Die Geschichte Russlands verschlüsselt im Gedicht Vermittlung der russischen Revolution im Sprachunterricht DIPLOMARBEIT zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra der Philosophie (Mag. phil.) eingereicht bei Frau Univ.-Prof. Dr. Andrea Zink Institut für Slawistik Geisteswissenschaftliche Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck von Ines Oberleiter Innsbruck, 3. April 2017
148
Embed
Vermittlung der russischen Revolution im Sprachunterricht
This document is posted to help you gain knowledge. Please leave a comment to let me know what you think about it! Share it to your friends and learn new things together.
Transcript
Die Geschichte Russlands
verschlüsselt im Gedicht
Vermittlung der russischen Revolution im
Sprachunterricht
DIPLOMARBEIT
zur Erlangung des akademischen Grades einer
Magistra der Philosophie (Mag. phil.)
eingereicht bei Frau
Univ.-Prof. Dr. Andrea Zink
Institut für Slawistik
Geisteswissenschaftliche Fakultät
der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
von
Ines Oberleiter
Innsbruck, 3. April 2017
I
Vorbemerkung und Danksagungen
Die Russische Revolution jährt sich im Jahr 2017 zum 100. Mal. Ihre Folgen haben
das gesamte 20. Jahrhundert inner- sowie außerhalb von Russland maßgeblich
beeinflusst. Dieses historische, weltumfassende Ereignis bildet die Grundlage meiner
Diplomarbeit. Es erscheint mir wichtig, die Russische Revolution aufgrund ihrer
Tragweite vor allem im russischen Fremdsprachenunterricht zu thematisieren.
Geschichtliche Themen sollten meiner Meinung nach einen fixen Bestandteil des
Sprachunterrichts bilden. Daher möchte ich mit der vorliegenden Arbeit einen
möglichen Ansatz zur Vermittlung von Geschichte im Fremdsprachenunterricht
aufzeigen.
An dieser Stelle möchte ich mich bei Frau Univ.-Prof. Dr. Andrea Zink bedanken, die
meine Diplomarbeit betreut und begutachtet hat. Die Anregungen zum Thema dieser
wissenschaftlichen Arbeit entstanden in ihrer Übungsvorlesung zur avantgardistischen
Lyrik. Die interessante Gestaltung des Kurses weckte bei mir großes Interesse im
Bereich Lyrik und Geschichte und machte die Entstehung des Themas erst möglich.
Frau Zink hat keine Mühen gescheut hilfreiche Anregungen und konstruktive Kritik
einzubringen, wofür ich ihr sehr dankbar bin.
Ein großer Dank gilt in ganz besonderer Weise meinem Mann Josef, der stets ein
offenes Ohr für mich hatte, mir während der Anfertigung dieser Diplomarbeit mit
Ausdauer, Ruhe, Liebe und Geduld zur Seite stand und mich immer wieder
aufgemuntert und motiviert hat.
Meinen Freunden – Kathl, Kathi, Klara, Lisa, Steffi, Lucy und Antonio – danke ich für
den starken emotionalen Rückhalt über die Dauer meines gesamten Studiums und die
wertvolle Freundschaft, die uns verbindet.
Ein besonderer Dank gilt auch meinen Geschwistern Nicole, Johannes und Isabella
für ihre innige geschwisterliche Freundschaft.
Abschließend möchte ich mich bei meinen Eltern Anni und Stefan bedanken, die mir
mein Studium durch ihre Unterstützung ermöglicht haben, in allen Situationen hinter
mir standen und immer nur das Beste für meine Geschwister und mich tun.
II
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung und Danksagungen .............................................................................. I
Inhaltsverzeichnis ........................................................................................................ II
Wenn man die Fülle und Komplexität der historischen Ereignisse zu Zeiten der
Revolution von 1917 in Russland betrachtet, scheint ihre Vermittlung, vor allem im
Fremdsprachenunterricht, der sich ja in erster Linie auf das Erlernen der russischen
Sprache selbst konzentrieren sollte, eine gewisse Herausforderung darzustellen. Den
Sprachlernenden die Historie eines Landes vorzuenthalten, wie es in der Realität leider
meistens der Fall ist, stellt keine besonders gute „Lösung“ dar. Schließlich zieht das
Ignorieren relevanter, historischer Fakten über das Land, dessen Sprache man gewillt
ist zu lernen, Unwissenheit nach sich und kann an dem Punkt zur Hürde werden, wenn
es darum geht das Land, seine Bewohner und Kultur zu verstehen.
Russische Lehrwerke, Stundentafeln, sowie die vom Ministerium vorgeschriebenen
Lehrpläne lassen erkennen, dass im Fremdsprachenunterricht vorzugsweise die
Sprache selbst und kulturelle Inhalte (Bräuche, Traditionen, Kulinarik) im Vordergrund
stehen. Dies könnte ein Grund dafür sein, dass die sinnvolle Vermittlung von
Geschichtswissen im Fremdsprachenunterricht eine noch unzureichend erforschte
Thematik ist. Ein sehr interessanter Aspekt lässt sich in der inhaltlichen Entwicklung
von Lehrwerken über die letzten Jahrzehnte feststellen. So weisen ältere Lehrwerke,
die nicht auf dem GER (Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen)
basieren, vergleichsweise viel Geschichtswissen auf. Ein konkretes Beispiel dafür
wäre neben vielen weiteren das Lehrbuch „Modernes Russisch – ОКНО 2“ aus dem
Jahr 1994, das u. a. ein Kapitel zum Thema „Meilensteine in der Geschichte
Russlands“ (Gerber/Groh 1994, 30) enthält. Historische Ereignisse wie die
Durchsetzung der Petrinischen Reformen (1698–1725), der Dekabristenaufstand
(1825), die Russische Revolution von 1917, der „Große Vaterländische Krieg“ (1941–
1945), der Beginn der Perestroika (1985) und das Ende der Sowjetunion (1991)
werden hier thematisiert. Außerdem deckt das Lehrwerk auch wichtige
literaturgeschichtliche Themen (ebd. 63–70) sowie technische Errungenschaften
beispielsweise in Bezug auf die Raumfahrt (ebd. 75–81) ab. Neuere Lehrbücher (z.B.
„Отлично!“ oder „Диалог“), welche sich auf den GER beziehen, weisen hingegen fast
keine oder gar keine geschichtlichen Inhalte mehr auf und fokussieren vor allem die
alltägliche Kommunikation und relevante kulturelle Aspekte. Das Verstehen einer
Kultur / einer Sprache / eines Landes setzt jedoch die Auseinandersetzung mit dessen
2
Geschichte voraus. Im Fremdsprachenunterricht sollte man sich deshalb nicht auf
Sprache und Kultur beschränken, sondern in sinnvollem Maß auch historisches
Wissen einfließen lassen. Die Vorgaben des Lehrplans verleiten allzu oft dazu, dessen
Ziele so gut es geht abzustecken, sodass Geschichte nicht wirklich Platz findet. Die
Lehrpersonen sollten hingegen dazu angehalten werden über den „Tellerrand“
hinauszusehen, um auch historische Themen in den Sprachunterricht zu integrieren.
Man könnte nun damit argumentieren, dass bei jenen Klassen, die im Fach Russisch
maturieren sollen, ein besonderer Druck besteht, die Schülerinnen und Schüler in sehr
knapper Zeit sprachlich gesehen auf ein entsprechendes Niveau zu bringen, wodurch
das Miteinbeziehen von Geschichte in den Sprachunterricht beträchtlich erschwert
wird. Es gilt somit eine Lösung zu finden, die historische Aspekte sinnvoll in den
Sprachunterricht einbindet, ohne auf sprachlicher Ebene Verluste zu erleiden.
Klassischer Geschichtsunterricht auf Russisch würde ein sehr hohes Sprachniveau
erfordern, welches jedoch in den meisten Fällen im realen Schulunterricht nicht
gegeben ist. Die Möglichkeit, sich mit den historischen Fakten zur Russischen
Revolution auf Deutsch auseinanderzusetzen, lässt wiederum die Ausübung der
russischen Sprache zu kurz kommen. Außerdem verlangt die Vermittlung von
Geschichte im (Sprach-)Unterricht nach einer speziellen Methode, welche Historie
nicht mittels bloßer Faktenauflistung lehrt, denn dies könnte einerseits zu einem
„Overload“ an Informationen über historische Begebenheiten führen und Verwirrung
stiften, andererseits könnte eine gewisse monotone, listenartige Vermittlungsweise
Langeweile oder Desinteresse auf Seiten der Lernenden mit sich ziehen, wodurch im
Endeffekt weder das „Gelernte“ gefestigt, noch das Interesse der Schülerinnen und
Schüler an einer möglichen Vertiefung in das Thema bzw. an der Geschichte
Russlands geweckt wird.
Um Verwirrung, Desinteresse und Unwissenheit zu vermeiden und einem geringeren
Lernfortschritt in Lexik und Grammatik bei den Lernenden vorzubeugen, bedarf es
einer besonderen Herangehensweise zur Vermittlung von historischem Wissen im
Fach Russisch. In der vorliegenden Arbeit soll eine Möglichkeit der
Auseinandersetzung mit Geschichte – im Konkreten mit der Russischen Revolution
von 1917 – im Sprachunterricht gezeigt werden. Diese Arbeit könnte ein Anstoß für
weitere Forschungen zum Thema „Vermittlung von Geschichtswissen im
Fremdsprachenunterricht“ sein.
3
2. Forschungsfrage und Literaturüberblick
Die Russische Revolution, ein Zeitereignis von weltgeschichtlichem Rang, bezieht sich
laut Hildermeier (2013) nicht nur auf die Zeit zwischen Februar- und Oktoberrevolution,
sondern meint darüber hinaus auch die anschließende sozialistische Revolution und
den Bürgerkrieg (1918–1921). Der Historiker listet die „Gründung der Union der
Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR)“ am 30. Dezember 1922 als letztes
relevantes Ereignis in der Chronik der Russischen Revolution auf (ebd. 122f). Die
chronologische Aufstellung der historischen Daten (insgesamt 44) der Jahre 1917 bis
1922 bietet einen guten Überblick über die Geschehnisse jener Zeit. Sie alleine geben
jedoch keinen Aufschluss über die sozialen oder politischen Umstände, welche die
Revolution begünstigten, oder über den damals vorherrschenden Zeitgeist, der am
authentischsten durch Zeitzeugen vermittelt werden kann. Darum stützt sich die
vorliegende Arbeit auf fünf konkrete lyrische Werke, die von verschiedenen AutorInnen
in den Jahren der Revolution geschrieben wurden. Das Buch Hildermeiers (2013) zur
Russischen Revolution dient lediglich der faktenorientierten Darstellung ihrer
historischen Inhalte.
Die zahlreichen Daten, aus denen sich das Gesamtgeschehen der Russischen
Revolution zusammensetzt, in den Schulunterricht einzubauen, wäre eine
Überforderung, die nicht im Sinne einer Vermittlung von Geschichte im
Sprachunterricht wäre. Es geht also nicht darum, alle historischen Begebenheiten im
Detail zu unterrichten. Vielmehr sollte versucht werden, die wichtigsten Tatsachen und
Ereignisse hervorzuheben, um ein Gesamtverständnis der Revolution anzustreben.
Das bedeutet im Wesentlichen die Beantwortung folgender Fragen: Wodurch wurde
die Revolution ausgelöst? Was geschah im Februar und Oktober 1917? In welcher
(politischen/sozialen) Situation befand sich Russland im Jahr 1917? Wer war(en) die
führende(n) Partei(en)? Welche Ziele wurden im Bürgerkrieg von wem angestrebt?
Wer kam wie an die Macht?
Im Zuge dieser Arbeit soll untersucht werden, inwiefern eine Vermittlung der
Russischen Revolution auf Basis lyrischer Originaltexte im Sprachunterricht sinnvoll
erscheint und ob sich dadurch Antworten auf die oben gestellten Fragen finden lassen.
Durch die Interpretation und Ausarbeitung fünf konkreter lyrischer Werke sollen
verschiedene Zugänge zur Revolution – gemeint sind die subjektiven
4
Wahrnehmungen der DichterInnen – sichtbar gemacht werden, um, zur Erfassung
dieses historischen Einschnittes, ein möglichst authentisches und vielseitiges Bild zu
erzeugen.
Außerdem soll aufgezeigt werden, welche Chancen und Herausforderungen eine
Arbeit mit Gedichten zur Vermittlung von Geschichte im Sprachunterricht bereithält
und welche Probleme dabei auftreten können. Darüber hinaus gilt es zu prüfen, ob die
jeweiligen Gedichte genügend historischen Input bieten, um überhaupt der
Bezeichnung „Schlüssel zur Darstellung der Geschichte“ gerecht zu werden.
Es geht in der Arbeit weder um die lückenlose Darstellung der
(politischen/historischen) Geschehnisse während der russischen Revolution. Ebenso
wenig wird auf die bloße Interpretation einzelner Gedichte, u. a. zur Erfassung des
literaturgeschichtlichen Kontextes, abgezielt. Vielmehr soll der Zusammenhang
zwischen Lyrik und historischen Tatsachen aufgezeigt und in den schulischen Kontext
gestellt werden. Auf didaktische Ausarbeitungen wird jedoch verzichtet.
Im Hauptteil (Kapitel 3) werden folgende Gedichte behandelt: Dvenadcatʼ (Aleksandr
Blok), K russkoj revoljucii (Valerij Brjusov), Dekabrist (Osip Mandel’štam), Petrograd,
1919 (Anna Achmatova), und Levyj marš (Vladimir Majakovskij).
Ausgehend von diesen fünf lyrischen Werken, die entweder dem Symbolismus,
Akmeismus, oder Futurismus – dies waren die wichtigsten literarischen Strömungen
der Avantgarde – zugeordnet werden können, sollen historische Ereignisse markiert
und die subjektive Bezugnahme des Dichters/der Dichterin, u. a. auch im Hinblick auf
die literarische Strömung, untersucht werden. Die hierfür verwendete Literatur
umfasst, neben einigen Autobiographien, vor allem Werke, welche sich auf die
biographische sowie literarische Persönlichkeit der einzelnen LyrikerInnen beziehen.
So setzte sich beispielsweise Dorothea Bergstraesser (1979) mit Bloks Dvenadcatʼ
eingehend auseinander. In ihrem Werk Alexander Block und “Die Zwölf” liefert sie in
erster Linie Materialien zum eschatologischen Aspekt in Bloks Dichtung.
Für das Kapitel über Brjusov wurde im zweiten Abschnitt des Hauptteils primär das
Werk „Brjusov und die Zeitgeschichte“ von Sabina Siwczyk-Lammers (2002) zu Rate
gezogen. Sie beschäftigte sich eindringlich mit dem Leben und literarischen Schaffen
Brjusovs. In dieser Monographie liegt der Fokus auf den lyrischen Werken des
5
Dichters, die, unter Beachtung des historischen Kontextes, mit seinem Leben in
Verbindung gebracht werden.
Die wichtigste Literatur zum Thema „Osip Mandell’štam“ bilden nach wie vor die Werke
Ralph Dutlis (1995 / 2016), der sich Jahrzehnte lang mit dem Leben und Wirken
Mandel‘štams befasste.
Neben der umfassenden Autobiographie Anna Achmatovas wird im vierten Abschnitt
des Hauptteils vor allem auf die Monographie Agnieszka Świerszczs (2002) verwiesen,
die sich nicht nur mit der Biographie Achmatovas auseinandersetzte, sondern vor
allem auf die „literarische Persönlichkeit“ jener bedeutenden Dichterin eingeht.
Ähnlich wie Achmatova verfasste auch Vladimir Majakovskij eine relativ umfangreiche
Autobiographie, die jedoch als ziemlich einseitige Selbstdarstellung angesehen
werden kann. Deshalb untersuchte Stephanie Hajak (1989) diese sehr kritisch zu
betrachtende „futuristische“ Autobiographie. Das Ergebnis ihrer Arbeit liefert
interessante Informationen zum Leben und Charakter des Autors.
Insgesamt gliedert sich das dritte Kapitel dieser Arbeit in fünf Abschnitte, denen jeweils
eines der oben genannten lyrischen Werke zugrunde liegt. Jedes Gedicht stellt eine
Interpretationsweise (des Dichters/der Dichterin) der russischen Revolution dar. Die
einzelnen Kapitel werden thematisch wiederum in fünf weitere spezifische Bereiche
unterteilt, in denen folgende Fragen beantwortet werden sollen:
1. WER?
Das Hauptanliegen dieses Teilkapitels liegt in der Darstellung des Zusammenhangs
zwischen dem Gedicht und dem Leben des jeweiligen Autors/der jeweiligen Autorin.
Das Ziel ist hierbei jedoch nicht die Auflistung biographischer Daten, sondern die
Hervorhebung etwaiger prägender Ereignisse im Leben der DichterInnen, die
Auswirkungen auf ihr revolutionäres Verhalten und in weiterer Folge auf ihre lyrischen
Werke hatten.
2. WIE?
Diese Frage geht der Machart des Gedichtes nach. Im Zentrum stehen Form, Laut-
und Rheimschema, Onomatopoesie, lyrische Mittel, sowie die sprachliche
Komponente der einzelnen Werke. Es soll vor allem die formale Bedeutung der
jeweiligen Gedichte in Bezug auf den historischen Kontext herausgearbeitet werden.
6
3. WAS?
Die konkret im Gedicht vorhandenen historischen Fakten zur Russischen Revolution
werden in einem separaten Unterkapitel hervorgehoben. Alle historischen Daten und
Begebenheiten, auf die die DichterInnen direkt oder indirekt Bezug nehmen, sind von
Belang.
4. WOZU?
Dieser Teil handelt von der Frage nach dem Zweck der einzelnen Gedichte: Wozu
wurde das Gedicht verfasst? Wie soll(te) das Gedicht auf seine Rezipienten wirken?
Welches Bild der Revolution wird durch die Art der Komposition erzeugt? Wie wird
dadurch der historische Kontext von Seiten der LeserInnen wahrgenommen? Nicht
zuletzt soll erörtert werden, ob sich der Autor/die Autorin durch die Art der Komposition
politisch positioniert.
5. WARUM?
Schließlich gilt es zu prüfen, inwiefern sich das Gedicht für den FSU zur Vermittlung
von Geschichte eignet und welche Herausforderungen es an die SchülerInnen und
Lehrpersonen stellt.
Zusammengefasst untersucht die vorliegende Arbeit zum einen die
Faktenorientiertheit der einzelnen Gedichte in Bezug auf die Russische Revolution und
in weiterer Folge deren Eignung im FSU. Zum anderen sollen aufgrund der subjektiven
lyrischen Zugänge möglichst unterschiedliche Aspekte der Russischen Revolution
aufgezeigt werden.
7
3. Interpretationsvarianten der russischen Revolution
Die oben bereits erwähnten lyrischen Werke stammen aus der Feder fünf
verschiedener Dichter, die u. a. auf Basis ihrer Herkunft, Erziehung und (Aus-)Bildung
einen jeweils anderen Zugang zur Revolution hatten. Diesem unterschiedlichen
Zugang entspricht die Einteilung der Arbeit in thematisch unterschiedene Kapitel.
In den folgenden Kapiteln werden jene fünf Gedichte vor allem im Hinblick auf ihre
geschichtliche Aussagekraft analysiert. Die AutorInnen, die die Russische Revolution
von 1917 selbst miterlebt haben, bringen in ihren Werken nicht nur die Stimmung der
damaligen Zeit, sondern auch ihre persönlichen Eindrücke zum Ausdruck. Die
Gedichte sind in ihrer Gesamtheit zum einen ein Spiegel der damaligen Gesellschaft
und der politischen Umstände, andererseits werden in ihnen persönliche Eindrücke
und individuelle Positionen in Bezug auf die Revolution dargelegt. Es gilt jedoch zu
berücksichtigen, dass ein Kunstwerk nie die Realität kopiert, sondern eine eigene
ästhetische Realität herstellt, die keine außerliterarischen Fakten bestätigt. Aus
diesem Grund wird das in der Einleitung bereits erwähnte Werk des Historikers
Hildermeier (2013) über die Russische Revolution als Bezugspunkt zur Realität
herangezogen.
Da sich ein Gedicht mehr oder weniger gut zur Vermittlung von Geschichtswissen im
Sprachunterricht eignen kann und dies von Werk zu Werk unterschiedlich ist, macht
es Sinn, die Kapitel thematisch auf Basis der einzelnen Gedichte einzuteilen. Die
vollständigen Werke mit deutscher Übersetzung und Lautschemata sind im Anhang zu
finden. Die Gedichte werden chronologisch nach Entstehungsdatum in die Arbeit
eingeführt.
8
3.1. Mystische Interpretation der Revolution
„...Так идут державным шагом —
Позади — голодный пёс.
Впереди — с кровавым флагом,
И за вьюгой неведим,
И от пули невредим,
Нежной поступью надвьюжной,
Снежной россыпью жемчужной,
В белом венчике из роз —
Впереди — Исус Христос.“
(Aleksandr Blok, Jänner 1918, «Dvenadcatʼ»,1 T 12, S 9)
3.1.1. Blok zwischen proletarischer Revolution und christlicher Tradition
Aleksandr Aleksandrovič Blok (*28.11.1880 in Sankt Petersburg, † 07.08.1921 in
Petrograd) war neben Andrej Belyj der bedeutendste Vertreter der jüngeren
Generation der russischen Symbolisten2, die vor allem von der von mystischen
Überhöhungen geprägten deutschen Romantik und der idealistischen Philosophie
beeinflusst waren (Holthusen 1957, 34f). Die Vertreter der zweiten, jüngeren
Generation fassten den Symbolismus nicht nur als „formalästhetische Schule“ auf,
sondern vor allem auch als eine Form der „Weltanschauung“. Diese konkrete
Verbindung von formalästhetischen und weltanschaulichen Aspekten lässt sich u. a.
im Symbol verwirklichen (Peters 1972, 13).
Die Auffassung des Symbols bei Blok ist ambivalent und entfernt sich an manchen
Stellen von der Bedeutung, welche die Symbolisten der zweiten Generation dem
1 Das vollständige Poem im Original inklusive metrischem Schema und deutscher Übersetzung von Alfred Edgar Thoss ist unter Anhang A zu finden. 2 In Russland lässt sich die Bewegung der Symbolisten mit großer Genauigkeit in zwei Gruppen, die sogenannten jüngeren und älteren Symbolisten teilen, die jedoch nicht nur zeitlich, sondern hauptsächlich inhaltlich differenziert werden müssen. Zu den älteren zählen u. a. Valerij Brjusov Konstantin Bal‘mont, Dmitrij Mereškovski, zu den jüngeren Andrej Belyj, Aleksandr Aleksandrovitč Blok, Fėdor Stepun. (https://de.wikipedia.org/wiki/Symbolismus_(Literatur)#Russischer_Symbolismus, abgerufen am 14.01.2017)
Einarbeitung von Volksliedern weisen auf inhaltlicher und lautlich Ebene darauf hin,
dass die Revolution vom Volk ausging.
Die Periode der Übergangsregierung zwischen Februar- und Oktoberrevolution fließt
indirekt in die Beschreibung der Prostituierten Kat’ka ein: „У ей керенки есть в чулке!“
(T2/S6/V2) Mit „керенки“ ist zwar in erster Linie das Geld, das unter Aleksandr
Kerenskij im Umlauf war. Trotzdem könnte man an dieser Stelle auf die Zeit der
Doppelherrschaft des Februarregimes verweisen. Kerenskij, der bei der Bildung der
Provisorischen Regierung am 2. März 1917 als Justizminister hervorging, erntete
weder bei den linken noch bei den rechten Anhängern des Februarregimes
Anerkennung. Er war zwar ein guter Redner und konnte Menschen begeistern,
gleichzeitig besaß er jedoch kein strategisches oder administratives Talent, sodass
ihm die Fähigkeit, Russland in den schwierigen Zeiten der Revolution zu führen,
abgesprochen wurde (ebd. 110f). „Er spielte weder vor- noch nachher eine
nennenswerte Rolle. Sein Stern ging im März auf, als er Justizminister wurde, und
erlosch mit seiner Flucht in der Oktobernacht“ (ebd. 110). Hildermeier bezeichnet ihn
als ein „Produkt der Revolution“, in der er als Minister, teilweise sogar als
Ministerpräsident der Provisorischen Regierung agierte. Kerenskij repräsentiert
sozusagen die Zeit zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution. So, wie das
Leben Kat’kas in Dvenadcatʼ mit dem revolutionären nächtlichen Marsch der „Zwölf“
ein Ende nimmt, nimmt auch die zu jener Zeit bestehende Übergangsregierung durch
den nächtlichen Sturm der Bolschewiki auf den Winterpalast ein Ende, und Kerenskij
verschwindet von der Bildfläche.
Die Hauptaufgabe dieses mehrstufigen parlamentarischen Regimes der
Übergangsphase war es, die Wahlen für eine „Konstituierende Versammlung“ zu
organisieren, welche anschließend eine neue Verfassung ausarbeiten sollte. Die
Geschehnisse rund um diese Konstituante werden in Dvenadcatʼ mit folgendem Satz
ins Spiel gebracht: „Вся власть Учредительному Собранию!“ (T1/S3/V4, T1/S10/V7)
Es ist dies der Schriftzug eines Plakates im ersten Teil des Poems, welcher in Bloks
Werk sowohl rhythmisch als auch inhaltlich auffällt. Der Satz kommt in Abschnitt eins
zwei Mal vor, und zwar an Stellen, an denen der Vers im Gegensatz zu den anderen
metrisch auffällt und die Strophe unrund macht. Wie in Abbildung 1 zu sehen ist, stand
die oben erwähnte Aussage, ins Deutsche übersetzt „Alle Macht dem
22
Verfassungsrat!“, tatsächlich auf den Plakaten der Demonstranten, die sich am
Morgen des 5. Jänner 1918 vor dem Taurischen Palais versammelten.
Grund für den Protestmarsch, zu dem weniger Teilnehmer kamen als von den
Organisatoren erhofft, war das Zusammentreten der russischen Konstituante, einer
nach dem Oktoberumsturz nach wie vor sehr populären, demokratisch von der
gesamten Bevölkerung gewählten Versammlung, die laut Hildermeier (2013, 47)
eindeutig die größte innere Herausforderung der Bolschewiki war. Bei der Wahl der
Konstituante am 12. November 1917 erlitten die Bolschewiki außerhalb Petrograds
und Moskaus eine deutliche Niederlage, während sie in den beiden Städten gegenüber
der Partei der sozialistischen Revolutionäre und der Kadetten eindeutig vorne lagen.
Sie hatten jedoch nicht die eindeutige Mehrheit. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte
sich bei der Regierungsbildung eine Mehrheit gefunden, um den Oktoberumsturz zu
annullieren (ebd. 49). Da Sowjetmacht und demokratisches Verfassungsparlament
einander ausschlossen, die Bolschewiki jedoch trotzdem das Zusammentreten der
Konstituante zulassen mussten, versuchten sie die Versammlung an ihren
Abbildung 1: Versammlung eines Demonstrationszuges zur Unterstützung der Konstituierenden Versammlung (Quelle: http://www.famhist.ru/famhist/all_st/000ceb68.htm, Zugegriffen am 21.01.2017)
Ausdrucksweisen zu erklären ist. Natürlich wird an manchen Stellen, je nach
Sprachniveau der Lernenden, ein Wörterbuch oder die direkte Übersetzung nötig sein.
Die größere Herausforderung des Poems ist jedoch seine komplexe Symbolhaftigkeit.
Daher ist es von Vorteil, wenn die SchülerInnen bereits Erfahrungen im Interpretieren
von Gedichten (zum Beispiel im Deutschunterricht) gesammelt haben.
Das Gedicht könnte im Unterricht aufgrund seiner Länge ein Zeitproblem darstellen.
Als Unterrichtende/r sollte man sich gut überlegen, ob man das Werk etappenweise
einführt oder im Ganzen. Bei SchülerInnen mit einem bereits höheren Sprachniveau
ist es allenfalls sinnvoll, Dvenadcatʼ von Anfang an in seiner vollständigen Form zu
bearbeiten, da das Werk binnen kurzer Zeit gelesen und lexikalisch schnell verstanden
werden kann und somit die Möglichkeit besteht, sich bereits vor einer näheren
Betrachtung des Inhalts, der die historischen Gegebenheiten zu Zeiten der Revolution
konkretisiert, einen groben Überblick über den Text zu verschaffen und die formalen
und rhythmischen Unterschiede zwischen den Strophen zu erkennen und zu deuten.
Man könnte an diesem Punkt die SchülerInnen dazu herausfordern, einen Bogen vom
Autor zu seiner ihn umgebenden Realität zu spannen.
Egal, ob man das Werk den Lernenden nach und nach oder auf einmal in vollständiger
Version vorlegt – zur Einführung und Bearbeitung des Poems bedarf es eines
didaktisch ausgeklügelten Plans, der den Sinn der Behandlung des Werkes – das heißt
die Vermittlung der Geschichte Russlands – nicht verfehlt.
Bezogen auf den schulischen Kontext kann man abschließend sagen, dass die
Bearbeitung von Dvenadcatʼ im Sinne der Vermittlung von historischem Wissen vor
allem in höheren Klassen (beispielsweise einer Maturaklasse) sinnvoll wäre, da in
dieser Schulstufe das benötigte Sprachniveau meist vorhanden ist und die
SchülerInnen bestenfalls bereits Erfahrungen im Interpretieren von Gedichten
vorweisen können.
27
3.2. Feuer, Flamme und Euphorie
К русской революции
Ломая кольцо блокады,
Бросая обломки ввысь,
Все вперёд, за грань, за преграды
Алым всадником - мчись!
Сквозь жалобы, вопли и ропот
Трубным призывом встаёт
Твой торжествующий топот,
Над простёртым миром полёт.
Ты дробишь тяжёлым копытом
Обветшалые стены веков,
И жуток по треснувшим плитам
Стук беспощадных подков.
Отважный! Яростно прянув,
Ты взвил потревоженный прах.
Оседает гряда туманов,
Кругозор в заревых янтарях.
И все, и пророк и незоркий,
Глаза обратив на восток,-
В Берлине, в Париже, в Нью-Йорке,-
Видят твой огненный скок.
Там взыграв, там кляня свой жребий,
Встречает в смятеньи земля
На рассветном пылающем небе
Красный призрак Кремля.
(Valerij Brjusov, 1920)
28
3.2.1. Brjusov – Dichter der Revolution
Der russische Schriftsteller und Dichter Valerij Jakovlevič Brjusov (*13.12.1873 in
Moskau, † 9.10.1924 in Moskau) gilt als Mitbegründer des Symbolismus und schrieb
in seiner Schaffenszeit nicht nur Gedichte, sondern auch wissenschaftliche Arbeiten
zur russischen Lyrik, Erzählungen und historische Romane. Während er von 1904 bis
1908 mit seiner Dichtkunst im Zentrum der russischen Literatur stand und – im
Gegensatz zu Aleksandr Blok – als Vertreter der „älteren“ Generation5 der Symbolisten
dem Prinzip des l’art pour l’art und der damit zusammenhängenden Distanzierung von
jeglichen aktuellen Tagesgeschehnissen in der Kunst folgte, stand er Jahre später dem
Regime der Bolschewiki in seinem Leben und auch in seiner Kunst offen gegenüber
und wurde zum Dichter der Revolution stilisiert (Siwczyk-Lammers 2002, 1-3). Trotz
der bereits erwähnten Affinität zur im Symbolismus verankerten Ästhetik interessierte
sich Brjusov für die gesellschaftspolitische Wirklichkeit, für politische Ereignisse im In-
und Ausland, sowie für die Entwicklungen in Russland und in Europa (ebd. 41) und
brachte dies in seinen Gedichten auch immer wieder zum Ausdruck. Wenn man nun
die ästhetische Konzeption des Symbolismus und die dichterische Praxis Brjusovs
betrachtet, lässt sich eine gewisse Ambivalenz feststellen. Siwczyk-Lammers (2002,
1-3) bestätigt jedoch, dass „man allein auf Grund der Zugehörigkeit eines Dichters zu
einer der beiden Richtungen innerhalb dieser literarischen Stilformation [des
Symbolismus] keine Schlüsse bezüglich der Themenwahl, der Form oder politischen
Position in seiner zeitgeschichtlichen Lyrik ziehen kann.“
Des Weiteren war Brjusov auch als Übersetzer fremdsprachiger Lyrik tätig und
verfolgte aufmerksam die aktuelle europäische Literaturentwicklung. In seinen selbst
verfassten Werken findet man immer wieder Hinweise auf den Westen. Im Gedicht K
russkoj revoljucii stellt er beispielsweise den Westen, vertreten durch die Hauptstädte
Berlin, Paris und New York, als Bewunderer des Ostens dar (s. S 5/V 3-4), was seinem
früheren dichterischen Handeln – Brjusov schätzte vor allem die moderne
französische, belgische, deutsche und englische Lyrik und griff immer wieder auf die
antike klassische Dichtung zurück (ebd. 1) – eher widerspricht. Als der Dichter im Jahr
1920 K russkoj revoljucii schrieb, befand sich Russland jedoch bereits mitten im
5 Im Gegensatz zu den „jüngeren“ Symbolisten, die ihren Schwerpunkt auf das Sendungsbewusstsein des Künstlers legten, konzentrierten sich die „Älteren“ auf die Gestaltung der künstlerischen Mittel und Verfahren (Siwczyk-Lammers 2002, 1).
29
Bürgerkrieg und Brjusov aufseiten der Bolschewiki, was seine Darstellung des Ostens
als Ideal für den Westen rechtfertigt. Dies zeigt wiederum, dass Brjusov an die Macht
des kommunistischen Regimes und an die Revolution selbst glaubte und davon
überzeugt war, dass durch die Revolution eine bessere, lebenswertere Zukunft
möglich sei, in einem Land, das zum Vorbild für andere – westliche – Länder werden
würde. Auf Basis dieser Motivation stellte Brjusov in seinen späteren lyrischen Werken
die Revolution auf verschiedene Art und Weise dar. Im Gedichtzyklus Iz prežde v teper‘
(1920 – 1921) setzt er beispielsweise den Akzent auf den Zusammenhang von
politischer Realität mit individuellem menschlichen Schicksal, während Gedichte wie V
takie dni (1920) oder Na vysjach (1920) von seiner persönlichen Situation in der neuen
sowjetischen Wirklichkeit handeln (ebd. 230). Das Werk K russkoj revoljucii, welches
von ihm im Jahre 1920, noch vor den oben genannten Gedichten, geschrieben wurde,
besitzt den Charakter einer Lobeshymne auf die Revolution. Im Mai 1920, ungefähr in
dem Zeitraum, als der Dichter das vorliegende Werk verfasste, trat er, im Gegensatz
zu den anderen Lyrikern des Symbolismus, der Kommunistischen Partei bei (Rakov
1981, 9), wodurch sich die im Inhalt des Werks erkennbare Begeisterung für die
Revolution erklären lässt.
Trotz der Tatsache, dass Brjusovs dichterische Kraft zu jener Zeit bereits nachließ,
fanden seine Werke – wohl eher auf Grund ihrer „ideologischen Bedingtheit“, wie
Siwczyk-Lammers (2002, 2) betont – vor allem bei den Machthabern des
revolutionären Regimes großes Interesse. Dem Prinzip der Ästhetik blieb Brjusov
dennoch treu. Tagesaktuelle Vorkommnisse wurden von ihm zwar thematisiert, waren
jedoch an die damaligen persönlichen Erfahrungen, Gedanken und Empfindungen des
Dichters gebunden, welche eindeutig im Zentrum stehen und das Zeitgeschehen nur
hintergründig wirken lassen (ebd. 229). Auch im Gedicht K russkoj revoljucii kann man
bereits bei erstmaliger Lektüre einen Eindruck davon gewinnen, wie Brjusov in den
Zeiten des Umbruches empfunden hat, wenn auch der genaue Inhalt aufgrund
zahlreicher Bilder und Metaphern vorerst noch etwas unklar bleibt. Darüber hinaus
lässt sich, auch ohne die Biographie des Verfassers zu kennen, feststellen, dass er
der Revolution wohlwollend gegenüberstand. Wenn auch der sachlich gehaltene Titel
„K russkoj revoljucii“, den man mit „An die russische Revolution“ sinngemäß
übersetzen kann, aus einer verständlichen, klaren Anreihung logisch
zusammenhängender Wörter besteht und den Zweck des Gedichtes erahnen lässt,
30
evoziert der Text Euphorie und Motivation, die man allein aufgrund des Titels in diesem
Maße nicht vermutet. Die Eindrücke des Dichters stehen im Vordergrund und sind
wichtiger als das Thema selbst. Das Wie und die Frage nach dem Was bedingen sich
gegenseitig, wobei jedoch in K russkoj revoljucii die Art und Weise der Vermittlung als
wesentlich relevanter erachtet werden kann. Durch den mit vielen Metaphern und
starken Bildern geschmückten Inhalt, den schwungvollen Rhythmus, aber auch
aufgrund von Metrik und Onomatopoesie, wird ein bestimmter Zweck erfüllt, auf den
in Kapitel 3.2.4. näher eingegangen wird.
Brjusov beschäftigte sich Zeit seines Lebens intensiv mit den Werken Puškins, auf die
er in seinen eigenen Werken immer wieder hinweist. In K russkoj revoljucii spielt er in
S1/V4 eindeutig auf Puškins Mednyj Vsadnik an:
Алым всадником - мчись!
Dieser Beobachtung wird in Kapitel 3.2.3. ausführlicher nachgegangen.
3.2.2. K russkoj revoljucii – Eine Lobeshymne an die Revolution
Das vorliegende Gedicht besteht aus sechs Strophen zu je vier Versen im
Kreuzreimschema (abab, cdcd, ...) mit Kadenzwechsel.6 Die jeweils ersten und dritten
Verse haben eine weibliche, unbetonte Endung, die zweiten und vierten Verse, und
somit auch der abschließende Vers dieses lyrischen Werks, haben eine betonte,
männliche Endung, die fest und bestimmt wirkt. «К русской революции» ist
durchgehend in einem dreihebigen Dol’nik geschrieben, wobei vorwiegend das
Versmaß des Amphibrachys dominiert. Dadurch wird dem Gedicht ein rollender,
dynamisch nach vorne dringender Rhythmus gegeben. Das Sprechtempo wird immer
wieder durch einen Amphibrachys beschleunigt und durch einen Anapäst gebremst.
Beispielsweise kommt es in der vierten Strophe im ersten und zweiten Vers zu einem
rhythmischen und auch inhaltlichen Höhepunkt. Das Bild des springenden Reiters, der
die Asche hochwirbelt, passt zum energischen Rhythmus dieser Passage, bevor sich
in den darauffolgenden Versen drei und vier ein Nebelschleier legt und der Horizont in
bernsteinfarbenem Morgenrot erscheint. Hier drosselt der Anapäst das Tempo und
unterstreicht die idyllische, fast festliche Stimmung. Dieser Schnitt inmitten der vierten
6 Das metrische Schema ist im Anhang B zu finden.
31
Strophe wird durch den Punkt am Ende des zweiten Verses verstärkt und akzentuiert
das Wesen einer Revolution, die immer „eine Wende im Sinne der Verbindung von
Kontinuität und Bruch [markiert]“ (Hildermeier, 2013, 3). Somit bildet die vierte Strophe,
was die Interpunktion betrifft, eine Ausnahme. In allen anderen Strophen wird die
Satzeinheit erst am Ende des vierten Verses durch einen Punkt abgeschlossen. Durch
den Marsch-ähnlichen Rhythmus wirkt das Gedicht im Gesamten bereits bei
erstmaliger Lektüre sehr bestimmt und zielbewusst.
Die vorhandene Syntax und der wechselnde Rhythmus in der vierten Strophe vom
zweiten auf den dritten Vers unterstützen die inhaltliche Teilung des Gedichtes in zwei
Abschnitte. Im ersten Teil (S1/V1 bis S4/V2) werden überwiegend folgende
Themenfelder dargestellt:
Verfall: обломки (S1/V2), Ты дробишь (S3/V1), Обветшалые стены
веков (S3/V2), по треснувшим плитам (S3/V3), прах (S4/V2);
Militär / Armee: блокады (S1, V1), всадником (S1/V4), вперёд, за грань, за
3.2.3. Die historischen Umstände des revolutionären „Ehernen Reiters“
Brjusovs K russkoj revoljucii umfängt inhaltlich die geschichtliche Periode der
Übergangszeit vom Zarentum zur Herrschaft der Bolschewiki. Die unruhige Asche
(потревоженный прах, S4/V2) ist eine durchaus treffende Beschreibung der
historischen Gegebenheiten, welche zu einer Revolution drängten. Sie entspricht dem
Bild des scharlachroten Reiters, der mit seinem Pferd die Asche hochgewirbelt hat
(взвил, S4/V2). Eine über die Jahrzehnte wachsende Unzufriedenheit und die damit
einhergehende Ruhelosigkeit zeichnen sich nicht nur in der jüngst entstandenen
Arbeiterklasse ab, sondern auch bei den Bauern, den Bürgern und dem Adel.
Hildermeier (2013, 3-11) gibt einen guten Überblick über diese Situation: Die
wirtschaftliche und soziale Erneuerung aufgrund des verlorenen Krimkrieges (1854-
56) brachte den Aufbau einer eigenen Schwerindustrie mit sich, die eine blitzartige
34
Urbanisierung auslöste und zur Entstehung von Arbeitervororten und Massenelend
führte. Die neu entstandene Arbeiterschaft fand in der alteingesessenen,
agrargesellschaftlichen Ordnung vorerst keinen Platz. So wurden beispielsweise eine
Kranken- und Unfallversicherung erst im Jahre 1912 angelegt. Politische Rechte
wurden nur zeitweise, zum Beispiel am Gipfel der Revolution von 1905, eingeräumt
und kurze Zeit später wieder abgeschafft, was wiederum zu zahlreichen Streiks und
Demonstrationen führte.
Zu weitaus brutaleren Mitteln griffen rebellische Bauern, deren aus Not oder
enttäuschter Erwartungen resultierendes Handeln oft brennende Gutshöfe,
geplünderte Vorratsspeicher oder eigenmächtige Inbesitznahme von Land nach sich
zog. Dieses regelmäßige Aufbegehren der Bauern erreichte bereits zu Beginn des 20.
Jahrhunderts eine neue Dimension, da viele Bauern aufgrund der Wanderarbeit und
den daraus entstehenden Kontakten zu Vertretern der oppositionellen Intelligenz
einerseits, und wegen der Politisierung bäuerlicher Soldaten durch den verpflichtenden
Dienst in der Armee andererseits, einen zuvor kaum dagewesenen Weitblick gewinnen
konnten.
Die Unzufriedenheit war auch auf Seiten der Intelligenz, mit denen Hildermeier (2013,
8) die Hochschulabsolventen meint, zu erkennen. Akademiker, die meist im Dienst der
zemstva7 waren und sich für eine kulturelle Modernisierung einsetzten, standen
jeglichen Reformen aufgeschlossen gegenüber und waren immer weniger gewillt, sich
von einem autokratischen Staat einengen zu lassen. Der ebenso in den zemstva
engagierte Adel forderte politisches Mitspracherecht, das ihm nach dem Generalstreik
in St. Petersburg zwar in Form einer Duma8 zugesprochen wurde, jedoch nur mit
einem minimalen Recht, so dass das Parlament im Prinzip trotzdem machtlos blieb.
Hildermeier (2013, 4) betont, dass diese oben genannten langfristigen Entwicklungen
nicht deterministisch zu verstehen sind und keine Garantie für eine soziale Revolution,
wie sie in Russland Realität geworden ist, geben, denn auch die Möglichkeit einer
liberal-konstitutionalistischen und marktwirtschaftlich-westlichen Umformung des
Zarenreiches war theoretisch gesehen vorhanden. Jedoch verstärkte die „unruhige
7 Zemstvo bezeichnet lokale Selbstverwaltungseinheiten auf Kreis- und Gouvernementsebene, die 1864 im Zuge liberaler Reformen im damaligen Kaiserreich Russland eingeführt wurden. (https://de.wikipedia.org/wiki/Semstwo, abgerufen am 16.12.2016) 8 Bezeichnung für eine beratende Versammlung oder Körperschaft (https://de.wikipedia.org/wiki/Duma, zugegriffen am 16.12.2016)
Asche“ des ersten Weltkrieges die Wirkungskraft dieser Entwicklungen und gebar
einen regelrechten Wirbelsturm, der Mitsprache und Machtteilhabe sowie Brot und
Sicherung von Lebensbedürfnissen forderte.
Wenn wir nun auf K russkoj revoljucii zurückkommen, gilt es zu beachten, dass die
Darstellungen des Dichters einen Hang zur Subjektivität aufweisen. Brjusov
bezeichnet die monarchische Vergangenheit Russlands nicht nur als bloßes
historisches Faktum, sondern bringt sie in Verbindung mit ihren Folgen und
Auswirkungen auf die Bewohner Russlands und ihre Wohnstätten. Das im Gedicht
vorhandene Indefinitpronomen все (S1/V3, S5/V1) und vor allem die Aussage in S5/V1
(И все, и пророк и незоркий) unterstreichen, dass alle Schichten von der damaligen
Unzufriedenheit betroffen waren. Brjusov schreibt in S2/V1 über das Murren, das
Jammern und Klagen der Menschen auf der einen Seite und von Trümmern und
zersprungenen Platten auf der anderen Seite. Er geht sogar noch weiter, indem er eine
wertende Haltung einnimmt. Wenn er in S3/V2 von den verfallenen Wänden des
Jahrhunderts spricht („Обветшалые стены веков“), gibt er mit dem Adjektiv
oбветшалые bereits zu erkennen, welche Einstellung er in Bezug auf das letzte
Jahrhundert hat. Die Wände, welche die Gesamtheit dessen, was zur Zeit der
Zarenherrschaft im positiven sowie im negativen Sinn geschehen ist, repräsentieren,
sind baufällig, das heißt sie sind erneuerungsbedürftig oder müssen, etwa durch eine
Revolution, abgerissen werden. Das ist der direkte Ausdruck einer klaren Meinung im
Hinblick auf die Monarchie und eine Äußerung zugunsten der Revolution. Auf die durch
die Februarrevolution herbeigeführte Situation Russlands nach dem Ende des
Zarentums nimmt Brjusov im ersten Teil des Gedichtes vor allem in der gesamten
dritten und der ersten Hälfte der vierten Strophe Bezug. Die in diesem Abschnitt
verwendeten Adjektive sind durchwegs negativ konnotiert: тяжёлый, обветшалый,
треснувший, беспощадный, яростный, потревоженный; Damit rückt er die Zeit
der Zarenherrschaft auch indirekt in ein schlechtes Licht. Er stellt die monarchistische
Vergangenheit als etwas Zerbrochenes dar, etwas, wovon man sich distanzieren
sollte. Brjusov ermutigt im Gedicht dazu, sich trotz des Klagens und Murrens zu
erheben (S2/V1-2). Mit den Worten „Ты взвил потревоженный прах.“ (S4/V2)
platziert Brjusov genau am Ende des ersten Teils, unmittelbar bevor dem Gedicht eine
positive Grundstimmung beigemessen wird, ein mythisches Bild, welches eine
Assoziation mit dem Phönix zulässt, der aus der Asche steigt, als Zeichen für etwas,
36
das bereits verloren geglaubt war und in neuem Glanz wiedererscheint. Die Asche und
die Trümmer der Monarchie werden hier sozusagen zu den Grundpfeilern der
Revolution und des kommunistischen Systems aufgewertet.
Ein weiterer Aspekt in K russkoj revoljucii ist die Beziehung zwischen dem Osten und
dem Westen. Hildermeier (2013, 120) schreibt, dass der „Aufbau des Sozialismus“ die
Funktion hatte, die Rückständigkeit schnellstmöglich abzubauen. Innerhalb von 10
Jahren sollte in Russland das geleistet werden, wofür Westeuropa ein halbes
Jahrhundert gebraucht hatte. Brjusov stellt den Osten in seinem Werk bereits als so
fortschrittlich dar, dass der Westen nichts anderes tun könne, als den Osten zu
bewundern.
Der erste Vers der sechsten Strophe konkretisiert die im zweiten Vers (S6/V2)
erwähnte Verwirrung, womit nicht nur die vor der Februarrevolution vorherrschende
„doppelte Polarisierung“9 gemeint sein könnte, sondern auch die bis zur
Oktoberrevolution existierende provisorische Regierung, die Doppelherrschaft des
Februarregimes:
Там взыграв, там кляня свой жребий
Встречает в смятеньи земля
(S6/V1-2)
Die aufgrund von Meinungsverschiedenheiten bezüglich russischer Kriegsziele
entstandenen Konflikte und Komplikationen führten zu einer Regierungskrise im
Sommer 1917, die bis zum 26. Oktober desselben Jahres andauerte. An jenem Tag
wurde die Doppelherrschaft durch die Machtübernahme der Bolschewiki aufgelöst
(Hildermeier 2013, 36). In K russkoj revoljucii wird diese Machtübernahme in S6/V3-4,
am Ende des Gedichtes, angedeutet.
На рассветном пылающем небе
Красный призрак Кремля.
(S6/V3-4)
9 Unter dem Begriff „doppelte Polarisierung“ wurde die Konstellation zweier Herausforderer verstanden, die verschiedene Ziele – politische oder soziale – im Hinblick auf die Revolution verfolgten. Professoren, Fabrikanten und Adelige forderten einen Regimewechsel, die hungernden städtischen Unterschichten jedoch eine soziale Revolution. (Hildermeier 2013, 11)
37
Die „rote Gestalt des Kremls“ in der sechsten Strophe, die auf das Land (земля),
welches sich in einer politischen Verwirrung befindet, trifft, steht für die Stadt Moskau,
die am 12. März 1918 zur Hauptstadt des Landes erklärt wurde. Sie wird als rettender
Repräsentant des Ostens dargestellt, der das Land aus der Verwirrung in ein neues
Morgen führt.
Durch das historische Gewebe dieses Werks (postmonarchistische Situation,
Doppelherrschaft, Umbenennung der Hauptstadt) zieht sich ein roter Faden, der vor
allem literaturgeschichtlich gesehen nicht unbedeutend ist. Der schon mehrmals
erwähnte Eherne Reiter Puškins, das bronzene Reiterstandbild Peters des Großen,
welches sich auf dem Senatsplatz in St. Petersburg befindet und in Puškins Werk
lebendig wird und einen Beamten bis zum Wahnsinn verfolgt, wird von Brjusov bereits
mit der Aufforderung „Алым всадником - мчись!“ (S1/V4) in der ersten Strophe als
scharlachroter Reiter aufgegriffen und fast ein Jahrhundert nach Mednyj vsadnik
wieder lebendig gemacht. Die Handlung der beiden Reiter ist jedoch völlig konträr.
Man könnte fast sagen, dass sich der Spieß nach einem Jahrhundert umgedreht hat.
Während nämlich Puškins Mednyj vsadnik einen Mann verfolgt, bekommt Brjusovs
Reiter den Auftrag, loszueilen bis hinter die Barrikaden und Schranken, von der
Gefangenschaft in die Freiheit, weg von der alten Welt in eine neue, und letztlich auch
weg von seiner eigenen Vergangenheit in eine bessere Zukunft. Er wird sinngemäß
dazu aufgefordert, über seine eigenen Grenzen hinauszuwachsen. Auch Russland
wächst zu jener Zeit über seine eigenen Grenzen hinaus, lässt die alte
monarchistische Welt und die Hauptstadt St. Petersburg zurück und drängt in eine
neue Zukunft mit Moskau respektive dem Kreml als Zentrum. Wie bereits in Kapitel
3.2.2. angeführt, lässt auch Belyj in seinem Werk Peterburg die Reiterstatue Peters
des Großen lebendig werden. In Form von flüssigem, glühenden Metall inkorporiert sie
sich sozusagen in einer Figur. Die farbliche Beschreibung des Ehernen Reiters
(scharlachrot) in K russkoj revoljucii erinnert an das glühende Metall aus Belyjs Text,
den Brjusov ohne Zweifel kannte. Beide Dichter gehörten schließlich auch der Gruppe
der Symbolisten an, wenn auch unterschiedlichen Generationen.
Nicht zuletzt spiegelt sich das Pferd des scharlachroten Reiters auch im Rhythmus des
Gedichtes wider. In galoppierendem Tempo spannt es, scheinbar räumlich und zeitlich
38
vorwärtsdrängend, einen inhaltlichen Bogen vom Beginn der Revolution bis zur
Vollendung derselben unter dem bewundernden Auge des Westens.
3.2.4. Prorevolutionäre Überzeugungskraft
Der Autor positioniert sich im Gedicht, wie bereits festgestellt, eindeutig als
prorevolutionär. Dass er mit K russkoj revoljucii auch versucht, andere von seiner
Einstellung zu überzeugen, wird an einigen Punkten konkret sichtbar.
Bereits in der Wortfolge „K russkoj revoljucii“ kommt beispielsweise das Stilmittel der
Alliteration zur Verwendung, was dem Titel einen einprägsamen Charakter verleiht.
Alliterationen werden heute oft in Werbesprüchen verwendet, deren Funktion es ist zu
überzeugen. Dass auch Brjusov mit diesem Gedicht den Leser von etwas Bestimmtem
überzeugen will, kann man bereits auf Grund der Überschrift vermuten. Des Weiteren
ist festzustellen, dass der Titel den Charakter einer klassischen Widmung hat.
Während jedoch Gedichte, besonders in der Romantik, einer konkreten Person, z. B.
einer Frau, gewidmet waren, richtet Brjusov sein Werk an ein Abstraktum. Der Begriff
der Revolution wird somit in diesem Fall durch Brjusovs Beibehaltung der Form einer
klassischen persönlichen Widmung aufgewertet.
Der Text und die Bilder sollen ebenso beeinflussen und von revolutionären Gedanken
überzeugen. Brjusov selbst deutet an, dass harmonische Bildkompositionen eine
hypnotische Wirkung haben können (Sywczyk-Lammers 2002, 19). Zusätzlich
verwendet er folgende Strategie: Er fordert zuerst die in Kapitel 3.2.2. bereits erwähnte
Masse (Все вперёд, за грань, за преграды) auf, etwas zu tun und bezieht sich nach
und nach immer mehr auf ein persönliches „Du“. Vorerst wird ein Gegenüber – der
scharlachrote Reiter – angesprochen, wobei die Möglichkeit besteht, dass der Leser
bereits beginnt, sich mit dem Reiter zu identifizieren. Von der zweiten Strophe an wird
mit dem Leser direkt kommuniziert: Твой торжествующий топот (S2/V3), Ты
дробишь тяжёлым копытом (S3/V1), Ты взвил потревоженный прах (S4/V2),
Видят твой огненный скок (S5/V4); Dadurch könnte sich der Leser angesprochen
fühlen und sich als Protagonist des Werkes sehen. Die Hauptfigur ist ein Held, der
scheinbar etwas mit dem Kommunismus (vermittelt durch die Farbe Rot) zu tun hat
(scharlachroter Reiter), der dazu aufgefordert wird, viel für seine Heimat zu leisten,
danach zu streben, über die Grenze hinweg etwas zu verändern, und der aufgrund
39
dessen vom Westen gesehen und bewundert wird. Es könnte dazu kommen, dass sich
der Leser, bevor das Gedicht in der sechsten Strophe zu einer dritten Person
zurückkehrt, mit einem prorevolutionären Reiter der kommunistischen Armee
gleichsetzt, der bewundert wird.
Der ganze Text ist zu verstehen als ein Appell an den Leser der damaligen Zeit. Dieser
sollte mutig sein und trotz der Trümmer, die die Vergangenheit mit sich gebracht hat,
aufstehen und zur Revolution und zur Neugestaltung des Ostens, um den
bewundernden Blick des Westens auf sich zu ziehen, beitragen.
Die in Kapitel 3.2.2. beschriebenen Bilder des Weges von einer gegebenen
Begrenztheit in die Freiheit können beim Leser eine Motivation auslösen, die Barrieren
der Begrenztheit zu durchbrechen. Im Gedicht wird die Masse (все S1/V3) geradezu
dazu aufgefordert sich über die Grenzen hinweg nach vorne zu bewegen.
Nicht nur im Inhalt, sondern auch an der Machart des Gedichtes lässt sich eine
gewisse Überzeugungskraft feststellen. In der Metrik lassen die fest und bestimmt
wirkenden männlichen Endungen, besonders am Ende einer jeden Strophe, wie auch
am Ende des Gedichtes, den Leser eine gewisse Sicherheit und Zielstrebigkeit spüren.
Die vielen verschiedenen, in schöne Metaphern verpackten Rottöne suggerieren die
kommunistische Farbe.
3.2.5. K russkoj revoljucii im Sprachunterricht
Obwohl das Gedicht aus der Feder eines Befürworters der Russischen Revolution,
welche aus „nicht nur [...] postsowjetischer Sicht in die Katastrophe führte“ (Hildermeier
2013, 3), stammt, kann es trotzdem sehr sinnvoll sein, das Gedicht, vor allem im
Hinblick auf das Geschichtsbewusstsein der SchülerInnen, in den Sprachunterricht
einzubringen. Das Werk K russkoj revoljucii bietet sich besonders gut als Einstieg in
das Thema der Russischen Revolution an, weil es die Eckpfeiler dieses historischen
Phänomens – die Missstände zur Zeit des Zarentums, den Niedergang der Monarchie,
die Machtübernahme der Kommunistischen Partei – markiert und einen groben
Überblick über die komplexe Thematik der Revolution verschafft. Selbstverständlich
ist eine sinnvolle Bearbeitung des Gedichtes im Unterricht nur durch eine didaktisch
wirkungsvolle Einführung möglich. Das bloße Vorlegen des Textes würde die
SchülerInnen wahrscheinlich im ersten Augenblick überfordern, während ein
40
zusätzliches Vorlesen durch die Lehrperson zumindest die prorevolutionäre Haltung
des Dichters, die sich auch im Rhythmus widerspiegelt, erahnen lässt. Um die
geschichtlichen Inhalte herauszustreichen, bedarf es zusätzlich einer oder mehrerer
geeigneter methodischer Mittel10, die die Lernenden dabei unterstützen sollen,
gewisse Textausschnitte mit historischen Fakten in Verbindung zu bringen.
Je nach Sprachniveau der Lernenden könnte das Vokabular in K russkoj revoljucii eine
gewisse Barriere darstellen, weshalb man sich als Unterrichtender die Frage stellen
sollte, ob man entweder das Wörterbuch oder die deutsche Übersetzung als
Hilfestellung bieten möchte, wobei zu betonen ist, dass es methodisch gesehen
unzählig viele Möglichkeiten gibt auch sinnvoll mit Übersetzungen zu arbeiten, sodass
die SchülerInnen auch hierbei einen Lerneffekt haben. Der Text eignet sich vor allem
wegen seiner Kürze zum Auswendiglernen. Grammatikalische Strukturen, einzelne
Phrasen oder festgelegte Redewendungen können so eingeprägt und gefestigt
werden. Der relativ regelmäßige Rhythmus unterstützt das korrekte Erlernen der
Intonation. Die Farbe Rot spielt eine prominente Rolle und kommt in verschiedenen
Tönen zur Geltung. Man könnte diese Gegebenheit sprachlich gesehen dazu nutzen,
den Grundwortschatz zum Thema Farben zu erweitern und in Kombination mit
Bildbeschreibungen zu üben.
Abgesehen von den sprachlichen und historischen Aspekten, die K russkoj revoljucii
bietet, können SchülerInnen auch im Hinblick auf ihre Kritikfähigkeit von dem Text
profitieren. Auch ohne über historische Vorkenntnisse in Bezug auf die Revolution zu
verfügen, gibt das Gedicht zumindest Aufschluss über die Einstellung des Dichters zur
damaligen politischen Situation. Es wird eindeutig, dass in seinen Augen die
zaristische Vergangenheit als negativ angesehen wird und die Zukunft nur Positives
bringen kann. Brjusov setzt seine Hoffnung auf das Kommunistische Regime, welches
seiner festen Überzeugung nach im Stande ist, ein neues Morgen, eine neue Ära, ein
neues Land, das vom Westen bewundert wird, zu schaffen. Über diese Position könnte
man in der Schule diskutieren und aus postrevolutionärer Sicht reflektieren, und
10 Geeignete Methoden lassen sich in fast allen didaktischen Werken zum Thema Sprachunterricht finden. Eine Fülle an Techniken und Methoden schlägt der sehr gut ausgearbeitete Methodenpool der Universität Köln vor: http://methodenpool.uni-koeln.de/uebersicht.html; Um historische Fakten mit lyrischen Inhalten in Verbindung zu bringen, eignen sich am besten die „handlungsorientierten Methoden“, im Endeffekt ist jedoch zusätzlich immer die Kreativität der Lehrperson gefordert.
„Подруга рейнская“, „Россия“, „Лета“, „Лорелея“; Durch die Anreicherung des
Gedichts mit Bezeichnungen dieser Art geschieht eine Koppelung zwischen lyrischem
Werk und Weltkultur (Werberger 2005, 72). Auf diese Tatsache wird in Kapitel 3.3.3.
noch näher eingegangen.
Eine weitere wichtige Komponente in Mandel’štams Werk Dekabrist ist die auffällige
Einbindung der Sinne. Sie sind Mandel’štam zufolge äußerst wichtig und finden
deshalb vielfach Eingang in seine Gedichte (Werberger 2005, 57). Der Geruch des
Pfeifenrauchs (S1/V3, S2/V3), die Lippen (S2/V3) – ein sehr feinfühliges Organ,
welches hier jedoch auch als Ort der Lautentstehung und des Sprechens zum
Ausgangspunkt der Poesie selbst wird – das Rauschen der Eichen (S3/V1), das
Weinen Europas (S3/V2), der auf den Geschmackssinn anspielende Punsch (S4/V1),
der Klang der Samoware (S4/V2) sowie der Gitarre (S4/V4), oder die lebendigen
Stimmen (S5/V1) – all diese sinndurchfluteten Bilder sind für den Leser erfassbar. Der
Innen- und Außenbereich des Menschen bzw. jene Dimension, welche mit den Sinnen
nachvollziehbar ist, ersetzt die Fixierung auf das Jenseits. Das Übersinnliche verliert
an Aufmerksamkeit (Werberger 2005, 69).
Im letzten Vers des vorliegenden Werks, der aufgrund seiner interessanten
Positionierung und Aussagekraft hier bereits einige Male angesprochen wurde –
„Россия, Лета, Лорелея“ – fließen Gegenwart und Vergangenheit, Realität und
Mythos, Ort und Zeit zusammen: „Россия“, als Ausdruck der dichterischen Gegenwart,
„Лета“, der Fluss des Vergessens aus der griechischen Mythologie, und schließlich
„Лорелея“, die am Rhein singende Jungfrau, die als Hinweis auf die deutsche Literatur
im Endeffekt für Deutschland selbst steht. Die Lethe bildet durch ihre Beschaffenheit
– ein Fluss ist die Trennlinie zweier Ufer und in manchen Fällen sogar Staatsgrenze –
und ihre mythologische Bedeutung als Fluss des Vergessens – das Vergessene trennt
Gegenwart und Vergangenheit im Gegensatz zur Erinnerung, die sie verbindet – in
50
geographischer und zeitlicher Hinsicht einen Einschnitt. Sie grenzt Russland von
Deutschland und die Gegenwart des Dichters von seiner Vergangenheit ab.
Der Dichter bringt aufgrund der mythologischen Bedeutung der Lethe als Fluss des
Vergessens seine Hoffnung zum Ausdruck, die entstandene Barriere zwischen
Deutschland und Russland abzubauen (zu vergessen), um wieder vereint auf einer
Seite stehen zu können, wie damals während der Napoleonischen Kriege in
Mitteleuropa und, wenn man will, im Sinne einer neuen „Heiligen Allianz“12.
Eine weitere interessante Tatsache ist, dass in Dantes Divina commedia –
Mandel’štam studierte dieses Meisterwerk der europäischen Literaturgeschichte sehr
eindringlich und verfasste seinen wichtigsten Essay zum Thema „Dante“ (Dutli 1995,
174) – der Lethe-Fluss ebenfalls eine bedeutende Rolle spielt. Der Held muss sich,
bevor er ins Paradies eintreten darf, in der Lethe waschen. So müssten sich auch
Deutschland und Russland im Strom des Vergessens „waschen“, um zur
„paradiesischen Wiedervereinigung“ zu gelangen.
Die stark hervortretende Polysemie, die sich nicht nur in S6/V4, sondern im gesamten
Gedicht wiederfinden lässt, zeigt, dass Bedeutungspluralität bei den Akmeisten immer
auf einer Abweichung von etwas – einer Identität – beruht: „Die innere Heterogenität
der Wörter heben die Identität derselben nie völlig auf“ (Werberger 2005, 111). Dies
ist im Hinblick auf die Fülle an historischen Fakten in Dekabrist und deren Verbindung
mit der dichterischen Gegenwart, der Revolution von 1917, zu beachten.
3.3.3. Geschichtsdurchdringende Revolution
„Поэзия – плуг, взрывающий время так, что глубинные слои времени, его
чернозем, оказываются сверху.“13 Diese Ansicht Mandel’štams lässt sich auch im
vorliegenden Gedicht Dekabrist erkennen. Der Autor umfasst in diesem Werk einen
beträchtlichen Zeitraum, angefangen von den Napoleonischen Kriegen (1792–1815)
in S4/V3-4, über den Aufstand der Dekabristen (1925) in S1/1-2 sowie S2/V1-2 und
12 Die „Heilige Allianz“ (russ.: Священный союз) bezeichnet das Bündnis der drei Monarchen von Russland, Österreich und Preußen nach dem endgültigen Sieg über Napoléon Bonaparte, das am 26. September 1815 abgeschlossen wurde. (https://de.wikipedia.org/wiki/Heilige_Allianz, zugegriffen am 04.02.2017) 13 Deutsche Übersetzung: „Dichtung ist ein Pflug, der die Zeit so aufreißt, dass die Tiefenschichten der Zeit, ihre Schwarzerde zutage tritt“ (Werberger 2005, 120).
Deutschlands) im Gedicht. Er scheint Deutschland in literaturwissenschaftlicher und
politischer Hinsicht als Vorbild zu sehen und hofft aufgrund des in Russland
entstandenen „Wirrwarrs“, den er in S6/V1 mit den Worten „Всë перепуталось“ zum
Ausdruck bringt und in S6/V3 durch das Wiederholen der Phrase unterstreicht, auf
eine Revolution im Sinne der Wiedervereinigung Russlands mit Deutschland.
3.3.4. Freiheit und Bürgerrechte in der Flaschenpost
Mandel’štam thematisiert in seinem Gedicht Dekabrist verschiedene revolutionäre
Situationen aus der Vergangenheit, um die RezipientInnen auf das „aktuelle“
53
Geschehen seiner dichterischen Gegenwart aufmerksam zu machen, vielleicht mit der
Absicht den LeserInnen die Ideen der französischen Revolution in Erinnerung zu rufen.
Er stellt die Geschehnisse rund um die Revolution von 1917 nicht gerade in ein gutes
Licht, spricht von Blindheit und Wirrwarr und plädiert gleichzeitig für Freiheit und
Bürgerrechte. Als der Dichter Im Juni 1917 sein Werk Dekabrist verfasste, war der
politische Weg Russlands noch nicht endgültig entschieden. Mandel’štam könnte also
gehofft haben, die Menschen mit seinem Gedicht und den darin enthaltenen Gedanken
im Hinblick auf eine demokratische Erneuerung zur Besinnung zu bringen oder zu
überzeugen.
Obwohl Mandel’štam das Werk bereits im Juni des Revolutionsjahres 1917
fertigstellte, wurde es erst am 24. Dezember 1917, nach dem Oktoberputsch, in der
Petrograder Zeitung „Novaja Žizn‘“ veröffentlicht (Dutli 2016, 148). Diese Tatsache
beruht nicht auf einem Zufall, sie ist vielmehr eine bewusste Anknüpfung an Puškins
Werk Вольность, im Deutschen bekannt als Ode an die Freiheit, das genau hundert
Jahre zuvor, im Dezember 1817, als Protest gegen die Krone und mit der Forderung
von Freiheit erschien. Die bereits in Kapitel 3.3.2. thematisierte historische
Dialoghaftigkeit des Gedichtes ist an dieser Stelle aufzugreifen. Mandel’štam
verbündet sich nämlich in Dekabrist nicht nur mit den europäisch-aufklärerisch
gesinnten Dekabristen oder den französischen Revolutionären und deren Prinzipien,
er tritt ebenso in eine Art indirekten Dialog mit Puškin. „Wann immer sich Mandelstam
in seinen Gedichten [...] mit Freiheit, Revolution und Gesetz auseinandersetzt, sucht
er das Gespräch mit Puschkin [...] (und) mit dessen Freiheitsode [...]“, so Dutli (1995,
42).
Mandel’štam verglich seine Texte immer wieder mit einer an einen Unbekannten
adressierten Flaschenpost. In seinem Essay О собеседнике (1913) schrieb er wie
folgt:
„Итак, если отдельные стихотворения (в форме посланий или
посвящений) и могут обращаться к конкретным лицам, поэзия,
как целое, всегда направляется к более или менее далекому,
неизвестному адресату, в существовании которого поэт не
54
может сомневаться, не усумнившись в себе. Только
реальность может вызвать к жизни другую реальность.“14
Dies bedeutet, dass der Autor ebenso ungewiss ist wie der Leser. Unbezweifelbar ist
allein der Text, der sich sowohl auf den Autor als auch auf den Leser identitätsstiftend
auswirkt (Schmid 2003, 169).
So wie der Inhalt der 100 Jahre alten „Flaschenpost“ Puškins (Вольность) eine
gewisse Wirkung auf die Identität Mandel’štams hat – er ist sozusagen ein konkreter,
Puškin jedoch unbekannter „Finder“ der „Flaschenpost“ – ist auch das Werk Dekabrist
als Inhalt einer „Flaschenpost“ zu betrachten, die ohne bestimmten Adressaten
aufgegeben wird und für den Autor und den Leser identitätsstiftend sein kann.
Unterstützt wird dieses Ziel durch die Ausgrenzung des „lyrischen Ichs“ sowie der
Anrede „Du“. Dadurch wird die Aussage des Textes noch mehr in den Vordergrund
gestellt, die Geschichtsträchtigkeit des Werks wird intensiviert und die Subjektivität
verringert. Laut Mandel’štam (1913) verliert der Vers durch die Hinwendung an einen
konkreten Gesprächspartner seine Fittiche, er wird der Luft, des Fluges beraubt:
„Воздух стиха есть неожиданное.“15
Mandel’štam beabsichtigte mit seinem Werk Dekabrist in gewisser Weise sicherlich
die Beeinflussung des Lesers/der Leserin im Sinne einer demokratischen Revolution
– der Dichter positioniert sich in diesem Werk eindeutig als Verfechter von Freiheit und
Bürgerrechten – er war jedoch gleichzeitig davon überzeugt, dass dies nur auf Basis
einer Korrespondenz zwischen Autor und Leser möglich sein würde.
3.3.5. Dekabrist im Sprachunterricht
Das vorliegende Gedicht stellt im Unterricht bei fortgeschrittenem Sprachniveau kaum
eine sprachliche Barriere dar und wäre auch auf einem niederen Niveau bearbeitbar.
Man müsste an manchen Stellen mit einem Wörterbuch arbeiten, was aufgrund der
14 Vgl. Nerler (1991, 28f): „Wenn sich einzelne Gedichte (in der Art von Sendschreiben oder Widmungen) auch an konkrete Personen wenden können, ist die Poesie als Ganzes doch stets an einen mehr oder weniger fernen, unbekannten Empfänger gerichtet, dessen Bestehen der Dichter nicht anzweifeln kann, ohne an sich selbst zu zweifeln. Nur eine Wirklichkeit kann eine andere Wirklichkeit zum Leben erwecken.“ 15 Vgl. Nerler (1991, 25): „Die Luft des Verses ist das Unerwartete.“
55
Kürze des Werks jedoch kein zeitliches Hindernis ist. Die Nennung konkreter
Alltagsgegenstände begünstigt die Anwendung des Vokabulars im Alltag.
Was die Verwendung des Werks zur Vermittlung von Geschichtswissen betrifft, ist
Dekabrist vor allem dann sinnvoll, wenn die SchülerInnen bereits ein Grundwissen
über die Revolution von 1917 erworben haben. Anstatt konkreter Hinweise auf die
Russische Revolution, präsentiert das Gedicht vielmehr die Vorstellungen
Mandel’štams darüber, in welche Richtung die Revolution Russland politisch gesehen
führen sollte. Der Autor arbeitet mit revolutionären Ereignissen aus der Vergangenheit.
Dekabrist würde sich deshalb im Unterricht gut zur Erarbeitung des Themas
„Revolution“ im Allgemeinen eignen. Inhaltlicher Ansatzpunkt – im Hinblick auf das
Jahr 1917 – ist eine demokratische Position inmitten der autokratischen Prinzipien des
vor der Revolution herrschenden Zarentums und des am Ende siegenden
Kommunistischen Regimes. Die Herausforderung für die Lehrperson besteht
wiederum in der klugen didaktischen Aufbereitung des Werks.
Damit sich das Gedicht für SchülerInnen geschichtlich besser einordnen lässt, könnte
man direkt mit einer Aufgabe der semantischen Zuordnung beginnen, indem man die
„Russische Revolution 1917“ inklusive Kurzbeschreibung der jeweiligen Begriffe
taktisch in den Raum stellt – ein „Stationenbetrieb“ zum übergeordneten Thema
„Revolution“ würde sich dafür sehr gut eignen – und die Lernenden dazu auffordert,
die einzelnen Themenbereiche dem Gedicht Dekabrist inhaltlich sinnvoll zuzuordnen.
Die Lernenden sind hierbei aufgefordert zu interpretieren und argumentieren.
Es besteht zusätzlich die Möglichkeit gewisse Stellen im Gedicht visuell
hervorzuheben, um auf eine vorhandene historische Relevanz hinsichtlich Revolution
hinzuweisen und außerdem (in Verbindung mit einem Stationenbetrieb) die
Begriffszuordnung zu erleichtern.
Die Stärke des Werks liegt vor allem in der Vernetzung von Revolutionsgeschichte mit
„Freiheit und Bürgerrechten“. Man könnte schließlich die von Mandel’štam verschickte
„Flaschenpost“ im Hier und Jetzt (im Unterricht) ankommen lassen und im Lichte der
gegenwärtigen Weltpolitik betrachten. Dies könnte ein interessanter
Diskussionsansatz sein.
56
3.4. Nostalgische Lyrik zu Zeiten der Revolution
Петроград, 1919
И мы забыли навсегда,
Заключены в столице дикой,
Озëра, степи, города
И зори родины великой.
В кругу кровавом день и ночь
Долит жестокая истома...
Никто нам не хотел помочь
За то, что мы остались дома,
За то, что, город свой любя,
А не крылатую свободу,
Мы сохранили для себя
Его дворцы, огонь и воду.
Иная близится пора,
Уж ветер смерти сердце студит,
Но нам священный град Петра
Невольным памятником будет.
57
3.4.1. Anna Achmatova – Individualistische Poesie
Das bewegende Leben der Anna Achmatova16 (*23.06.1889 in Odessa/heutige
Ukraine, † 5.03.1966 in Moskau) schlägt sich auch in ihrer Lyrik nieder. Als eine der
bedeutendsten Dichterinnen der russischen Literaturgeschichte und Vertreterin der
literarischen Strömung des Akmeismus schrieb sie unzählige Gedichte, das erste
bereits mit 11 Jahren (Polivanov 1994, 11). Ihre Jugend verbrachte sie großteils in
Zarskoe Selo (heutige Stadt „Puschkin“) bis sich ihre Eltern im Jahre 1905 scheiden
ließen und sie mit der Mutter für ein Jahr nach Evpatorija zog. Sie vermisste die Idylle
und Landschaft von Zarskoe Selo und schrieb einige negativ gestimmte Gedichte. Ihr
Gymnasialabschluss folgte 1907 in Kiew, danach begann sie dort Jura zu studieren,
wobei sie sich vor allem für Rechtsgeschichte und Latein interessierte (ebd. 3).
Nach ihrer Heirat mit dem akmeistischen Dichter Nikolaj Gumilev im Jahr 1910 –
Achmatova war insgesamt drei Mal verheiratet (kurze, unglückliche Ehe mit Vladimir
Šilejko, 1925 bis 1938 mit dem Historiker Nikolaj Punin) – hielt sie sich in Begleitung
ihres Ehemannes für einen Monat in Paris auf. Danach wohnten sie in St. Petersburg,
wobei Achmatova immer wieder nach Europa (Frankreich, Norditalien) reiste. Man
kann sagen, dass sie eine westliche, europäische Dichterin war. Der Gedichtband, in
dem auch das vorliegende Werk veröffentlicht wurde, trägt den Titel „Anno Domini
MCMXXI“ (1922). Damit bringt sie auch ihre Nähe zur europäischen Kultur und der
lateinischen Sprache zum Ausdruck. Neben Latein beherrschte sie einige andere
Sprachen. Sie übersetzte beispielsweise Texte aus dem Chinesischen, Koreanischen,
Serbischen, Französischen, Italienischen, Rumänischen, Bengalesischen und
Hebräischen in die russische Sprache. Diese Begabung rettete sie in schwierigen
Zeiten vor dem Hungertod (Maurina 1968, 138).
Im Jahre 1917, als Achmatova zwischen Heimat und Freiheit wählen musste,
entschied sie sich für die Heimat und verurteilte jene, die Russland aus Angst verließen
(Maurina 1968, 135). Diese Haltung lässt sich in vielen ihrer Gedichte, so auch in
Petrograd, 1919 erkennen und wird in Kapitel 3.4.3. näher betrachtet.
Die Stadt St. Petersburg, die sie auch in Petrograd, 1919 als ihre Heimat und geliebte
Stadt bezeichnet, ist Thema in vielen ihrer Werke, ob als St. Petersburg (Стихи о
16 Zur Darstellung der für diese Arbeit wichtigen Details aus dem Leben der Anna Achmatova wurde zumeist die von Patricia Berionzkina ins englische übertragene Autobiographie aus dem Sammelwerk „Anna Akhmatova and her Circle“, herausgegeben von Konstantin Polivanov (1994, S. 2–50), herangezogen.
58
Петербурге), Petrograd (vorliegendes Gedicht), Leningrad (Птицы смерти в зените
стоят...) oder anonyme Erscheinung (Тот город, мной любимый с детства…). Die
Hingezogenheit und Liebe zu ihrer Wahlheimatstadt und die Enttäuschung darüber,
was nach der Revolution aus ihr geworden war, ist oft Inhalt ihrer späteren Werke. Der
Schmerz über das Schicksal St. Petersburgs lässt sich jedoch bereits in Petrograd,
1919 erkennen.
Nach der Veröffentlichung des Sammelbandes „Anno Domini MCMXXI“ (1922) wurden
ihre Gedichte bis 1940 nicht mehr gedruckt. Erst dann erschien Iz šesti knig, eine
Sammlung ihrer lyrischen Werke zwischen 1922 und 1940. Ihre Gedichte wurden
fortan wieder veröffentlicht. Die Versnovelle Poėma bez geroja (1963) gilt als ihr
Meisterwerk, welches wiederum in Relation zu Leningrad und zu den Verstorbenen
der Stadt steht. Es wurde erst postum (1974), acht Jahre nach Achmatovas Tod,
vollständig in Russland veröffentlicht.
Als eine der HauptvertreterInnen des Akmeismus ist auch ihre Dichtung konkret,
dinghaft und auf das Diesseits bezogen, ähnlich wie bei Mandel‘štam. Bereits im Titel
des vorliegenden Werks kann man dies gut erkennen, denn Achmatova gibt gleich zu
Beginn einen bestimmten Ort (Petrograd) und einen bestimmten Zeitraum (das Jahr
1919) an. Was die Autorin jedoch von den anderen Akmeisten klar unterscheidet ist
die Hervorhebung des lyrischen Ichs (Świerszcz 2002, 251), welches auch in
Abbildung 2: Übersicht zur historischen Aussagekraft der Werke von Blok, Brjusov, Mandel’štam, Achmatova und Majakovskij; Quelle: Von der Verfasserin erstellt; T = Teil, S = Strophe, V = Vers
85
Anhand der Darstellungen lässt sich erkennen, dass die fünf lyrischen Werke in ihrer
Gesamtheit die wichtigsten Vorkommnisse der Russischen Revolution beinhalten und
die in der Einleitung gestellten Fragen (Wodurch wurde die Revolution ausgelöst? Was
geschah im Februar und Oktober 1917? In welcher (politischen/sozialen) Situation
befand sich Russland im Jahr 1917? Wer war(en) die führende(n) Partei(en)? Welche
Ziele wurden im Bürgerkrieg von wem angestrebt? Wer kam wie an die Macht?)
beantworten.
Ob ein Werk unabhängig von den anderen zur Vermittlung der wichtigsten Fakten im
Sprachunterricht ausreichen würde ist fraglich. Im Sinne eines umfassenden
Verständnisses (nicht nur in Bezug auf Fakten, sondern auch auf den Zeitgeist) der
Russischen Revolution von Seiten der SchülerInnen wäre die Behandlung aller
Gedichte im Rahmen des Unterrichts zu empfehlen. Dies ist bei einem
fortgeschrittenen Sprachniveau eine durchaus realisierbare Möglichkeit, wenn man die
einzelnen Gedichte zur Bearbeitung und Analyse auf mehrere Gruppen aufteilt – Bloks
Dvenadcat’ müsste in sich gesplittet werden. Auf niedrigem Sprachniveau könnte
diese umfassende Form der Vermittlung eine Überforderung darstellen. Hierbei wäre
es von Vorteil, ein oder maximal zwei Werke zu verwenden, um dieses bedeutende
geschichtliche Thema zu erarbeiten. Der Begriff „erarbeiten“ ist in diesem
Zusammenhang ein Schlüsselwort, weil es nicht reicht ein Gedicht lediglich zu
analysieren und zu interpretieren, um von seinen geschichtlichen Inhalten zu
profitieren. Sich historisches Wissen mittels Lyrik anzueignen erfordert eine möglichst
selbstständige, im Unterricht von den Lehrpersonen klug gelenkte, Erarbeitung des
Wissens. Im Hauptteil ist gezeigt worden, dass die analysierten Werke einen
derartigen Ansatz ermöglichen.
Wenn man den Zeitgeist der Revolution hervorheben möchte, könnte man
beispielsweise die Gedichte von Achmatova und Majakovskij in den Unterricht
einbinden, da sie, bezogen auf ihre Attitüde, die extremsten Gegensätze bilden und
von der Länge her im Normalbereich liegen. Strebt man eine Vollständigkeit in Bezug
auf historische Fakten an, gibt es mehrere Varianten: Blok/Achmatova,
Blok/Majakovskij, Brjusov/Achmatova, Brjusov/Majakovskij (s.h. Abbildung 2); An
dieser Stelle fällt auf, dass die geschichtlichen Daten in Mandel’štams Werk für eine
faktische Vermittlung der revolutionären Geschehnisse unzureichend erscheinen. Sein
Gedicht eignet sich möglicherweise besser zur Vermittlung des Begriffes der
86
Revolution im Allgemeinen, da in Dekabrist neben dem Jahr 1917 auch der
Dekabristenaufstand, die Napoleonischen Kriege, sowie die Revolution von 1905
thematisiert werden.
Abschließend ist festzuhalten, dass die persönlichen Eindrücke der DichterInnen einen
Spiegel der Stimmung zu jener Zeit in Russland darstellen. Die divergenten Haltungen
in Bezug auf die Revolution treten auf Basis der analysierten Werke deutlich zu Tage
und führen zu einem authentischen Bild hinsichtlich des Zeitgeistes während der
Russischen Revolution. Bezogen auf den Fremdsprachenunterricht erlauben die fünf
vorliegenden lyrischen Werke deshalb nicht nur das Unterrichten historischer Fakten,
sondern begünstigen auch die Vermittlung des revolutionären Zeitgeistes. Aus diesem
Grund können die analysierten Gedichte mit den geeigneten didaktischen Mitteln
durchaus ein „Schlüssel zur Russischen Revolution“ im Sprachunterricht sein.
87
Anhang
A) Aleksandr Blok – Dvenadcatʼ
A-a) Metrisches Schema
T / S Schema Reim
Чёрный вечер.
Белый снег.
Ветер, ветер!
На ногах не стоит человек.
Ветер, ветер —
На всём божьем свете!
1/1
- u - u
a
b
a
b
a
c
- u -
- u - u
u u - u u - u u -
- u - u
u - - u - u
Завивает ветер
Белый снежок.
Под снежком — ледок.
Скользко, тяжко,
1/2
u u - u - u d
e
e
f
- u u -
u u - u -
- u - u
88
Всякий ходок
Скользит — ах, бедняжка!
- u u - e
e u - - u - u
От здания к зданию
Протянут канат.
На канате — плакат:
«Вся власть Учредительному Собранию!»
Старушка убивается — плачет,
Никак не поймёт, что значит,
На что такой плакат,
Такой огромный лоскут?
Сколько бы вышло портянок для ребят,
А всякий — раздeт, разут...
Старушка, как курица,
Кой-как перемотнулась через сугроб.
— Ох, Матушка-Заступница!
1/3
u - u - u g
h
h
g
i
i
h
j
h
j
k
l
k
u - u u -
u u - u u -
u - u u - u u u u - u
u - u u u - u u - u
u - u u - u - u
u - u - u -
u - u - u u -
- u u - u u - u u u -
u - u u - u -
u - u u - u u
u - u u u - u u u u -
u - u u u - u u
89
— Ох, большевики загонят в гроб! u u u u - u - u u - l
Ветер хлёсткий!
Не отстаёт и мороз!
И буржуй на перекрёстке
В воротник упрятал нос.
1/4
- u - u m
n
m
n
u u u - u u -
u u - u u u - u
u u u - u - u -
А это кто?— Длинные волосы
И говорит в полголоса:
— Предатели!
— Погибла Россия!
Должно быть, писатель —
Вития...
1/5
u - u - - u u - u u o
p
o
q
r
q
u u u - u - u u
u - u u
u - u u - u
u - u u - u
u - u
А вон и долгополый —
Стороночкой и за сугроб... 1/6
u - u u u - u s
t u - u u u u u -
90
Что нынче не весёлый,
Товарищ поп?
u - u u u - u s
t u - u -
Помнишь, как бывало
Брюхом шёл вперёд,
И крестом сияло
Брюхо на народ?
1/7
- u - u - u u
v
u
v
- u - u -
u u - u - u
- u u u -
Вон барыня в каракуле
К другой подвернулась:
— Уж мы плакали, плакали...
Поскользнулась
И — бац — растянулась!
1/8
u - u u u - u u w
x
y
x
x
u - u u - u
u u - u u - u u
u u - u
u - u u - u
Ай, ай!
Тяни, подымай! 1/9
u - z
z u - u u -
91
Ветер весёлый.
И зол и рад.
Крутит подолы,
Прохожих косит.
Рвëт, мнëт и носит
Большой плакат:
«Вся власть Учредительному Собранию!»
И слова доносит:
1/10
- u u - u a‘
b‘
a‘
c‘
c‘
b‘
d‘
c‘
u - u -
- u u - u
u - u - u
- u u - u
u - u -
u - u u - u u u u - u
u u - u - u
...И у нас было собрание...
...Вот в этом здании...
...Обсудили —
Постановили:
На время — десять, на ночь — двадцать пять...
...И меньше ни с кого не брать...
1/11
u u - u u u - u d‘
d‘
e‘
e‘
f‘
f‘
- u u - u
u u - u
u u u - u
u - u - u - u u u -
u - u u u - u -
92
...Пойдём спать... u - - f‘
Поздний вечер.
Пустеет улица.
Один бродяга
Сутулится,
Да свищет ветер...
1/12
- u - u g‘
h‘
i‘
h‘
g‘
u - u - u u
u - u - u
u - u u
u - u - u
Эй, бедняга!
Подходи —
Поцелуемся...
1/13
- u - u j‘
k‘
l‘
u u -
u u - u u
Хлеба!
Что впереди?
Проходи!
1/14
- u m‘
n‘
n‘
u u u -
u u -
93
Чёрное, чёрное небо. 1/15 - u u - u u - u o‘
Злоба, грустная злоба
Кипит в груди...
Чёрная злоба, святая злоба...
1/16
- u - u u - u p‘
q‘
p‘
u - u -
- u u - u u - u - u
Товарищ! Гляди
В оба! 1/17
u - u u - r‘
s‘ - u
Гуляет ветер, порхает снег.
Идут двенадцать человек. 2/1
u - u - u u - u - a
a u - u - u u u -
Винтовок чёрные ремни,
Кругом — огни, огни, огни... 2/2
u - u - u u u - b
b u - u - u - u -
В зубах — цигарка, примят картуз, 2/3 u - u - u u - u - c
94
На спину б надо бубновый туз! u - u - u u - u - c
Свобода, свобода,
Эх, эх, без креста!
Тра-та-та!
2/4
u - u u - u d
e
e
u - u u -
u u -
Холодно, товарищ, холодно! 2/5 - u u u - u - u u f
– А Ванька с Катькой – в кабаке...
– У ей керенки есть в чулке! 2/6
u - u - u u u - g
g u - u - u u u -
– Ванюшка сам теперь богат...
– Был Ванька наш, а стал солдат! 2/7
u - u - u - u - h
h u - u - u - u -
– Ну, Ванька, сукин сын, буржуй, 2/8 u - u - u - u - i
95
Мою, попробуй, поцелуй! u - u - u u u - i
Свобода, свобода,
Эх, эх, без креста!
Катька с Ванькой занята —
Чем, чем занята?..
Тра-та-та!
2/9
u - u u - u j
k
k
k
k
u - u u -
- u - u u u -
u - u u -
u u -
Кругом — огни, огни, огни...
Оплечь — ружейные ремни... 2/10
u - u - u - u - l
l u - u - u u u -
Революционный держите шаг!
Неугомонный не дремлет враг!
Товарищ, винтовку держи, не трусь!
Пальнём-ка пулей в Святую Русь —
2/11
u u u - u u - u - a
a
b
b
u u u - u u - u -
u - u u - u u - u -
u - u - u u - u -
96
В кондовую,
В избяную,
В толстозадую!
Эх, эх, без креста!
2/12
u u - u m
m
m
n
u u - u
u u - u u
u - u u -
Как пошли наши ребята
В красной гвардии служить —
В красной гвардии служить —
Буйну голову сложить!
3/1
- u - - u u - u a
b
b
b
- u - u u u -
- u - u u u -
- u u u - u -
Эх ты, горе-горькое,
Сладкое житьё!
Рваное пальтишко,
Австрийское ружьё!
3/2
- u - u - u u c
d
e
d
- u u u -
- u u u - u
u - u u u -
97
Мы на горе всем буржуям
Мировой пожар раздуем,
Мировой пожар в крови —
Господи благослови!
3/3
- u - u - u - u f
f
g
g
u u - u - u - u
u u - u - u -
- u u u u u -
Снег крутит, лихач кричит,
Ванька с Катькою летит —
Елекстрический фонарик
На оглобельках...
Ах, ах, пади!
4/1
- u - u - u - a
a
b
c
d
- u - u u u -
u u - u u u - u
u u - u u
- - u -
Он в шинелишке солдатской
С физиономией дурацкой
Крутит, крутит чёрнй ус,
Да покручивает,
4/2
u u - u u u - u e
e
f
g
u u u - u u u - u
- u - u - u -
u u - u u u
98
Да пошучивает... u u - u u u g
Вот так Ванька — он плечист!
Вот так Ванька — он речист!
Катьку-дуру обнимает,
Заговаривает...
4/3
- u - u u u - h
h
i
i
- u - u u u -
- u - u u u - u
u u - u u u
Запрокинулась лицом,
Зубки блещут жемчугом...
Ах ты, Катя, моя Катя,
Толстоморденькая...
4/4
u u - u u u - j
j
k
l
- u - u u u -
- u - u u u - u
u u - u u u
У тебя на шее, Катя,
Шрам не зажил от ножа.
У тебя под грудью, Катя,
Та царапина свежа!
5/1
u u - u - u - u a
b
a
b
- u - u u u -
u u - u - u - u
- u - u u u -
99
Эх, эх, попляши!
Больно ножки хороши! 5/2
u - u u - c
c - u - u u u -
В кружевном белье ходила –
Походи-ка, походи!
С офицерами блудила –
Поблуди-ка, поблуди!
5/3
u u - u - u - u d
e
d
e
u u - u u u -
u u - u u u - u
u u - u u u -
Эх, эх, поблуди!
Сердце ёкнуло в груди! 5/4
u - u u - f
f - u - u u u -
Помнишь, Катя, офицера –
Не ушëл он от ножа...
Аль не вспомнила, холера?
Али память не свежа?
5/5
- u - u u u - u g
h
g
h
u u - u u u -
- u - u u u - u
- u - u u u -
100
Эх, эх, освежи,
Спать с собою положи! 5/6
u - u u - i
i - u - u u u -
Гетры серые носила,
Шоколад Миньон жрала,
С юнкерьём гулять ходила –
С солдатьëм теперь пошла?
5/7
- u - u u u - u j
k
j
k
u u - u - u -
u u - u - u - u
u u - u - u -
Эх, эх, согреши!
Будет легче для души! 5/8
u - u u - l
l - u - u u u -
...Опять навстречу несётся вскач,
Летит, вопит, орёт лихач... 6/1
u - u - u u - u - a
a u - u - u - u -
Стой, стой! Андрюха, помогай! 6/2 - - u - u u u - b
101
Петруха, сзаду забегай!.. u - u - u u u - b
Трах-тарарах-тах-тах-тах-тах!
Вскрутился к небу снежный прах!.. 6/3
- u u - u - u - c
c u - u - u - u -
Лихач — и с Ванькой — наутёк...
Ещё разок! Взводи курок!.. 6/4
u - u - u u u - d
d u - u - u - u -
Трах-тарарах! Ты будешь знать,
. . . . . . . . . . . . . . .
Как с девочкой чужой гулять!...
6/5
- u u - u - u - e
e
...PAUSE...
u - u u u - u -
Утёк, подлец! Ужо, постой,
Расправлюсь завтра я с тобой! 6/6
u - u - u - u - f
f u - u - u u u -
А Катька где?— Мертва, мертва! 6/7 u - u - u - u - g
102
Простреленная голова! u - u u u u u - g
Что, Катька, рада?— Ни гу-гу...
Лежи ты, падаль, на снегу! 6/8
u - u - u u u - h
h u - u - u u u -
Революционный держите шаг!
Неугомонный не дремлет враг! 6/9
u u u - u u - u - i
i u u u - u u - u -
И опять идут двенадцать,
За плечами — ружьеца.
Лишь у бедного убийцы
Не видать совсем лица...
7/1
u u - u - u - u a
b
c
b
u u - u u u -
- u - u u u - u
u u - u - u -
Всё быстрее и быстрее
Уторапливает шаг.
Замотал платок на шее —
7/2
- u - u u u - u d
e
d
u - u u u -
u u - u - u - u
103
Не оправится никак... u u - u u u - e
— Что, товарищ, ты не весел?
— Что, дружок, оторопел?
— Что, Петруха, нос повесил,
Или Катьку пожалел?
7/3
u u - u u u - u f
g
f
g
u u - u u u -
u u - u - u - u
u u - u u u -
— Ох, товарищи, родные,
Эту девку я любил...
Ночки чёрные, хмельные
С этой девкой проводил...
7/4
- u - u u u - u h
i
h
i
u u - u u u -
- u - u u u - u
u u - u u u -
— Из-за удали бедовой
В огневых её очах,
Из-за родинки пунцовой
Возле правого плеча,
7/5
u u - u u u - u j
k
j
l
- u u u - u -
u u - u u u - u
u u - u u u -
104
Загубил я, бестолковый,
Загубил я сгоряча... ах!
u u - u u u u - u j
l/k u u - u u u u - -
— Ишь, стервец, завел шарманку,
Что ты, Петька, баба, что ль?
— Верно душу наизнанку
Вздумал вывернуть? Изволь!
— Поддержи свою осанку!
— Над собой держи контроль!
7/6
- u - u - u - u m
n
m
n
m
n
u u - u - u -
- u - u u u - u
u u - u u u -
u u - u - u - u
u u - u - u -
— Не такое нынче время,
Что бы нянчиться с тобой!
Потяжеле будет бремя
Нам, товарищ дорогой!
7/7
u u - u - u - u o
p
o
p
u u - u u u -
u u - u u u - u
- u - u u u -
И Петруха замедляет 7/8 u u - u u u - u q
105
Торопливые шаги... u u - u u u - r
Он головку вскидавает,
Он опять повеселел... 7/9
u u - u u u - u s
t u u - u u u -
Эх, эх!
Позабавиться не грех! 7/10
u - u
u u u - u u u -
Запирайте етажи,
Нынче будут грабежи! 7/11
u u - u u u - v
v - u - u u u -
Отмыкайте погреба —
Гуляет нынче голытьба! 7/12
u u - u u u - w
w u - u - u u u -
Ох ты горе-горькое!
Скука скучная, 8/1
- u - u - u u a
b - u - u u
106
Смертная! - u u b
Ужь я времячко
Проведу, проведу... 8/2
- u - u u c
d u u - u u -
Ужь я темячко
Почешу, почешу... 8/3
u u - u u e
f u u - u u -
Ужь я семячки
Полущу, полущу... 8/4
u u - u u g
h u u - u u -
Ужь я ножичком
Полосну, полосну!.. 8/5
u u - u u i
j u u - u u -
Ты лети, буржуй, воронышком!
Выпью кровушку 8/6
u u - u - u - u u k
l - u - u u
107
За зазнобушку,
Чернобровушку...
u u - u u l
l u u - u u
Упокой, господи, душу рабы твоея...
Скучно! 8/7
u u - - u u - u u - u u - m
n - u
Не слышно шуму городского,
Над невской башней тишина,
И больше нет городового —
Гуляй, ребята, без вина!
9/1
u - u - u u u - u a
b
a
b
u - u - u u u -
u - u - u u u - u
u - u - u u u -
Стоит буржуй на перекрёстке
И в воротник упрятал нос.
А рядом жмётся шерстью жёсткой
Поджавший хвост паршивый пёс.
9/2
u - u - u u u - u c
d
c
d
u u u - u - u -
u - u - u - u - u
u - u - u - u -
108
Стоит буржуй, как пёс голодный,
Стоит безмолвный, как вопрос.
И старый мир, как пёс безродный,
Стоит за ним, поджавши хвост.
9/3
u - u - u - u - u e
f
e
f
u - u - u u u -
u - u - u - u - u
u - u - u - u -
Разыгралась чтой-то вьюга,
Ой, вьюга, ой, вьюга!
Не видать совсем друг друга
За четыре за шага!
10/1
u u - u u u - u a
b
a
b
u u - u u -
u u - u - u - u
u u - u u u -
Снег воронкой завился,
Снег столбушкой поднялся... 10/2
- u - u u u - c
c - u - u u u -
— Ох, пурга какая, спасе!
— Петька! Эй, не завирайся!
От чего тебя упас
10/3
u u - u - u - u d
e
f
- u - u u u - u
u u - u - u -
109
Золотой иконостас?
Бессознательный ты, право,
Рассуди, подумай здраво —
Али руки не в крови
Из-за Катькиной любви?
— Шаг держи революционный!
Близок враг неугомонный!
u u - u u u - f
g
g
h
h
i
i
u u - u u u - u
u u - u - u - u
- u - u u u -
u u - u u u -
- u - u u u - u
- u - u u u - u
Вперёд, вперёд, вперёд,
Рабочий народ! 10/4
u - u - u - j
j u - u u -
...И идут без имени святого
Все двенадцать — вдаль.
Ко всему готовы,
Ничего не жаль...
11/1
u u - u - u u u - u a
b
a
b
- u - u -
u u - u - u
u u - u -
110
Их винтовочки стальные
На незримого врага...
В переулочки глухие,
Где одна пылит пурга...
Да в сугробы пуховые —
Не утянешь сапога...
11/2
- u - u u u - u c
d
c
d
c
d
u u - u u u -
u u - u u u - u
- u - u - u -
u u - u u u - u
u u - u u u -
В очи бьётся
Красный флаг. 11/3
- u - u e
f - u -
Раздаётся
Мерный шаг. 11/4
u u - u g
h - u -
Вот — проснётся
Лютый враг... 11/5
- u - u i
j - u -
111
И вьюга пылит им в очи
Дни и ночи
Напролёт! ...
11/6
u - u u - u - u k
k
l
- u - u
u u -
Вперёд, вперёд,
Рабочий народ! 11/7
u - u - m
m u - u u -
...Вдаль идут державным шагом...
— Кто ещё там? Выходи!
Это — ветер с красным флагом
Разыгрался впереди...
12/1
- u - u - u - u a
b
a
b
- u - u u u -
- u - u - u - u
u u - u u u -
Впереди — сугроб холодный.
— Кто в сугробе — выходи!
Только нищий пёс голодный
Ковыляет позади...
12/2
u u - u - u - u c
d
c
d
- u - u u u -
- u - u - u - u
u u - u u u -
112
— Отвяжись ты, шелудивый,
Я штыком пощекочу!
Старый мир, как пёс паршивый,
Провались — поколочу!
12/3
u u - u u u - u e
f
e
f
u u - u u u -
- u - u - u - u
u u - u u u -
...Скалит зубы — волк голодный —
Хвост поджал — не отстаёт —
Пёс холодный — пёс безродный...
— Эй, откликнись, кто идёт?
12/4
- u - u - u - u g
h
g
h
- u - u u u -
- u - u - u - u
- u - u u u -
— Кто там машет красным флагом?
— Приглядись-ка, эка тьма!
— Кто там ходит беглым шагом,
Хоронясь за все дома?
12/5
- u - u - u - u i
j
i
j
u u - u - u -
- u - u - u - u
u u - u - u -
113
— Всё равно, тебя добуду,
Лучше сдайся мне живьём!
— Эй, товарищ, будет худо,
Выходи, стрелять начнём!
12/6
- u - u - u - u k
l
k
l
- u - u - u -
- u - u - u - u
u u - u - u -
Трах-тах-тах!— И только эхо
Откликается в домах...
Только вьюга долгим смехом
аливается в снегах...
12/7
- u - u - u - u m
n
m
n
u u - u u u -
- u - u - u - u
u u - u u u -
Трах-тах-тах!
Трах-тах-тах! 12/8
- u - o
o - u -
...Так идут державным шагом —
Позади — голодный пёс.
Впереди — с кровавым флагом,
12/9
- u - u - u - u p
q
p
u u - u - u -
u u - u - u - u
114
rosa => weibliche Kadenz
blau => männliche Kadenz
grün => reiche Kadenz
Bemerkung - REIM: Jene Stellen, an denen sich der Reim über die Strophe hinwegsetzt und einen großen Zusammenhang bildet,
wurden farblich markiert.
И за вьюгой неведим,
И от пули невредим,
Нежной поступью надвьюжной,
Снежной россыпью жемчужной,
В белом венчике из роз —
Впереди — Исус Христос.
u u - u u u - r
r
s
s
q
q
u u - u u u -
- u - u u u - u
- u - u u u - u
- u - u u u -
u u - u - u -
115
A-b) Deutsche Übersetzung:
1 Schwarzer Abend. Weißer Schnee. Wind! Wind! Seht doch, wie er Menschen fällt! Wind, Wind Überall auf Gottes Welt. Wirbelwehn Weißen Schnees. Glatteis unterm Weiß. Erbarmen! – Alle, die da gehn, Gleiten aus, die Armen. Zwischen zwei Häusern ein Draht, An dem Draht ein Plakat: Alle Macht dem Verfassungsrat! Das Mütterchen kann und kann nicht begreifen, Warum so viel Stoff, Solch ein mächtiger Streifen Über der Straße hängt. Sie schüttelt den Kopf und denkt: «Viele Fußlappen wärens für unsere Kleinen, Die vor Kälte weinen...» Wie ein Huhn trippelt sie Den Schneedamm hinab. «Muttergottes, diese Bolschewiki Bringen uns noch ins Grab!» Der Wind peitscht den Frost Vor sich hin. Der Bürger dort drüben versteckt erbost In dem Kragen Nase und Kinn. Und wer ist denn der da? Mähneschüttelnd steht er Und murmelt: «Verräter, Ihr habt Rußland zugrunde gerichtet ...» Sicher einer, der Reden schwingt – oder dichtet. Und jener in der Kutte, Um Schneewehn schleichend, schlaff – Wie ist dir heut zumute,
116
Genosse Pfaff? Sag, denkst du noch daran, Wie fett du warst? Und auch Ans Kreuz, das jedermann Sah schmücken deinen Bauch? Und die da, karakulkraus, Sagt zu der da leis: «Damals weinte das ganze Haus!» Und – bauz! – Fällt aufs Eis. Ach, och, Helft ihr doch! Wie lustig, wie dreist Ist der Wind, Der an Röcken reißt Und Passanten mäht Und das Riesenplakat Alle Macht dem Verfassungsrat! Bald knittert, bald bläht Und ins Ohr Redefetzen weht: «Auch bei uns gabs genau So `nen Rat, dort im Bau: Erst Diskussion, Dann Resolution – Die Nacht fünfundzwanzig, die Stunde zehn. Wie wärs nun mit Schlafengehn?» Spät ist die Stunde, Die Straße leer. Ein Vagabund Schleicht krumm umher. Der pfeifende Wind geht rund. Komm doch ran, Armer Hund, Küssen wir uns zum Gruß ... Hast du Brot? Ahnst du, was kommt? Geh weiter, schon gut. Himmel, schwarz wie Ruß. In der Brust aber loht Eine traurige Wut, Eine schwarze, heilige Wut. Genosse,
117
Sei auf der Hut! 2 Es kreist der Wind, Schneeflocken tanzen. Zwölf, die marschieren im Gemäuer. Gewehre, schwarze Riemen, Ranzen. Und ringsum Feuer, Feuer, Feuer. Aus dem Munde qualmt es, zerknittert die Mützen. Ein Karo-As auf den Rücken den Schützen! Freiheit, Freiheit. Ach, ach, sieh da: Ohne Kreuz! Tra-ta-ta, tra-ta-ta. Hundekalt, Genossen ... «Katjka, mit der Wanjka in der Kneipe sumpft, Hat Kerenski-Scheine sich eingestrumpft!» «Und Wanjka, der selbst nun viel Rubel hat, War mal unsereiner und ist jetzt Soldat!» «Los, Wanjka, Bürger, reicher Hund, Küß mal die Meine auf den Mund!» Katjka macht dem Wanjka Spaß, Wanjka nimmt an Katjka Maß, Haben nun Viel zu tun – Aber was? ... Freiheit, Freiheit. Ach, ach, sieh da: Ohne Kreuz – tra-ta-ta, tra-a-a. Ringsum Feuer, Feuer, Feuer. Riemen, Ranzen, Stadtgemäuer ... Revolutionäre, marschiert vereint! Es schläft nicht der rastlose Feind! Faß das Gewehr, sei kein Hasenfuß! Genosse, schieß auf die heilige Rusj, Auf die reckengleiche,
118
Auf die hüttenreiche, Auf die kugelhintrige! Ach, ach, ohne Kreuz! 3 Unsre Jungen traten In die Rote Garde ein, Wolln als Rotgardisten ihren Tollen Kopf verlieren. Ach, du Not, wie lebt man jetzt? Alles geht verquer. Mantel überall zerfetzt. Österreichisches Gewehr. Den Burshius zum Unglück wollen Einen Weltbrand wir entrollen, Einen Brand im blutigen Meer – Gib uns deinen Segen, Herr! 4 Schnee und Schnee. Es schreit der Kutscher Katjka schmecken Wanjkas Knutscher. Ein elektrisches Laternchen An der Schlittendeichsel dran – Ach, ach, sieh mal an! Wanjka, im Soldatendreß, Lächelt dämlich, zwirbelt keß Seinen schwarzen Schnurrbart, Dreht am Schnurrbart ohne Ruh Und reißt Witze immerzu. Seht den Wanjka, den Athleten! Hört den Wanjka zärtlich flöten! Der umhalst die Närrin Katjka, Der ist ihr der Richtige. Katjka kippt zurück, wird heiß, Zähne blitzen perlenweiß. Ach, du Katjka, meine Katjka, Meine rundgesichtige ...
119
5 Hast an deinem Halse, Katjka, Eine Spur vom Messerstich. Unter deinen Brüsten Katjka, Brennt ein frischer roter Strich. Ach, ach, tanze, lach! Beine hast du – eine Pracht! Trugst mal teure Spitzenwäsche, Wie `ne Dame von Geburt, Hast am liebsten mit den feschen Offizieren rumgehurt. Ach, ach, laß nicht nach! (Herz, nicht rasen – immer sacht!) Denkst du, Katjka, noch an jenen Offizier, den man erstach? Schon vergessen, du Hyäne? Bist wohl von Gedächtnis schwach? Ach, ach, mach es wach! Bleib bei mir von acht bis acht! Liefst in grauen Wollgamaschen, Fraßest Mignon-Schokolade – Junker hatten offne Taschen. Und nun schläfst du mit Soldaten? Ach, ach, sündge, mach Keine Sorgen uns heut nacht! 6 Und wieder rast der Schlitten wild Den Zwölf entgegen. Der Kutscher brüllt. Halt, halt, Andrjucha! Hilf, spring ran! Petrucha, halt sie hinten an! Trach-tararach-tach-tach-tach-tach! Der Schnee stiebt auf zum Himmelsdach. Fort ist der Schlitten mit dem Mann. Nur einen Schuß noch! Spann den Hahn!
120
Der Kerl soll wissen, wie es ist, Wenn man ein fremdes Mädchen küßt. Weg ist der Schuft. Na warte, Mann, Dann kommst du eben morgen ran. Wo steckt die Katjka? Tot! Ein Mord! Der Schuß hat ihr den Kopf durchbohrt. Du sagst nichts, Katjka? Machts dir Spaß? Ist gut, bleib liegen, faules Aas. Revolutionäre, marschiert vereint! Es schläft nicht der rastlose Feind. 7 Zwölf Gardisten schreiten weiter Mit geschultertem Gewehr. Das Gesicht des armen Mörders Bleich und blaß, die Augen leer. Petjkas Schritt wird immer schneller, Petjka denkt an Katjka stur, Zieht in einer Tour am Halstuch, Zieht am Tuch in einer Tour. «Was ist los, Petrucha? Bist doch Sonst kein Kind der Traurigkeit? Halt die Nase hoch, Petrucha, Oder tut dir Katjka leid?» «Hab mich Katjka glatt verschrieben, War noch nie so liebeskrank. Kurzweil haben wir getrieben Schwarze, trunkne Nächte lang. Feuerblick – zum Kopfverdrehen, Ein verwegnes Augenpaar, Eine Schulter, wo ein rundes Rotes Mal zu sehen war! Darum bracht ich Tunichtgut Katjka um in blinder Wut.» «Schluß mit deinem Leierkasten, Faselst wie ein Weib drauflos. Mußt du schon dein Herz entlasten, Tus, doch merk dir eines bloß: Sei mal stolz, red keinen Schund,
121
kontrolliere deinen Mund! Uns mit dir herumzuplagen, Fehlt uns heute Lust und Zeit, Haben Schwereres zu tragen. Hörst du? Weißt du nun Bescheid?» Ruhiger, mit hellrem Blick Stampft Petrucha durch die Nacht ... Plötzlich kratzt er sein Genick, Wirft den Kopf zurück und lacht. Ach, ach, Ist es Sünde, wenn ich lach? Schließt die Fenster, sperrt die Türen, Heut wird überall geklaut! Hütet eure Keller, schaut: Heute geht die Not spazieren. 8 Ach du böses Pech, Ach du tödliche Langeweile! Doch ich wird mir die Zeit Schon vertreiben, vertreiben, Aus den Augen die Schläfrigkeit Reiben, reiben, Sonnenblumensamen Knacken, knacken, Mit dem Messer Hacken, hacken. Schwirr, Burshui, wie ein Sperling fort, Sonst begeh ich einen Mord Für die Dunkelbrauige, Für die Funkeläugige ... Herr, gib ewige Ruhe der Seel deiner Magd ... Wie langweilig! 9 Kein Straßenlärm ist mehr zu hören, Am Newski-Turm kehrt Ruhe ein. Kein Schutzmann wird euch Jungens stören,
122
Geht aus, doch ohne Schnaps und Wein. Ein Bürger. Tief im Kragen stecken Das Kinn, die Nase und der Mund. Und dort ein Hund. Das Fell voll Zecken. Ein herrenloser Hungerhund. So steht der Bürger, hundemüde, Stumm wie die Frage, die er stellt. Mit schlaffem Schwanz, ein räudiger Rüde, Steht hinter ihm die alte Welt. 10 Winde gehen, Winde wehen, Schneesturm fegt – o weh! Auf vier Schritt kein Mensch zu sehen. Nichts als Schnee. Trichtersteiles Schneegewimmel, Säulen steigen auf zum Himmel. «Gott der Herr, ist das ein Wetter! Petjka, lüg doch nicht so wild, Sag, wieso ist es dein Retter, Gottes goldnes Bild? Dir geht ab der Klassengeist, Weil du immer noch nicht weißt: Wegen Katjkas Liebesglut Klebt an deinen Händen Blut. Marschier mit uns im Gleichschritt, Freund! Nah ist dein rastloser Feind!» Vorwärts, vorwärts! Angetreten, Ihr Proleten! 11 Kein Name ist ihnen heilig. Sie sind zu allem bereit. Zwölf Männer marschieren eilig. Die Zwölf ohne Mitleid und Leid. Ihre zwölf Gewehre zielen Auf den unsichtbaren Feind. Seht, wie sie nach Gassen schielen, Wo das Schneegestöber greint,
123
Wo die weichen Schneewehn blinken, Wo die Stiefel tief versinken. Der Blick entfacht Die rote Fahne, Der Marschschritt kracht Auf ihren Bahnen. Der Feind erwacht In bösem Ahnen. Und des Schneesturms Flockenjagd Stäubt ins Auge Tag und Nacht Vorwärts, vorwärts! Angetreten, Ihr Proleten! 12 Und sie schreiten schwer, gemessen. «Wer ist dort? Halt! Komm heraus!» Nur der Wind, der wie besessen Ihre rote Fahne zaust. Vorn: nur eisigkalte Wehen. «Wer da hockt, laß sich mal sehen!» Bettelhund, vor Hunger schwach, Trottet hintennach. «Scher dich fort, du Hunderäude, Weg vom Bajonett, es sticht!» «Alte Welt, Hund ohne Freude, Ab mit dir, ich spaße nicht!» Hungerwolf fletscht seine Zähne, Kneift den Schwanz ein, geht nicht fort. Ein Verlorner, Halberfrorner. «He, gib Antwort! Wer ist dort?» «He, wer winkt uns da mit roter Fahne?» Nacht: ein dunkler Fleck. «Melde dich, bist du kein Toter! Feigling, raus aus dem Versteck!» «Los, ergib dich schon, du Luder! Tus lebendig, rat ich dir!» «Willst du weiterleben, Bruder, Komm heraus – sonst schießen wir!»
124
Trach-tach-tach! Der Schüsse Krachen, Das in Gassen widerhallt, Und des Schneesturms langes Lachen, Donnerrollend, eisigkalt. Trach-tach-tach! Trach-tach-tach Und sie schreiten majestätisch. Hinten: Hund und Hungerleid; Aber vorn: mit blutiger Fahne, Unter Wind- und Schneegeleit Gegen Blick und Blei gefeit, Eisperlschimmer, Flockenglosen Um den Kranz aus weißen Rosen Und voll Sanftheit jeder Schritt, Schreitet Jesus Christus mit. Januar 1918
Deutsche Übersetzung nach ALFRED EDGAR THOSS (Mierau o.J., 235 – 246)
125
B) Valerij Brjusov – K russkoj revoljucii
B-a) Metrisches Schema
К русской революции Str Schema Heb.
Ломая кольцо блокады,
Бросая обломки ввысь,
Все вперёд, за грань, за преграды
Алым всадником - мчись!
1
u - u u - u - u 3
u - u u - u u - 3
u u - u - u u - u 3
- u - u u - 3
Сквозь жалобы, вопли и ропот
Трубным призывом встаёт
Твой торжествующий топот,
Над простёртым миром полёт.
2
u - u u - u u - u 3
- u u - u u - 3
- u u - u u - u 3
u u - u - u u - 3
Ты дробишь тяжёлым копытом
Обветшалые стены веков,
И жуток по треснувшим плитам
Стук беспощадных подков.
3
u u - u - u u - u 3
u u - u u - u u - 3
u - u u - u u - u 3
- u u - u u - 3
Отважный! Яростно прянув,
Ты взвил потревоженный прах.
Оседает гряда туманов,
Кругозор в заревых янтарях.
4
u - u - u u - u 3
u - u u - u u - 3
u u - u u - u - u 3
u u - u u - u u - 3
126
grün => Amphibrachys
orange => Anapäst
violett => Daktylus
rosa => weibliche Kadenz
blau => männliche Kadenz
B-b) Deutsche Übersetzung:
An die Russische Revolution
Den Blockaden Ring brechend
Die Trümmer in die Höhe werfend,
Alle nach vorne, hinter die Grenze, hinter die Schranken
Scharlachroter Reiter – Eile los!
И все, и пророк и незоркий,
Глаза обратив на восток,-
В Берлине, в Париже, в Нью-Йорке,-
Видят твой огненный скок.
5
u - u u - u u - u 3
u - u u - u u - 3
u - u u - u u - u 3
- u u - u u - 3
Там взыграв, там кляня свой жребий,
Встречает в смятеньи земля
На рассветном пылающем небе
Красный призрак Кремля.
6
u u - u u - u - u 3
u - u u - u u - 3
u u - u u - u u - u 3
- u - u u - 3
127
Trotz der Klagen, des Jammerns, des Murrens
Erhebe dich mit dem Aufruf der Trompeten
Durch dein triumphierendes Getrappel
Wirst du deine Seele im Flug der Welt zeigen.
Du zertrümmerst mit einem schweren Trog
Die verfallenen Wände des Jahrhunderts,
Und über den zersprungenen Platten
Die beängstigenden Schläge der gnadenlosen Hufeisen
Mutig! Wütend gesprungen,
Hast du die unruhige Asche hochgewirbelt.
Es legt sich ein Zug aus Nebel,
Der Horizont in bernsteinfarbenem Morgenrot.
Und alle, Propheten und Nichtsnutze,
Die Augen aufmerksam auf den Osten gerichtet,
In Berlin, in Paris, in New-York,
Sieht man deinen entflammten Sprung.
Da seine Stärke zeigend, dort sein Schicksal herausfordernd,
Trifft das Land in seiner Verwirrung
Im frühmorgendlich brennenden Himmel
Auf die rote Gestalt des Kremls.
128
C) Osip Mandel’štam – Dekabrist
C-a) Metrisches Schema
Декабрист Str Schema Heb
Тому свидетельство языческий сенат –
Сии дела не умирают.
Он раскурил чубук и запахнул халат,
А рядом в шахматы играют.
1
u – u – u u u – u u u – 4
u – u – u u u – u 3
u u u – u – u u u – u – 4
u – u – u u u – u 3
Честолюбивый сон он променял на сруб
В глухом урочище Сибири,
И вычурный чубук у ядовитых губ,
Сказавших правду в скорбном мире.
2
u u u – u – u u u – u – 4
u – u – u u u – u 3
u – u u u – u u u – u – 4
u – u – u – u – u 4
Шумели в первый раз германские дубы,
Европа плакала в тенëтах,
Квадриги чëрные вставали на дыбы
На триумфальных поворотах.
3
u – u – u – u – u u u – 5
u – u – u u u – u 3
u – u – u u u – u u u – 4
u u u – u u u – u 2
Бывало, голубой в стаканах пунш горит,
С широким шумом самовара,
Подруга рейнская тихонько говорит,
Вольнолюбивая гитара.
4
u – u u u – u – u – u – 4
u – u – u u u – u 3
u – u – u u u – u u u – 3
u u u – u u u – u 2
129
rosa => weibliche Kadenz
türkis => männliche Kadenz
u / – => Pyrrhichius (macht Tempo, liest sich schnell, klingt leicht)
orange => konsequent unbetonte Silben, die den jambischen Rhythmus
unterstreichen: 4–füßiger wechselt mit 6–füßigem JAMBUS
C-b) Deutsche Übersetzung
Dekabrist
– Er soll hier Zeuge sein, der heidnische Senat
Daß solche Dinge niemals sterben! –
Die Pfeife raucht er an, im Hausrock akkurat
Spielen sie Schach, sie tun es gerne.
Den ehrgeizigen Traum tauschte er um
Für jenen Holzbau in Sibirien,
Ещë волнуются живые голоса
О сладкой вольности гражданства,
Но жертвы не хотят слепые небеса,
Вернее труд и постоянство.
5
u – u – u u u – u u u – 4
u – u – u u u – u 3
u – u u u – u – u u u – 4
u – u – u u u – u 3
Всë перепуталось, и некому сказать,
Что, постепенно холодея,
Всë перепуталось, и сладко повторять:
Россия, Лета, Лорелея.
6
u u u – u u u – u u u – 3
u u u – u u u – u 2
u u u – u u u – u u u – 3
u – u – u u u – u 3
130
Die Schnörkelpfeife raucht im scharfen Mund
Der Wahrheit – in der Welt der Irren.
Die deutschen Eichen rauschten wie zum ersten Mal,
Europa weinte tief im Eisen,
Schwarze Quadrigen bäumten sich real
Zu dem Triumph, auf Toren gleißend.
In Gläsern brannte oft der blaue Punsch,
Zum breiten Klang der Samoware
Spricht leis am Rhein die Freundin ihren Wunsch
Die freiheitsliebende Gitarre.
Lebendige Stimmen gibt es, noch erregt
Von süßer Freiheit, Bürgerrechten!
Die Himmel blind, sie wollen keinen Opferweg:
Arbeit und Stetigkeit sind besser.
Der große Wirrwarr kam, und wem es klagen
Die Kälte wächst, gefroren sei
Der Wirrwarr jetzt, und schön, es herzusagen:
Rußland, Lethe, Lorelei.
Juni 1917
Deutsche Übersetzung nach RALPH DUTLI (2004, 37)
131
D) Anna Achmatova – Petrograd 1919
D-a) Metrisches Schema
rosa => weibliche Kadenz
türkis => männliche Kadenz
u / – => Pyrrhichius (macht Tempo, liest sich schnell, klingt leicht)
orange => konsequente Betonung der 2., 4., 6., und/oder 8. Silbe, die den 4–
füßigen jambischen Rhythmus unterstreichen;
Петроград, 1919 Str Schema Reim
И мы забыли навсегда,
Заключены в столице дикой,
Озëра, степи, города
И зори родины великой.
В кругу кровавом день и ночь
Долит жестокая истома...
Никто нам не хотел помочь
За то, что мы остались дома,
За то, что, город свой любя,
А не крылатую свободу,
Мы сохранили для себя
Его дворцы, огонь и воду.
1
u – u – u u u – a
u – u u u – u – u b
u – u – u u u – a
u – u – u u u – u b
u – u – u – u – c
u – u – u u u – u d
u – u u u – u – c
u – u u u – u – u d
u – u – u u u – e
u u u – u u u – u f
u u u – u u u – e
u – u – u – u – u f
Иная близится пора,
Уж ветер смерти сердце студит,
Но нам священный град Петра
Невольным памятником будет.
2
u – u – u u u – g
u – u – u – u – u h
u – u – u – u – g
u – u – u u u – u h
132
D-b) Deutsche Übersetzung
Petrograd, 1919
Als hätten wir sie nie gesehn,
In der verlaßnen Hauptstadt darbend,
Die Städte rings, die Steppe, Seen
Und ihrer Abendsonne Farben.
Im blut’gen Kreis drückt Tag und Nacht
Uns grausam Hunger und Ermattung...
Und keiner war, der Hilfe bracht‘,
Weil wir sie nicht verlassen hatten,
Weil wir sie liebten doch, die Stadt,
Mehr als die Freiheit dieser Erde,
Und uns bewahrten, was sie hat:
Paläste, Wasser, Brücken, Herde.
Heraus zieht eine andre Zeit,
Eiskalte Todeswinde wehen,
Doch Peters Stadt wird uns dereinst
Als ungewolltes Denkmal stehen.
Deutsche Übersetzung nach ERICH AHRNDT
133
E) Vladimir Majakovskij – Levyj Marš
E-a) Metrisches Schema
Левый марш Str Schema Reim
Разворачивайтесь в марше!
Словесной не место кляузе.
Тише, ораторы!
Ваше
слово,
товарищ маузер.
Довольно жить законом,
данным Адамом и Евой.
Клячу истории загоним.
Левой!
Левой!
Левой!
1
u u – u u u – u a
u – u u – u – u b
– u u – u u c
– u a
– u d
u – u – u b
u – u – u – u e
– u u – u u – u f
– u u – u u – u e
– u f
– u f
– u f
Эй, синеблузые!
Рейте!
За океаны!
Или
у броненосцев на рейде
ступлены острые кили?!
Пусть,
2
– u u – u u a
– u b
u u u – u c
– u d
u u u – u u – u b
– u u – u u – u d
– e
134
оскалясь короной,
вздымает британский лев вой.
Коммуне не быть покорëнной.
Левой!
Левой!
Левой!
u – u u – u f
u – u u – u – u g
u – u u – u u – u f
– u g
– u g
– u g
Там
за горами горя
солнечный край непочатый.
За голод
за мора море
шаг миллионный печатай!
Пусть бандой окружат нанятой,
стальной изливаются леевой,-
России не быть под Антантой.
Левой!
Левой!
Левой!
3
– a
u u – u – u b
– u u – u u – u c
u – u d
u – u – u b
– u u – u u – u c
u – u u – u – u u e
u – u u – u u – u u e
u – u u – u u – u e
– u f
– u f
– u f
Глаз ли померкнет орлий?
В старое станем ли пялиться?
Крепи
у мира на горле
пролетариата пальцы!
4
– u u – u – u a
– u u – u u – u u b
u – c
u – u u – u a
u u u u – u – u d
135
rosa => weibliche Kadenz (Meist weibliche Kadenzen!!!)
türkis => männliche Kadenz
E-b) Deutsche Übersetzung
Entrollt euren Marsch, Burschen von Bord!
Schluß mit dem Zank und Gezauder.
Still da, ihr Redner!
Du
hast das Wort,
rede, Genosse Mauser!
Brecht das Gesetz aus Adams Zeiten.
Gaul Geschichte, du hinkst ...
Woll'n den Schinder zu Schanden reiten.
Links!
Links!
Links!
Грудью вперëд бравой!
Флагами небо оклеивай!
Кто там шагает правой?
Левой!
Левой!
Левой!
– u u – – u e
– u u – u u – u e
– u u – u – u e
– u e
– u e
– u e
136
Blaujacken, he!
Wann greift ihr an?
Fürchtet ihr Ozeanstürme?!
Wurden im Hafen euch eurem Kahn
rostig die Panzertürme?
Laßt
den britischen Löwen brüllen –
zahnlosfletschende Sphinx.
Keiner zwingt die Kommune zu Willen.
Links!
Links!
Links!
Dort
hinter finsterschwerem Gebirg
liegt das Land der Sonne brach.
Quer durch die Not
und Elendsbezirk
stampft euren Schritt millionenfach!
Droht die gemietete Bande
Mit stählerner Brandung rings, -
Russland trotzt der Entente
Links!
Links!
Links!
137
Seeadleraug' sollte verfehlen?!
Altes sollte uns blenden?
Kräftig
der Welt ran an die Kehle,
mit proletarischen Händen.
Wie ihr kühn ins Gefecht saust!
Himmel, sei flaggenbeschwingt!
He, wer schreitet dort rechts raus?
Links!
Links!
Links!
Deutsche Übersetzung nach HUGO HUPPERT; Quelle:
http://www.erinnerungsort.de/linker-marsch-_120.html, zugegriffen am 01.03.2017