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Studia philosophica 73/2014
Emil Angehrn
«Zum Sinn verurteilt» Hermeneutische Spuren der
Phänomenologie
Merleau-Ponty’s dictum that we are ‘condemned to meaning’ refers
to an irreducible condition of human existence. Humans live in such
a way that they always refer in-terpretatively to the world, to
other people and to their own lives. Behaviour and ex-perience both
already have to do with meaning and understanding. This
‘hermeneu-tic turn’ that can be exemplified in Merleau-Ponty’s
phenomenology, characterises different positions in 20th century
philosophy. The essay follows its traces in the work of Husserl,
Heidegger, Merleau-Ponty, Ricœur and Derrida. This spectrum
simulta-neously reveals a basic feature of hermeneutics: meaning
always stands in a rela-tionship of tension to the withdrawal of
meaning; understanding is always carried out in engagement with the
limits of understanding.
Im Vorwort zur Phénoménologie de la perception schreibt Maurice
Mer-leau-Ponty:
Da wir in der Welt sind, sind wir zum Sinn verurteilt, und
nichts können wir tun oder sagen, was in der Geschichte nicht
seinen Namen fände.1
Der Satz steht im Kontext einer Methodenreflexion, in welcher
sich Mer-leau-Ponty des philosophischen Orts seiner Schrift, ihrer
Zugehörigkeit zu der von Edmund Husserl begründeten
phänomenologischen Bewegung und der eigenen Ausrichtung dieser
Bewegung versichert. Die Verortung inner-halb der Phänomenologie
ist eine, die sowohl auf die ursprüngliche Inten-tion ihres
Begründers zurückgreift wie sie an deren Durchführung durch Martin
Heidegger anschließt, auf den der zitierte Satz mit der Referenz
auf den Begriff des In-der-Welt-Seins unmittelbar verweist.
Merleau-Ponty ver-bindet die von Heidegger beschriebene
Grundbedingung menschlicher Exis-tenz, die ursprüngliche
Weltbezogenheit des Menschen, mit der Unhinter-gehbarkeit des
Sinns: Immer schon, so die Grundthese, existieren wir im
1 Maurice Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception (Paris:
Gallimard, 1945) XIVf. (dt.: Phänomenologie der Wahrnehmung, übers.
von Rudolf Boehm [Berlin: de Gruyter, 1966] S. 16). – Einige
Aspekte des Folgenden sind weiter ausgeführt in: Vf.: Sinn und
Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen (Tübin-gen: Mohr Siebeck,
2010).
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Medium des Sinns, in allem Tun und Erleben sind wir verstehend
auf unser eigenes Sein wie auf andere Menschen und die Welt
bezogen. Das phäno-menologische Projekt konvergiert darin mit der
Themenstellung der Herme-neutik, und diese findet ihren Fokus nicht
in der Tradition der Textauslegung, sondern in der Hermeneutik der
Existenz: Die Wissenschaft der Erscheinung, des
Zur-Erscheinung-Kommens der Gegenstände für das Bewusstsein,
wei-tet sich aus zu einer Wissenschaft des Sinns, des
Bedeutsamseins der Welt und der Existenz für den Menschen.
Merleau-Pontys Denken schreibt sich in die Bewegung ein, die man
als hermeneutische Wende der Phänomenolo-gie bezeichnen kann. Gilt
dieser Titel üblicherweise als Kennzeichen für das Denken
Heideggers, so lässt sich auch Merlau-Pontys Werk in einem
ande-ren, doch nicht weniger radikalen Sinn mit demselben Index
versehen. Das emphatische Diktum vom Verurteiltsein zum Sinn – in
welchem Sartres For-mel vom Verurteiltsein zur Freiheit anklingt –
steht exemplarisch für diese Ausrichtung.
Die folgenden Überlegungen wollen den Motiven und Konsequenzen
dieser Wende nachgehen, indem sie ihre Spuren von Husserl und
Heidegger zu Merleau-Ponty, daneben auch zu Paul Ricœur und Jacques
Derrida ver-folgen. Das Interesse gilt der Frage, was die
hermeneutisch-existentielle Ak-zentuierung für die
phänomenologische Beschreibung beinhaltet, inwiefern das Werk
dieser Autoren in genuiner Weise durch diese Perspektive
gekenn-zeichnet ist und welche variierenden Akzente sie in dieser
Ausrichtung set-zen. Ich werde zunächst Aspekte dieser Frage bei
Husserl und Heidegger herausstellen, um auf ihrem Hintergrund das
spezifische Profil des Denkens von Merleau-Ponty nachzuzeichnen und
schließlich die darin artikulierte hermeneutische Wende durch die
Ansätze von Ricœur und Derrida teils zu kontrastieren, teils zu
erweitern.
1. Die Lebenswelt als vergessenes Sinnesfundament (Husserl)
Als Ausgangspunkt bietet sich die Reflexion auf den Sinn an, die
Husserl in seiner Spätschrift Die Krisis der europäischen
Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie2 vollzogen
hat. Der Rückgang zur Le-benswelt und Geschichte soll den
Entstehungs- und Geltungsgrund verge-genwärtigen, der den von ihrer
Sinndimension abgelösten modernen Wis-
2 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und
die transzen-dentale Phänomenologie, Husserliana Bd. VI (Den Haag:
Nijhoff, 1962).
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203«Zum Sinn verurteilt»
senschaften zugrunde liegt. Husserl beschreibt diese
Zurückwendung unter mehreren Aspekten: als ein Zurückversetzen des
Erkennens in die umfas-sendere Dimension des Selbst- und
Weltbezugs, die neben dem Begriffli-chen die Bereiche der
Sinnlichkeit, Leiblichkeit und Emotionalität umfasst, neben dem
theoretischen das praktisch-wertende Sichverhalten. Es ist ein
Zurückgehen zum Grund, das als Begründung im genetischen wie
gel-tungsmäßigen Sinn fungiert.
Es ist bemerkenswert, mit welchem Nachdruck Husserl in der
Erarbei-tung dieser Themenstellung den Begriff des Sinns zum Tragen
bringt. Dabei kommt der Begriff in allen drei Bedeutungen zur
Geltung, in denen er nor-malsprachlich verwendet wird: als
normative Bezeichnung für das, was den Wert und Zweck von etwas
ausmacht, als Titel für die Sinnlichkeit und das sinnliche Erleben
sowie in der engeren hermeneutischen Verwendung als Bezeichnung für
die verstehbare Bedeutung von etwas. Auf die erste Ver-wendung
bezieht sich die Diagnose der Krise, welche Husserl darin sieht,
dass die moderne Wissenschaft unfähig zur Beantwortung jener Fragen
ge-worden ist, welche die Menschen am meisten beschäftigen: der
«Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen
Daseins».3 Klassische Philosophie, namentlich in ihrer
metaphysischen und geschichtsphilosophi-schen Gestalt, hatte mit
den so genannten Sinnfragen zu tun: mit dem «Sinn» und der
«Vernunft in der Geschichte», der «sinnvollen Ordnung des Seins»
und dem Willen des Menschen, seinem Leben «vernünftigen Sinn zu
ver-schaffen».4 Von Sinn ist hier in der Bedeutung der
existentiellen Orientie-rung und zweckhaften Ausrichtung des
Handelns die Rede. In Frage steht der Anspruch der Philosophie, die
Selbstverständigung der Menschheit über ihre Werte und Ziele zu
begründen.
Indessen betrifft der Sinnverlust der Wissenschaft nicht nur den
Sinn der Existenz. Neben der normativen kommt die hermeneutische
Perspektive zum Tragen, die sich mit der Bedeutung der Formeln und
Theorien wie der Wis-senschaftspraxis befasst. In Frage steht, was
wir tun, wenn wir Wissenschaft treiben, welches die verstehbare
Bedeutung der wissenschaftlichen Beschrei-bungen und Praktiken ist.
Kritisiert wird eine Sinnentleerung, die dem Äußer-lichwerden der
wissenschaftlichen Methode geschuldet ist und die den Gehalt der
eigenen Operationen und der daraus resultierenden Aussagen
betrifft. Be-heben lässt sich diese Bewusstlosigkeit nur durch eine
Reflexion, die sowohl eine historische Besinnung auf die Entstehung
der Wissenschaft wie ein struk-
3 Ibid., 4.4 Ibid., 7, 11.
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204 Emil Angehrn
turelles In-die-Tiefe-Gehen zur Lebenswelt als deren
«vergessenem Sinnes-fundament»5 verlangt. Der Grundgedanke, den
Husserl gegen das Selbstver-ständnis der theoretischen Konzepte und
methodischen Idealisierungen ins Spiel bringen will, besagt, dass
ihnen sowohl ein sinnliches Material wie eine konkrete Praxis
zugrunde liegen, die in den Konzeptualisierungen nicht mehr
aufscheinen, sondern verdeckt sind. Paradigmatisches Beispiel ist
die Geome-trie als die schon in der Antike hochentwickelte Kunst
des Operierens mit idea-len Raumgrößen, das seinen Sinn aus einer
«vorgeometrischen Leistung» schöpft, die Husserl exemplarisch in
der Feldmesskunst verkörpert sieht.6 Nachzuholen ist eine Reflexion
auf die «ursprünglich sinngebende Leistung», welche im Ausgang vom
«Urboden alles theoretischen wie praktischen Le-bens» erst durch
Abstraktion und Idealisierung die reinen geometrischen Ge-bilde
hervorgebracht hat;7 das Fehlen dieser Reflexion bedingt die
Unklarheit im Verständnis der Wissenschaft wie ihres Gegenstandes.
Die Feldmesskunst steht für Leistungen des Messens, Rechnens und
Vergleichens, die bereits in einem Raum des Idealisierens
stattfinden, aus denen die wissenschaftlichen Operationen, ihre
Formeln und Regeln ihren Sinn schöpfen. Ähnlich ließe sich auf
Erfahrungen im alltäglichen Wirtschaftsleben, im Kaufen und
Tauschen verweisen, ohne deren Erlebenshintergrund die
mathematischen Formeln der Mikro- und Makroökonomie zu leeren
Konstruktionen werden.
Es sind zwei nicht notwendig miteinander verbundene, doch in
concreto verknüpfte Aspekte, anhand deren Husserl die Lebenswelt
als Dimension der Bedeutungskonstitution expliziert: einerseits die
Sinnlichkeit, anderseits das praktische Handeln und leistende Tun.
Beide stehen für einen bestimm-ten Subjektbezug der Sinngebilde der
Welt. Das eine ist das empirische Mo-ment, das auch im konkreten
Arbeitszusammenhang des Forschers, im Um-gehen mit Materialien und
Instrumenten, grundlegend bleibt, von dem dieser aber in seiner
wissenschaftlichen Einstellung im Prinzip absieht: Ihm gilt als
ausgemacht, dass die Welt «des Sichtbaren, Tastbaren, Hörbaren,
Riech-baren» nur subjekt-relative Geltung besitzt und «nicht die
wahrhaft wirkli-che Welt» ist.8 Die Reflexion auf die Lebenswelt
wendet sich gegen das objektivistische Verständnis, welches den
Gegenstand unabhängig von sub-jektrelativen Perspektiven zu
erfassen beansprucht und die Dimension der ‘Bedeutung’ der
Phänomene prinzipiell unterläuft. Die phänomenologische
5 Ibid., 48.6 Ibid., 49.7 Ibid.8 Ibid., 453.
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Rehabilitierung des Für-das-Subjekt-Seins der Dinge, welche
sowohl das empirisch-sinnliche Gegebensein wie das interessemäßige
Involviertsein ein-schließt, ist der Angelpunkt für die
Artikulation der Sinndimension der er-fahrenen Welt.
Komplementär zur strukturellen ist die genetische Fundierung zu
reflek-tieren. Sie kommt im einzelnen Akt als Doppelung von
impliziter und expli-ziter, nicht-thematischer und thematischer
Sinnbildung zum Tragen. Schon Husserls Rede von der «immerfort
selbstverständlichen, bekannt-unbekann-ten Lebenswelt»9 operiert
mit der Doppelung, dass jedes Verstehen und Ver-ständlich-Werden
ein Schon-Verstandenhaben und Selbst-Verständliches voraussetzt.
Wie das Verstehen, ist die Sinnbildung sich immer schon vor-weg;
sie holt ein Intendieren ein, gibt einem Sagenwollen Gestalt, das
noch nicht über sich verfügt. Jenseits des einzelnen Akts ist es
die Dimension der Geschichte, die als Ort der Sinnkonstitution von
Belang ist. Eine radikale phänomenologische Reduktion führt zu
einem Ursprung zurück, der weder in der punktuellen Intention noch
im Tun eines Einzelnen liegt, sondern die synchrone wie die
zeitübergreifende «Vergemeinschaftung» der an einer Kulturschöpfung
beteiligten Subjekte – im Falle der Wissenschaft: die «Ver-kettung
der Forschergenerationen»10 – einschließt. Generell geht es darum,
dass wir ein angemessenes Verständnis unserer selbst in
historischer Refle-xion gewinnen, was Husserl im Besonderen für die
Idee des Philosophierens selbst betont: Nur in der Besinnung auf
das, «was ursprünglich und je als Philosophie gewollt und durch
alle historisch miteinander kommunizieren-den Philosophen und
Philosophien hindurch fortgewollt war», können wir, die wir «durch
und durch nichts anderes als historisch-geistig Gewordene sind», zu
einem «radikalen Selbstverständnis» des philosophischen Projekts
gelangen.11 Was für die Philosophie im Ganzen gilt, trifft für
einzelne Theo-rien, Denkformen und kulturelle Traditionen zu, deren
angemessenes Ver-ständnis ein Erfassen ihrer
sinnhaft-bewusstseinsmäßigen Genese – ein
«in-tentionalhistorisches»12 Verstehen – einschließt. Die Reflexion
auf das, was ursprünglich intendiert und im Überliefern und
Anschließen, Korrigieren und Erneuern ‘fortgewollt’ war, lässt uns
erkennen, was der Gehalt einer Lehre,
9 Ibid., 461.10 Ibid., 459f.11 Ibid., 16, 72.12 So der von Eugen
Fink dem Text der Beilage III bei der Erstveröffentlichung ge-
gebene Untertitel «Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als
intentional-historisches Problem», in: Krisis, op. cit., 365.
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die Leitfrage einer Disziplin, das treibende Motiv einer
Kunstform ist. Es ist ein originär hermeneutisches Anliegen, dem
solche Reflexion gilt. Wenn Phi-losophie seit Aristoteles als
Ursprungsforschung definiert ist, so geht es hier um keine der von
ihm unterschiedenen vier archai, obwohl sie alle im Spiel sind: Der
Ursprung interessiert nicht in erster Linie als
genealogisch-kausale Herleitung, sondern als Sinnprinzip: Nicht nur
wieso etwas (so) geworden ist, sondern was sein Sinn ist und wieso
es das bedeutet, was es bedeutet, verweist auf die historische
Erklärung. Phänomenologische Beschreibung wird als lebensweltliche
wie als genetisch-historische Reflexion zur herme-neutischen
Ursprungsforschung.
2. Existentielles Verstehen (Heidegger)
Nun ist bekannt, dass diese Reflexion nicht erst in Husserls
Krisis einsetzt, sondern im Kreise seiner Schüler seit den 1920er
Jahren Thema ist.13 In pro-filierter Weise ist sie in Heideggers
Schriften und frühen Vorlesungen doku-mentiert, die den Schritt
über die transzendentale Phänomenologie hinaus und zum
lebensweltlich-praktischen Verstehen zurück vollziehen.14 So setzt
die Vorlesung von 1919/20 ein mit der Bestimmung der Phänomenologie
als Ursprungsbesinnung: «Sie ist die Urwissenschaft, die
Wissenschaft vom ab-soluten Ursprung des Geistes an und für sich –‚
Leben an und für sich’.»15 Die programmatische Definition zielt
weder auf eine aristotelische Prinzipi-enforschung noch auf die
«berühmten und ‘berüchtigten’ ‘unmittelbaren’ Gegebenheiten der
Phänomenologie».16 Bestimmend ist ein genetisch-her-meneutisches
Interesse, das den Sinngrund, den Ursprung der Bedeutsam-
13 Vgl. Hans-Helmuth Gander: Selbstverständnis und Lebenswelt.
Grundzüge ei-ner phänomenologischen Hermeneutik im Ausgang von
Husserl und Heidegger (Frankfurt a.M.: Klostermann, 2001) 169–363;
Ralf Elm: Das Leben und die Ur-sprünglichkeit des Selbst. Das
systematische Grundproblem im Frühwerk Hei-deggers, in: Hermeneutik
des Lebens, hg. von R. Elm et al. (Freiburg, München: Alber, 1999)
172–213.
14 Martin Heidegger: Grundprobleme der Phänomenologie [1919/20],
Gesamtaus-gabe, Bd. 58 (Frankfurt a.M.: Klostermann, 1993);
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), GA, Bd. 63, op. cit, 1988;
Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Ausarbeitung für
die Marburger und die Göttinger Philosophische Fakultät (1922), GA,
Bd. 62, op. cit., 2005; Sein und Zeit (Tübingen: Niemeyer 101963),
GA Bd. 2.
15 Martin Heidegger: Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20),
op. cit., 1.16 Ibid., 26f.
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207«Zum Sinn verurteilt»
keit erfassen will, welche dem Erkennen seine Bestimmtheit
verleiht. Phä-nomenologische Reduktion ist eine Rückführung zum
Grund des Lebens, das unserem bewussten Sein und Haben von
Gegenständen vorausliegt und das nach Heidegger durch zwei
Grundzüge charakterisiert ist, die seine Sinn-dimension mit
ausmachen: Gerichtetheit und Weltbezogenheit.
Das Leben ist strukturiert durch «Lebenstendenzen»17 –
Tätigkeiten, die wir ausüben, Überzeugungen, die wir teilen,
Präferenzen, denen wir folgen, Zugehörigkeiten, Sympathien und
Abneigungen, die unseren Lebensraum strukturieren. Dieses
vielgestaltige Gerichtetsein ist relevant sowohl als Tie-fenschicht
des bewussten Meinens und Wollens wie als Grundlage der
Welt-beziehung, in welcher die Dinge und Ereignisse für uns ihre
Färbung und Bedeutsamkeit annehmen. Die Gerichtetheit begründet die
Sinnqualität un-seres Wirklichkeitsbezugs, wobei der Sinn in seiner
verstehensmäßigen wie normativen Valenz zum Tragen kommt: Die Welt
ist sowohl unserem Verste-hen zugänglich wie mit unseren Interessen
und Zwecksetzungen verfloch-ten. Je nach unseren kognitiven,
emotionalen, volitiven Einstellungen, nach sozialen Präferenzen und
individuellen Dispositionen nimmt die Welt für uns eine andere
Gestalt an, wird uns anderes zur Welt. Das Wechselverhältnis ist
ein grundlegend praktisches, interessiertes: «Ich bin nicht der
Zuschauer und am allerwenigsten der theoretisierend Wissende meiner
selbst und meines Lebens in der Welt.»18 In konsequenter Form nimmt
Heidegger in dieser frü-hen Vorlesung Weichenstellungen vor, die
der Phänomenologie eine genuin hermeneutische Wendung geben. Die
phänomenologische Reduktion hat ih-ren Fluchtpunkt nicht in einer
Sphäre reiner Bewusstheit und transzenden-taler Funktionen, sondern
im tatsächlichen Leben und in der lebendigen Er-fahrung, in deren
Horizont Intentionalität als nicht nur kognitive, sondern ebenso
praktische und emotionale Verflechtung mit der Welt rekonstruierbar
wird. Es ist eine Neubestimmung der phänomenologischen
Leitbegriffe, wel-che die theoretische Grundhaltung in Richtung
eines sinnhaft-deutenden und tätig-involvierten Weltbezugs
überformt. Mit dessen ursprünglicher Sinnhaf-tigkeit bricht die
reflexive Thematisierung, welche die Dinge zu Gegenstän-den macht;
die objektivierende Versachlichung bedingt einen Verlust der
er-lebten Bedeutungsdimension, was Heidegger in die markante
Formulierung bringt, dass der Wissenschaft eine «Tendenz der
Entlebung der Lebenswel-ten»19 innewohne.
17 Ibid., 32.18 Ibid., 39.19 Ibid., 75, vgl. 77f.
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208 Emil Angehrn
Andere Texte – so die «Phänomenologischen Interpretationen zu
Aristo-teles» (1922) und die Vorlesung über «Hermeneutik der
Faktizität» (1923) – führen diese Gedanken weiter aus, indem sie
sowohl die unhintergehbare «Ausgelegtheit» der Existenz wie die
ursprüngliche «Bedeutsamkeit» der uns begegnenden Welt
herausstellen.20 Wenn dabei als «Grundsinn der fak-tischen
Lebensbewegtheit»21 das Besorgtsein des Daseins um sich selbst
herausgestellt wird, so wird zugleich deutlich, inwiefern das
Verstehen nicht in einer Variante des kognitiven Gegenstandsbezugs
aufgeht, sondern im Innersten mit dem Verstehen, das uns selbst
betrifft, verknüpft ist. Im Titel der Vorlesung von 1923 steht
«Hermeneutik» nicht mehr für eine Kunstlehre der Textauslegung,
sondern für die Seinsweise des Daseins selbst, dessen Reflexivität
nicht nur in der Sorge um die eigene Existenz, sondern
gleicher-maßen im Vollzug einer Selbstauslegung besteht, die der
Faktizität des Le-bens in seiner Bewegtheit verpflichtet ist.
Solche Verständigung ist kein spe-zieller Erkenntnisakt des
Daseins, sondern dessen ursprüngliche Seinsform, gewissermaßen «das
Wachsein des Daseins für sich selbst».22
In konsequenter Weise führt Sein und Zeit den Gedanken aus, dass
menschliches Dasein immer schon und wesensmäßig verstehend und
sich-verstehend ist. Dasein ist Verstehen, sofern es sich selbst
wesenhaft ‘er-schlossen’ ist und darin je schon über ein bestimmtes
Verständnis von dem, was es ist und worum es ihm geht, verfügt.
Doch ist solche Erschlossen-heit keine transparente Erkenntnis.
Dass sich der Mensch immer «in ir-gendeiner Weise und
Ausdrücklichkeit» versteht, bedeutet im Konkreten vielmehr, dass er
sich zumeist «immer schon ebenso gründlich missdeu-tet».23 Dass das
basale Selbstverständnis zunächst ein ebenso basales Ver-kennen
ist, gründet nach Heidegger darin, dass es gerade nicht dem
ur-sprünglichen Selbstbezug, sondern dem gegenständlichen
Weltverhältnis entstammt. Das Verfallen an die Welt steht für einen
grundlegenden Ur-sprungsverlust, der sich ebenso in der Spannung
zwischen existentiellem Verstehen und dessen Artikulation im
Auslegen und Sprechen äußert. Die prädikative Sprache, weit davon
entfernt, Ort ursprünglicher Wahrheit zu sein, wird für Heidegger
zum ‘abkünftigen’ Modus des Sinns.
20 M. Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu
Aristoteles, op. cit., 253f.21 Ibid., 352.22 M. Heidegger:
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), op. cit., 15.23 M.
Heidegger: Sein und Zeit, op. cit., 16, 78.
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209«Zum Sinn verurteilt»
So führt die hermeneutische Akzentuierung der Phänomenologie zu
ei-ner Fundierung, die sowohl eine Herkunftserklärung und positive
Begrün-dung wie eine kritische Sicht auf die abgeleiteten
Sinnformen beinhaltet. Diese Konstellation verschärft sich beim
Übergang von Husserl zu Hei-degger. Alles Tun, Erkennen und
Sprechen wird auf den Boden eines dem Dasein innewohnenden
Verstehens zurückgeführt, aus dem allein sein Sinngehalt und seine
Geltung erschließbar sind, vor dessen Hintergrund es aber ebenso in
seiner Intransparenz und immanenten Falschheit hervortritt. Was bei
Husserl die Vergessenheit des lebensweltlichen Sinnesfundaments
ist, wird bei Heidegger zu einer grundsätzlicheren Negativität des
Verste-hens vertieft, zu einem prinzipiellen Sichverkennen
radikalisiert, worin Verstehen grundsätzlich mit dem Nichtverstehen
einhergeht. Im weiteren Horizont begegnet diese Verbindung im
Zwiespalt des Wahrheitsgesche-hens, im Ineinander von Entbergung
und Verbergung; im engeren Kontext des existentiellen Verstehens
geht es um ein Defizit, das jenseits des kogni-tiven Mangels ein
umfassendes, praktisches Sichverfehlen meint. Wenn in der
Hermeneutik oftmals das Missverstehen als Ausgangspunkt des
Ver-stehens gilt, so wird in der Verschränkung der hermeneutischen
mit der existenzphilosophischen Perspektive das Missverstehen in
den Horizont einer Uneigentlichkeit gerückt, die letztlich eine der
Existenz, nicht des Erkennens ist.
Im Ganzen geht es um einen Rückgang zum lebendigen Verstehen,
das sowohl eine Korrektur wie eine Begründung des abstrakten
Wissens bein-haltet, das aber im ursprünglichen Zwiespalt von
Verhüllung und Erschlie-ßung zugleich die Frage nach der Geltung
des Ursprungsgedankens selbst aufwirft. Zwiespältig kann aus der
Außenperspektive nicht nur die ur-sprüngliche Verdeckung, sondern
der Rückgang zum Anfang als solcher erscheinen. Gerade im Horizont
der Sinnproblematik steht die genealogi-sche Perspektive selbst zur
Diskussion. Die Rückführung des Logos zum Leben als Ursprungsort
des Sinns steht der gegenläufigen Sicht entgegen, welche in der
Sprache den innersten Kern, in der kulturellen Äußerung den Ort des
Sinns erkennt. Die These von der Ursprungs- und Sinnferne des
wissenschaftlichen Diskurses besagt, dass die Erschließungskraft
der Spra-che eine begrenzte, tendenziell verfälschende ist, solange
sie nicht aus der Quelle der ursprünglichen Erfahrung und des
lebensweltlichen Verstehens schöpft. Es bleibt zu sehen, wieweit
andere Autoren diese These als Aus gangspunkt übernehmen, sie durch
den Gegenakzent des sprachlich- kulturellen Ausdrucks ergänzen oder
ihr die grundsätzliche Kritik am Ur-sprungsgedanken
entgegenstellen.
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210 Emil Angehrn
3. Inkarnierter Sinn (Merleau-Ponty)
In engstem Anschluss an Husserl und Heidegger finden wir das
Motiv des Sinnursprungs bei Merleau-Ponty aufgenommen und in neuer
Form ausge-arbeitet. Phänomenologische Beschreibung soll erfassen,
wie die Phänomene und die Welt dem Menschen nicht nur erscheinen,
sondern für ihn versteh-bar werden und die Bedeutung annehmen, in
welcher sie ihm begegnen. Das Subjekt aber, für welches und durch
welches es Sinn gibt, ist kein transzen-dentales Ego, sondern der
Mensch in seinem Lebensvollzug und seiner kon-kreten sinnlichen
Natur. Komplementär zum Leben bildet die Leiblichkeit die
Dimension, zu welcher die Besinnung auf die Anfänge des Sinns
zurück-zugehen hat. Das Thema der Leiblichkeit gilt als ein
Kennzeichen der Phä-nomenologie von Merleau-Ponty, das indes
weniger ein zusätzliches Thema als eine veränderte Perspektive und
eine spezifische Vertiefung der phäno-menologischen Reduktion
definiert. Merleau-Pontys Phänomenologie steht exemplarisch für
eine Theorie des inkarnierten Sinns, wobei die Inkarnation sowohl
die Seite des Sinngebildes wie die des Subjekts und der Formen der
Konstitution, Aufnahme und Kommunikation von Sinn betrifft. Der
Verleib-lichung des Sinns als Vermittlung von Seele und Körper,
Idee und Materia-lität, entspricht die methodische Zugangsweise der
Phänomenologie, die Merleau-Ponty in den frühen Hauptschriften über
die zweifache Abwehr des Empirismus und des Intellektualismus
definiert, um an ihrer Stelle die beharr-liche Vermittlung von
Innen und Außen zu setzen. Um Phänomene in ihrer Sinnhaftigkeit zu
erfassen, geht es nicht einfach darum, die materialistisch- kausale
Beschreibung von außen durch die interne Erste-Person-Perspektive
abzulösen. Vielmehr gilt es jene Verflechtung von Innen und Außen
zu er-schließen, in welcher die reale Sinnhaftigkeit des Erlebens
sich herausbildet und an welcher der Mensch dank seiner
seelisch-leiblichen Verfassung je schon teilhat.
Mit großer Konsequenz bemüht sich Merleau-Ponty darum, die
Sinnhaf-tigkeit unseres Weltbezugs in allen Formen des Wahrnehmens
und Verhal-tens – den großen Themenkomplexen der frühen
Hauptschriften La structure du comportement (1943) und
Phénoménologie de la perception (1945) – auf-zuweisen.24 Alles,
womit wir im Verhalten und Wahrnehmen zu tun haben,
24 Maurice Merleau-Ponty: La structure du comportement (Paris:
Presses Univer-sitaires de France, 61967); Phénoménologie de la
perception (Paris: Gallimard, 1945).
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211«Zum Sinn verurteilt»
«existiert nur durch seinen Sinn»;25 Aufgabe der Phänomenologie
ist es ge-mäß Husserls Devise, die stumme Erfahrung «zur Aussprache
ihres eigenen Sinns zu bringen.»26 Konkret geht Merleau-Ponty den
Spuren des Sinns in den unterschiedlichsten Bereichen menschlichen
Erkennens und Verhaltens nach, angefangen von den basalen Weisen
der Sinnesempfindung und des Reflexverhaltens bis hin zu
höherstufigen und komplexen Erlebens- und Tä-tigkeitsformen. Für
sie alle weist Merleau-Ponty nach, dass es unmöglich ist, in
Absehung von ihrem Bedeutungsaspekt deskriptiv von ihnen
angemes-sen Rechenschaft abzulegen und sie in ihrem Erlebnisgehalt
wie ihrer Leis-tung zu begreifen. Als entscheidende Gesichtspunkte
solcher Beschreibung erweisen sich die Aspekte der Gestalt und der
Ganzheit einerseits, der Re-flexivität andererseits. Gegen einen
kausalistischen Atomismus bringt Mer-leau-Ponty die Lehren der
Gestaltpsychologie zum Tragen, die von der ge-gliederten Ganzheit
der Situation oder der auslösenden Faktoren ausgeht und das Element
vom Ganzen, nicht dieses von jenem her begreift. Eine konkrete
Begegnung löst Angst aus, nicht bestimmte Eindrücke und
Sinnesqualitäten. Neben dem strukturellen Primat der Ganzheit wird
deren Bedeutungsquali-tät von Belang: Die Gestalt wirkt dadurch,
dass sie als so und so bestimmte in dem, was sie für den
reagierenden Organismus bedeutet, wahrgenommen wird. Zu erklären
bleibt in alledem die Emergenz des Sinns: In Frage steht, wie im
Ausgang von Materialien, Gegenständen, Klängen, Schriftzeichen eine
irreduzible Sinneinheit generiert und als solche erkannt wird. Ohne
den Hiatus zu eliminieren, sucht Merleau-Ponty einerseits die
Gestalt- und Sinn-bildungen auf den distinkten Ebenen der Physik,
des Lebens und der Psyche herauszuarbeiten und anderseits die
Übergangsphänomene zwischen ihnen nachzuzeichnen, um dem Punkt des
Umschlags nahezukommen, die Spuren des Geistes in der Natur zu
lesen. Die Vermessung des Raums menschlichen Erlebens zeichnet im
Ganzen sowohl die Durchgängigkeit wie die Ursprüng-lichkeit des
Sinns nach.
In besonderer Prägnanz tritt diese Sinnschicht dort hervor, wo
sie fehlt und als fehlende erlebt wird. Zur besonderen Zugangsweise
der phänome-nologischen Analysen Merleau-Pontys gehört, neben der
Vermittlung von Innen- und Außensicht, die Beschreibung ex
negativo. In signifikanten Fäl-len pathologischen Verhaltens ist,
vor allen funktionalen oder organischen Störungen, die
Sinndimension unseres Daseins tangiert. Merleau-Ponty geht
25 Maurice Merleau-Ponty: La structure du comportement, op.
cit., 240f.26 Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen,
Husserliana Bd. I (Den Haag:
Martinus Nijhoff, 21963) 77.
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212 Emil Angehrn
ihr am Beispiel der Verhaltensdefizite eines Gehirnverletzten
aus dem Ers-ten Weltkrieg nach, um von diesen her ein Bild dessen
zu gewinnen, was zu einem ‘normalen’ Umgang mit sich und der Welt
gehört. Bemerkenswert ist dabei, dass der Patient über alle
einzelnen Fähigkeiten und Verhaltensformen verfügt, die zur
normalen Funktionsweise des Organismus gehören, dass aber
gleichwohl in seinem Wahrnehmen und Handeln eine grundlegende
Beein-trächtigung, ein basales Defizit sichtbar wird. Er vermag die
quasi-mecha-nischen Artikulations- und Reaktionsformen nicht in
einer höheren, sinnge-benden Gestalt zu integrieren. Er versteht
Wörter und Sätze, doch nicht die Pointe einer Mitteilung: die Welt
gewinnt für ihn nicht das Gesicht, das ihn zur Deutung, zum eigenen
Handeln veranlasst. Bezeichnend ist die Tatsache, dass er nie von
sich aus fragt oder erzählt, nicht singt oder spielt, nicht das
Bedürfnis empfindet, zu sprechen und seine Erfahrung zu
artikulieren. Da-rin wird fassbar, was den Kern eines
sinnhaft-existentiellen Weltbezugs aus-macht: nicht eine
operationaliserbare Verstehenskompetenz, sondern ein ursprüngliches
Sinnbedürfnis – ein Bedürfnis, die lebendige Erfahrung
aus-zudrücken und deutend anzueignen, mit anderen zu kommunizieren,
die Welt zu bewohnen. Zur Pointe der Beschreibungen Merleau-Pontys
gehört der Nachweis, dass diese sinnhafte Transformation nicht eine
zusätzliche Leis-tung, sondern das Innerste des menschlichen Seins
und Verhaltens ausmacht. Nicht erst im Sprechen und kulturellen
Handeln, schon im Schmerzempfin-den und Wahrnehmen von Farben, in
der Raumbewegung und im Umgang mit Werkzeugen ist unser
existentielles Verstehen, unser Situiert- und Ge-richtetsein
involviert.
Nur verwiesen sei auf eine Ausweitung dieses Sinnbezugs, wie sie
Mer-leau-Ponty in späteren Schriften in den Vordergrund rückt und
darin ge-wissermaßen eine Komplementärseite beleuchtet: Nicht nur
ist Verstehen unablösbar vom Sichverstehen, der Weltbezug nicht
trennbar vom Selbst-verhältnis; gleichzeitig ist das Verhalten zur
Welt nach dem Modell eines dialogischen Wechselspiels und
Antwortens strukturiert. Der Mensch be-greift die Welt, indem er
den Sinn aufnimmt, den sie ihm offenbart und zu verstehen gibt. Der
responsive Grundzug unseres Weltverhaltens, wie ihn etwa Bernhard
Waldenfels vielfältig beschrieben hat,27 wird von Mer-leau-Ponty im
verstehenden wie im künstlerischen Umgang mit den Din-gen
aufgewiesen und in dessen ontologische Grundlagen eingezeichnet.
Sinn konstituiert sich im menschlichen Verstehen und Auslegen, aber
nicht ohne dass dieses einen ‘einheimischen’ Sinn der Welt aufnimmt
und ihm
27 Vgl. Bernhard Waldenfels: Antwortregister (Frankfurt a.M.:
Suhrkamp, 1994).
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213«Zum Sinn verurteilt»
antwortet.28 Dieses Wechselspiel findet in der Sinnesempfindung
ebenso statt wie im Aufbau der kulturellen Welt und im Verhältnis
zur Geschichte, der wir einen Sinn beilegen, «doch nicht, ohne dass
sie ihn selber uns na-helegte».29
Den Sinn in statu nascendi zu erfassen, wie es eine
phänomenologische Hermeneutik intendiert, verlangt nicht nur ein
Zurückgehen in tiefere Schichten der leiblichen Existenz, sondern
ebenso zu früheren Stadien des sich bildenden Sinns. Ergänzend zur
Kommunikation zwischen Subjekt und Welt ist die prozessuale
Doppelstufigkeit von bewusstem und vorbewusstem, explizitem und
implizitem Sinnbezug von Belang. Merleau-Ponty folgt der Einsicht
Husserls, dass unser Weltbezug tiefer, gewissermaßen älter ist als
unser bewusstes Haben von Gegenständen. Phänomenologische Analyse
ver-langt eine «radikale Reflexion»,30 die zur nicht-reflexiven,
‘fungierenden’ Intentionalität zurückgeht, die dem thematischen
Bewusstsein vorausgeht und über ihre Inhalte und Gerichtetheiten in
dieses eingeht. Vorsprachliches, leibhaftes, emotionales,
praktisches Verstehen – das Wahrnehmen einer At-mosphäre, das
Begreifen eines Gesichtsausdrucks oder einer Körperhaltung, das
Hantieren mit einem Werkzeug – bildet den Fundus, aus dem heraus
be-wusstes Sinnverstehen und reflektierendes Deuten stattfinden.
Das Phäno-men des Sinns ist von einer strukturellen
Geschichtlichkeit her zu denken, die ohne identifizierbaren Anfang
und abschließende Selbstexplikation bleibt: «Die Reflexion vermag
ihren eigenen vollen Sinn selbst nur dann zu erfassen, wenn sie des
unreflektierten Untergrundes eingedenk bleibt, den sie voraussetzt,
aus dem sie sich nährt und der für sie so etwas wie eine
ur-sprüngliche Vergangenheit bildet, eine Vergangenheit, die
niemals Gegen-wart war.»31 Was für den einzelnen Akt und seine
vorthematische Gerichtet-heit gilt, ist analog für die
geschichtliche Einbettung des Sinnprozesses überhaupt zu betonen.
Jedes Sprechen, künstlerische Gestalten, Handeln vollzieht sich im
Ausgespanntsein zwischen einer Vergangenheit, auf deren Grundlage
es sich vollzieht, und einem Horizont, den es neu eröffnet und in
den hinein es seine Schöpfungen stellt, die sich ihrerseits in
Sedimenten nie-derschlagen, welche künftigen Hervorbringungen als
Boden dienen.
In seinen frühen phänomenologischen Untersuchungen wie in seinen
Be-trachtungen zu Kultur, Politik und Malerei und in seinen
späteren Ansätzen
28 M. Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, op. cit.,
503.29 Ibid., 513.30 Ibid., XVI.31 Ibid., 280.
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214 Emil Angehrn
zu einer neuen Ontologie insistiert Merleau-Ponty auf dieser
zweifachen, ge-genläufigen Fluchtlinie des Sinnprozesses, der
uneinholbaren Herkunft und der nicht abschließbaren, kreativen
Offenheit. Beides wendet sich gegen die Identifizierung des Sinns
als eines objektiv Gegebenen und Determinierten; sein Ort ist der
vielgestaltige Prozess des Hervorbringens und Vernehmens, des
Auslegens und Interpretierens, des Tradierens und Erneuerns. In der
Be-tonung dieser Doppelseitigkeit geht Merleau-Ponty einen Schritt
über Hus-serl und Heidegger hinaus, ergänzt er die
Ursprungsbesinnung durch die zu-kunftsgerichtete Geschichtlichkeit
des Sinns – die auch bei Husserl und Heidegger nicht fehlt, doch im
Ganzen hinter dem Primat der Besinnung, der Korrektur der
Ursprungsvergessenheit zurücksteht. In diesem Hinausge-hen setzen
andere Autoren zusätzliche Akzente, in denen sie sich auch
ge-genüber Merleau-Ponty positionieren, dessen Denken im Ganzen
jenem Anliegen der Ursprungsbesinnung verpflichtet bleibt, das in
der Theorie der Leiblichkeit wie des responsiven Weltverhältnisses
neu beleuchtet wird.
4. Der Umweg des Sinns (Ricœur)
Einen ersten Gegenakzent setzt Paul Ricœurs These des
hermeneutischen Umwegs. Nach Ricœur hat die Aufsprengung des
Selbstbezugs als Merkmal hermeneutischen Denkens zu gelten.
Verstehen und Selbstverständigung fin-den nicht im Horizont der
Reflexionsphilosophie, sondern in Vermittlung über die kulturelle
und geschichtliche Welt statt, in welcher der Mensch sich äußert
und manifestiert. Grundsätzlich stehen sich nach Ricœur zwei
diver-gierende Ansätze gegenüber, die über die hermeneutische
Verfassung der Existenz Aufschluss geben: zum einen der kurze Weg,
den Heidegger ein-schlägt, wenn er das Verstehen als existentiale
Bestimmung des Daseins ana-lysiert, zum anderen der weitere Weg,
dem Ricœur selbst folgen will und der den Umweg über die
Lebensäußerungen und die Hervorbringungen der ge-schichtlichen und
kulturellen Welt nimmt.32 Er entspricht dem Leitgedanken Diltheys
und Hegels, dass sich der Mensch nicht in sich, sondern über seine
Äußerung erkennt. Selbsterkenntnis ist nicht Insichgehen, sondern
realisiert sich von einer Äußerung her, die nicht nur die eigene
ist, sondern die Gestalt der sozialen und kulturellen Welt, der wir
zugehören.
32 Paul Ricœur: Existence et herméneutique, in: Le conflit des
interprétations. Es-sais d’herméneutique (Paris: Seuil, 1969) 7–28
(10).
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215«Zum Sinn verurteilt»
Darin kommt ein allgemeines Motiv historisch-hermeneutischen
Den-kens zum Ausdruck. Was der Mensch sei, sagt ihm die Geschichte,
lautet ein Diktum Diltheys, das sich der lebensphilosophischen
Tendenz entgegenstellt, die etwa Nietzsches Kritik am historischen
Denken bestimmt. Die Ge-schichte ist der Raum, in welchem der
Mensch sowohl seine Möglichkeiten konkret entfaltet wie seine
Grenzen erfährt; seine konkrete Verständigung über sich vollzieht
sich im Medium der mannigfachen Äußerungen des Le-bens, die sich
als Sphären der Kultur und symbolische Ordnungen
ausdiffe-renzieren. Innerhalb der hermeneutischen Tradition können
wir hier entge-gengesetzte Stoßrichtungen unterscheiden, je
nachdem, ob es darum geht, das Verstehen an seine ursprüngliche
Verwurzelung im Prozess des Lebens zurückzubinden oder aber seine
Brechung durch die kulturelle Welt und die geisteswissenschaftliche
Objektivation zu reflektieren. Der Grundgedanke des hermeneutischen
Umwegs ist für Ricœur einerseits ein methodologi-scher, der sich
etwa der Zurückdrängung des Methodenelements in Gada-mers Wahrheit
und Methode entgegensetzt und die Funktion der wissen-schaftlichen
Objektivierung als Zugang zum kulturellen Gegenstand und seinem
Sinn betont.33 Er beinhaltet aber ebenso eine inhaltliche Aussage
über die Natur des Verstehens und das Sein des Menschen, der als
Kulturwesen existiert und zur Verständigung über sich auf die
Äußerung und die Wieder-aneignung der Objektivation angewiesen ist.
Als animal hermeneuticum existiert der Mensch im Kreise der
sozialen und kulturellen Welt.
Ein besonderer Kontext, in welchem Ricœur dieses Angewiesensein
des Verstehens auf die Kultur betont, ist die Verständigung über
das Negative, über den Ursprung des Bösen oder die Schuldhaftigkeit
des Menschen. Sol-che Verständigung verlangt nach ihm mehr als eine
anthropologische Refle-xion auf die menschliche Endlichkeit und
Schwäche, welche nicht über das irreduzible Faktum des Bösen
Aufschluss geben kann; dieses begegnet in Mythen und Symbolen, in
Erzählungen vom Sündenfall und Bildern des ur-sprünglichen
Konflikts, in denen Menschen von ihrer Wirklichkeitserfahrung
Rechenschaft ablegen und die in einer kulturellen Reflexion dem
Leben zu-geeignet werden. Man kann in dieser Reflexion der
Negativität eine Radika-lisierung des hermeneutischen Denkens
überhaupt sehen, das sich prinzipi-ell in Vermittlung über die
Äußerlichkeit und Alterität vollzieht. Doch bleibt das von Ricœur
betonte Motiv des hermeneutischen Umwegs auch unabhän-
33 Paul Ricœur: La fonction herméneutique de la distanciation,
in: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique II (Paris: Seuil,
1986) 101–118.
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216 Emil Angehrn
gig von dieser Zuspitzung virulent.34 In Frage steht die
grundsätzliche Op-tion, nach welcher Richtung das Verstehen
auszuweiten und zu verankern ist, im Rückgang auf die
lebensweltliche Herkunft oder im Ausgriff auf den Ausdruck und die
kulturelle Schöpfung. Der hermeneutische Umweg steht für eine
Reflexion, die nicht im Zurück- und In-sich-Hineingehen, sondern im
Hinausgehen und Durchqueren der menschlichen Welt sich über das
Sein des Menschen verständigt.
5. Uneinholbarkeit und Aufschub des Sinns (Derrida)
In anderer Weise erwächst der phänomenologischen
Ursprungsbesinnung eine Antithese in Gestalt der Dekonstruktion.
Nicht über den Ursprung hi-naus-, sondern hinter ihn zurückzugehen
ist hier die erste Gegenwendung. In Auseinandersetzung mit Husserl
wie mit Heidegger insistiert Jacques Derrida darauf, dass es keinen
ersten Anfang, keine ursprüngliche Selbst-gewissheit gibt, sondern
dass jeder Anfang immer schon durch das aus ihm Entspringende
kontaminiert, mit einer internen Differenz behaftet ist. Die
quasi-transzendentalen Leitbegriffe der Spur, der différance und
der Schrift weisen auf eines hin, das dem Ersten vorausliegt, das
‘ursprünglicher’ als der Anfang ist und gerade darin für die
eigentliche Herkunft allen Sinns und aller Konstitution steht. Der
antifundamentalistische Gestus der Kri-tik an der arche durchzieht
die gesamte dekonstruktivistische Auseinan-dersetzung mit der
Tradition, mit klassischen Texten, herrschenden Ideen und
kulturellen Institutionen. Auf den ersten Blick scheint die
dekonstruk-tive Lektüre weithin durch einen grundlegend
antihermeneutischen Impuls bestimmt, gilt ihre zentrale Kritik doch
gerade der «Autorität des Sinns» und der Geschichte als «Geschichte
des Sinns».35 Näher besehen lässt sie sich indes mit gleichem Recht
als radikalisierte Hermeneutik begreifen, welche den Prozessen und
Gestalten des Sinns jenseits ihrer idealistischen Fixierung
nachgehen will.
Die Kritik gilt dem Sinn als «transzendentalem Signifikat»,36
d.h. als einer mit sich übereinkommenden Bedeutung – während in
Wirklichkeit aller Sinn in einem Prozess ohne ersten Anfang und
abschließende Festle-
34 Vgl. Christian Berner: Au détour du sens. Perspectives d’une
philosophie hermé-neutique (Paris: Cerf, 2007).
35 Jacques Derrida: Positions (Paris: Minuit, 1972) 67.36
Ibid.
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217«Zum Sinn verurteilt»
gung gebildet, tradiert, zersetzt und erneuert wird. Gegenüber
dem bei Merleau-Ponty, aber auch schon bei Husserl und Heidegger
zentralen Ge-danken der Historizität nimmt die Dekonstruktion eine
Radikalisierung vor, indem sie sowohl den Ursprung als je
vorausliegenden wie die finale Selbstkoinzidenz als immer
aufgeschobene denkt. Wie die ‘Spur’ für die nie aufhebbare
Nachträglichkeit steht, so die ‘différance’ für den nie
ein-holbaren Aufschub. Gleichzeitig meint sie das ‘Differieren’ als
das nie in Identität überführbare Sichunterscheiden, das in aller
Iteration und Idea-tion als Kern verbleibt. Derrida will sowohl im
Bewusstsein die lebendige Selbstpräsenz zersetzen, die für Husserl
die letzte Grundlage intentionaler Konstitution bildet, wie im
Gegenstand das Identisch- und Mitsicheinssein auflösen, das ihm als
Fluchtpunkt seine sinnhafte Bestimmtheit verleiht. Als Praxis
etabliert sich Dekonstruktion als eine bestimmte Art des Um-gehens
mit Sinngebilden, als eine kritische Lektüre, Auflösung und
Neu-schreibung von Texten und Ideen, ein Sicheinfügen in
Geschichte, welches überlieferten Sinn rezipiert, transformiert und
neu konstelliert, wobei sich die Bewegungen des Aufnehmens,
Destruierens und Formierens insgesamt in den Horizont einer
Erschließung des Sinns einschreiben. Das Anliegen, dem infrage
stehenden Sinn gerecht zu werden – das Derrida pointiert in der
These fasst, die Dekonstruktion sei die Gerechtigkeit37 – ,
verlangt ein Hinausgehen über die Ursprungsbesinnung wie über die
‘affirmative’ Ver-stehenslehre klassischer Hermeneutik.
Insofern können wir auch die dekonstruktive Transformation des
Verste-hens in den Horizont einer hermeneutischen Wende der
Phänomenologie rü-cken. Sie teilt die zweifache Perspektive dieser
Wendung, erstens in unserem Selbst- und Weltbezug das sinnhafte
Verstehen als Grund und Horizont zur Geltung zu bringen, und
zweitens nach dem Grund dieses Verstehens selbst zu fragen, den
andere in der praktischen Lebenswelt, der sinnlichen Leib-lichkeit
und der Struktur des Existenzvollzugs ausgemacht haben.
Dekons-truktion teilt dieses Zurückgehen, indem sie es zugleich
vervielfältigt, die Kanäle des Sinns zerstreut und prospektiv
öffnet, den Sinn auf seine Unent-schiedenheit und künftige Prägung
hin liest. Ihr Interesse im vorliegenden Kontext liegt nicht
zuletzt darin, dass die von ihr vollzogene Radikalisierung des
hermeneutischen Gedankens jene Linie weiterzeichnet, welche die
Aus-richtung der Phänomenologie beim späten Husserl, bei Heidegger
und bei Merleau-Ponty verbindet.
37 Jacques Derrida: Force de loi. Le «fondement mystique de
l’autorité» (Paris: Ga-lilée, 1994).
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218 Emil Angehrn
6. Schluss
So haben wir im Ganzen eine Konstellation vor uns, in der sich
unter-schiedliche Stoßrichtungen in der Artikulation des
Hermeneutischen zei-gen. Eine erste folgt dem Motiv des Ursprungs,
des Je-schon-Teilnehmens am Sinngeschehen, wobei die Besinnung auf
diesen Grund ein Rückgang zum Leben, zum praktischen, sinnlichen,
leiblichen In-der-Welt-Sein ist. Ein zweiter, gegenläufiger Akzent
gilt dem Hinausgehen und der Äuße-rung, der Vermittlung des
Verstehens über das Andere und die Gegenständ-lichkeit der
geschichtlich-kulturellen Welt. Eine dritte Stoßrichtung zielt auf
die innere Entgrenzung, Auflösung und Neukonfigurierung des
ge-schichtlichen Sinnprozesses selbst. Die drei Stoßrichtungen
lassen sich schwerpunktmäßig den bei Husserl, Heidegger und
Merleau-Ponty, bei Ricœur und bei Derrida fassbaren Prägungen des
Hermeneutischen zuord-nen. Deutlich wird in ihrer Sequenz,
inwiefern die hermeneutische Wende der Phänomenologie, die bei
Husserl und Heidegger hervortritt, in deren Schriften nicht zum
Abschluss gekommen ist; gleichzeitig lassen sich die zweite und
dritte Stoßrichtung als Korrekturen an der ersten, als
unter-schiedliche Gegenakzente zur primären Ursprungsbesinnung
verstehen. In gewisser Weise zeichnet sich Merleau-Pontys
Phänomenologie in dieser Konstellation dadurch aus, dass sie alle
drei Stoßrichtungen in je originä-rer Weise entfaltet und in sich
vereinigt. Ricœur und Derrida akzentuieren in besonderer Weise zwei
Aspekte, die auch Merleau-Pontys phänomeno-logische Theorie
charakterisieren und in welchen diese ihrerseits über Hus-serl und
Heidegger hinausgeht.
Dass wir dabei im Ganzen mit einer hermeneutischen Profilgebung,
ei-ner Durchdringung menschlichen Seins auf seine Sinndimension hin
zu tun haben, zeigt sich interessanterweise in der negativistischen
Zugangs-weise, die diese Dimension unter dem Aspekt ihres Fehlens
und Verfehlens in den Blick nimmt: als Vergessenheit des
Sinnesfundaments (Husserl), als existentielles Verstehen, das
grundlegend immer auch ein Missverstehen und Sichverfehlen ist
(Heidegger), in exemplarischen Erlebens- und Ver-haltensformen, in
denen das Defizit des Sinnverlangens und Sinnerfahrens hervortritt
(Merleau-Ponty), im Ungenügen des introspektiven Sichverste-hens
(Ricœur), in Verfestigungen, Verdeckungen und Verzerrungen des
Sinns, die aufgebrochen und neukonstelliert werden müssen
(Derrida). Da-rin manifestiert sich ein Grundzug des
Hermeneutischen überhaupt, das immer mit dem Sinn in seinem
Spannungsverhältnis zum Nicht-Sinn und Sinnentzug, mit dem
Verstehen in der Dialektik mit dem Nichtverstehen
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219«Zum Sinn verurteilt»
und den Grenzen des Verstehens zu tun hat. Dabei gehört es zur
Radikali-tät der hermeneutischen Perspektive, dass sie das
Nichtverstehen nicht als bloß erkenntnismäßiges Verfehlen ins Spiel
bringt, sondern in den Hori-zont des existentiellen
Selbstverhältnisses einzeichnet.