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Vollkommene Zahlen in der Arithmetik, geistlichen Exegese und literarischen Zahlenkomposition des Mittelalters Otfried Lieberknecht Vortrag, 18. Februar 1998, Universität Kaiserslautern, Sonderveranstaltung Geschichte der Mathematik 1. Einleitung | 2. Boethius | 3. Augustinus | 4. Alkuin | 5. Hrabanus | 6. Dante | Tabellen | Abbildung 1. Einleitung Lesen und Schreiben sind Fähigkeiten, die zwar nicht jedermann gleich gut beherrscht, die aber doch in unserer Zeit zumindest in elementarer Form eine relativ breite Durchsetzung in allen Bevölkerungsschichten besitzen. Ähnliches gilt heute auch speziell für das Lesen und Schreiben von Zahlen, bis zu einem gewissen Grad sogar für das Rechnen mit ihnen, und wenigstens kurzzeitig werden heute die meisten Schüler auch mit der Benutzung von Recheninstrumenten wie Rechenschieber, Taschenrechner und Personalcomputer bekannt gemacht. Die breite Durchsetzung solcher Fähigkeiten ist bei uns in erster Linie Errungenschaft eines in den Lehrplänen vereinheitlichten Pflichtschulsystems, mit dessen Einführung Frankreich in der französischen Revolution den Anfang machte. In den voraufgegangenen Jahrhunderten war dagegen der Schulunterricht sowohl regional als auch sozial wesentlich stärker differenziert, und auch die Zahl derjenigen, die von seinen Segnungen überhaupt verschont blieben, war wesentlich größer, wenn sie nicht sogar die Mehrheit der Bevölkerung bildete. Für die Fähigkeit, mit Zahlen und Ziffern umgehen zu können, haben wir bis heute kein eigenes Wort im Deutschen. Aber in der amerikanischen Forschung hat man hierfür in Analogie zu "literacy" den Ausdruck "numeracy" geprägt, und in Anlehnung an dieses Vorbild will auch ich hier als Gegenstück zu `Alphabetisierung' den Behelfsausdruck `Numeralisierung' gebrauchen. Parallel zur verstärkten Ausbreitung des Geldwesens und zu einer zunehmenden Alphabetisierung der Bevölkerung kann man auch für die `Numeralisierung' breiterer Bevölkerungsschichten einen deutlichen Wandel im 13. Jahrhundert erkennen, der besonders von Italien und dann auch von Frankreich ausgeht. Bis zu dieser Zeit war mathematisches Grundwissen, nämlich im Rahmen der Sieben Freien Künste das Fachwissen der Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musiktheorie, außerdem das zur Berechnung der kirchlichen Festtage nötige computistische Grundwissen überhaupt nur einer sehr kleinen, zu kirchlichen oder staatlichen Ämtern bestimmten Elite in Klosterschulen, Kathedralschulen und den eben erst sich formierenden Universitäten vermittelt worden. Und auch das praktische Rechnen und die Benutzung des Rechenbretts war weitgehend auf Fachleute im klösterlichen und akademischen Bereich, im Finanzwesen und möglicherweise in einigen Bereichen des Handwerks wie dem Bauwesen beschränkt geblieben. Seit dem Ausgang des 12. Jahrhunderts wird dagegen ein zunehmender Bedarf speziell für praktisches Rechnen erkennbar. Dieser zeigt sich an der Ausbreitung des mathematischen Elementarunterrichts im sich formierenden städtischen Schulwesen und an der Entstehung einer umfangreichen nicht mehr nur lateinischen, sondern auch bereits volkssprachlichen Fachliteratur, in der auch der nicht Lateinkundige die Grundrechenarten und Beispiele ihrer praktischen Anwendung erlernen konnte. Auch an der Verbreitung des nach den Fingern wichtigsten mittelalterlichen Recheninstruments, des Rechenbretts, zeigt sich dieser geschichtliche Wandel. Das Rechenbrett, lateinisch abacus oder calculator genannt, war schon in der griechischen und 1 von 24 http://lieberknecht.de/~diss/index.html
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Jan 28, 2023

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Vollkommene Zahlen in der Arithmetik, geistlichenExegese und literarischen Zahlenkomposition desMittelalters

Otfried Lieberknecht

Vortrag, 18. Februar 1998, Universität Kaiserslautern, Sonderveranstaltung Geschichte der Mathematik

1. Einleitung | 2. Boethius | 3. Augustinus | 4. Alkuin | 5. Hrabanus | 6. Dante | Tabellen | Abbildung

1. Einleitung

Lesen und Schreiben sind Fähigkeiten, die zwar nicht jedermann gleich gut beherrscht, dieaber doch in unserer Zeit zumindest in elementarer Form eine relativ breite Durchsetzung inallen Bevölkerungsschichten besitzen. Ähnliches gilt heute auch speziell für das Lesen undSchreiben von Zahlen, bis zu einem gewissen Grad sogar für das Rechnen mit ihnen, undwenigstens kurzzeitig werden heute die meisten Schüler auch mit der Benutzung vonRecheninstrumenten wie Rechenschieber, Taschenrechner und Personalcomputer bekanntgemacht. Die breite Durchsetzung solcher Fähigkeiten ist bei uns in erster LinieErrungenschaft eines in den Lehrplänen vereinheitlichten Pflichtschulsystems, mit dessenEinführung Frankreich in der französischen Revolution den Anfang machte. In denvoraufgegangenen Jahrhunderten war dagegen der Schulunterricht sowohl regional als auchsozial wesentlich stärker differenziert, und auch die Zahl derjenigen, die von seinenSegnungen überhaupt verschont blieben, war wesentlich größer, wenn sie nicht sogar dieMehrheit der Bevölkerung bildete. Für die Fähigkeit, mit Zahlen und Ziffern umgehen zukönnen, haben wir bis heute kein eigenes Wort im Deutschen. Aber in der amerikanischenForschung hat man hierfür in Analogie zu "literacy" den Ausdruck "numeracy" geprägt, undin Anlehnung an dieses Vorbild will auch ich hier als Gegenstück zu `Alphabetisierung' denBehelfsausdruck `Numeralisierung' gebrauchen.

Parallel zur verstärkten Ausbreitung des Geldwesens und zu einer zunehmendenAlphabetisierung der Bevölkerung kann man auch für die `Numeralisierung' breitererBevölkerungsschichten einen deutlichen Wandel im 13. Jahrhundert erkennen, der besondersvon Italien und dann auch von Frankreich ausgeht. Bis zu dieser Zeit war mathematischesGrundwissen, nämlich im Rahmen der Sieben Freien Künste das Fachwissen der Arithmetik,Geometrie, Astronomie und Musiktheorie, außerdem das zur Berechnung der kirchlichenFesttage nötige computistische Grundwissen überhaupt nur einer sehr kleinen, zu kirchlichenoder staatlichen Ämtern bestimmten Elite in Klosterschulen, Kathedralschulen und den ebenerst sich formierenden Universitäten vermittelt worden. Und auch das praktische Rechnenund die Benutzung des Rechenbretts war weitgehend auf Fachleute im klösterlichen undakademischen Bereich, im Finanzwesen und möglicherweise in einigen Bereichen desHandwerks wie dem Bauwesen beschränkt geblieben. Seit dem Ausgang des 12.Jahrhunderts wird dagegen ein zunehmender Bedarf speziell für praktisches Rechnenerkennbar. Dieser zeigt sich an der Ausbreitung des mathematischen Elementarunterrichts imsich formierenden städtischen Schulwesen und an der Entstehung einer umfangreichen nichtmehr nur lateinischen, sondern auch bereits volkssprachlichen Fachliteratur, in der auch dernicht Lateinkundige die Grundrechenarten und Beispiele ihrer praktischen Anwendungerlernen konnte. Auch an der Verbreitung des nach den Fingern wichtigsten mittelalterlichenRecheninstruments, des Rechenbretts, zeigt sich dieser geschichtliche Wandel. DasRechenbrett, lateinisch abacus oder calculator genannt, war schon in der griechischen und

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römischen Antike in Gebrauch gewesen war, ist dann im Frühmittelalter aber über lange Zeitnicht mehr nachzuweisen und findet sich erst vom ausgehenden 10. bis zur Mitte des 12.Jahrhunderts wieder durch klösterliche Fachliteratur bezeugt, und zwar in einer gegenüberder Antike veränderten Form, mit bezifferten Rechensteinen, die außer Addition undSubtraktion auch Multiplikation und Division nach allerdings kompliziertenVerfahrensweisen erlaubt. In dieser neuen, von Historikern auch als Klosterabacusbezeichneten Form blieb der Abacus allerdings ein ziemlich esoterisches und wenigverbreitetes Instrument. In nochmals veränderter Form, nämlich mit wieder unbeziffertenRechensteinen, erlangte es dann seit dem 12. Jahrhundert in England und seit dem 13.Jahrhundert in Frankreich im Finanzwesen weitere Verbreitung, wobei es sich dannallerdings zumeist um ein Rechenbrett nicht mit dezimalen Spalten, sondern mit Spalten fürdie nicht-dezimalen Münnzeinheiten des Mittelalters gehandelt haben wird, mit denen sichfür wissenschschaftliches Rechnen wenig anfangen läßt. Schon im 14. Jh. ist das Rechenbrettdann in Frankreich und England ein weit verbreitetes Utensil, nicht nur im Kontor desKaufmanns, das seinen Namen von dem französischen Wort für `Rechenbrett' hat, sondernes gehört auch bereits zu den Utensilien privater Bürger- und Handwerkerhaushalte, wo esbesonders häufig als Teil der weiblichen Aussteuer bezeugt ist. In Italien dagegen hatte sichschon im 13. Jh. im Handels- und Finanzwesen anstelle des Rechenbretts das schriftlicheRechnen mit den seit dem 12. Jh. allmählich bekannt gewordenen indisch-arabischen Ziffernmassiv durchgesetzt, so sehr, daß italienische Bankiers und Kaufleute anscheinendhauptsächlich in ihren ausländischen Niederlassungen mit dem dort üblichen Rechenbrett, inder Heimat dagegen vorwiegend schriftlich mit den neuen Ziffern rechneten. Abacus bzw.ab(b)aco, wird in Italien überhaupt zum Synonym für das Rechnen mit den neuen Ziffernund für Rechnungswesen allgemein, während dieses Wort bis zum 12. Jh. nur dasRechenbrett und die Kunst seiner Benutzung bezeichnet hatte. Bis in die frühe Neuzeitfinden sich im übrigen in Frankreich, Deutschland und besonders in England immer wiederschriftliche Rechnungen, in denen die Zahlen einerseits zwar in indisch-arabischen oder inrömischen Ziffern notiert werden, ihre Addition oder Subtraktion andererseits aber vermittelseiner abazistischen Linienzeichnung durchgeführt oder zumindest kontrolliert wird, in derPunkte oder Kreuze den Rechensteinen auf dem Abacus entsprechen.

Wenn wir es also seit dem 13. Jh. mit einer zunehmenden Numeralisierung breiterBevölkerungsschichten zu tun haben, so bleibt dieser Vorgang doch größtenteils auf daspraktische Rechnen mit den vier Grundrechenarten, insbesondere auf Addition undSubtraktion, beschränkt. Der gewöhnliche Kaufmannssohn mußte sich dagegen kaum mitarithmetischer Zahlentheorie, mit den irrationalen Zahlen der Geometrie, mit denSexagesmimalbrüchen der Astronomie oder mit den Zahlenintervallen der Musiktheorieherumschlagen, wenn er nicht gerade das seltene Glück oder auch Ünglück hatte, mit demgenialsten, aber wenig verbreiteten mathematischen Lehrwerk des Mittelalters, dem Liberabbaci von Leonardo da Pisa, das neue Ziffernrechnen zu erlernen. Hatte besagterKaufmannsohn jedoch wissenschaftliche Interessen, die über die Erfordernisse desbürgerlichen Broterwerbes hinausgingen, oder begann er sogar ein Studium, um in kirchlicheoder staatliche Ämter zu gelangen, dann konnte allerdings auch er Zugang zu dentraditionellen Lehrstoffen des Quadriviums finden, die in den Lehrbüchern seit derSpätantike mit einer bemerkenswerten Kontinuität weitergereicht worden waren, und zudenen seit dem 12. Jh. unter dem Einfluß arabischer Wissenschaft auch eine höchstanspruchsvolle Übersetzungs- und Traktatliteratur für Spezialgebiete wie Algebra und Optikhinzugekommen war.

Von dem so skizzierten Wandel blieb allerdings ein Bereich mittelalterlicherZahlenverwendung weitgehend unberührt, nämlich die allegorische Interpretation vonZahlen im Bereich der Bibelexegese. Bibelexegeten hatten auf verschiedene Weise mit derDeutung biblischer Zahlen zu tun. Einerseits mußten sie natürlich auf der Ebene desLitteralsinns Jahreszahlen und Maßangaben erklären, nachrechnen und gegebenfalls

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auftretende Ungereimtheiten ausräumen. Auf der anderen Seite wurden aber biblischeZahlen oder Zahlenangaben auch und vor allem für die allegorische Exegese funktionalisiert.Allegorische Exegese, d.h. sehr vereinfacht gesagt, eine Auslegungsweise, die die wörtlicheAussage des Textes als Träger oder Hülle eines zweiten, gegebenenfalls auch noch mehrfachin sich differenzierten Textsinnes auslegt, indem sie die im Text wörtlich bezeichnetenDinge ihrerseits als Zeichen interpretiert, welche vermittels bestimmter sachlicherEigenschaften auf andere, partiell ähnliche Dinge hindeuten. Die Herstellung solcherVerweisungsbezüge stütze sich in der Exegese auf partiell übereinstimmende Eigenschaftenzwischen der zu deutenden Sache oder Person oder Handlung einerseits, und ihremallegorischen Signifikat andererseits, und zu den als signifikant eingeschätztenEigenschaften gehörten neben der stofflichen Qualität oder der ethnischen odergeographischen Zugehörigkeit oder bestimmten Funktionsmerkmalen sehr häufig eben auchzahlhafte Eigenschaften. Auf diese Weise konnten dann zum Beispiel die zwölf Stämme deserwählten Volkes Israels, die zwölf Edelsteine im Brustschild des Hohepriesters oder diezwölf Brunnen von Elim jeweils als Figur der 12 Apostel gedeutet werden, die von Christuszur Gründung seiner Kirche erwählt wurden und diese mit ihren Tugenden schmücken undmit dem Wasser ihrer Lehre speisen.

Viele bibelexegetischen Zahlendeutungen sind Deutungen dieses einfachsten Typs, beidenen speziell die Gleichheit der Zahl ein `tertium comparationis' zwischen Zeichen undBezeichnetem bildet, aber ansonsten keine rechnerischen Operationen oder mathematischenLehrinhalte erforderlich sind. Oft wurden jedoch auch besondere arithmetischeEigenschaften der auszulegenden Zahl selber herangezogen, um eine Beziehung zumSignifikat herzustellen, und zwar insbesondere dann, wenn das Signifikat nicht in einerbestimmten geeigneten Zahl auftritt, oder wenn die auszulegende biblische Zahl so singulärist, daß sich ihr weder in der übrigen biblischen Geschichte noch in der sonstigen göttlichenSchöpfung ohne weiteres ein gleichzahliges Signifikat zuordnen läßt. Als ein bekanntesBeispiel lassen sich die 153 Fische anführen, die von den Aposteln aus dem See von Tiberiasgefischt wurden (Io 21,11). Hier wurde für die Deutung gerne darauf zurückgegriffen, daßdie 153 eine Dreieckszahl, ein `numerus trigonus' ist, d.h. sie kann durch Addition dernatürlichen Zahlen 1 bis 17 gebildet werden und deshalb bei entsprechender Anordnung von153 Einheiten als ein gleichseitiges Dreieck mit einer Seitenlänge von 17 Einheitendargestellt werden. Vermittels dieser Beziehung zur Zahl 17, die ihrerseits in die Zehnzahlder Gebote und in die Siebenzahl der Gnade oder der ewigen Seligkeit aufgelöst wurde,konnten dann auch die 153 von den Aposteln gefangenen Fische als Figur Gläubigengedeutet werden, die sich den Geboten Gottes (der Zehnzahl) unterwerfen und durch seineGnade zur Seligkeit der ewigen Sabbatruhe (der Siebenzahl) erlöst werden.

Das arithmetische Fachwissen, das bei solchen Deutungen herangezogen wurde, war jedochin der bibelexegetischen Tradition immer noch recht elementar und verlangte lediglichgewisse Grundkenntnisse, aber keine sehr weitreichende Schulung in den Fächern desQuadriviums: es beschränkte sich zumeist darauf, daß bestimmte Eigenschaften, die eineZahl als gerade oder ungerade Zahl, als vollkommene, untervollkommene oderübervollkommene oder auch als Flächen- oder Körperzahl besitzt, für die Deutungbeansprucht wurden. Proportionen und darauf aufbauende komplexere Lehrinhalte derArithmetik und Musiktheorie spielten dagegen nur sehr selten eine Rolle, und für dieHeranziehung irrationaler Zahlen ist in der Bibelexegese bisher überhaupt kein Belegaufgetaucht. Auch was Zahlschriften und die Instrumente der operativen Arithmetik angeht,so wurden zwar seit patristischer Zeit häufig besondere Gegebenheiten der Fingerzahlen undder römischen und griechischen Zahlzeichen, nicht aber in späterer Zeit dann auch besondereGegebenheiten des Abacus oder der indisch-arabischen Ziffern einbezogen. Die allegorischeZahlendeutung der Bibelexegese blieb vielmehr bis zur Reformationszeit im wesentlichenkonservativ dem Deutungsgut der frühen Kirchenväter verpflichtet und ignorierteÄnderungen und Fortschritte auf dem Gebiet der Mathematik. Die bibelexegetische

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Zahlendeutung war außerdem, sieht man ab von den patristischen Anfängen, in erster Linieeine Angelegenheit von Theologen für Theologen (oder Theologiestudenten), die von Laiennicht selbständig auszuüben war, von ihnen `de jure' ebenso wie die Bibelexegese überhauptnoch nicht einmal ausgeübt werden durfte, und deren Deutungsresultate der Laienwelt nur indosierter Form in der Predigt und seit dem Spätmittelalter auch in sonstigerErbauungsliteratur vermittelt wurden.

Mein Interesse an der Geschichte der Mathematik und an der Geschichte exegetischerZahlendeutung ist nun speziell motiviert durch die Frage, welche Rolle Zahlen in derliterarischen und poetischen Produktion des Mittelalters spielten, und in welcher Weise, überdie bloße Produktion hinaus, mittelalterliche Autoren auch von ihren Lesern oder doch voneinigen dieser Leser erwarteten, mit den Zahlen und zahlhaft gegliedertenAufbauverhältnissen in ihren Werken interpretierend umgehen zu können. Zahlen spielennatürlich zunächst einmal eine wichtige Rolle für den metrischen Aufbau des einzelnenVerses und der Strophe, und dieses Gebiet wurde von der modernen Literaturwissenschaftauch schon immer sehr gründlich bearbeitet. Zahlen dieser Art, die für die klassischenVersmaße von Augustinus in De musica auf musikalische Proportionen zurückgeführtwerden, brauchten vom Leser bzw. Hörer der Dichtung nicht bewußt wahrgenommen zuwerden, sondern konnten ihre ästhetische Wirkung auch unbewußt entfalten. Mein Interessegilt dagegen der literarischen oder poetischen Adaption von Zahlen bzw. Zahlendeutungenaus dem Bereich der allegorischen Bibelexegese, d.h. solchen Fällen, in denenmittelalterliche Autoren ihre Werke für eine Exegese ähnlich der Bibelexegese einrichteten,und hier war dann natürlich ein bewußter Mitvollzug durch den Leser und dessen Einsatzeines spezifischen Fachwissens erforderlich. Das schränkt das Interesse notwendig ein aufWerke, deren Autoren eine gewisse Schulung auf dem Gebiet der Exegese besaßen und auchunter ihren Lesern zumindest einige mit einer solchen Schulung erwarteten. Denn dielandläufige Vorstellung, daß `der' mittelalterliche Mensch schlechthin Zahlen allegorischoder, wie es meist heißt, `symbolisch' interpretiert habe, diese Vorstellung ist genausorealistisch wie etwa die, daß `der' moderne Mensch ein Röntgengerät oder einenComputertomographen bedienen könne.

Um Sie, verehrte Hörerinnen und Hörer, an das Thema so heranzuführen, daß Sie sich nichtauf das Glatteis literaturwissenschaftlicher Spekulation gedrängt zu fühlen brauchen oderdoch zumindest das rettende Ufer geschichtlich verifizierbarer Hintergründe immer noch imAuge behalten können, will ich im folgenden so verfahren, daß ich einen verhältnismäßigelementaren Lehrstoff mittelalterlicher Arithmetik, die Lehre von den vollkommenenZahlen, zunächst in seinem arithmetischen Verständnis bei Boethius und in seinerbibelexegetischen Nutzanwendung bei Augustinus vorstelle, um erst dann einige Beispieleseiner Nutzanwendung im Bereich der Dichtung vorzuführen, wobei auch im Bereich derDichtung sicherheitshalber solche Fälle den Anfang machen sollen, in denen die Autorenausdrücklich darauf hinweisen, daß und warum sie vollkommene Zahlen für den Aufbauihrer Dichtung verwenden.

2. Boethius

Vollkommene Zahlen, d.h. Zahlen, die gleich der Summe ihrer ganzzahligen Divisoren sind,werden im griechischen Altertum anscheinend zuerst bei Euklid behandelt und wurden demlateinischen Mittelalter dann hauptsächlich durch die Institutio arithmetica des Boethius (m.524) bekannt, die ihrerseits im wesentlichen eine lateinische Bearbeitung der griechischenArithmetik von Nikomachos von Gerasa ist. Die Institutio arithmetica war die Hauptquelleder mittelalterlichen Arithmetik, an der die Gliederung und Darstellung des gesamtenLehrstoffs bis in die frühe Neuzeit orientiert blieb. Sie besteht aus zwei Büchern, von denendas erste den Unterschied zwischen geraden Zahlen, ungeraden Zahlen und Primzahlen

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sowie verschiedene Unterarten derselben und außerdem die Proportionen (proportiones),d.h. Arten der Gleichheit und Ungleichheit zwischen zwei Zahlen, behandelt, während daszweite Buch den Medietäten (medietates, proportionalitates), d.h. Verhältnissen zwischenzwei oder mehr Proportionen, gewidmet ist.

Die vollkommenen Zahlen, `numeri perfecti secundum partium aggregationem', werden inBuch I zusammen mit den untervollkommenen (inperfecti, deminuti, indigentes) undübervollkommenen (plus quam perfecti, superflui, abundantes) als eine Unterart der geradenZahlen vorgestellt, die sich danach definiert, wie eine gegebene Zahl sich zur Summe(aggregatio) ihrer möglichen Teiler verhält: ist diese Summe kleiner als die Zahl selbst, sogehört die Zahl zu den `numeri inperfecti', wie z.B. die 8, bei der die Summe der Teiler 1, 2und 4 nur 7 ergibt. Ist die Summe der Teiler dagegen größer als die Zahl selbst, so gehört dieZahl zu den `numeri plus quam perfecti', wie z.B. die 12, bei der die Summe der Teiler 1, 2,3, 4 und 6 insgesamt 16 ergibt. Lediglich wenn die Zahl mit der Teilersumme übereinstimmt,wie im Fall der durch 1, 2 und 3 teilbaren 6, gilt die Zahl als ein `numerus perfectus'.

Boethius deutet in seiner Behandlung dieser Zahlenarten auch ein moralisierendesVerständnis, wenn er darauf hinweist, daß die untervollkommenen und dieübervollkommenen Zahlen den menschlichen Lastern gleichen, weil sie genau wie diese sehrverbreitet sind und sich keiner bestimmten Ordnung unterwerfen, während `vollkommeneZahlen', die gleich menschlicher Tugend das rechte Maß, die Mitte zwischen Übermaß undMangel, bewahren, äußerst selten sind und nach einer bestimmten Ordnung auftreten. UndBoethius deutet zugleich auch eine ästhetische Bevorzugung der vollkommenen Zahlen an,wenn er die übervollkommenen mit polymorphen Monstren aus der Mythologie wie dem ausLöwe, Drache und Mensch zusammengesetzten Geryon vergleicht, während er dieuntervollkommenen mit Mißgestalten vergleicht, die, wie die einäugigen Zyklopen, durchein Zuwenig an natürlichen Körperteilen charakterisiert sind. Bei diesen Vergleichen, dieBoethius bereits aus seiner griechischen Vorlage übernimmt, steht im Hintergrund dieVorstellung, daß eine Zahl einen aus Gliedern, `partes', zusammengesetzten `Körper' besitzt,so daß nur bei den vollkommenen Zahlen die Glieder in einem ausgewogenen Verhältniszum Körper der Zahl stehen. Doch geht es Boethius nur ganz am Rande um solchemoralische und ästhetische Bewertung von Zahlen, die in seiner Arithmetik auch nur andieser einen Stelle ausnahmsweise einmal zur Sprache kommt. Sein eigentliches Anliegen istvielmehr die Beschreibung der `Ordnung', in der die vollkommenen Zahlen auftreten undrechnerisch ermittelt werden können.

Gemeint ist mit dieser `Ordnung' das Bildungsgesetz für vollkommene Zahlen, in modernerFormulierung 2n * (2n+1-1), wobei der Ausdruck in der Klammer eine Primzahl ergebenmuß. Es wird von Boethius in einem eigenen Kapitel vorgestellt, und zwar in der folgendenWeise: den Ausgangspunkt bildet die Reihe der `numeri pariter pares', d.h. gerad-geradeZahlen (1, 2, 4, 8, 16... [2n]), deren Glieder so lange miteinander addiert werden, bis die Summe eine Primzahl ergibt. Multipliziert man diese Primzahl mit dem zuletzt addierten Reihenglied, so ergibt sich eine `vollkommene Zahl'. Boethius führt diese Berechnungsweise für die ersten drei vollkommenen Zahlen vor (1+2=3, 3*2=6; 1+2+4=7, 7*4=28;1+2+4+8+16=31, 31*16=496), und er erwähnt auch noch die vierte vollkommene Zahl, 8128. Der geordnete Charakter ihres Auftretens ergibt sich für Boethius allerdings nicht nur aus der Möglichkeit, vollkommene Zahlen nach einer festen Regel zu bilden, sondern auch aus der auf diese vier ersten vollkommenen Zahlen abgeleiteten Regelmäßigkeit, daß im Bereich jeder Zehnerpotenz, d.h. innherhalb der 10, der 100, der 1000 und der 10.000, jeweils genau eine vollkommene Zahl auftrete, und daß diese jeweils abwechselnd entweder auf 6 oder auf 8 ende. Vermutlich darum, weil für die Auffindung von vollkommenen Zahlen die im Mittelalter rechnerisch aufwendige Bestimmung von Primzahlen erforderlich ist, wurde erst im 15. Jh. durch die Entdeckung der fünften Primzahl, 33.550.336, erkannt,

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daß diese Regelmäßigkeit nur für die ersten vier vollkommenen Zahlen gilt.

Boethius behandelt die vollkommenen Zahlen als eine Unterart der geraden Zahlen, stelltaber nicht die von neuzeitlichen Mathematikern untersuchten Frage, ob es auch ungerade`vollkommene Zahlen' geben könne. Rein intuitiv ist dem Nichtmathematiker eigentlichunmittelbar klar, daß ungerade Zahlen nicht genügend ganzzahlige Teiler besitzen können,um aus der Klasse der untervollkommenen Zahlen in die der vollkommenen oder sogar indie der übervollkommenen aufsteigen zu können. Hierfür auch den Beweis anzutreten istjedoch erst in der modernen Mathematik ein Anliegen geworden und war dann derHauptgrund, warum sich moderne Mathematiker überhaupt noch mit den vollkommenenZahlen beschäftigen. Trotzdem findet sich auch bei Boethius eine Erörterung, die zumindestvon ganz ferne in diesen Zusammenhang gehört. Denn Boethius vertritt und begründet dieAuffassung, daß auch die Zahl Eins zumindest "in potentia" und "virtualiter" zu denvollkommenen Zahlen gehöre: Für Boethius ist sie das erste Glied in der Reihe der gerad-geraden Zahlen; sie ergibt, auch ohne mit vorhergehenden Reihengliedern addiert werden zumüssen oder zu können, eine Primzahl; und wenn man diese Primzahl mit dem Reihenglied,also mit sich selber, multipliziert, so ergibt sich wieder die Eins, womit diese zumindest fürBoethius gemäß der Bildungsregel als vollkommene Zahl erwiesen ist. Oder doch zumindestals virtuell vollkommene Zahl, da sie ja keine ganzzahligen Teiler besitzt, deren Summe sieauch als real vollkommene Zahl erweisen könnte. Allerdings ist damit noch nicht unbedingtder Beweis einer ungeraden vollkommenen Zahl angetreten, da für Boethius die unitas Einsebenso ja auch die erste der geraden, der ungeraden und der Primzahlen ist.

Das von Boethius in den Kapiteln 19-20 des ersten Buches der Institutio arithmeticavermittelte Lehrwissen über die vollkommenen Zahlen bildet die Summe dessen, was auchauch in den folgenden fast tausend Jahren zu diesem Thema überhaupt bekannt war und, mitmanchen Kürzungen, in den arithmetischen Lehrwerken gelehrt wurde. Die Kürzungenbetreffen meist das Bildungsgesetz, die moralisierende und ästhetische Deutung, und dieEinordnung der Eins unter die vollkommenen Zahlen. Auch auf die Anführung der drittenund der vierten vollkommenen Zahl wurde oft verzichtet. Dieses Lehrwissen blieb festerBestandteil innerhalb des arithmetischen Lehrstoffs, hatte jedoch innerhalb des Quadriviumskeine weitere Funktion: vollkommene Zahlen sind ohne Belang für die Proportionen undMedietätenlehre der Arithmetik, sie spielen keine Rolle für geometrische oder astronomischeBerechnungen und sind ebensowenig von Bedeutung für die Bestimmung der musikalischenIntervalle und Harmonien, wie sie auch in der operativen Arithmetik keine Bedeutungerlangt haben. Es handelt sich also gewissermaßen um ein Stück Arithmetik als L'art pourl'art, geeignet eigentlich nur, um Schüler damit zu quälen oder Mathematiker damit zuerfreuen.

3. Augustinus

Ihre eigentliche Bedeutung für das Mittelalter erlangten die vollkommenen Zahlen dagegenaußerhalb des Quadriviums, nämlich in der Bibelexegese, wo sie seit Augustinus geradezuein Paradebeispiel wurden für die Bestätigung des Wortes der Weisheit, daß Gott alle Dingeseiner Schöpfung nach Maß, Zahl und Gewicht geschaffen habe. Augustinus war nicht dererste, der das arithmetische Verständnis vollkommenener Zahlen auf die göttlicheSchöpfung, nämlich auf den biblischen Bericht von den sechs Tagen der Weltschöpfung,anwandte. Vorausgegangen war ihm hierin vielmehr in der jüdischen Exegese Philon vonAlexandrien, dessen platonisierende Bibelexegese überhaupt eine der Haupquellen für diechristlichen Kirchenväter war. Aber es war Augustinus, der dieses Verständnis desSchöpfungsberichts für die lateinische Welt dauerhaft befestigte und durch die Verbindungdes arithmetischen Konzepts mit dem biblischen Thema dafür sorgte, daß diesesarithmetische Konzept von hier aus für die lateinische Welt auch Bedeutung für mehr oder

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weniger sämliche übrigen Okkurrenzen der Zahl 6 in der Bibel, in der Geschichte und imKosmos erlangte.

Der biblische Schöpfungsbericht, speziell die Aussage, daß Gott in sieben Tagen seineSchöpfung vollendete bzw. in sechs Tagen und dann am siebenten ruhte, bot dabei in seinenlateinischen Übersetzungen auch einen besonderen sprachlichen Anhaltspunkt für dieseexegetische Tradition. Denn die von Augustinus zugrundegelegte Übersetzung der VetusLatina verwendet hier für `vollendete' das Verb "consummavit", das eben auch alsarithmetischer Ausdruck gedeutet und dann auf die Vollkommenheit der Sechszahl bezogenwerden kann, von der es in der arithmetischen Fachsprache heißt: "partibus suisconsummatur". Noch näher kommt der arithmetischen Fachterminologie dann die vonHieronymus geschaffene Übersetzung der Vulgata, die für `vollenden' das Verb perficereverwendet: "igitur perfecti sunt caeli et terra et omnis ornatus eorum", was beinahe schondanach verlangt, als Hinweis auf die in der Sechszahl der Schöpfungstage auch zahlhaftangelegte `perfectio' der Weltschöpfung verstanden zu werden.

Augustinus hat die arithmetische `Vollkommenheit' des Sechstagewerkes in mehreren seinerSchriften behandelt, und am ausführlichsten in seinem Kommentar De genesi ad litteram,der sich zwar auf die Erklärung des Litteralsinns weitgehend beschränkt, das arithmetischeZahlenverständnis jedoch dafür einsetzt, eine verborgene innere Ordnung der sechs Tage undder an ihnen geschaffenen Werke aufzudecken. Ausgangspunkt ist für Augustinus einerseitsdas Verständnis der 6 als `numerus perfectus', der sich in der Summe seiner Teiler 1, 2 und 3wieder erfüllt, und andererseits auch das Verständnis der 6 als Dreieckszahl, die beifortschreitender Addition eben dieser Teiler 1 plus 2 plus 3 ein gleichseitiges Dreieck vonsechs Einheiten mit einer Seitenlänge von 3 Einheiten ergibt. Eben diese `vollkommene'Zusammensetzung der Zahl 6 durch ihre Teile 1, 2 und 3, und zwar in genau derfortschreitenden Reihefolge die zugleich den `numerus trigonus' ergibt, erkennt Augustinusauch in den Werken der sechs Schöpfungstage wieder (cf. Tabelle I): der ersteSchöpfungstag mit der Erschaffung des Lichts, die für Augustinus zugleich die Erschaffungder himmlischen Intelligenzen impliziert, steht als `ein' Tag für sich allein. Auf ihn folgen`zwei' zusammengehörige Tage, an denen das Weltgebäude, die `fabrica mundi' geschaffenwurde: und zwar am zweiten Schöpfungstag zunächst den `oberen Bereich', das Firmamentdes Himmels, und am dritten Schöpfungstag den `unteren Bereich', das trockene Land unddas Meer. Die letzten `drei' Schöpfungstage faßt Augustinus dann in der Weise zusammen,daß an ihnen diejenigen Geschöpfe geschaffen wurden, die sich in dieser `fabrica mundi'bewegen und sie bevölkern und schmücken sollten: am vierten Schöpfungstag zunächstwieder im oberen Bereich die Himmelskörper, Sonne, Mond und Sterne, am fünftenSchöpfungstag dann im `unteren Bereich' die Tiere des Wassers und der Luft, und amsechsten Schöpfungstag schließlich die Tiere des Landes und als vollkommenstes Werkzuletzt der Mensch.

Gott hat sein Werk für Augustinus darum nach genauer Maßgabe der ewigen undunveränderlichen arithmetischen Eigenschaften der Zahl 6 geschaffen, und zwar nicht, weiler sich einer außer ihm selber befindlichen Gesetzmäßigkeit der Zahlen unterworfen hätte,sondern weil, wie Augustinus im Rahmen einer längeren philosophischen Argumentationerklärt, Gott selbst das unveränderliche Gesetz ist, daß sich in den veränderlichen Dingen alsderen Maß, Zahl und Gewicht begrenzend, ordnend und formend ausprägt. Die Sechszahl istfür Augustinus darum auch nicht deshalb vollkommen oder erst dadurch vollkommengeworden, weil sie von Gott für seine Schöpfung gewählt wurde, da diese Zahl ja nichtminder vollkommen wäre, wenn die Welt stattdessen in drei Tagen erschaffen worden wäre,sondern die Sechszahl wurde von ihm gewählt, weil sie eine vollkommene ist. Die Einsichtin diese Vollkommenheit liegt insofern für Augustinus bemerkenswerterweise eher beimArithmetiker als beim Exegeten, und dies hat später besonders bei Gregor dem GroßenProtest hervorgerufen, der sich auf den unverfänglicheren Standpunkt stellte, daß die

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Vollkommenheit der Sechszahl letztlich nicht mit arithmetischer Weltweisheit zu erklären,sondern aus der göttlichen Wahl dieser Zahl für die Schöpfungstage hervorgehe. AuchGregor hat aber im übrigen das betreffende arithmetische Fachwissen bei jeder sichbietenden Gelegenheit für seine Zahlenexegese instrumentalisiert und ihm so kaum wenigerals Augustinus selber zu einer festen Tradition in der nachfolgenden mittelalterlichenExegese verholfen.

Die angeführte augustinische Exegese aus De genesi ad litteram setzt das arithmetischeZahlenverständnis zunächst nur für die Deutung des Litteralsinns und für daran anknüpfendetheologisch-philosophische Überlegungen ein, nicht aber auch schon für die allegorischeExegese, da die sechs Tage hier noch nicht als Zeichen für andere Dinge interpretiertwerden. Für sein allegorische Verständnis der sechs Schöpfungstage kann dagegen eineStelle aus dem vierten Buch von De trinitate herangezogen werden. Hier führt Augustinusbei der Erläuterung der arithmetischen `Vollkommenheit' der Sechszahl den biblischenSchöpfungsbericht als erstes von mehreren biblischen Zeugnissen an, wobei er diesmal nichtauf den internen Ordo aller sechs Schöpfungstage besonderen Wert legt, sondern darauf, daßdas vollkommenste Werk, der `ad imaginem Dei' geschaffene Mensch, am sechsten Tageerschaffen wurde. Diesmal schreitet Augustinus jedoch von diesem noch litteralenVerständnis weiter fort zu einem allegorischen Verständnis (cf. Tabelle II), indem er diesechs Tage der Schöpfung interpretiert als Präfiguration der sechs Weltalter, in denen sichdie gesamte irdische Geschichte vollzieht, und die nach einer schon an jüdischesVorstellungsgut anknüpfenden Tradition unterschieden werden als Weltalter Adams, Noahs,Abrahams, Davids, der babylonischen Gefangenschaft und -- als sechstes und gegenwärtiges-- das Weltalter Christi. Indem Augustinus diese Sechsteilung der `aetates mundi' zugleichmit dem ebenfalls die gesamte Weltgeschichte umspannenden, aber nur dreiteiligen Schemader `tria tempora' in Einklang bringt, deckt er innerhalb der sechs Weltalter eine arithmetisch`vollkommene' Untergliederung in diesmal zwei plus drei plus ein Weltalter auf: denn dieersten zwei Weltalter (Adam und Noah) entsprechen der Zeit vor dem Gesetz; die folgendendrei (Abraham, David, babylonische Gefangenschaft) entsprechen der Zeit unter dem Gesetz,die hier mit Abraham statt mit Moses beginnen darf, da im Bund mit Abraham erstmals dieBeschneidung eingesetzt wurde; und diese drei folgt als letztes und Siegel derVollkommenheit das Weltalter Christi, in dem mit Christus als dem zweiten Adam die Zeitder Gnade begann.

4. Alkuin

Wie schon gesagt haben solche Deutungen des Sechstagewerkes die gesamtebibelexegetische Deutung der Sechszahl überaus nachhaltig geprägt, wobei in dernachfolgenden Tradition zuweilen besonderes Gewicht auf gelegt wurde auf Beziehungenzur Passion Christi, die sich im sechsten Weltalter, am sechsten Wochentag, zwischen dersechsten und der neunten Stunde des Tages, mit dem Wort "consummavi" vollendete. Umnun auch der mittelalterlichen Nutzanwendung dieses Zahlenverständnisses im Bereich derDichtung nachzugehen, sei als erstes ein Gedicht von Alkuin (m. 804) angeführt, das dieserin seinem teils in Prosa, teils in Versen von der Unsterblichkeit der Seele handelnden Briefan Gundrada, eine Verwandte Karls des Großen, beigefügt und dort auch noch mit einerkurzen Prosaerklärung versehen hat (Übers. P. Klopsch):

ITe homo laudet, alme creator, pectore, mente, pacis amore; non modo parvapars quia mundi est.

Dich lobe der Mensch, begabender Schöpfer, im Herzen und im Geiste, in Liebe zum Frieden; ein nicht eben geringer Teil des Alls ist er ja

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IISed tibi sanctae solus imago magna, creator, mentis in arce, pectore puro dum pie vivit.

Vielmehr ist er allein dein großes Ebenbild, Schöpfer, in des Heiligen Geistes Burg,wenn er reinen Herzens nur in der Ehrfurcht lebt.

IIIO deus et lux laus tua semper pectora et ora conpleat ut te semper amemus, sanctus ubique.

O Gott und Licht,dein Preis möge stets Herzen und Münder erfüllen, auf daß wir dich stets lieben,Heiliger, Allgegenwärtiger.

IVHaec pia verba, virgo fidelis, ore caneto,ut tua mitis tempora Christus tota gubernat.

Diese frommen Worte, gläubige Jungfrau,laß in deinem Munde erklingen, auf daß der sanfteChristus dein ganzes Leben leite.

VQui tibi solus sit, rogo, semper lux, amor atque forma salutis, vita perennis, gloria perpes.

Er sei allein dir, bete ich, allezeit Licht, Liebe und Urbild des Heils, ewiges Leben, immerwährender Ruhm.

VITe cui castum corpore, mente dirige templum, dulcis amica, et sine semper fine valeto.

Ihm weihe dich als keuschen Tempel in Leib und Geist, süße Freundin, und allzeit und ewig lebe wohl!

Hoc carmen tibi cecini senario numero nobili, qui numerus perfectus est in partibus suis, te optans esse perfectum in sensibus tuis. Cuius numeri rationem, sicut et aliorum, sapientissimus imperator tuae perfacile ostendere potest sagacitati.

Dieses Gedicht habe ich dir in der edlen Sechszahl gesungen, die vollkommen ist in ihren Teilen, weil ich wünsche, daß du vollkommen seiest in deinen Sinnen. Was es mit dieser wie auch mit anderen Zahlen auf sich hat, wird der allerweiseste Kaiser deinem lernbegierigen Verstande mit Leichtigkeit darlegen können.

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Die Prosaerklärung macht unmißverständlich deutlich, daß es das arithmetische Verständnisder Sechszahl als `numerus perfectus in partibus suis' ist, das Alkuin dem Formenbau seinersechs mal sechs Verse zugrundegelegt hat. Dieser arithmetischen Vollkommenheit desLiedes wird zugleich eine moralisch vervollkommnende Wirkung auf die Sinne derEmpfängerin Gundrada zuerkannt, wobei diese Wirkung jedoch nicht als eine allein von derzahlhaft gegliederten Materialität der Verse ausgehende vorzustellen ist, sondern als eineWirkung, die im Zusammenspiel zwischen dieser zahlhaften Form und der davonstimulierten geistlichen Betrachtung entsteht. Was es mit der Sechszahl für Alkuin sonstnoch `auf sich hat' wird dann zwar sehr höflich der Erklärung des großen Karl überlassen,aber ein wenig davon können wir davon doch auch ohne kaiserliche Hilfe bei Betrachtungdes Textes erkennen. Dort sehen wir, daß die Wahl der Sechszahl auch thematisch motiviertist: denn Thema ist das Lob Gottes für seine Erschaffung des Menschen als einesgeistbegabten, gottebenbildlichen Wesens, und damit das Werk des sechstenSchöpfungstages. Und Anliegen des Gedichts in Bezug auf die Empfängerin ist es, derenganzes Leben, "tua tempora", unter das Lob dieses Schöpfers zu stellen. In der Formulierung"tua tempora" mußte für den exegetisch kundigen Leser der Zeit ein weiteres aus derExegese der Sechszahl vertrautes Thema anklingen: wie nämlich die Geschichte der Weltsich in sechs Weltaltern vollendet, so vollendet sich auch in sechs Lebensaltern das Lebendes einzelnen Menschen, die hierbei als infantia, pueritia, adolescentia, iuventus, senectusund decrepitas eingeteilt wurden. In Hinsicht auf den Aufbau des Gedichts kann man nunfragen, ob sich dort ähnlich wie laut Augustinus im Ordo der sechs Schöpfungstage diearithmetische Vollkommenheit der Sechszahl durch eine signifikante Ordnungsfunktion derTeiler 1, 2 und 3 niedergeschlagen hat. An der rein formalen Gliederung in sechs Strophenzu je 6 adonischen Versen ist dies nicht zu erkennen. Aber berücksichtigt man auch diethematische Untergliederung, so scheint mir in der Tat eine arithmetisch `vollkommene'Gliederung vorzuliegen. Deutlich ist zunächst ein klarer Einschnitt in der Mitte des Gedichts,da die ersten drei Strophen Gott apostrophieren, während die letzten drei Strophen sich derAdressatin Gundrada zuwenden und hierbei auch die erste Gedichthälfte noch einmalzusammenfassend als "haec pia verba" bezeichnen. Aber auch innerhalb der erstenGedichthälfte ist eine Untergliederung erkennbar: die beiden ersten Strophen sind durch dieKonstruktion `non modo parva pars mundi, sed imago magna' zu einer zusammengehörigenGruppe geordnet, von der sich die dritte Strophe absetzt durch die einleitende Apostrophe `Odeus et lux' und durch den Wechsel von der unpersönlichen Aussage über den Menschen zueiner `wir'-Aussage der Menschen, in der der lyrische Sprecher sich selber einschließt. Esscheint demnach, daß eine Untergliederung der 6 in (2+1)+3 Strophen beabsichtigt ist, diedie arithmetische Vollkommenheit der Sechszahl auch in der Untergliederung des Liedeswiderspiegelt.

5. Hrabanus Maurus

Auch Alkuins Schüler Hrabanus Maurus (m. 856) hat nicht nur in seinen exegetischen undenzyklopädischen Schriften vielfach auf das arithmetische Verständnis `vollkommener'Zahlen zurückgegriffen, sondern dieses Verständnis auch in seinen Gedichten in Anwendunggebracht und dies dabei dann meist durch explizite Deutungshinweise dem Leser signalisiert.Am eindrucksvollsten geschieht dies in seinem Werk De laudibus sanctae crucis, einemZyklus von 28 Figurengedichten, denen in der Einleitung noch zwei weitere Figurengedichtesowie verschiedene andere metrische Stücke vorangestellt sind. Bei diesen Figurengedichten,die eine bereits spätantike Technik aufgreifen und weiterentwickeln, handelt es zunächstjeweils um einen in Hexametern verfaßten `Grundtext', dessen Verse ohneWortzwischenräume geschrieben sind und innerhalb eines Gedichts stets die gleiche

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Buchstabenzahl aufweisen, so daß der Grundtext eine quadratische oder rechteckigeTextfläche bildet. Dem Grundtext sind jeweils sogenannte `versus intexti' eingearbeitet,`eingewebte Verse', nämlich vertikale, diagonale oder sonst von der normalen Leserichtungabweichende Buchstabensequenzen, die ihrerseits Verse oder Sätze ergeben und durch ihrenin den Handschriften auch farblich hervorgehobenen Verlauf dem Grundtext eine figürlicheDarstellung des Kreuzes Christi oder verwandter Gegenstände einzeichnen. Diese von den`versus intexti' gebildete eigentliche `figura' ist jeweils in ihrer geometrischen Form und zumTeil auch in der Zahl ihrer Buchstaben oder Teilfiguren auf biblische und bibelexegetischeZahlenvorgaben gegründet, die der Autor für jedes Gedicht in einer eigenen, dem Gedichtauf der gegenüberliegenden Handschriftenseite jeweils nachgestellten `declaratio' inProsaform erläutert hat. Außerdem ist im zweiten Buch des Werkes noch einmal derhexametrische Grundtext jeder Figur in eine Prosaparaphrase aufgelöst, was auch sehr nötigist, da die hexametrischen Grundtexte selber sich mehr um die je erforderliche Plazierungeinzelner Buchstaben als um Verständlichkeit bemühen.

Das arithmetische Verständnis `vollkommener Zahlen' kling in mehreren dieserFigurengedichte und ihrer Prosaparaphrasen an und ist am anschaulichsten in in Figur XXIIIgestaltet:

Die Anknüpfung an das arithmetische Verständnis der Sechszahl wird hier nicht erst durchdie beigefügte Prosa-Erklärung deutlich gemacht, sondern bereits durch die Aussagen desGrundtextes. Nicht weniger als sieben mal erscheint im Grundtext das Wort `perfectus',einmal im Plural ("perfecta" v.29) und sechs mal im Singular, wobei die sechsSingularformen vielleicht nicht zufällig einmal feminin ("perfectae" v.27), zweimal maskulin("perfectus" v.12, "perfectum" v.29) und dreimal neutrum ("perfectumque" v.5,

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"perfectumque" v.26, "perfecto" v.26) sind. Der Grundtext sagt über die Zahl 6 ausdrücklich:`sie strahlt hervor unter den Zahlen und ist selbst die erste vollkommene (unter ihnen)' ("Sexmicat in numeris perfectus primus et ipse est", v.12), und er weist diese Zahl in der Figurspeziell den `dreizeilig angeordneten sechs Monaden' zu, die an den vier Enden desLilienkreuzes blütenähnlich die Bezeichnungen Christi FORTIS, VIRTUS, VICTOR undCLARUS bilden. Diese vier mal sechs Buchstaben, so sagt der Grundtext, zeigen an, daßallen Dingen der Schöpfung, den vom Vater geschaffenen und den vom Sohn erlösten, einevollkommene Schönheit innewohnt, und diese Beziehung der Zahlen 4 und 6 zur Schöpfungwird im weiteren dann durch Hinweise auf die vier Weltgegenden (Himmelsrichtungen) undauf die zeitliche Einteilung des Tages (4 mal 6 Stunden), des Jahres, des Monats und desSchaltviertels sowie der sechs Weltalter hervorgehoben. Auch seinem Lehrer Alkuin alsVorgänger in der literarischen Anwendung der vollkommenen Sechszahl hat Hrabanus hieroffensichtlich seine Referenz erwiesen: denn in v.32 die Formulierung "nos homines in rebusportio parva" evoziert augenscheinlich - und überbietet in ihrer vergleichsweisenBescheidenheit - die Formulierung aus Alkuins Gedicht an Gundrada "non modo parva / pars(...) mundi est (sc. homo)" (v.5s.). Und deutlicher als dies in Alkuins mutmaßlicherUntergliederung seines Gedichts in (2+1)+3 Strophen geschieht, hat Hrabanus auch diebesonderen arithmetischen Eigenschaften der Zahl Sechs im Bau seiner Figur illustriert:denn die sechs Buchstaben an den Enden der Kreuzbalken versinnfälligen durch ihreAnordnung als 3+2+1 bzw. 1+2+3 sowohl die `vollkommene' Bildung der 6 aus ihrenTeilern wie auch das Verständnis dieser Zahl als `numerus trigonus'.

Natürlich ist es dann auch kein Zufall, daß der gesamte Zyklus abzüglich der Praefatio undder Prosastücke genau 28 carmina figurata enthält. Hrabanus weist hierauf selber in derErklärung des 28. dieser Gedichte ausdrücklich hin:

Continet autem totus liber iste viginti octo figuras metricas cum sequente sua prosa,absque superliminari pagina et prologo: qui numerus intra centenarium suis partibusperfectus est, ideo juxta hujus summam opus consummare volui, qui illam formam ineo cantavi quae consummatrix et perfectio rerum est. [Es enthält aber das gesamteBuch 28 metrische Figuren mit ihrer {im 2. Buch} jeweils nachfolgenden Prosa, nichtmitgerechnet die jeweils hinzugefügte Seite {der `declaratio'} und den Prolog {desganzen Werks}: diese Zahl ist im Bereich der Hundert diejenige, die durch ihre Teileerfüllt wird, und darum habe ich in dieser Summe auch dieses Werk vollenden wollen,der ich darin jene Form {d.h. das Kreuz Christi} besungen habe, die die Vollendungund Erfüllung aller Dinge ist]

Die Zahl 28 in ihrer arithmetischen `Vollkommenheit' wird somit thematisch der`Vollkommenheit' des Kreuzes und, in Anspielung auf das Wort "consummavi", derVollendung des Heilswerkes in der Passion Christi assoziiert. Aber wie schon in AlkuinsProsaerklärung ist damit noch längst nicht alles über die Bedeutung des arithmetischenZahlenverständnisses für den Aufbau des Werkes gesagt. Denn wie erst 1975 durch denGermanisten Burkhard Taeger entdeckt wurde, ist auch die Binnengliederung des Zyklus aufdieses Zahlenverständnis gestützt. Das Gliederungskriterium ist hierbei ein rein formales,nämlich die Buchstabenzahl der Gedichte pro Vers. Diese Zahl variiert zwar nicht innerhalbdes einzelnen Gedichts, aber sie variiert von Gedicht zu Gedicht, und zwar in der Weise, daß(cf. Tabelle VIII)

1 Gedicht mit 41 Bst. pro Vers (Nr. 9)2 Gedichte mit 36 Bst. pro Vers (Nr. 11, 15)4 Gedichte mit 39 Bst. pro Vers (Nr. 1, 14, 17, 22)7 Gedichte mit 35 Bst. pro Vers (Nr. 2, 5, 7, 12-13, 27-28), und14 Gedichte mit 37 Bst. pro Vers (Nr. 3-4, 6, 8, 10, 16, 18-21, 23-26)

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zu unterscheiden sind. Durch die formale Differenzierung von 1, 2, 4, 7 und 14 Gedichtenwird somit der `vollkommenen' Erfüllung der 28 durch ihre ganzzahligen Teiler im Aufbaudes Zyklus Rechnung getragen. Selbst wenn Hrabanus in der letzten Prosaerklärung nichteigens auf das zugrundeliegende arithmetische Verständnis hingewiesen hätte, wäre diesesdoch durch die Entdeckung Taegers in seiner konstitutiven Bedeutung für den Gesamtaufbaueindeutig nachweisbar.

6. Dante

Bei den bisher angeführten Beispielen, Alkuin und Hrabanus, handelt es sich jeweils umlateinische Autoren, die, zumindest im Frankenreich, zu den gelehrtesten Männern ihrer Zeitgehörten und zugleich höchste Ämter innehatten: Alkuin war von Karl nach Tours zumLeiter der Hofschule berufen worden und spielte eine entscheidende Rolle bei denpolitischen und bildungspolitischen Reformen, die wir heute als `karolingische' Reformbezeichnen. Und sein Schüler Hrabanus wirkte nach dem Besuch der Hofschule zunächst alsLehrer und Abt in Mainz und wurde dann auf Veranlassung Ludwigs des Deutschen, demdie offiziöse Fassung des Liber de laudibus sanctae crucis gewidmet ist, Erzbischof vonMainz. Die Leser, denen ihre Werke zugedacht sind, sind abgesehen von den fürstlichenAdressaten die Gelehrten und Kirchenmänner des Frankenreiches, so gewiß auch im Fall vonAlkuins Brief an Gundrada, der nicht als eine Art Privatpost zu verstehen ist, sondernvielmehr, wie die Prosa-Erklärung zeigt, am Hof Karls zur Kenntnis genommen werdensollte und außerdem auch darüber hinaus in gelehrten Kreisen zirkulierte, wie dieAnspielung in Hrabans Figurengedicht vermuten läßt. Beide Werke wurden somit in einemMilieu verfaßt und rezipiert, in dem das Verständnis ihres Zahlenbaus den Lesern keineallzugroßen Schwierigkeiten bereitet haben dürfte, zumal die Autoren jeweils ausdrücklichauf die gelehrten Verständnisgrundlagen dieses Zahlenbaus hinweisen. Gleichwohl gehörtzur geistlichen Interpretation, wenn sie durch einen hierzu befähigten Leser vorgenommenwerden soll, auch eine gewisse geistige Eigenleistung beim Durchdringen des äußerenAnscheins und Erkennen der verborgenen Ordnung und ihres Sinns, und um dieseEigenleistung als solche zu ermöglichen, hat besonders Hrabanus und bis zu einem gewissenGrad auch Alkuin Vorsorge getroffen, indem sie mit ihren Deutungshinweisen zwar dieRichtung weisen, aber den Leser doch nicht schon zu jeder Einzelheit des Formenbauszuverlässig hinzuführen. Etwas anders verhält es sich bei meinem letzten Beispiel, derCommedia Dantes, die fast ein halbes Jahrtausend später zwar immer noch in vieler Hinsichtaus den gleichen Quellen schöpft wie die Werke der karolingischen Zeit, aber doch unterwesentlich anderen Bedingungen verfaßt wurde. Ihr Autor, der einer durch Geld- undGrundstücksgeschäfte zu Reichtum gekommenen Bürgersfamilie in Florenz entstammte,hatte einen für seine Herkunft recht ungewöhnlichen Bildungsgang zurückgelegt, über denwir kaum genaue Einzelheiten wissen, außer daß er bereits in seiner Jugend Beziehungen zurElite der volkssprachlichen Dichter des `Dolce Stil Nuovo' anknüpfte und bei ihnen alsFortsetzer ihrer philosophierenden und spiritualisierenden Liebesdichtung großeAnerkennung fand; daß er ferner, wie er selber mitteilt, Schulen der Theologen undPhilosophen besuchte, womit wahrscheinlich die Studia der beiden Bettelorden in Florenzgemeint sind; und daß er vermutlich auch die Universität in Bologna und vielleicht sogar diePariser Universität besuchte, obwohl beides sich nicht mit Sicherheit nachweisen läßt. DerErwerb von Wissen und Wissenschaft war für Dante programmatisch nicht ein Mittel zurErlangung von Ämtern und zur Sicherung des Broterwerbs, sondern eine dem Menschenaufgegebene Bestimmung, seine Vernunftanlage zu vervollkommnen und beientsprechenden Fortschritten auf diesem Gebiet auch die geistige Führung seiner minderentwickelten, weil in Tagesgeschäften verstrickten Mitmenschen zu übernehmen. Es istfraglich, ob je ein Dichter seinen Auftrag zur Erziehung und Führung der Menschheit so

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ernst genommen und mit so viel Geist erfüllt hat. In der politischen Führung allerdings warihm wenig Erfolg beschieden: seine kurze politische Karriere als Mitglied des Rates seinerVaterstadt endete mit einem Fiasko und seiner lebenslangen Vertreibung aus Florenz, undseine anschließenden Versuche, während des Exils als Propagandist des Kaisertums Einflußauf die Mächtigen seiner Zeit und auf die Geschicke der Christenheit auszuüben blieben imwesentlichen Literatur.

Seinem Programm entsprechend schrieb Dante sein Hauptwerk, die Commedia, in derVolkssprache, in der Absicht, ein möglichs breites Publikum von Lesern und Hörern zuerreichen, aber dabei unterschied er doch innerhalb dieses Publikums sehr genau zwischeneiner Mehrzahl von Lesern oder Hörern einerseits, die keine wissenschaftliche Vorbildungbesaßen, und einer Minderzahl von `happy few' oder `beati pochi' andererseits, die, wie ersagt, frühzeitig den Hals nach dem `Brot der Engel' gereckt hatten. Die Danteforschung tutsich seit jeher schwer damit, von dieser zweischneidigen Lesererwartung nicht nur die eineSeite wahrzunehmen, d.h. die didaktische Seite des Werks, die die breite Menge einbeziehtund ihr Wissen zu vermitteln sucht, sondern auch die elitäre Haltung zu berücksichtigen, diebei einer bevorzugten Minderzahl von Lesern spezifisches Wissen bereits voraussetzt. Zuden distinktiven Merkmalen dieser Minderzahl gehörte neben theologischen,philosophischen und allgemein profanwissenschaftlichen Kenntnissen nicht zuletzt auch dieFähigkeit, mit Zahlen und mit deren von der Tradition fixierten Verständnis interpretierendumzugehen und dabei jene geistige Eigenleistung des Lesers aufzubringen, auf die auchschon Hrabanus beim Aufbau seines Zyklus vertraut hatte.

Anders als Alkuin und Hrabanus hat Dante das arithmetische Verständnis `vollikommener'Zahlen nie explizit, in lehrhaften Aussagen, thematisiert. Zwar spricht er einmal von derZahl 10 als `numero perfetto', doch greift er hierbei auf einen anderen, ebenfalls verbreitetenSprachgebrauch zurück, der die Zehnzahl in pythagoräischer oder neo-pythagoräischerTradition aufgrund ihrer Ableitbarkeit aus der Tetraktys, d.h. als Summe der Zahlen 1 bis 4,als `vollkommene' Zahl bezeichnet. Das uns interessierende Verständnis klingt jedochwenigstens einmal bei Dante auch terminologisch an, an einer Stelle, die zugleich auchbereits illustrieren kann, wie bei Dante selbst in scheinbar nur lehrhaften Aussagen dieVermittlung gelehrten Vorstellungsgutes einerseits, und zugleich die Voraussetzung solchenVorstellungsgutes bei einer Minderzahl seiner Leser andererseits zusammenwirken können.Es handelt sich um eine Rede des heiligen Bernhard im Paradiso, in der dieser erläutert, wiesich die Voraussetzungen für die Erlösung des Menschen im Lauf derMenschheitsgeschichte änderten ( Pd 32,76-84, cf. Tabelle I):

Bastavasi ne' secoli recenti con l'innocenza, per aver salute, solamente la fede d'i parenti;

In den früheren Jahrhunderten genügte, um das Heil zuerlangen, außer der Unschuld allein schon der Glaube derVäter (76-78)

poi che le prime etadi fuor compiute, convenne ai maschi a l'innocenti penne per circuncidere acquistar virtute;

Nachdem dann die ersten Alter (der Welt) vollendet waren,wurde es erforderlich für die mit Unschuld beflügeltenMännlichgeborenen, durch Beschneidung Tugendkraft zuerwerben (79-81)

ma poi che 'l tempo de la grazia venne, sanza battesmo perfetto di Cristo tale innocenza là giù si ritenne.

Doch als dann die Zeit der Gnade kam, mußte ohne dievollkommene Taufe Christi auch solche Unschuld druntenbleiben (82-84)

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Was Bernhard als Sprecher Dantes hier unterscheidet, sind also zunächst einmal die `triatempora', d.h. die Zeit vor dem Gesetz, unter dem Gesetz und unter der Gnade. Aber daßhierbei die Zeit vor dem Gesetz im Plural als "prime etadi" bezeichnet wird, und daßaußerdem das in Zeit der Gnade für die Erlösung bedingende Sakrament der Taufe als"battesmo perfetto di Cristo" bezeichnet wird, weist darauf hin, daß Dante exakt in dergleichen Weise wie Augustinus in De trinitate die drei Weltzeiten in ihrer Kongruenz zu densechs `aetates mundi' voraussetzt und hierbei durch den Terminus "perfetto" auch diezahlhafte Vollkommenheit dieser Zeiteinteilung signalisiert.

Auch an manchen anderen Stellen kann man zumindest vermuten, wenn auch vielleicht nichtganz sicher sein, daß Dante mit dem fraglichen arithmetischen Konzept operiert. Dieeindrucksvollste Adaption des arithmetischen Konezpts findet sich jedoch im 28. Gesang desInferno, wiewohl das in der Zahl 28 potentiell signalisierte Thema der `Vollkommenheit' aufden ersten Blick nirgendwo so ferne zu liegen scheint wie in diesem grausamsten undblutrünstigsten unter Dantes Höllengesängen, der den Menschen nicht in seinerGottebenbildlichkeit als Krone der Schöpfung, sondern verstümmelt und zerstückelt vorAugen führt, und der auch die Menschheitsgeschichte nicht als einen auf vorbestimmteOrdnung gegründeten Weg zum Heil, sondern als eine einzige Folge von Kriegen undKatastrophen evoziert. Thema dieses Gesangs ist der Aufenthalt am Strafort der "seminatordi scandalo e di scisma", Anstiftern religiöser, politischer und familiärer Zwietracht, die voneinem Teufel mit einem Schwert verstümmelt werden, `gespalten' werden, wie einer derVerdammten sagt. Der Teufel ist an einem festen Punkt des ringförmigen Grabens aufgestelltund treibt die Verdammten mit den Schlägen seines Schwertes an sich vorüber, und dieWunden, die diese dadurch erhalten, heilen beim Durchlaufen des Grabens jedesmal wiederzu, um nach Vollenden der Kreisbahn von neuem geschlagen zu werden. Aus derungezählten, laut Vergil unzählbaren Menge von Verdammten, die diesen Grabendurchlaufen, werden im Verlauf des Gesangs genau sechs mit ihren Namen und ihrenindividuellen Verstümmelungen vorgestellt.

Als erster erscheint Mohammed, der Begründer des Islam, geborsten, wie es heißt, vomKinn bis zum After, mit zwischen den Beinen hängenden Eingeweiden. Von Mohammedbeiläufig erwähnt wird auch sein Vetter und Schwiegersohn Ali, der mit vom Kinn bis zumHaaransatz gespaltenem Gesicht weinend vor Mohammed her durch den Graben läuft, alsoauf der Ebene des erzählten Geschehens eigentlich noch vor Mohammed anzusetzen und alserster zu zählen ist. Im Anschluß an Mohammed gibt sich Pier da Medicina zu erkennen,ein geschichtlich obskurer, früherer Bekannter Dantes, dem die Kehle durchstochen und dieNase und ein Ohr abgeschnitten sind. Von Pier vorgestellt, auf Verlangen Dantes, wirdsodann Curio, der Ratgeber Caesars im römischen Bürgerkrieg, dem die Zunge aus demHals geschnitten ist. Im Anschluß hieran präsentiert sich Mosca Lamberti, ein FlorentinerGhibelline, der sich schuldig bekennt, den Ausbruch der Florentiner Parteienkämpfeverursacht zu haben, und dem beide Hände abgeschlagen sind. Und als letzter schließlichpräsentiert sich Bertran de Born, der von Dante anderweitig als vorbildlicher Dichter derWaffen gerühmte Trobador und Herr der Burg Autafort, der in diesem Höllengraben seinabgeschlagenes Haupt `wie eine Laterne' in der Hand trägt und sich schuldig bekennt,Jungheinrich von England und dessen Vater Heinrich II. gegeneinander aufgeheztzt zuhaben. Erst zu Beginn des darauffolgenden Gesangs, im Rahmen eines epilogartigenNachspiels, erwähnt Vergil auch noch ohne Angabe einer besonderen Form der körperlichenStrafe auch noch einen siebten Verdammten, den Dante an diesem Ort eigentlich besondersanzutreffen erwartet hatte, und den er dennoch, gebannt in seiner Aufmerksamkeit durchBertran de Born, übersehen hatte: es handelt sich um Dantes Verwandten Geri del Bello, dereine Blutrache verübt und seinerseits einer seither ungerächt gebliebenen Blutrache zumOpfer gefallen war: während Dantes Begegnung mit Bertran de Born war auch Geri delBello, wie Vergil erzählt, unbemerkt aus der Menge der Sünder herausgetreten und hattedrohend mit dem Finger auf seinen unachtsamen Großneffen gezeigt.

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Da der Jenseitsbesucher ungewöhnlich lang am Rand des Grabens verharrt und auf dieVerdammten herabschaut, drängt Vergil zum Weitergehen und bemerkt ironisch: `wenn dusie zählen zu können glaubst, bedenke, daß das Tal sich zweiundzwanzig Meilen weit imKreis hinzieht'. Die Stelle hat die mathematisch interessierten unter Dantes Kommentatorenseit jeher begeistert, weil 22/7 einer der im Mittelalter geläufig gewesenenAnnäherungswerte für Pi war und man deshalb gemeint hat, daß aus dieser und einerähnlichen Parallelstelle genauer Aufschluß über die geometrischen Maße von DantesHöllentrichter abzuleiten sei. Interessanter für das Verständnis des 28. Gesangs erscheintjedoch der Gedanke, die Sünder zu zählen. Mit ihren Namen und persönlichen Strafendargestellt werden im 28. Gesang, wie schon gesagt, genau sechs Verdammte. Wendet mandie klassifizierenden Deutungsverfahren an, mit denen die allegorische Bibelexegesesignifikante sachliche Eigenschaften biblischer Personen zu bestimmen pflegte, so lassensich diese sechs Sünder auf mehrfache Weise als einer, zwei und drei unterteilen, wobeihauptsächlich zwei arithmetisch `vollkommene' Ordnungsschemata auftreten, nämlichBBCCCA (also zwei plus drei plus eins), und, etwas komplizierter, BBCACC (cf. Tabelle V)

Nach ihrer geographischen Herkunft lassen sie sich, in dieser Reihenfolge, als zwei Araber,drei Italiener -- mit dem Römer und Hauptstädter Curio in der Mittelposition -- und einSüdfranzose unterscheiden. Diese Anordnung deckt sich zugleich mit ihrer moralischenQualifizierung, wenn man sie als zwei Anstifter religiöser Zwietracht, drei Anstifterpolitischer Zwietracht (falls auch Pier da Medicina in diesem Sinn zu verstehen ist), undeinen Anstifter innerfamiliärer Zwietracht unterscheidet. Mit dieser moralischen Einteilungdeckt sich ferner auch ein distinktives Merkmal ihrer körperlichen Strafe: Mohammed undAli sind jeweils durch vertikale Spaltung des Leibes, des Rumpfes im Fall Mohammeds unddes Gesichts im Fall Alis, gestraft; die Mittelgruppe der Italiener und politischenZwietrachtstifter ist mit Durchstoßen oder Abschlagen und Verlust einzelner Organe gestraft,die ihrerseits eine Gruppe von 3+1+2 Wunden ergeben; und Bertran de Born schließlich, dersein abgeschlagenes Haupt nicht einbüßt, sondern dieses Blicke, Seufzer und Worteaussendende Haupt immer noch in der Hand trägt, ist durch eine horizontale Spaltung desLeibes am Hals gestraft, das heißt an genau der Stelle, an der die komplementären vertikalenSpaltungen Mohammeds und Alis ihren Ausgang nehmen, so daß diese drei leiblichenSpaltungen zugleich die Figur eines Kreuzes ergeben, das das teuflische Schwert denLeibern Mohammeds, Alis und Bertrans einschreibt.

In den bisher genannten Fällen ergibt sich jeweils das Ordnungsmuster zwei plus drei plus eins oder BBCCCA, das wir auch schon aus der traditionellen Einteilung der sechs Weltalter kennen, hier jedoch nicht auch mit der chronologisch geschichtlichen Herkunft oder mit der Religionszugehörigkeit der sechs Sünder übereinstimmt. Legt man die letztere zugrunde, so ergibt sich vielmehr das kompliziertere Schema BBCACC, denn es handelt sich um zwei Muslime oder, allgemeiner gefaßt, Anhänger der Beschneidung, ferner um drei Christen und schließlich, plaziert zwischen den ersten und den zweiten dieser Christen, einen einzigen Heiden der antiken Zeit. Das zeitliche Verhältnis von fünf vorchristlichen Weltaltern und einem christlichen ist also allenfalls in genau invertierter Form, durch einen Vertreter der vorchristlichen Ära und fünf Vertreter der christlichen Ära, repräsentiert. Auch eine zeitliche Feineinteilung innerhalb der Vertreter der christlichen Ära läßt sich hierbei beobachten, da Mohammed und Ali, die beiden Anhänger der Beschneidung, dem 6./7. Jh. angehören, wärend die drei Christen dem 12./13. Jh. angehören, also ein deutlicher zeitlicher Abstand zwischen beiden Untergruppen liegt. Dasselbe Schema BBCACC findet sich schließlich auch noch ein weiteres mal, wenn man die sechs Sünder geographisch nicht mit Rücksicht auf ihre Herkunftsländer, sondern mit Rücksicht auf ihren Sterbeort analysiert und hierbei das für das heilsgeschichtliches Denken Dantes zentrale Einteilungsprinzip der drei Weltteile oder Kontinente in Anschlag bringt. Denn während bei den übrigen fünf Sündern zwischen Herkunftsort und Sterbeort nicht besonders unterschieden werden muß, war Curio zwar ein

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Römer, Italiener und Europäer, aber er starb nicht in Europa, sondern in Afrika, wohin ervon Caesar als Führer der afrikanischen Truppen entsandt worden war und dann durchseinen Leichtsinn eine vernichtende Niederlage gegen im Tal von Zama verschuldete, bei derer selber den Tod fand. Dieser in Dantes Quelle, dem Bürgerkriegsepos Lukans, breitgeschilderte Tod und sein Schauplatz werden im Text des Gesangs nicht ausdrücklicherwähnt, aber sie spielen in Dantes anderweitigen geschichtlichen und heilsgeschichtlichenAussagen eine bedeutsame Rolle, so daß es gerechtfertigt scheint, sie auch hier für dieDeutung des Aufbaus in Betracht zu ziehen: es ergibt sich dann eine Folge nicht von zweiAsiaten und vier Europäern, sondern eine zahlhaft vollkommene Folge von sechs Person, diezweimal Asien, drei mal Europa und einmal Afrika besonders zugeordnet werden können.

Nicht nur die sechs Verdammten, sondern auch ihre insgesamt sechs an Dante gerichtetenReden ergeben einen `numerus perfectus', der diesmal auch als `numerus trigonus', nämlichals Anordnung eins plus zwei plus drei gedeutet werden kann (Tabelle IV). In der erstendieser Reden beschreibt Mohammed die Anlage des Grabens und spricht den ihmunbekannten Jenseitsbesucher an als die Seele eines Toten, der neugierig auf dem Rand desGrabens verweile, um den Antritt der eigenen Strafe hinauszuzögern. Nachdem Vergildaraufhin die Rolle Dantes als lebender, schon bei Lebzeiten zur Schau des Jenseitsberufener Mensch vorgestellt hat, bleiben `mehr als hundert' Verdammte staunend stehen,und ihre Aufmerksamkeit richtet sich von nun auf Dinge der irdischen Welt, als derenRepräsentant Dante so unerwartet vor ihnen steht. In seiner zweiten Rede bittet Mohammedden Jenseitsbesucher, eine prophetische Warnung an den Häretiker Fra Dolcino zuüberbringen, um diesem einen militärischen Ratschlag für seinen bevorstehenden Kampfgegen die römische Kirche zu erteilen. Eine prophetische Botschaft will dann als nächster, inder dritten Rede, auch Pier da Medicina überbringen lassen, nämlich an zwei Edelleute derStadt Fano, die er vor einem Mordplan des einäugigen Herrn von Rimini warnen lassen will.Im Unterschied zu diesen zwei prophetischen Reden über künftige Zwietrachtfälle derGeschichte wenden die letzten drei Reden sich dann vergangenen Vorfällen dieser Art zu:auf Verlangen Dantes stellt zunächst Pier da Medicina den neben ihm stehenden Curio unddessen Rolle als Ratgeber Caesars beim Ausbruck des römischen Bürgerkrieges vor; imAnschluß hieran stellt Mosca Lamberti seine eigene Rolle beim Ausbruch des FlorentinerBürgerkrieges vor; und zuletzt schließlich erinnert Bertran de Born an seineZwietrachtstiftung in der englischen Königsfamilie und greift auch noch weiter in diegeschichtliche Vergangenheit zurück, wenn er sich in seiner Rolle als RatgeberJungheinrichs vergleicht mit Achitophel, dem Ratgeber Absaloms bei dessen Rebelliongegen David. Wir finden also eine ganz auf die gegenwärtigen und ewigen Verhältnisse derjenseitigen Welt beschränkte Rede gefolgt von zwei Prophezeiungen künftiger Dinge unddrei Reden, die sich auf die irdische Vergangenheit richten, so daß die Trias von Gegenwart,Zukunft und Vergangenheit die insgesamt sechs Reden der Sünder als einen `numerusperfectus' oder `numerus trigonus' organisiert.

Ebenso wie die Personen und Reden der Sünder sind schließlich auch die Gesten, mit denensie ihre Wunden vorweisen, als `numerus perfectus' deutbar (Tabelle VI). Ali bildet hiereinen Sonderfall, da er sich dem Jenseitsbesucher nicht vorstellt, sondern von Mohammednur kurz erwähnt wird, doch da er laut Mohammed `weinend', "piangendo" vor ihm herdurch den Graben läuft, kann man dieses Weinen möglicherweise als eine mimischeHervorhebung seines gespaltenen Gesichts einstufen. In den folgenden drei Fällen geschiehtdas Weisen der Wunden jeweils als ein Öffnen, im Text jeweils durch das Verb "aprire"bezeichnet: Mohammed öffnet sich mit beiden Händen die gespaltene Brust; Pier daMedicina öffnet, wenn auch nicht ausdrücklich mit den Händen, seine durchstochene Kehle,um den Besucher anzusprechen; und Pier öffnet den stummen Mund Curios, um dessenWunde, die einzige zunächst unsichtbare in diesem Gesang, dem Jenseitsbesucher zu zeigen.In den letzten zwei Fällen geschieht das Weisen dagegen jeweils als ein `Heben', im Textjeweils durch das Verb "levare" bezeichnet: Mosca Lamberti hebt beide Armstümpfe in die

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Luft, so daß das Blut ihm über das Gesicht strömt; und Bertran de Born hebt den Arm mitdem abgeschlagenen Kopf in der Hand hoch zu der kleinen Brücke, auf der Dante und Vergilüber dem Graben stehen. Insgesamt also, wenn man Ali als Sonderfall und ersten einbezieht,ein `numerus perfectus' von eins plus drei plus zwei.

Es scheint demnach, daß Dante den gesamten 28. Gesang bzw. dessen erzählenden Haupteilso eingerichtet hat, daß die sechs Sünder, ihre Wunden, Gesten und Reden auf vielfältigeWeise die `vollkommene' Erfüllung der Sechszahl durch ihre Teiler 1, 2 und 3widerspiegeln. Diese Anlage wird dann auch durch die Vorrede des Gesangs, die demerzählenden Hauptteil vorangestellt ist, im Kleinen bereits vorweggenommen (Tabelle III).Denn dort vergleicht Dante den Anblick der Verwundeten an diesem Strafort einerimaginären Zusammenschau der Verwundeten aus fünf irdischen Kriegen oder Schlachten inder Geschichte Unteritaliens, von denen zwei, die italischen Kriege der Trojaner und derzweite Punische Krieg Hannibals gegen die Römer, der vorchristlichen Ära angehören,während drei, die Eroberungszüge des Normannenfürsten Robert Guiscard und dieNiederlagen der Staufer bei Ceprano und Tagliacozzo, der christlichen Ära angehören: legtman diese zeitliche Einteilung zugrunde, so werden hier also zwei Gruppen vonVerwundeten aus vorchristlicher Zeit und drei Gruppen von Verwundeten aus christlicherZeit der einen infernalischen Versammlung von Höllensündern aus allen Zeiten vergleichendgegenüber gestellt, zwei plus drei plus eins bzw. BBCCCA.

Daß Dante diesen 28. Höllengesang tatsächlich ganz und gar nach dem arithmetischenKonzept des `numerus perfectus' aufgebaut hat, mag zuletzt ein Blick auf die Gesamtheit derin diesem Gesang thematisierten Geschichtsfälle zeigen (cf. Tabelle VII). Es handelt sich uminsgesamt vierzehn, von denen zwei der geschichtlichen Zukunft, vier der vorchristlichenÄra, und acht der vergangenen christlichen Ära zugeordnet werden können. Das erscheint fürdas uns interessierende Zahlenverständnis nocht nicht besonders signifikant. Unter den achtVorfällen der christlichen Ära ragt jedoch einer insofern heraus, als über ihn im Textanspielungsweise signalisiert wird, daß Dante selber persönlich involviert oder zumindest alsAugenzeuge zugegen war, nämlich das geschichtliche Wirken von Pier da Medicina alsmutmaßlich politischer Zwietrachtstifter. Wenn es deshalb gerechtfertigt ist, diese achtVorfälle noch einmal als sieben und einen zu differenzieren, so ergibt sich eineGesamteinteilung von 1, 2, 4 und 7 geschichtlichen Themen, die zusammen mit ihrer Summe14 genau den Divisoren der zweiten `perfekten' Zahl 28 entsprechen.

Ich habe so weit darauf verzichtet, diesen zahlhaften Aufbau auch inhaltlich in einembestimmten Sinn zu deuten. Tatsächlich würde dies hier auch zu weit führen, da zu diesemZweck näher auf Dantes heilspolitische Vorstellungen über die Rolle des RömischenImperiums und der Römischen Kirche einzugehen wäre, wie er sie anderweitig ausführlichdargelegt hat. Einige Hinweise seien jedoch gegeben. Dantes leitende Grundvorstellung,entwickelt als Gegenbild zu den politischen Konflikten der beiden Universalmächte in seinerZeit, war die einer strikten Trennung und zugleich eines harmonischen Zusammenwirkenszwischen der weltlichen Oberhoheit des Kaisers und der geistlichen Oberhoheit des Papstes,die idealiter den gesamten bewohnten Weltkreis umfassen und den politischenPartikularismus ebenso aufheben wie, gemäß dem Auftrag des Evangeliums, alle Völker indem einen christlichen Glauben vereinen sollte. Ihren politischen Idealzustand hatte die Weltnur ein einziges mal erreicht, nämlich in der geographischen Ausdehnung und friedlichenVerfassung des Römischen Reiches zur Zeit der Geburt Christi, als, wie Dante im Convivioschreibt, im Hinblick auf die Inkarnation Christi die Verfassung der Erde ihrenvorbestimmten höchsten Grad an Vollkommenheit und an Ähnlichkeit mit dem Himmelerreichte. Daß gerade das Römische Reich dazu bestimmt war, daß in seinen Grenzen dieInkarnation stattfinden und sein Kaisertum das der Kirche komplementär zugeordneteWeltkaisertum werden sollte, war laut Dante von Anbeginn an in der römischen Geschichteangezeigt, sowohl in der Geburtsstunde Rom, der Ankunft des Aeneas in Italien, die Dante in

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einer signifikanten Gleichzeitigkeit zur Geburt Davids in Jerusalem sieht, als auch in denanschließenden geschichtlichen Kämpfen, in denen Aeneas und seine aus der Verbindungmit Lavinia hervorgegangenen Nachfahren sowohl gegen inneritalienische Gegner wie auchgegen die aus Afrika eindringenden Punier und schließlich gegen alle von den Römernunterworfenen Völker gleichsam wie durch Gottesurteile ihre Bestimmung zurWeltherrschaft bestätigten. Und das Haupt, von dem aus die beiden Leuchten des Papsttumsund des Kaisertums die Welt regieren sollten, sollte nach dieser Deutung des Heilsplanesnatürlich keine andere Stadt sein als Rom, die Grabstätte Peters und der Sitz der RömischenKaiser von Anfang an.

Alle vier Ereignisse der vorchristlichen Ära, die der 28. Gesang thematisiert, haben indiesem Heilsplan ihren genauen Ort: der Kampf des Turnus und seiner italischen Anhängergegen Aeneas und dessen Trojaner bei deren Ankunft in Italien war eine Auflehnung gegenden göttlichen Heilsplan, ebenso die für Dante geschichtlich in etwa gleichzeitige RebellionAchitophels und Absaloms gegen David, und diese beiden in ihrer geschichtlichenSynchronie auf die spätere Rolle Roms bei der Inkarnation Christi hindeutenden Ereignissehat Dante als erstes und letztes im Aufbau seines 28. Gesang höchst planvoll einandergegenübergestellt. Eine Auflehnung gegen die vorbestimmte Rolle Roms war auch derEinzug der Punier in Italien, mit der für die Römer vernichtenden Niederlage bei Cannae, diein der Vorrede des Gesangs besonders hervorgehoben wird, und die, wie Dante im Convivioeinmal erklärt, erst durch Scipios Sieg über die Punier im afrikanischen Tal von Zamawieder gerächt und ausgeglichen wurde: in genau jenem afrikanischen Tal also, in demCurio später dann die den Heilsplan erneut gefährdende Niederlage der Truppen Caesarsverschuldete, und zwar gerade darum verschuldete, weil er leichtsinnig geglaubt hatte, andieser für Rom so ruhmreichen Stätte den Sieg Scipios noch einmal wiederholen zu können.Auch der Punische Krieg, wie er in der Vorrede von Dantes Gesang evoziert wird, und diePräsenz Curios im erzählenden Hauptteil des Gesangs sind folglich für Dante miteinanderassoziiert.

Curio kommt überhaupt eine Schlüsselstellung im Aufbau des Gesangs zu. Obwohl seinpersönliches Verhalten als Ratgeber und Anhänger Caesars nach der Darstellung Lukans vonniedrigen Instinkten geleitet, nämlich mit dem Gold Caesars erkauft war, war doch für Dantedie Eröffnung des Bürgerkrieges, zu der Curio geraten hatte, eine notwendige Bedingung umjenes Kaisertum und jene Ausdehnung des römischen Reiches zu schaffen, die im Hinblickauf die Geburt Christi vorbestimmt waren. Als einziger Vertreter der vorchristlichen Ära imerzählenden Hauptteil des Gesangs markiert Curio somit gewissermaßen jene Zeitenwendeim Aufbau des Gesangs, die er durch sein moralisch zwar verwerfliches, aber geschichtlichnotwendiges Verhalten herbeizuführen mitgewirkt hatte. Von daher läßt sich dann auchvermuten, daß die Repräsentation der drei Weltteile durch die sechs Sünder und, gemäß ihrergeographischen Herkunft, die ost-westliche Sequenz von Asien/Arabien (d.h. Mohammed u.Ali) über Italien mit Rom in der Mittelposition bis hin zum englischen Kronerbe inSüdfrankreich (d.h. der Heimat Bertrans de Born) jene ideale Ausdehnung des römischenReiches figuriert, die für die Geburt Christi vorbestimmt war, falls der Aufbau nichtvielmehr den Verlust dieser Einheit durch die Eroberungen des Islam und durch dieinnereuropäischen Streitigkeiten reflektiert. Die ost-westliche Sequenz der sechs Sünder hatjedoch auch noch einen anderen, sehr präzisen Sinn, der sich u.a. aus motivischen Parallelenzum 32. Gesang des Purgatorio und zu Dantes Brief an die Kardinäle im Konklave vonPerugia ergibt, d.h. aus Parallelen zu Aussagen, in denen es jeweils um die von Dante so sehrbeklagte Entführung der Kirche aus Rom in ihre `babylonische Gefangenschaft' inSüdfrankreich geht. Sieht man Mohammed und Ali nicht einfach nur als Araber oderAsiaten, sondern präziser noch in einer besonderen Beziehung zum Heiligen Land, das derChristenheit durch den Islam verloren gegangen war, so zeichnet die geographische Sequenzder Sünder die drei Stationen der Kirche auf ihrem geschichtlichen Weg von Jerusalem überRom nach Südfrankreich nach. Zum fingierten Zeitpunkt des erzählten Geschehens, 1300,

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befand die Kurie sich allerdings unter Bonifaz VIII. noch da, wo sie für Dante hingehörte, inItalien. Aber 1305 wurde nach langer Sedisvakanz schließlich Bertran de Got, zuvor Bischofvon Poitiers und Erzbischof von Bordeaux, zum Papst gewählt, der sich dann in Lyon zuPapst Clemens V. krönen ließ und die Kurie in Frankreich zurückbehielt, zunächstvorwiegend in Poitiers, bis er sie zuletzt fest in Avignon etablierte. Und das heißt, daß inDantes 28. Gesang der Ort der französische Gefangenschaft der Kirche durch einenaquitanischen Trobador repräsentiert wird, dessen Burg Autafort nicht nur in der späterenDiözese dieses verwerflichen Nachfolgers Petri lag, zwischen Poitiers und Perigueux,sondern der als Bertran de Born auch auf den selben Vornamen getauft war wie dieser Papst.Es ist folglich im geographischen Aufbau des Gesangs nicht nur der ideale Zustand desrömischen Kaiserreiches bzw. dessen aktuelle Zersplitterung, sondern auch dergeschichtliche Weg oder Irrweg des Papsttums genau reflektiert.

Diese eiligen Hinweise müssen hier leider genügen. Sie mögen jedoch bereits deutlichmachen, daß wir es hier mit einem Zahlenbau zu tun haben, der keineswegs nur antraditionelles Schulwissen anknüpft, sondern zugleich auch für Inhalte codiert, die für DantesZeit höchst aktuell und von einiger politischer und kirchenpolitischer Brisanz waren. Injedem Fall aber handelt es sich um einen Zahlenbau, der für den gewöhnlichen Leser vonDantes Zeit in dieser so realistisch und absichtslos daherkommenden Erzählung gar nicht zubemerken war, sondern zu bemerken war nur für einen Leser, der eine gewisse exegetischeSchulung besaß und außerdem über die nötige Humilitas verfügte, sich auf eine sehreingehende Betrachtung der hier dargestellten Prozession zeichenhaft verstümmelter Leibereinzulassen, die ja zur näheren Betrachtung wirklich nicht jedermann einlädt. Unter denKommentatoren Dantes, die den Gesang während der letzten mehr als sechshundert Jahrekommentiert haben, scheint ein solcher Leser bisher noch nicht aufgetreten zu sein.

Wir haben damit verschieden Beispiele für Verwendung `perfekter Zahlen' immittelalterlichen Dichtungsaufbau kennengelernt, zunächst noch eher wenig entwickelt beiAlkuin, formal aufwendiger durchkonzipiert bei Hrabanus Maurus, und mit einer ganzbesonderen Komplexität schließlich bei Dante gestaltet, wobei der letztere sich von seinenfrühmittelalterlichen Vorgängern auch insofern unterscheidet, als bei ihm nicht formaleElemente wie Strophe, Vers und Buchstabe, sondern die Dinge selbst, von denen seineDichtung handelt, zahlhaft `vollkommen' angeordnet sind. In diesem Punkt steht DantesDichtung der Bibel in ihrem patristisch-mittelalterlichen Verständnis näher, da auch dortweniger die zahlhafte Einteilung der biblischen Bücher, sondern vor allem die Zahl vonDingen, Personen und Ereignissen der biblischen Geschichte in ihrem verborgenen Sinngedeutet wurde. Wo die karolingischen Dichter formale Elemente in zahlhafter`Vollkommenheit' arrangiert hatten, da hat Dante also in genauerer Nachahmung desgöttlichen Schöpfers geschichtliche Personen und Ereignisse zahlhaft geordnet, die scheinbarkatastrophisch verlaufende Weltgeschichte auf eine vorbestimmte, Ordnung bezogen und soim eigenen Gedicht noch einmal die Vorstellung von einer Schöpfung sinnfällig gemacht, inder alle Dinge nach Maß, Zahl und Gewicht eingerichtet sind.

Preliminary HTML version, (C) Otfried Lieberknecht 1998

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Tabellen

Tabelle I: Die sechs Schöpfungstage nach Augustinus, De genesi ad litteram IV, 2 (CSEL 28.1, p.97s.)

Erster Tag Zweiter Tag Dritter Tag Vierter Tag Fünfter Tag Sechster Tag

Licht Firmament Meer, Land, Pflanzen Sonne, Mond, Sterne Tiere des Wassers und derLuft

Tiere des Landes, Mensch

Licht 'fabrica mundi' Kreaturen, die sich in dieser 'fabrica mundi' bewegen

nicht lokalisiert superior pars inferior pars superior pars inferior pars inferior pars

Tabelle II: Die sechs Weltalter und drei Weltzeiten ('tria tempora') nach Augustinus, De trinitate IV, iv, 7 (CCSL 50, p.169s.), und DantesEinteilung in Pd 32,76-84

1. Alter 2. Alter 3. Alter 4. Alter 5. Alter 6. Alter

Adam Noah Abraham David Babylon Christus

ante legem sub lege sub gratia

Bastavasi ne' secoli recenti / con l'innocenza, per aversalute, / solamente la fede d'i parenti; / poi che le primeetadi fuor compiute

convenne ai maschi a l'innocenti penne / per circuncidere acquistar virtute; ma poi che 'l tempo de lagrazia venne, / sanzabattesmo perfetto di Cristo /tale innocenza là giù siritenne.

Tabelle III: Gruppen von Verwundeten in der Vorrede von Inferno 28 (vv.7-21)

Erste Zweite Dritte Vierte Fünfte Sechste

Gegner der "Troiani" (d.h.Turnus und seine Anhängerim Kampf gegen Aeneas)

Verwundete und Gefallenein der römischen

Niederlage von Cannae(d.h. vornehmlich Römer)

Gegner Robert Guiscards Verwundete in ManfredsNiederlage bei Ceprano

Verwundete in KonradinsNiederlage bei Tagliacozzo

'il modo sozzo della nonabolgia' (i.e. Verwundete in

der Hölle)

vorchristliche Zeit christliche Zeit Alle Zeiten (Ewigkeit)

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Tabelle IV: Ansprachen an den Jenseitswanderer Dante (If 28):

Mohammed Pier da Medicina Mosca Bertran

Schilderung des Strafortes Prophetie über Fra Dolcino Prophetie über Malatestino Lebensgeschichte Curios Lebensgeschichte Moscas Lebenngeschichte Bertrans

Gegenwart (Ewigkeit) Zukunft Vergangenheit

Tabelle V: Die sechs Verdammten in Inferno 28

(Ali) Mohammed Pier Curio Mosca Bertran

Spaltung vom Kinn anaufwärts bis zumHaaransatz

Spaltung vom Kinn anabwärts bis zum Anus, mitaustretenden Eingeweiden

Durchbohren der Kehle,Verlust von Nase und Ohr

Verlust der Zunge (und derSprache)

Verlust beider Hände Zweiteilung durchTrennung von Haupt undRumpf

vertikale Spaltung nicht gespalten (3+1+2 Wunden) Horizontale Spaltung

religiöse Zwietracht politische Zwietracht familiäre Zwietracht

Arabien (Heiliges Land) Italien (mit Rom im Zentrum) Südfrankreich

Asien Europa (starb in) Afrika Europa

Beschneidung Taufe Polytheismus Taufe

7. Jh. Ende 13. Jh. vorchristl. Zeit frühes 13. Jh. spätes 12. Jh.

Tabelle VI: Vorzeigen der Wunden (If 28)

(Ali) Mohammed Pier Curio Mosca Bertran

'weint' mit dem gespaltenenGesicht

öffnet mit beiden Händendie Brust

öffnet die durchbohrte undblutbefleckte Kehle

Pier legt die Hand an CuriosWange und öffnet dessenMund

hebt die blutendenArmstüpfe

hebt den abgeschlagenenKopf mit der Hand in dieHöhe

(mimisch?) Öffnen ("aperse", "aprì", "aperse") Heben ("levò", "levando")

(mimisch?) manuelle Geste gezeigt als blutend manuelle Geste gezeigt als blutend manuelle Geste

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Tabelle VII: Historische 'scandala' thematisiert in Inferno 28 (1+2+4+7=14)1. Widerstand der Italer gegen die "Troiani" (d.h.

Turnus vs. Aeneas)vorchristl. Zeit eins von

vierzeitgleich mit Nr. 14

2. Römische Niederlage bei Cannae vorchristl. Zeit eins vonvier

später vergolten von Scipio in der "fortunata valle" von Zama, cf. Nr. 11

3. Widerstand gegen Robert Guiscard christl. Zeit eins vonsieben

4. Manfreds Niederlage bei Ceprano christl. Zeit eins vonsieben

5. Konradins Niederlage bei Tagliacozzo christl. Zeit eins vonsieben

6. Mohammed Gründer des Islam christl. Zeit eins vonsieben

7. Ali Anhänger Mohammeds, Gründer desSchiismus

christl. Zeit eins vonsieben

8. Dolcino's Kampf gegen die Kirche Zukunft eins vonzwei

9. Pier da Medicinas Vergehen Dante persönlichinvolviert?

singulärerFall

10. Mordplan Malatestinos gegen Guido undAngiolillo

Zukunft eins vonzwei

11. Curios Vergehen, Römischer Bürgerkrieg vorchristl. Zeit eins vonvier

Curio wurde besiegt und getötet in der "fortunata valla" von Zama, wo er gehofft hatte,Scipios Sieg zu wiederholen, cf. Nr. 2

12. Moscas Vergehen, Florentiner Bürgerkrieg christl. Zeit eins vonsieben

13. Bertran de Born Anstifter Jungheinrichs gegenHeinrich II.

christl. Zeit eins vonsieben

14. Achitophel Anstifter Absaloms gegen David vorchristl. Zeit eins vonfour

zeitgleich mit Nr. 1

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Tabelle VIII: Hrabanus Maurus, Liber de laudibus sanctae crucis (PL 107,147ss.)

Gedicht Zahl der Verse Zahl der Buchstaben pro Vers Gruppierung

1. 47 39 eins von vier

2. 35 35 eins von sieben

3. 36 37 eins von vierzehn

4. 37 37 eins von vierzehn

5. 35 35 eins von sieben

6. 37 37 eins von vierzehn

7. 35 35 eins von sieben

8. 37 37 eins von vierzehn

9. 41 41 singulärer Fall

10. 37 37 eins von vierzehn

11. 36 36 eins von zwei

12. 35 35 eins von sieben

Tabellen: (c) Otfried Lieberknecht, 1998

13. 35 35 eins von sieben

14. 39 39 eins von vier

15. 36 36 eins von zwei

16. 34? 37 eins von vierzehn

17. 39 39 eins von vier

18. 37 37 eins von vierzehn

19. 37 37 eins von vierzehn

20. 37 37 eins von vierzehn

21. 37 37 eins von vierzehn

22. 41 39 eins von vier

23. 37 37 eins von vierzehn

24. 37 37 eins von vierzehn

25. 37 37 eins von vierzehn

26. 37 37 eins von vierzehn

27. 35 35 eins von sieben

28. 43 35 eins von sieben

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