www.allpsy2.de Udo Rudolph | Technische Universität Chemnitz 1 Vorlesung: Evolutionäre Theorien des Verhaltens | 10 Udo Rudolph Technische Universität Chemnitz Institut für Psychologie Allgemeine und Biopsychologie Sitzung 9: Moral und moralische Gefühle
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Vorlesung: Evolutionäre Theorien des Verhaltens | 10€¦ · Moral als reine Vernunft --nicht die Religion, nicht der Common-Sense oder die empirische Praxis können Fragen der Moral
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Vorlesung:Evolutionäre Theorien des Verhaltens | 10
Udo Rudolph
Technische Universität ChemnitzInstitut für Psychologie
Allgemeine und Biopsychologie
Sitzung 9:
Moral und moralische Gefühle
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1 Einführung: Zur Geschichte der Evolutionären Psychologie
2 Darwin und Darwins Erbe: Grundlagen Evolutionärer Theorien
3 Natürliche Selektion und sexuelle Selektion
4 Die Evolution des Homo Sapiens
5 Anpassungen 1: Kognition und Emotion
6 Anpassungen 2: Kooperation und Konflikt
7 Anpassungen 3: Paarungssysteme und Partnerwahl
8 Anpassungen 4: Mentale Erkrankungen
9 Anpassungen 5: Moral und moralische Gefühle
Evolutionäre Theorien des Verhaltens | 10Moral aus evolutionärer Perspektive
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1. Was ist Moral und was lässt uns moralisch handeln? Zum Wert moralischer Emotionen.
Überblick:
2. Der Beitrag der Common-Sense-Psychologie von Fritz Heider
3. Empirische Befunde:
a. Klassische Methodenb. Entwicklungspsychologiec. Sprachpsychologie
4. Fazit und Perspektiven für die zukünftige Forschung
„Ich unterschreibe uneingeschränkt das Urteil derjenigen Autoren, die die Ansicht vertreten, das von allen Punkten, in denen der Mensch sich von den niederstehenden Tieren unterscheidet, der Sinn für Moral oder das Gewissen bei weitem der wichtigste ist.“
Charles Darwin
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Stellen Sie sich vor:
Ein guter Freund hat Sie belogen. Ärger oder Empörung?
Jemand hilft Ihnen sehr. Dankbarkeit oder Scham?
Ihr Kollege bekommt den Nobelpreis. Bewunderung oder Neid?
Im Kino klingelt Ihr Mobiltelefon. Scham oder Peinlichkeit?
Karaoke-Einlage : „Love, Love, Love ...“ Stolz, Ärger oder Scham?
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„Moral ist die Gesamtheit der Normen, Werthaltungen und Grundsätze, die das zwischenmenschliche Verhalten regulieren und die überwiegend als verbindlich akzeptiert oder hingenommen werden.“
Ein moralisches Urteil über eine Person zu treffen (über andere oder sich selbst), bedeutet also, deren Handlung entweder ...
A. ... als Verstoß gegen
B. ... oder als im Einklang mit
... allgemein gültigen Grundsätze(n) und Normen zu werten.
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Die Antwort lautet: Ja.
Beispiel 1: Die so genannte „Goldene Regel“ ...
Hinduismus: „Man sollte sich gegenüber anderen nicht in einer Weise benehmen, die für einen selbst unangenehm wäre; das ist das Wesen der Moral.“ (Mahabharata)
Buddhismus: „Einen Zustand, der nicht (...) erfreulich für mich ist, wie kann ich ihn einem anderen zumuten?“ (aus den Reden Buddhas)
Judentum: „Tue nicht anderen, was Du nicht willst, dass sie Dir tun.“ (Talmud)
Christentum: „Alles was ihr wollt, dass Euch die Menschen tun, das tut auch ihnen ebenso.“ (Neues Testament)
Islam: „Keiner von Euch ist ein Gläubiger, solange er nicht seinem Bruder wünscht, was er sich selbst wünscht.“ (Koran)
Anmerkung: Die Liste der Beispiele ist natürlich nicht auf Religionen beschränkt, aber die Religionen und insbesondere der Islam stehen derzeit hier im Fokus der Aufmerksamkeit –daher diese Beispiele. Ein gutes weltliches Beispiel ist der alternative Nobelpreis; siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Right_Livelihood_Award
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Zwei Denk-Traditionen zur Moral – oder: Immanuel Kant und David Hume:
1. Immanuel Kant:
Moral als reine Vernunft -- nicht die Religion, nicht der Common-Sense oder die empirische Praxis können Fragen der Moral beantworten, sondern nur die reine Vernunft. Zur Moral gehören das sittlich Gute, die Willensfreiheit, und die Maxime des kategorischen Imperativs.
In der Psychologie wurde diese Tradition von Piaget und Kohlberg fortgeführt.
Fazit von Kant: Emotionen sind keine guten Ratgeber für moralisches Handeln.
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Zwei Denk-Traditionen -- Immanuel Kant und David Hume:
2. David Hume:
Hume‘s Stichwort: „Kein Sollen aus dem Sein“ – sondern: die Emotionen sind das Element, das moralisches Handeln erst ermöglicht; diese sind die motivationale Triebfeder und eine Brücke zwischen Denken und Handeln.
Die Vernunft kann unseren Blick auf die Wirklichkeit ändern, aber nur die Emotionen sind handlungswirksam:
„Moral führt zu Emotionen (Leidenschaften), und diese befördern und verhindern unser Handeln. Die Regeln der Vernunft sind hierfür ganz ungeeignet. Die Regeln der Moral basieren daher nicht auf Ableitungen unserer Vernunft.“
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Was sind „Moralische Emotionen“?
1. In der Emotionspsychologie gibt es seit 100 Jahren keine Einigkeit, welche Emotionen überhaupt (a) in einer kompletten Liste aller Emotionen oder (b) auch nur in einer Liste der wichtigsten Emotionen enthalten sein sollten.
3. Es herrscht aber Einigkeit, dass moralische Emotionen auf einem bestimmten Typ von Gedanken basieren, nämlich moralischen Werturteilen (gut versus schlecht, richtig versus falsch).
2. Es gibt bislang keine Theorie der moralischen Emotionen, weder hinsichtlich der kognitiven Voraussetzungen noch hinsichtlich einer möglichen Klassifikation.
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Ein zweiter empirischer Zugang:
Mindestens fünf dieser moralischen Emotionen gelten in zahlreichen Emotionstheorien als so genannte BASIC EMOTIONS, dies sind Ärger, Verachtung, Scham, Schuld und Stolz.
Dies bedeutet:
Es gibt sehr gute empirische Evidenz, dass es diese Emotionen in allen Kulturen der Welt gibt und diese hinsichtlich einiger Merkmale universell sind.
Ferner gibt es in den meisten Sprachen der Welt für die allermeisten der hier versammelten Emotionen spezifische Wörter -- so dass anzunehmen ist, dass die meisten Menschen, egal welcher Herkunft, Kultur oder Rasse, diese Emotionen kennen.
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Zwischenfazit:
Es gibt eine ganze Reihe moralischer Emotionen, etwa ein bis zwei Dutzend.
Auch wenn es hier weiterer Forschung bedarf, spricht einiges dafür, dass diese Emotionen zumindest hinsichtlich einiger Aspekte (mimischer Ausdruck, Bekanntheit) universeller Natur sind.
Diese Emotionen entstehen ontogenetisch früh; dies bedeutet: ihre kognitiven Voraussetzungen können nicht allzu kompliziert sein.
Was nun?
Es folgen einige Ideen zur Beschreibung und Erklärung dieser moralischen Emotionen.
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Idee 3: Zur Gerichtetheit von Emotionen
Emotionen haben einen Gegenstand, auf den diese sich beziehen (Descartes, 1649; McDougall, 1904; Arnold, 1954; Averill, 1968; Izard, 1977; Lazarus, 1991; Weiner, 1996 ...)
1. Moralische Emotionen beziehen sich immer auf Personen und deren Handlungen. Mit anderen Worten: Ich kann Schuld empfinden oder Bewunderung, Mitleid oder Neid --Häuser, Steine oder Bäume können dies nicht.
2. Moralische Emotionen beziehen sich auf die eigene Person und die eigenen Handlungen (Reue, Schuld, Stolz ...) oder auf andere Personen und deren Handlungen (Mitleid, Neid, Bewunderung ...).
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Die kognitiven Voraussetzungen von moralischen Emotionen
1. Moralische Urteile über Gut und Schlecht, Falsch und Richtig.
Bei der näheren Analyse dieser kognitiven Prozesse greifen wir im Folgenden auf die Überlegungen Fritz Heiders und seiner „naiven Handlungsanalyse“ zurück.
2. Diese Urteile sind vermutlich sehr einfacher Natur.
Wie können nun diese Urteilsprozesse genauer gefasst werden?
Dies sind die Konzepte Sollen, Bemühen und Zielerreichung.
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1. Das Konzept des Sollens:
Zitat Fritz Heider (1958):
„Das Konzept des Sollens [resultiert aus] dem Aufforderungscharakter einer Situation, [...] und hieraus eine psychologische Spannung, die auf der Unvollständigkeit oder Fehlerhaftigkeit dieser Situation beruht (siehe auch Lewin, 1939, 1944).
Kritischer Test:
Entwicklungspsychologische Befunde legen nahe, dass dies eine der ersten Fähigkeiten ist, die Kinder zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr entwickeln, und zwar als eine der ersten Kompetenzen in der Interaktion mit der Umwelt überhaupt (zsf. siehe Kagan, 1984).
„Sollen bedeutet, dass eine Person aufgerufen ist, etwas zu tun.“ (Heider, 1958)
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2. Das Konzept des Bemühens oder der Anstrengung:
„Jemand möchte einen bestimmten Zustand erreichen oder herstellen.“ (Heider, 1958; S. 17).
Kritischer Test:
Befunde zur ‚Theory of Mind‘ zeigen, dass Kinder diese Fähigkeit zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr entwickeln (zsf. siehe Tomassello, 1999).
In anderen Worten: Ich selbst habe eine Intention oder eine andere Person hat eine Intention, und nun tut sie (mehr oder weniger) dafür, diese in die Tat umzusetzen.
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3. Das Konzept der Zielerreichung:
„Ob eine Person etwas tun kann oder nicht tun kann“ (Heider, 1958; S. 16).
In anderen Worten: Jener Faktoren, die darüber entscheiden, ob eine Handlung gelingt oder misslingt.
Wichtig hierbei ist, dass das Konzept des „Könnens“ Heider zufolge nicht mit ‚Fähigkeit‘ gleichzusetzen ist: Die Zielerreichung ist in diesem Falle das vorweggenommene oder beobachtete Gelingen oder Misslingen einer Handlung.
Kritischer Test:
Befunde zur frühen Beobachtung von Frustration und Ärger bei spätestens 1- bis 2-jährigen Kindern zeigen, dass Kinder solche Konzepte schon sehr früh erwerben.
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Fazit:
1. Einfache Kognitionen, die moralische Emotionen in erheblichem Maße determinieren, sind Wahrnehmungen von „Sollen“, „Bemühen“, und „Gelingen“.
2. Bei selbstbezogenen moralischen Emotionen ist das Gelingen wichtiger als bei fremdbezogenen moralischen Emotionen. Bei anderen Personen dagegen bestimmt allein schon das Vorliegen einer Absicht die moralischen Emotionen in noch höherem Maße als bei selbstbezogenen moralischen Emotionen.
3. Ein kritischer Test für jede Theorie der moralischen Emotionen ist das entwicklungspsychologische Kriterium – hier zeigen erste Befunde, dass bereits 5-Jährige Kinder Schadenfreude und Mitleid kennen und das Erleben dieser Emotionen ihr Verhalten beeinflusst.
4. Analysen von Werken der Weltliteratur bestätigen die naive Handlungsanalyse Heiders sehr gut.