowakei. Fünf gutachtliche

Äusserungen, München 1957; HERGET, Toni: Die Deutschen in der Tschechoslowakei seit 1945, Wien 1979;

POHL, Ernst: Die Deutschen in der Tschechoslowakei seit 1945, Bamberg 1984; EIBICHT, Rolf-Josef (ed.):

Die Sudetendeutschen und ihre Heimat. Erbe, Auftrag, Ziel. Zur Diskussion um Rückkehr und

Wiedergutmachung, Wesseling 1991. – Vgl. auch den Aufsatz von Jurová, die in Bezug auf die Behandlung

der Roma in der Nachkriegstschechoslowakei die „Abstreitung der ethnischen Andersartigkeit und deren

ethnischen Rechte“ seitens des Staates beklagt und die formale Nicht-Anerkennung einer Roma-Nationalität

mit der „Durchsetzung von totalitären Praktiken in der Staatspolitik“ gleichsetzt, obwohl gerade in der ersten

Hälfte der 50er Jahre das Regime kaum eine „ethnokulturelle“ Gruppe in den böhmischen Ländern – nebst

den Deutschen – mit grösserem Engagement sozial gleichzustellen trachtete. JUROVÁ, Anna: Presadenie

totalitných praktík v ńtátnej politike voči Cigánom-Rómom na začiatku 50. rokov, in: PEŃEK, Jan (ed.): V

tieni totality. Politické perzekúcie na Slovensku v rokoch 1948-1953, Bratislava 1996, 164-176.