Top Banner
Der Aufstand des Publikums Eine systemtheoretische Interpretation des Kulturwandels in Deutschland zwischen 1960 und 1989 The Rebellion of the Citizens A Systemtheoretical Interpretation of Cultural Change of the German Society (1960 – 1989) Jürgen Gerhards* Lehrstuhl für Kultursoziologie und Allgemeine Soziologie, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig, Burgstraße 21, 04109 Leipzig Zusammenfassung: Die Ausführungen haben zum Ziel, einen Wandel des Verhältnisses zwischen Experten und Bürgern in unterschiedlichen Teilbereichen der Gesellschaft der Bundesrepublik mit Hilfe eines systemtheoretischen Begriffs- instrumentariums zu beschreiben. Dazu wird in einem ersten Schritt das Konzept der funktionalen Differenzierung er- läutert, wie es von Niklas Luhmann entwickelt wurde. Im zweiten, und zentralen Kapitel des Textes werde ich dann mit Hilfe des systemtheoretischen Instrumentariums versuchen zu erläutern, dass die Inklusionsansprüche der Bürger im Hinblick auf eine Partizipation an den Bereichen Medizin, Erziehung, Recht, Kunst, Politik und Wirtschaft im Zeitraum 1960–1989 zugenommen haben. Diese Veränderung spiegelt sich sowohl auf der Ebene der teilsystemischen Diskurse als auch in der Ausdifferenzierung von neuen Rollen und Organisationen und in der Schaffung rechtlicher Regelungen, die die Mitsprachemöglichkeiten des Publikums erhöhen. Im dritten Kapitel gehe ich kurz auf die Frage nach den mögli- chen Ursachen für den diagnostizierten Wandel ein, um schließlich im letzten Kapitel die Ergebnisse zu bilanzieren. Die Ausführungen haben den Charakter einer Skizze, die empirischen Belege haben weitgehend explorativen Charakter. 1. Theoretischer Rahmen: Differenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche Es gibt bekanntlich recht verschiedene soziologi- sche Begriffssysteme zur Beschreibung der Grund- struktur moderner Gesellschaften. Ein Begriffs- instrumentarium ist die Theorie gesellschaftlicher Differenzierung, wie sie von Talcott Parsons und Niklas Luhmann, empirisch konkreter dann von Renate Mayntz und den Mitarbeitern des Kölner Max Planck Instituts für Gesellschaftsforschung (vgl. Mayntz 1988; Schimank 1988a; Stichweh 1988; 1988a) entwickelt wurde. Funktionale Diffe- renzierung beschreibt die Basalstruktur der Gesell- schaft und beansprucht, die Folgemerkmale und Einzelphänomene begrifflich vorstrukturierend zu erfassen. Mit diesem Anspruch grenzt sich das Kon- zept funktionaler Differenzierung zugleich gegen- über alternativen Grundstrukturbeschreibungen ab – und dies sind in erster Linie Klassen- und Schichttheorien (Konzepte vertikaler Differenzie- rung). 1 Funktionale Differenzierung meint die Dif- ferenzierung einer Gesellschaft in ungleichartige, nicht ungleichrangige (hierarchische) Kommunika- tionszusammenhänge. Luhmann unterscheidet in diesem Sinne unterschiedliche Teilsysteme der Ge- sellschaft: die Ökonomie, die Politik, die Wissen- schaft, die Kunst, die Medizin, die Massenmedien, das Recht etc. mit entsprechenden Binnendifferen- zierungen der jeweiligen Teilbereiche. 2 Die ver- © Lucius & Lucius Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 30, Heft 3, Juni 2001, S. 163–184 163 * Das Aufsatzmanuskript geht auf einen Vortrag zurück, den ich an der Universität Zürich gehalten habe. Für die Schriftfassung habe ich weitgehend den Vortragsstil beibe- halten. Die empirischen Ergebnisse sind zum Teil im Rah- men eines Lehrforschungsseminars entstanden. Den Teil- nehmern des Seminars gilt mein besonderer Dank. Klaus Christian Köhnke danke ich für die Idee, die Entwicklung der Bücher zum Thema Selbsthilfegruppen über das Zen- tralverzeichnis antiquarischer Bücher zu rekonstruieren. Den Herausgebern und einem anonymen Gutachter der Zeitschrift für Soziologie danke ich für hilfreiche Kom- mentare. 1 Die Annahme des Primats funktionaler Differenzierung meint nicht, dass es in modernen Gesellschaften keine Schichten und Klassen gäbe, sondern betont allein, dass sich diese erst im Kontext von Teilsystemen konstituieren; erst die optimale Erfüllung teilsystemspezifischer Rationa- litäten eröffnet den Zugang zu Elitepositionen und struk- turiert Schichtung. Der Terminus funktionale Differenzie- rung ist also in der Begriffshierarchie dem der Schicht und Klasse vorgeordnet. 2 Die Wissenschaften differenzieren sich z. B. in Naturwis-
22

Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

Dec 29, 2014

Download

Documents

Banjo001
Welcome message from author
This document is posted to help you gain knowledge. Please leave a comment to let me know what you think about it! Share it to your friends and learn new things together.
Transcript
Page 1: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

Der Aufstand des PublikumsEine systemtheoretische Interpretation des Kulturwandels in Deutschlandzwischen 1960 und 1989

The Rebellion of the CitizensA Systemtheoretical Interpretation of Cultural Change of the German Society (1960–1989)

Jürgen Gerhards*Lehrstuhl für Kultursoziologie und Allgemeine Soziologie, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig,Burgstraße 21, 04109 Leipzig

Zusammenfassung: Die Ausführungen haben zum Ziel, einen Wandel des Verhältnisses zwischen Experten und Bürgernin unterschiedlichen Teilbereichen der Gesellschaft der Bundesrepublik mit Hilfe eines systemtheoretischen Begriffs-instrumentariums zu beschreiben. Dazu wird in einem ersten Schritt das Konzept der funktionalen Differenzierung er-läutert, wie es von Niklas Luhmann entwickelt wurde. Im zweiten, und zentralen Kapitel des Textes werde ich dann mitHilfe des systemtheoretischen Instrumentariums versuchen zu erläutern, dass die Inklusionsansprüche der Bürger imHinblick auf eine Partizipation an den Bereichen Medizin, Erziehung, Recht, Kunst, Politik und Wirtschaft im Zeitraum1960–1989 zugenommen haben. Diese Veränderung spiegelt sich sowohl auf der Ebene der teilsystemischen Diskurseals auch in der Ausdifferenzierung von neuen Rollen und Organisationen und in der Schaffung rechtlicher Regelungen,die die Mitsprachemöglichkeiten des Publikums erhöhen. Im dritten Kapitel gehe ich kurz auf die Frage nach den mögli-chen Ursachen für den diagnostizierten Wandel ein, um schließlich im letzten Kapitel die Ergebnisse zu bilanzieren. DieAusführungen haben den Charakter einer Skizze, die empirischen Belege haben weitgehend explorativen Charakter.

1. Theoretischer Rahmen: Differenzierunggesellschaftlicher Teilbereiche

Es gibt bekanntlich recht verschiedene soziologi-sche Begriffssysteme zur Beschreibung der Grund-struktur moderner Gesellschaften. Ein Begriffs-instrumentarium ist die Theorie gesellschaftlicherDifferenzierung, wie sie von Talcott Parsons undNiklas Luhmann, empirisch konkreter dann vonRenate Mayntz und den Mitarbeitern des KölnerMax Planck Instituts für Gesellschaftsforschung(vgl. Mayntz 1988; Schimank 1988a; Stichweh1988; 1988a) entwickelt wurde. Funktionale Diffe-renzierung beschreibt die Basalstruktur der Gesell-

schaft und beansprucht, die Folgemerkmale undEinzelphänomene begrifflich vorstrukturierend zuerfassen. Mit diesem Anspruch grenzt sich das Kon-zept funktionaler Differenzierung zugleich gegen-über alternativen Grundstrukturbeschreibungenab – und dies sind in erster Linie Klassen- undSchichttheorien (Konzepte vertikaler Differenzie-rung).1 Funktionale Differenzierung meint die Dif-ferenzierung einer Gesellschaft in ungleichartige,nicht ungleichrangige (hierarchische) Kommunika-tionszusammenhänge. Luhmann unterscheidet indiesem Sinne unterschiedliche Teilsysteme der Ge-sellschaft: die Ökonomie, die Politik, die Wissen-schaft, die Kunst, die Medizin, die Massenmedien,das Recht etc. mit entsprechenden Binnendifferen-zierungen der jeweiligen Teilbereiche.2 Die ver-

© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 30, Heft 3, Juni 2001, S. 163–184 163

* Das Aufsatzmanuskript geht auf einen Vortrag zurück,den ich an der Universität Zürich gehalten habe. Für dieSchriftfassung habe ich weitgehend den Vortragsstil beibe-halten. Die empirischen Ergebnisse sind zum Teil im Rah-men eines Lehrforschungsseminars entstanden. Den Teil-nehmern des Seminars gilt mein besonderer Dank. KlausChristian Köhnke danke ich für die Idee, die Entwicklungder Bücher zum Thema Selbsthilfegruppen über das Zen-tralverzeichnis antiquarischer Bücher zu rekonstruieren.Den Herausgebern und einem anonymen Gutachter derZeitschrift für Soziologie danke ich für hilfreiche Kom-mentare.

1 Die Annahme des Primats funktionaler Differenzierungmeint nicht, dass es in modernen Gesellschaften keineSchichten und Klassen gäbe, sondern betont allein, dasssich diese erst im Kontext von Teilsystemen konstituieren;erst die optimale Erfüllung teilsystemspezifischer Rationa-litäten eröffnet den Zugang zu Elitepositionen und struk-turiert Schichtung. Der Terminus funktionale Differenzie-rung ist also in der Begriffshierarchie dem der Schicht undKlasse vorgeordnet.2 Die Wissenschaften differenzieren sich z.B. in Naturwis-

Page 2: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

schiedenen Teilsysteme der Gesellschaft unterschei-den sich durch unterschiedliche Sinnstrukturen, dieals Orientierung der Kommunikationen innerhalbdes Systems dienen.3 Man muss nicht die gesamteTheorie autopoietischer Systeme übernehmen, umdie Beschreibung moderner Gesellschaften als inverschiedene Teilsysteme differenzierter Gesell-schaften für plausibel zu erachten. Die Theoriefunktionaler Differenzierung bietet aber sinnvolleBestimmungselemente an, an die man mit empirischzu beantwortenden Forschungsfragen anknüpfenkann.4 Für die Entwicklung meiner Forschungsfra-ge sind folgende Definitionskriterien von funktio-naler Differenzierung und von Teilsystemen beson-ders bedeutsam:5

(a) Das Vorliegen eines spezifischen, ungleicharti-gen Sinnzusammenhangs, der als solcher als Leit-orientierung für Einzelkommunikationen innerhalbdieses Sinnzusammenhangs dient. Ein Teil der Teil-systeme sichert die Orientierung an einem spezi-fischen Sinnzusammenhang mit Hilfe eines binärenCodes, eines Wahrnehmungs- und Verarbeitungs-musters von Informationen. All das (symbolischeGeneralisierung), was innerhalb eines Teilsystemsrelevant ist (Limitierung), wird auf zwei Interpreta-tionspole hin gedeutet (binäre Schematisierung)(vgl. Luhmann 1981: 267 f.; Luhmann 1986:75–88). Codes dienen der Orientierung der Kom-munikation innerhalb der Teilsysteme. Für die Wis-senschaft lautet der Code wahr/unwahr bezogenauf Erkenntniskommunikation, für die Politik heißtder Code Verfügen bzw. Nicht-Verfügen überMachtpositionen, für die Religion Immanenz/Transzendenz, für die Kunst Realität/Fiktionalität,für das Rechtssystem recht/unrecht etwa für Kla-gen, für den Sport Sieg/Niederlage in sportlichenWettkämpfen.

Die Codes steuern die je teilsystemspezifischenKommunikationen, und dies auf abstraktester Ebe-ne. Dadurch, dass z.B. das Rechtssystem alle Kom-munikationen innerhalb seines Zuständigkeits-bereichs nach Recht/Unrecht unterscheidet, machtes sich frei von außerrechtlichen Kriterien (Geld,Macht, Religionszugehörigkeit oder Bildung derKonfliktparteien) und sichert seine legitime Indiffe-renz gegenüber anderen Kommunikationslogiken;dadurch, dass sich alles sportliche Handeln an demCode Sieg/Niederlage orientiert, wird eine Bewer-tung sportlicher Leistungen allein an sport-imma-nenten Kriterien sichergestellt (vgl. Schimank:1988a). Kommunikationen aus der Umwelt vonSystemen müssen nach dem systemimmanentenCode bearbeitet werden.6

(b) Codes sind zu abstrakt und lassen einen allzugroßen Spielraum offen, um Handlungen zu struk-turieren. Entsprechend gibt es in vielen Teilsyste-men Programme, die die Codes genauer spezifizie-

164 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 30, Heft 3, Juni 2001, S. 163–184

senschaften, Geisteswissenschaften und Sozialwissen-schaften und dann weiter in die verschiedenen wissen-schaftlichen Fächer, die Kunst z.B. in Musik, Theater, Li-teratur, Bildende Kunst.3 Uwe Schimank (1988) hat versucht, der Systemtheorieeine interaktionistische Wende zu geben, indem er Gesell-schaft und deren Teilsysteme als eine Konstruktion kom-munizierender Akteure begreift. Schimank bezeichnetTeilsysteme entsprechend als Akteursfiktionen. Der Ak-zent der Bestimmung von Teilsystemen verlagert sich dannvon einer Bestimmung durch eine Außenperspektive aufeine Bestimmung durch eine Innenperspektive von Syste-men.4 Entsprechend geht es bei der Erläuterung der system-theoretischen Grundbegriffe nicht um eine gelungeneTextexegese. Das Erkenntnisinteresse ist durch die Empi-rie bestimmt und gilt dem Versuch der Beschreibung einerPhase gesellschaftlichen Wandels. Entscheidend ist allein,ob sich der Wandel sinnvoll in den Kategorien der System-theorie beschreiben lässt.5 Zwei Dimensionen sind bei der Bestimmung des Begriffsder funktionalen Differenzierung von Bedeutung: 1. Teil-systeme werden zum einen, gleichsam nach „oben“ hin alsspezialisierte Systeme beschrieben, die für die Gesamt-gesellschaft eine Funktion erfüllen. Talcott Parsons hatteversucht, die Funktionen aus Grundproblemen, die alleSysteme und damit auch Gesellschaften lösen müssen, de-duktiv abzuleiten. Dies ist überzeugend u.a. als funktiona-listischer Fehlschluss kritisiert worden. Luhmann hat da-raus die Konsequenz gezogen, und Funktionen induktivbestimmt. Er geht von historisch entstandenen und empi-risch bestimmbaren Bezugsproblemen aus, die Gesell-schaften entwickelt haben, und ordnet diesen Bezugsprob-lemen gesellschaftliche Teilsysteme zu, die sich auf dieLösung dieser Probleme ausschließlich spezialisiert haben.Im Verlauf der Theorieentwicklung Luhmanns spielt dieBestimmung von Teilsystemen über deren Funktion abereine immer geringere Rolle, auch wenn der Begriff derfunktionalen Differenzierung beibehalten wird. Faktischwerden die Teilsysteme ganz dominant durch eine Bestim-mung ihrer internen Struktur beschrieben. Uwe Schimank(1996: 155) interpretiert diesen Wechsel in der Luhmann-

schen Perspektive als eine Folge der autopoietischen Wen-de.6 Die Politik will zur eigenen Ansehenssteigerung vieleOlympiamedaillen gewinnen; sie kann dazu die Infra-struktur des Sports verbessern, sie kann aber nicht denCode Sieg/Niederlage außer Kraft setzen. Die Sportler desjeweiligen Landes müssen im Sport gewinnen, damit eineAnsehenssteigerung des Landes erreicht wird. Die Wirt-schaft will Erkenntnisse über bestimmte Produkte erwer-ben und dies von der Wissenschaft; sie kann Forschungenfinanzieren, aber die Erkenntnisproduktion läuft nachdem Code des Wissenschaftssystems.

Page 3: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

ren und Handlungserwartungen festlegen. Die Di-agnoseverfahren und des Lehrbuchwissen der Me-dizin bilden Programme des Medizinsystems, dieParteiprogramme von politischen Parteien spezifi-zieren, mit welchen Themen und Positionen die Ak-teure im politischen System an die Macht kommenwollen, das BGB lässt sich als ein Programm desRechtssystems interpretieren, weil es festlegt, wasals Recht und was als Unrecht zu verstehen ist, undWissenschaftstheorien, Theorien und Methodenspezifizieren für das Wissenschaftssystem den Codewahr/unwahr.

(c) Von einer Ausdifferenzierung von Teilbereichender Gesellschaft spricht man erst dann, wenn die je-weilige spezifische Sinnrationalität auf Dauer ge-stellt ist. Mit dem Kriterium des „Auf-Dauer-Stel-lens“ ist impliziert, dass Teilsysteme nicht alleinsituativ verfestigt sind, sondern einer strukturellenAbsicherung in spezifischen Rollen bedürfen(Mayntz 1988: 20). Spezifische Rollen, die dieHandlungsrationalität eines Systems zum Ausdruckbringen, hat Luhmann in den früheren Arbeiten alsdie Leistungsrollen eines Systems bezeichnet (vgl.Luhmann und Schorr 1979: 29–34): Mediziner, Pä-dagogen, Politiker, Juristen, Künstler, Sportler, Wis-senschaftler sind Berufsrollenträger innerhalb derjeweiligen Teilsysteme, die die Handlungsrationali-tät zum Ausdruck bringen und damit strukturell ab-sichern. Damit gewinnt die abstrakte SystemtheorieAnschluss an eine mittlerweile fast vergessene, zu-gleich aber „bodennahe“ Theorie der Soziologie:die Rollentheorie im Allgemeinen, die Theorie derBerufsrollen und der Professionen im Speziellen.7

Sehr häufig ist der Prozess der Ausdifferenzierungeines Teilsystems nämlich verbunden gewesen mitProzessen der Entstehung und Professionalisierungder jeweiligen Leistungsrolle. Die Ausdifferenzie-rung eines Erziehungssystems geht einher mit derProfessionalisierung des Lehrerberufs, die Entfal-tung der Medizin als Disziplin mit der Professiona-lisierung der Ärzte, die ihre Ausbildung formalisie-ren und sich in Vereinigungen zusammenschließen(vgl. Herzlich/Pierret 1991: 70 ff.), die Ausdifferen-zierung der Wissenschaften mit der Professionalisie-rung von Wissenschaft als Beruf (Stichweh 1994).In der Theoriesprache Max Webers formuliertkönnte man auch sagen: Die Differenzierung der

Wertspähren wird begleitet durch die Entstehungeines „eingeschulten Fachmenschentums“ (Weber1988: 3).

Für manche Teilsysteme sind die spezifischen Be-rufsrollen in Organisationen eingelassen (Mayntz1988: 20). Insofern erhalten die Teilsysteme eineweitere strukturelle Verfestigung. Organisationensind Akteure, die die Mitgliedschaft an die Aner-kennung des in Organisationen geltenden Regelsys-tems knüpfen und als Gegenleistung die Zahlungvon Einkommen bieten (vgl. Luhmann 1975: 12).Zwischen der Ausdifferenzierung von Teilsystemenund der Entstehung von Organisationen besteht ei-ne Wahlverwandtschaft: Der Spezifizierung derKommunikation und der Indifferenz gegenüber derUmwelt im Falle der Teilsysteme entspricht auf derEbene der Organisationen deren Indifferenz gegen-über ihrer inneren Umwelt, ihren Mitgliedern.Marx‘ Analyse der Entstehung des Kapitalismusund der Zwangsanstalt des kapitalistischen Betriebsbeschreibt in klassischer Weise das Zusammenspielder Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems undspezifischer Organisationen, und Webers Analyseder Rationalisierung der politischen Sphäre und derEntstehung einer rationalen Bürokratie, beschreibteinen ähnlichen Vorgang für das politische System.Die Systeme Gesundheit, Wissenschaft, Politik,Recht, Wirtschaft und Erziehung haben heute alleOrganisationen und weit verzweigte Organisations-netze ausgebildet, die die jeweilige Handlungsratio-nalität strukturell absichern (Mayntz 1988).

Der Versuch, die Systemtheorie mit der Rollen- undProfessionalisierungstheorie und der Organisations-soziologie zu verbinden, scheint mit folgenden Vor-teilen verbunden zu sein. Zum einen wird die all-gemeine Systemtheorie durch eine Verbindung mitder Rollen- und Organisationstheorie stärker kon-kretisierbar und damit empirisch fassbarer ge-macht; zum anderen ermöglicht es die Verbindungmit einer Professionalisierungstheorie, die beschrei-bende Systemtheorie um eine erklärende hand-lungstheoretische Perspektive zu ergänzen. UweSchimank (1985) hat der Systemtheorie zum eineneinen mangelnden Akteursbezug, zum anderen einErklärungsdefizit vorgeworfen. Schimank versucht,seine Kritik produktiv zu wenden, indem er zwi-schen handhandlungsprägenden und handlungs-fähigen Systemen unterscheidet. Teilsysteme imLuhmannschen Sinn sind als handlungsprägendeSysteme zu verstehen, die wie „contraints“ dieHandlungsmöglichkeiten von Organisationen undRollen (handlungsfähige Systeme) einengen. Mitdieser Einführung eines Akteursbezugs in die Sys-temtheorie ließe sich auch, so das nicht unplausible

Jürgen Gerhards: Der Aufstand des Publikums 165

7 Für die Parsonianische Theorie war der Bezug zwischender abstrakten Systemtheorie einerseits und der Rollen-theorie andererseits noch konstitutiv. Luhmann führt zwarin den frühen Arbeiten den Begriff der Leistungsrollen ein,in den Texten nach der autopoietischen Wende hat dasRollenkonzept aber faktisch keine Bedeutung mehr.

Page 4: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

Argument von Schimank, das Erklärungsdefizit derSystemtheorie schmälern. Man kann dies am Bei-spiel von Berufsrollen und Professionen erläutern.

Professionen sind Berufsrollen, die auf einer spezia-lisierten, tendenziell verwissenschaftlichten Ausbil-dung beruhen, die den Berufszugang an den Erwerbvon Ausbildungszertifikaten koppeln und durch ei-ne Selbstkontrolle der Profession gekennzeichnetsind (vgl. z.B. Rüschemeyer 1961). Die akteurs-und konflikttheoretische Professionalisierungstheo-rie hat die Ausbildung von Professionen auf die Ei-geninteressen der jeweiligen Profession zurück-geführt (vgl. Murphy 1988). Professionalisierungist eine Marktstrategie von Berufen und Berufsver-bänden, die eigene Arbeitskraft optimal zu ver-markten. Die Monopolisierung der Ausbildung unddes Berufszugangs, die Definition und Ausdehnungvon Aufgabenfeldern sind Strategien zur Erreichungdieses Ziels. Leistungsrollen und Professionen derTeilsysteme stellen die Sinnrationalität der Teilsys-teme auf Dauer; dies kann man von der System-theorie lernen. Dass sie dies tun, um ihre Eigeninte-ressen zu verwirklichen und dass Systemwandelu.a. auf die Handlungen von Professionen zurück-führbar ist, kann man aus der Professionalisie-rungstheorie lernen.

(d) Für viele der Teilsysteme haben sich in Komple-mentarität zu den Leistungsrollen spezifische Publi-kumsrollen entwickelt.8 Funktionale Differenzie-rung meint auch, dass die Menschen einerGesellschaft nicht auf Teilsysteme aufgeteilt wer-den, sondern grundsätzlich alle an allen Teilsyste-men partizipieren können, wenn sie die jeweiligeRationalität zur Grundlage ihrer Sinnorientierungmachen (vgl. Luhmann 1997: 618 ff.; Luhmann/Schorr 1979: 29–34). Publikumsrollen ermöglichendie Inklusion der Gesamtbevölkerung in die Teilsys-teme und definieren die Möglichkeiten der Parti-zipation der Bevölkerung an den verschiedenenTeilsystemen.9 Als Patient, Zögling, Wähler, Arbeit-nehmer, Kläger und Zuschauer kann man über spe-zifische Rollen an den jeweiligen Sinnprovinzenpartizipieren (vgl. Luhmann 1997: 625). Eine Be-

schreibung der Inklusion der Bevölkerung überPublikumsrollen als Komplementärrollen zu denLeistungsrollen ist vor allem von Rudolf Stichweh(1988a) in einem sehr interessanten Aufsatz ge-nauer expliziert worden.

Stichweh begreift den Prozess der Ausdifferenzie-rung von Teilsystemen als Sequenz von drei Schrit-ten: der Entstehung von Situationen funktional spe-zialisierter Kommunikation, der Stabilisierungeines spezialisierten Sinnzusammenhangs durch dieEntstehung von Leistungsrollen/Professionen undder Entstehung von Publikumsrollen als Komple-mentärrollen zu den Leistungsrollen. Die Publi-kumsrollen erhalten dabei einen ganz spezifischenZuschnitt (Stichweh 1988a: 262): 1. Jeder Bürgerhat die Möglichkeit, an allen Teilsystemen partizi-pieren zu können, ja zum Teil partizipieren zu müs-sen: Alle Kinder müssen schulisch erzogen werden,alle Bürger erhalten das Wahl-, Versammlungs- undDemonstrationsrecht, alle haben einen Anspruchauf medizinische Versorgung, jeder kann gegenZahlungen Güter und Dienstleistungen erwerben,jeder kann als Kläger auftreten etc. 2. Zugleich sinddie Partizipationschancen in den Teilbereichen aufbestimmte Rollenerwartungen zugeschnitten. Indi-viduelle und konkrete Besonderheiten der Bürgerwerden als irrelevant codiert; relevant sind alleindie Aspekte der Person, die aus der Perspektive desjeweiligen Teilsystems – vertreten durch die Leis-tungsrollen – als relevant definiert werden: DerArzt interessiert sich in erster Linie für die unterdem Code gesund/krank analysierbaren Aspektedes Körpers einer Person, die Politiker interessierensich für die Bürger in ihrer Rolle als Wähler, dieLehrer interpretieren die Schüler im Hinblick aufdie durch das Erziehungssystem an sie gestelltenAnforderungen. Leistungsrollen als Repräsentantender jeweiligen teilsystemischen Rationalität verhal-ten sich indifferent gegenüber der Komplexität ih-res jeweiligen Publikums; sie nehmen dieses immernur unter spezifischen Rollengesichtspunkten wahrund ermöglichen ihm allein über diesen selektivenZugriff den Zutritt in das System.

2. Die Umcodierung des Verhältnisses vonPublikums- und Leistungsrollen

Die Systemtheorie geht davon aus, dass mit derAusdifferenzierung von Teilsystemen und mit derenBinnendifferenzierung die Geschichte gleichsam anihr Ende gelangt. In Aufnahme und Benutzung dererläuterten systemtheoretischen Beschreibung derGrundstruktur moderner Gesellschaften vermute

166 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 30, Heft 3, Juni 2001, S. 163–184

8 Die Unterscheidung von Leistungs und Publikumsrollenerinnert an die Unterscheidung von Experte und Laie beiAlfred Schütz. Die Schütz'sche Terminologie – „expert,man on the street and wellinformed citizen“ (Schütz 1946)– ist aber theoretisch insofern harmloser als die system-theoretische Terminologie, weil sie nicht in ein komplettesTheoriegebäude integriert ist (vgl. Sprondel 1979).9 Diese Vorstellung geht über den Inklusionsbegriff vonTalcott Parsons hinaus, der Inklusion vor allem auf dieTeilhabe an der politischen Gemeinschaft bezogen hatte(Parsons 1992: 32 ff.).

Page 5: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

ich, dass sich für die Zeit von 1960 bis 1989 eineEtappe beschreiben lässt, die man als Umcodierungdes Verhältnisses von Publikums- und Leistungsrol-len in den unterschiedlichen Systemen beschreibenkann. Seit den 60er Jahren hat sich in den verschie-denen Teilbereichen der Gesellschaft der Bundes-republik – und wahrscheinlich auch in anderenwestlich-industrialisierten Gesellschaften – das Ver-hältnis von Leistungs- und Publikumsrollen fun-damental gewandelt hat. Die Rechte und Inklusi-onsansprüche der Laien sind im Verhältnis zu denAutoritätsrollen in fast allen Bereichen gestiegen,die Reduktion auf einen recht selektiven Rollen-zuschnitt ist aufgeweicht worden, Bürger meldensich als Personen zu Wort, ein Aufstand des Publi-kums hat stattgefunden:10 Patienten lassen sichnicht mehr einfach verarzten, sondern wollen psy-chosozial betreut werden, Richter müssen mehr alszuvor das soziale Milieu und die Sozialisations-bedingungen des Angeklagten und damit die jewei-lige Gesamtperson berücksichtigen, Schüler und ih-re Eltern fordern Mitsprachemöglichkeiten, undStaatsbürger lassen sich nicht auf die Wählerrollereduzieren, sondern wollen bei möglichst vielenEntscheidungen mitreden.

Das Ziel der Ausführungen in diesem Kapitel be-steht darin, die Umcodierung des Verhältnisses vonPublikums- und Leistungsrollen in verschiedenenTeilsystemen der Gesellschaft empirisch zu rekon-struieren. Dazu kann man zum Teil auf die in denverschiedenen Bindestrichsoziologien erfolgtenAnalysen zurückgreifen und diese in dem hier ent-wickelten Theorierahmen reinterpretieren. ZumTeil bedarf es aber neuer Primärforschungen. InForm von kleineren, explorativen Untersuchungenhabe ich versucht, die Möglichkeiten eines solchenUnterfangens auszuloten, und dies für fünf ver-schiedene Teilbereiche der Gesellschaft getan.

Die skizzierte systemtheoretische Begrifflichkeit solldabei dazu dienen, die auf den ersten Blick rechtverschiedenen empirischen Veränderungen theo-retisch zu integrieren. Der theoretische Mehrwert,der damit entsteht, besteht darin, dass man Er-kenntnisse aus Teilbereichen der Gesellschaft in ei-ne Gesamtperspektive der Gesellschaft integrieren

und als gesellschaftlichen Kulturwandel insgesamtinterpretieren kann. Genau diese Integrationsleis-tung einer Theorie ist nach Robert K. Merton einGütezeichen einer Theorie: „Sociologicial theorymust advance on these inter-connected planes;through special theories adequate to limited rangesof social data and through the evolution of a con-ceptual scheme adequate to consolidate groups ofspecial theories“ (Merton 1949: 166; vgl. Schimank1996). Ganz ähnlich argumentieren auch Karl-Die-ter Opp und Reinhard Wippler (1990: 4 f.), wennsie die Integrationsfähigkeit bereichsspezifischenWissens als eines der Gütekriterien von Theorienangeben (vgl. auch Haller 1999: 38 ff.). Die Einfüh-rung der systemtheoretischen Analysekategorien le-gitimiert sich entsprechend über das Versprechen,dass sie Entwicklungen in recht verschiedenen Be-reichen der Gesellschaft beschreibbar macht.

2.1 Medizin: Gynäkologen/Hebammenund Frauen

Der Prozess der Ausdifferenzierung eines eigenstän-digen Gesundheitssystems ist eine lange Geschichte(vgl. Maynt/Rosewitz 1988). Er beginnt mit einerspezifischen Definition von Krankheit als einem na-türlichen (statt magischen oder religiösen) Phäno-men, das behandlungsfähig ist; er setzt sich fort miteiner Ausdifferenzierung von Rollen, die sich aufdie Diagnose und Therapie spezialisieren und vom19. Jahrhundert an dann auch in Form des Arzt-berufes professionalisieren, und – parallel dazu –der Entstehung von Organisationen in Gestalt vonArztpraxen und Hospitälern. Die Ärzte und dasmedizinische Personal erhalten des Monopol überdie Definition von Krankheit und Gesundheit.„Krank sein heißt, sich ihren Regeln unterzuord-nen, ihre Vorschriften zu befolgen und ihre Rat-schläge zu beachten“ (Herzlich/Pierret 1991: 71).Zugleich findet eine Erweiterung der Inklusion derBürger in das Gesundheitssystem statt, mitbedingtdurch die Entwicklung wohlfahrtstaatlicher Institu-tionen, vor allem der Krankenversicherungen. DieInklusion der Bürger in das Medizinsystem bedeu-tet, dass alle ein Recht auf gesundheitliche Versor-gung haben, am System aber nur über die Rolle desPatienten partizipieren und Personen sehr selektivunter der Perspektive eines gesunden/kranken Kör-pers interpretiert werden (Luhmann 1990).

Die Kritik an der selektiven Perspektive des medizi-nischen Codes und seiner in der Schulmedizin insti-tutionalisierten Programme der Diagnose und The-rapie hat die Entwicklung der Medizin immerschon begleitet; mit den 70er Jahren mehren sich

Jürgen Gerhards: Der Aufstand des Publikums 167

10 Der im Folgenden beschriebene Wandlungsprozess istnicht identisch mit der von Luhmann (1983) beschriebe-nen Anspruchsinflation. Mit der Anspruchsinflation z.B.im Gesundheitswesen beschreibt Luhmann nicht ein quali-tativ verändertes Verhältnis zwischen Leistungs- und Pub-likumsrollen, sondern die Eigendynamik von Teilsyste-men, die sich aus der Tatsache ergibt, dass es keinsystemexternes Kriterium gibt, das als eine Art Stoppregeldie Forderungen z.B. nach mehr Gesundheit begrenzt.

Page 6: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

aber die Stimmen, die ein anderes Verhältnis zwi-schen Patient und Arzt fordern. Exemplarisch fürdiese Kritik stehen die weitverbreiteten SchriftenIvan Illich (1983). Die modernen medizinischen In-stitutionen haben die Möglichkeit zerstört, so dieThese Illichs, dass der Patient seinen Zustand selbstinterpretieren kann; sie haben ihn entmündigt undseiner eigenen Sprache beraubt.

Um die These eines Wandels des Verhältnisses vonLeistungs- und Publikumsrollen im Bereich der Me-dizin illustrativ zu überprüfen, habe ich mich aufden Bereich der Gynäkologie beschränkt und eineAuswertung von Hebammenlehrbüchern durch-geführt. Hebammenlehrbücher sind Lehrmateria-lien, mit denen die Berufsauffassungen und die Be-rufspraxis der auszubildenden Hebammen definiertwerden. Die in Hebammenlehrbüchern behandeltenThemen und die Art ihrer Thematisierung könnenals Anzeichen für die jeweilige Codierung des Phä-nomens Geburt, Geburtshilfe und des Verhältnisseszwischen Gebärender und Hebamme interpretiertwerden. Wie in allen Diskursanalysen wissen wirauch hier nicht, ob die in Hebammenlehrbüchernnormativ definierten Regeln der Geburtshilfe dasHandeln der Hebammen geprägt haben und, wennsie es getan haben, in welchem Ausmaß dies derFall war. Ich gehe hypothetisch davon aus, dass dieim Diskurs vermittelten Ideen einen Einfluss auf diePerzeptionen und die Handlungsweisen der Heb-ammen haben.

Ich habe mich in der Analyse auf das im Auftragdes Bundesministeriums für Gesundheit heraus-gegebene Hebammen-Lehrbuch konzentriert, das1962 von W. Bickenbach, 1971, 1979 und 1983von Gerhard Martius in jeweils veränderten Auf-lagen herausgegeben wurde (vgl. auch Mändle,Opitz-Kreutzer und Wehling 1995).11 Bei allenAuflagen des Hebammenlehrbuchs handelt es sichin erster Linie um ein von Medizinern verfasstesund auf medizinische Fragen zentriertes Lehrbuch.Neben einer allgemeinen Abhandlung über dieFunktionsweisen des menschlichen Körpers und ei-ner allgemeinen Krankheitslehre werden die ver-schiedenen Etappen der Schwangerschaft und derGeburt bis zum Wochenbett und der Säuglings-betreuung beschrieben. Ergänzt wird der medizi-nische Teil um ein Kapitel zur Gesetzes- und Berufs-

kunde. Die Titel und Akzentsetzungen dereinzelnen Kapitel ändern sich zwar im Zeitverlauf,konstant bleibt aber der Tatbestand, dass Geburt,Geburtsvorbereitung und Geburtsprobleme als me-dizinischer Fachdiskurs abgehandelt werden.

In der Auflage von 1979 tritt insofern eine struktu-relle Veränderung auf, als jetzt ein Kapitel über„Psychosomatik und Psychopathologie derSchwangeren und Gebärenden und Mutter“ auf-genommen wird. In der Auflage von 1983 wird die-ses Kapitel ausgedehnt, es rückt zudem von einemhinteren Kapitelplatz nach vorne und wird damit inseiner Bedeutung hervorgehoben. Mit der Einfüh-rung dieses Kapitels über die Psyche der Schwange-ren wird die monopolistische Stellung des medizi-nischen Diskurses unterbrochen und ergänzt durcheine psychosoziale Perspektive auf den Geburtsvor-gang. Der Wechsel der Perspektive, und damit dieUmdeutung des Geburtsvorgangs, wird deutlich anden einleitenden Worten:

„Man entbindet keine Hinterhauptlage, sondern ei-ne werdende Mutter von ihrem Kinde. Die Ver-gegenwärtigung dieses Satzes scheint in unseremtechnischen Zeitalter besonders wichtig, weil darindokumentiert wird, daß es eine persönliche Auf-gabe der Hebamme ist, eine Frau zu entbinden. Da-zu gehören nicht nur die medizinischen Kenntnisseüber den Geburtsmechanismus, sondern auchKenntnisse in der psychologischen Geburtsleitung“(Martius 1983: 229).

Das Zitat bringt folgende Umcodierung zum Aus-druck: Die Beschreibung einer Schwangerschaft als„Hinterhauptlage“ ist die Perspektive des medizi-nischen Diskurses und spiegelt die Sicht der Exper-ten auf die Schwangere. Die Schwangere wird nichtin ihrer Gesamtperson betrachtet, sondern selektivaus der Perspektive der medizinischen Diagnostik.Diese wiederum orientiert sich an einer möglichenKomplikationserwartung und interpretiert dieSchwangere mit dem Code „gesund/krank“. DieKritik an dieser reduktionistischen Perspektivekommt durch die Formulierung einer Alternativper-spektive zum Ausdruck: Eine Entbindung soll alsdie Entbindung einer werdenden Mutter von ihremKind begriffen werden. Damit wird der Horizonteiner selektiv-medizinischen Perspektive erweitert,und die Mutter als Gesamtperson gerät in denBlick. Die Notwendigkeit einer Blickveränderungwird gekoppelt mit einer vorsichtigen Technikkri-tik. Die Behauptung, dass gerade in unserem tech-nischen Zeitalter eine Perspektivenveränderungnotwendig sei, meint, dass gerade durch den Ein-satz der Technik, auch im Bereich der Medizin, die

168 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 30, Heft 3, Juni 2001, S. 163–184

11 Die Auswahl dieses Lehrbuchs ist zweifach begründet:Zum einen handelt es sich um ein staatlich ratifiziertesLehrbuch, das weit verbreitet war bzw. ist, zum anderengibt es das Lehrbuch in mehreren, veränderten Auflagen,so dass es sich für eine Analyse von Wandlungsprozessenbesonders eignet.

Page 7: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

Menschen auf Objekte reduziert werden. Die gefor-derte Erweiterung der Perspektive durch eine Inklu-sionserweiterung wird dann gekoppelt mit der For-derung, die Psychologie zu Rate zu ziehen.

Die Veränderungen der Hebammenlehrbücher gebenuns einen ersten Hinweis darauf, dass im Bereich derMedizin und in dem Teilbereich der Gynäkologie einKulturwandel in dem Sinne stattgefunden hat, dassdas Verhältnis von Publikums- und Leistungsrolleanders interpretiert wird, insofern die selektive Per-spektive auf die Patienten erweitert wurde. DieserBefund bedarf sicherlich einer genaueren Bestätigungan Hand von weiteren Textanalysen.

Die Umdefinition des Verhältnisses von Leistungs-und Publikumsrolle im Bereich der Medizin ist abernicht reines diskursives Palaver geblieben, sondernwar folgenreich im Hinblick auf die Ausdifferenzie-rung von neuen Rollen und Institutionen, die dasveränderte Verhältnis auf Dauer stellen. Zu diesenRollen gehören die seit den 70er Jahren entstande-nen Selbstorganisationen des Publikums der Me-dizin, die vielzähligen Selbsthilfe- und Patien-tengruppen, die eine Inklusionserweiterung derPublikumsrolle fordern (Pankoke 1999). DieterRucht, Barbara Blattert und Dieter Rink haben aufder Basis einer Auswertung von „Stattbüchern“ füreinige deutsche Städte versucht, die Entwicklungder Infrastruktur von sozialen Bewegungen zu be-schreiben. Sie unterteilen die verschiedenen Grup-pierungen in verschiedene thematische Bereiche. ImBereich der Medizin gab es z.B. in Berlin 1974 9,1980 30, 1984 43 und 1989 68 unterschiedlicheGruppen, die sich mit Gesundheit beschäftigten(Rucht, Blattert und Rink 1992: 235); innerhalb ei-nes Zeitraums von 15 Jahren hat sich die Anzahl al-so versiebenfacht. Die Umcodierung des Verhältnis-ses von Leistungs- und Publikumsrollen kommt indem Schlüsselbegriff der Gesundheitsgruppen tref-fend zum Ausdruck: Sie fordern eine ganzheitlicheMedizin. Damit wird der Anspruch der Patientenformuliert, mehr als ein kranker Körper zu sein undmit der gesamten Person innerhalb des Medizinsys-tems Berücksichtigung zu finden.

Die Idee einer ganzheitlichen Medizin findet auchverstärkt Einzug in die Geburtshilfe und findet inden Geburtshäusern ihr institutionalisiertes Korre-lat.12 Geburtshäuser sind weitgehend aus der Frau-enbewegung heraus entstanden; der Gründungs-gedanke von Geburtshäusern ist verbunden miteiner Kritik am Anstaltscharakter der Entbindungs-

stationen der Krankenhäuser. So laut z.B. die Ziel-vorstellung des Vereins „Geburtshaus für eineselbstbestimmte Geburt e.V.“ in Berlin: „Frauen . . .fordern mehr Mitsprache in Bezug auf Ort und dieUmstände der Geburt. Sie kritisieren die unpersön-liche Atmosphäre in den Kliniken; sie sind unzufrie-den, dass sie sich zur Geburt in fremde Hände bege-ben müssen, dass sie der Hebamme und dem Arztin den meisten Fällen unter der Geburt zum erstenMal begegnen. Sie wollen aktiv bei der Geburt ihresKindes mitwirken, statt als Patientin ‚entbunden‘zu werden“ (Voget 1991: 227).13

Vor allem in Großstädten, in denen mehrere Ent-bindungsstationen miteinander um die Frauen alsKunden konkurrieren, haben die Mitbestimmungs-ansprüche der Frauen zu Veränderungen der Insti-tution der Krankenhäuser geführt. Informationsver-anstaltungen über das Angebot der jeweiligenStation und Besichtigungen der Kreißsäle werdenangeboten. Die ästhetische Gestaltung der Kreiß-säle hat sich zum Teil radikal gewandelt: Die medi-zinischen Apparate sind in den Hintergrund ge-rückt, Naturholz wird statt Metall und Kunststoffbenutzt, warme Wandfarben haben die grünen Flie-sen, eine Dimmerbeleuchtung das kalte Neonlichtersetzt; manche Zimmergestaltung erinnert heuteeher an eine Schlafzimmereinrichtung von IKEA alsan die von Operationssälen.

Die Gründung von Geburtshäusern und von Selbst-organisationen von Patienten wird begleitet durcheine Fülle an Literatur, mit deren Hilfe sich Patien-

Jürgen Gerhards: Der Aufstand des Publikums 169

Abb. 1 Anzahl der Bücher zum Thema „Selbsthilfe“(1950–1989)

12 Der Überblick über Geburtshäuser von Dorit Zimmer-mann (1998) trägt den Untertitel „Ganzheitliche Geburtals Alternative“.

13 In der Bundesrepublik gab es 1995 27 Geburtshäuser(vgl. Zimmermann: 1998: 87–124).

Page 8: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

ten zu vermeintlich mündigen Patienten machenund ihre Rechte in der Auseinandersetzung mit denLeistungsrollen kompetent einfordern können (vgl.z.B. die Literaturliste in Voget 1991). Um die Ent-wicklung der Literatur zum Thema Selbsthilfe em-pirisch zu rekonstruieren, habe ich eine Analyse des„Zentralen Verzeichnisses antiquarischer Bücher“durchgeführt. Die Entwicklung der Bücher, die imTitel oder Untertitel den Begriff der Selbsthilfe be-nutzen, ist in der Abb. 1 abgebildet.14

Wie die Abbildung 1 ausweist, wird Selbsthilfe seit1970/74, dann aber vor allem von 1975 an ein The-ma der Buchproduktion. Schaut man sich die Inhal-te der Bücher genauer an, stellt man fest, dass sichdas, was unter Selbsthilfe verstanden wird, im Zeit-verlauf ändert. In den 50er und 60er Jahren be-schäftigen sich die Selbsthilfebücher vor allem mitGenossenschaften, während seit den 70er Jahrender Themenbereich Gesundheit und Frauen in denFokus des Interesses rückt.

2.2 Recht: Strafjustiz und Angeklagte

Der zweite Bereich, für den ich eine Veränderungdes Verhältnisses von Leistungs- und Publikumsrol-len untersuchen möchte, ist der des Rechts. DieTeilhabe der Bürger am Rechtssystem ist über dieRolle des Klägers bzw. des Angeklagten definiert,die Leistungsrollen bestehen aus den Richtern, denAnwälten und der Staatsanwaltschaft. Ich konzen-triere mich im Folgenden auf die Analyse der Ver-änderung der Rolle des Angeklagten und die im Fal-le der Verurteilung eintretende Folgerolle – die dasStrafgefangenen. Das Material, an dem eine Ver-änderung analysiert werden soll, ist das Rechtselbst. Der Vorteil einer Rechtsanalyse im Vergleichzu einer Analyse von Diskursen und Debatten be-steht darin, dass das Recht einen hohen Grad anVerbindlichkeit hat (vgl. Schelsky 1972). Werdenneue Werte und Ideen in rechtliche Regelungen ge-gossen, dann hat Kulturwandel den höchsten Gradder Institutionalisierung erreicht, weil die neuenNormen und Werte nun für alle verbindlich sindund abweichendes Verhalten mit rechtlichen Sank-tionen verbunden ist.

Die Rechtsentwicklungen des Strafrechts und Straf-vollzugs hat aus juristischer Perspektive ausführlichHerbert Schattke (1979) beschrieben, so dass man

hier keine eigenen Analysen durchführen muss, son-dern sich an den Ausführungen dieses Buches orien-tieren kann. Veränderungen der Deutung der Rolledas Angeklagten und des Strafgefangenen werdenim Strafgesetzbuch einerseits und im Strafvollzugs-gesetz andererseits geregelt. Für die Geschichte die-ser beiden Rechtsquellen gilt nun, dass es zu Endeder 60er und zu Beginn der 70er Jahre zu einemfundamentalen Wandel des Rechts gekommen ist.Das Strafgesetz und das Strafvollzugsgesetz warenbis Ende der 60er Jahre bestimmt durch die beidenzentralen Ideen der Vergeltung einerseits und desSchuldausgleichs durch Strafe andererseits. DerSinn der Strafe bestand darin, für begangene TatenBuße zu tun. Die Strafe, das Strafmaß und dieDurchführung des Strafvollzugs wurden gesteuertdurch diese Zentralideen.

In der Zeit zwischen 1961 und 1976 wird die IdeeSchuldausgleich durch Strafe Schritt für Schrittersetzt durch die Idee der Resozialisierung. Die Leit-idee der Wiedereingliederung der Täter wird zur he-gemonialen steuernden Idee, die die Definition vonStrafe, Strafmaß und Strafvollzug strukturiert. Wiekommt der Wandel zustande? 1961 legt die Bundes-regierung dem Bundestag den Entwurf eines neuenStrafgesetzbuches vor. In diesem ist die Idee desSchuldausgleichs durch Strafe weiterhin die domi-nante Idee, sie wird aber zum ersten Mal ergänztdurch die Idee der Resozialisierung: Die Strafe solltezugleich auch der Resozialisierung dienen. 1966kommt von außerhalb der parlamentarischen Arenaein Vorstoß, der den Weg für einen Ideenwechsel wei-ter forciert. 14 Hochschullehrer legen einen Alterna-tiventwurf zum Strafgesetzbuch vor: Resozialisierungwird hier zum alleinigen Straf- und Strafvollzugszielerklärt. Der Vorschlag der Evangelischen KircheDeutschlands aus dem gleichen Jahr erklärt Resozia-lisierung als vorrangiges, aber nicht ausschließlichesVollzugsziel. Im Juni 1969 wird das erste Gesetz zurReform des Strafrechts erlassen. Die Resozialisations-idee wird damit im Strafrecht verankert.

Veränderungen des Strafvollzugsgesetzes erfolgenin den nächsten Jahren, zuerst in einem Entwurfder Bundesregierung von 1972, dann in einem 1976verabschiedeten, etwas „abgeschwächten“ Gesetzzum Strafvollzug. Resozialisierung wird als oberstesBehandlungsziel definiert, von Strafziel ist nichtmehr die Rede; Hilfe zur Selbsthilfe wird propagiert,Vollzugsnachteile werden verringert und eine indivi-duelle Progression des Vollzugs wird festgeschrieben.Innerhalb von 10 Jahren hat sich im Hinblick aufzentrale Ideen des Strafgesetzes und des Strafvoll-zugsgesetzes ein Kulturwandel vollzogen.

170 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 30, Heft 3, Juni 2001, S. 163–184

14 Jede selbständige Monographie wurde einmal pro Erhe-bungszeitpunkt gezählt. Ausgeschlossen wurden Selbsthil-feratgeber, die sich auf die Reparatur des Autos oder desHaushalts beziehen.

Page 9: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

Mit dieser Veränderung der Vorstellungen über denSinn und die Funktion des Strafens sind Verände-rungen in der Definition der Publikumsrollen desSystems – hier der des Angeklagten und des Straf-gefangenen – verbunden, die sich in den Vollzugs-bestimmungen manifestieren. Diese sind zwar vonBundesland zu Bundesland teilweise verschieden,ihnen unterliegt aber eine gemeinsame Tendenz.Mit einer Umstellung von Sühne auf Resozialisa-tion rücken die Ursachen für die Strafhandlungenstärker in den Fokus des Interesses. Nicht der Straf-tatbestand selbst, sondern die Motive des Straf-täters und damit auch die Person des Straftäterswerden wichtig, wodurch sich die Perspektive aufden Straftäter verändert: Die Sozialisationsbedin-gungen des Täters werden berücksichtigt, die Um-stände der Tat werden stärker in Rechnung gestellt,insgesamt findet eine Psychologisierung des Straf-täters statt. Damit wird die Publikumsrolle insofernerweitert, als der Straftäter nicht mehr allein nachder Rechtslogik Straftatbestand/Strafmaß beurteiltwird, sondern die Gesamtperson des Straffälligenberücksichtigt wird.

Ein Effekt dieser neuen Sichtweise besteht u.a. da-rin, dass der Strafvollzug selbst individualisiertwird. Die Entwicklungs- und Resozialisationschan-cen des je einzelnen Strafgefangenen werden inRechnung gestellt, die Gestaltung des Strafvollzugswird darauf abgestimmt und die Ansprüche derStrafgefangenen und deren Rechte werden erwei-tert: Besuchszeitenregelungen, verschiedene Formendes offenen Vollzugs und die Einspruchsmöglich-keiten der Strafgefangenen haben sich vermehrtund werden zu rechtlich institutionalisierten Wegender Einflussnahme. Man kann vermuten, dass die-ser Prozess begleitet und vorangetrieben wurdedurch Psychologen und Sozialarbeiter, die aus pro-fessionsstrategischen Gründen eine Erweiterung derPublikumsrolle propagieren, weil sie sich damit inKonkurrenz zu den juristischen Leistungsrollen desSystems ihr eigenes Aufgabenfeld schaffen können.Ob dies tatsächlich der Fall ist, bleibt zu prüfen.

2.3 Erziehung: Lehrer und Zöglinge

Die Inklusionsrolle des Publikums im Bereich desErziehungssystems ist seit der Einführung der all-gemeinen Schulpflicht eine Pflichtrolle. Erziehungfindet heute in erster Linie in Organisationen (Schu-len) statt und wird vor allem von den Leistungsrol-len des Systems, den Lehrern betrieben. Lehrpläneund Curricula bilden die Programme des Systems,der Frontalunterricht ist die klassische Symbolisie-

rung des asymmetrischen Verhältnisses von Leis-tungsrollen und Publikumsrollen. Auch für dasErziehungssystem hat es in Gestalt der Reformpä-dagogik schon lange eine Kritik an dem selektivenZuschnitt der Schülerrolle gegeben (vgl. Kuper1972: 85 ff.); virulent und wirkungsmächtig wurdediese Kritik aber erst seit den 60er Jahren.

Mögliche Veränderungen des Verhältnisses vonLeistungs- und Publikumsrollen im Erziehungssys-tem habe ich durch die Analyse von zwei Quellenansatzweise zu rekonstruieren versucht. Zum einendurch eine Analyse des pädagogischen Diskursesüber das Verhältnis von Lehrer und Schüler (b),zum anderen durch eine Analyse der Schulrechts-entwicklung (b).

(a) Zur Analyse des Diskurses über Lehrer/Schüler-Beziehungen haben wir uns auf die Analyse einerFachzeitschrift konzentriert. Die Materialbeschaf-fung und die Auswertung des Materials wurde vonGabor Ryschlak durchgeführt. Ausgewertet wur-den Artikel der Zeitschrift „Westermanns Pädago-gische Beiträge“15, die 1986 in „Pädagogik“ umbe-nannt wurde.16 Wir haben von 1950 bis 1985 jedenfünften Jahrgang ausgewählt, zusätzlich noch dieJahrgänge vor und nach dem ausgewählten fünftenJahrgang (z.B. für 1950, also die Jahrgänge 1949und 1951). Wir haben uns dann auf die Analyse ei-nes bestimmten Themenbereichs konzentriert, in-dem wir nur Artikel ausgewählt haben, in denenLehrer/Schüler-Verhältnisse – diskutiert an denThemen Autorität, Disziplin, Unterrichtsstörungenund Sanktionen – behandelt werden. Die Auswer-tung der so ausgewählten Artikel erfolgt interpreta-torisch nach Lektüre der Texte und genügt damit si-

Jürgen Gerhards: Der Aufstand des Publikums 171

15 Die Zeitschrift existiert seit 1949; sie hatte bis 1980den Untertitel „eine Zeitschrift für die Volksschule“, seit1980 versteht sie sich als Zeitschrift für die Sekundarstufe;sie erscheint monatlich mit ca. 50 Seiten, enthält nebenRezensionen und Informationen pro Heft ca. 56 Beiträgemit einer durchschnittlichen Länge von 5 Seiten pro Bei-trag. Seit 1976 findet man gelegentlich Hefte mit Schwer-punktthemen, von 1979 an ausschließlich Schwerpunkt-themenhefte. Autoren sind sowohl Lehrer als auchErziehungswissenschaftler. Zielgruppe der Zeitschrift sindLehrer, vor allem engagierte Lehrer.16 Die Zeitschrift wurde aus folgenden Gründen aus-gewählt: a. Sie existiert über den langen Zeitraum, denman zur Beantwortung unserer Forschungsfrage benötigt.b. Es handelt sich um eine Zeitschrift, die genug Praxis-nähe aufweist und insofern nicht ‚zu wissenschaftlich‘ ist,andererseits aber auch nicht zu praxisnah ist, insofern siesich nicht mit konkreten Stundenplanungen, Klassenfahr-ten etc. beschäftigt. c. Es handelt sich nicht um eine Ver-bandszeitschrift, so dass das angesprochene Publikum einrelativ breites Lehrerpublikum darstellt.

Page 10: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

cherlich nicht den Kriterien einer systematischen In-haltsanalyse; sie hat insofern einen explorativenCharakter. Diese Einschränkung vorausgeschickt,lassen sich folgende Veränderungen im Zeitverlaufbeobachten.

Die Thematisierung von Lehrer/Schüler-Verhältnis-sen am Beispiel der ausgewählten Themen nimmtim Zeitverlauf zu. Es lassen sich verschiedene Pha-sen unterscheiden, die durch eine unterschiedlicheDefinition der Schülerrolle gekennzeichnet sind. Inden frühen 60er Jahren werden in erster Linie dieBildungsinhalte diskutiert, die als wünschenswerterachtet werden; dies erfolgt sehr häufig mit Bezug-nahme auf die Klassiker der Pädagogik/der Philoso-phie (Humboldt, Comenius u.a.). Disziplin wird alsMittel und als Zweck als unabdingbar angesehen.Die Schüler kommen als konkrete Personen mitWünschen, Ansprüchen und Bedürfnissen in derfrühen Phase nicht vor. Von 1965, aber vor allemvon 1970 an wird der Schüler als Akteur und Mit-wirkender des Unterrichtsgeschehens entdeckt. Mit-verantwortung heißt das politische, Mitgestaltungdas pädagogische Schlagwort. Fragen der Disziplinwerden unter diesen Leitideen diskutiert: Wecktman das Interesse der Schüler, gibt man ihnen Mög-lichkeiten der Mitgestaltung, dann vermeidet mangleichsam automatisch Unterrichtsstörungen undSanktionsnotwendigkeiten. Ein zweiter Aspektkommt hinzu: Fehlentwicklungen einzelner Schülerund der Unterrichtsstruktur werden im stärkerenMaße dem Lehrer, dann den Schulstrukturen attri-buiert. Ähnlich wie im Strafvollzug wird die Ver-antwortung für abweichendes Verhalten wenigerden Schülern, als den Verhältnissen zugerechnet.Der störende Schüler wandelt sich vom Täter zumeigentlichen Opfer. In der Zeit zwischen 1975 und1985 werden diese Deutungen weitergeführt: DieIdee, dass Störungen nicht Fehlleistungen von Schü-lern, sondern Indikatoren für gestörte Verhältnissesind, etabliert sich. Die Schüler müssen in ihrer In-dividualität wahrgenommen werden. Gleichzeitigwird aber auch vor Symmetrie-Wünschen zwischenLehrern und Schülern gewarnt. In den Jahrgängen1984–1986 tauchen dann zum ersten Mal Stellung-nahmen von Schülern selbst auf, die sich über ihrVerhältnis zu und ihren Vorstellungen von Lehrernäußern.

Die Durchsicht und Interpretation der ausgewähl-ten Artikel lässt den Eindruck entstehen, dass dieThese, dass auch im Erziehungssystem die Rolle desPublikums in der Zeit zwischen 1960 und 1985 –vor allem zwischen 1965 und 1975 – umcodiertwird, nicht ganz von der Hand zu weisen ist: DieSchüler rücken vermehrt in den Blickpunkt der Auf-

merksamkeit, ihre Mitsprachemöglichkeiten wer-den erhöht, sie werden als Personen wichtiger, sodass die Lehrer sich mit ihnen „tiefer“ auseinander-setzen müssen; zugleich werden sie von Verantwor-tung entlastet, weil ein Fehlverhalten weniger ihnenselbst als Personen, sondern den jeweiligen Umstän-den attribuiert wird.17

(b) Öffentliche und fachöffentliche Diskurse überThemen können rechtliche Veränderungen nachsich ziehen; das Recht selbst ist dann eine konden-sierte Materialisierung diskursiver Deutungen. Dis-kursive Umdeutungen der Schülerrolle manifestie-ren sich auch in Veränderungen des Schulrechts.Die rechtliche Regulierung der Schule fällt in denHoheitsbereich der Bundesländer. Insofern sind dieRechtsentwicklungen in den Ländern unterschied-lich. Ich habe mich auf die Rechtsentwicklungen inBerlin konzentriert und zwar auf das Schulgesetzfür Berlin, das Schulverfassungsrecht und auf ver-schiedene Durchführungs- und Ausführungsbestim-mungen (zu Hausarbeiten, Klassenarbeiten undNotengebung).

Im Zeitverlauf lassen sich im Hinblick auf folgendeDimensionen Veränderungen in Richtung einer Zu-nahme der Inklusionsrechte und Inklusionsansprü-che der Schüler bzw. deren Eltern feststellen: 1. Se-lektionsentscheidungen: Die Lehrer müssenzunehmend ihre Bewertungsmaßstäbe und Beurtei-lungen erläutern; über Versetzungen entscheidetnicht der Lehrer allein, sondern die Klassenkon-ferenz; dabei sind die Eltern vorher zu hören. ImHinblick auf die Entscheidung über den Übergangvon der Grundschule auf eine weiterführende Schu-le entscheiden heute die Eltern.18 2. Inhaltliche Mit-gestaltungsmöglichkeiten: Die Schüler können beider Lehrplanung mitreden und Vorschläge einbrin-gen; die Eltern dürfen Vorschläge bzgl. Lehrstoff,Bildung von Schwerpunkten, Anwendung be-stimmter Unterrichtsformen machen. Die Bewer-tungsmaßstäbe müssen offengelegt werden. Überdie Erfahrungen und die Ansprüche von Haus-arbeiten muss Rechenschaft vor den Schülern undden Eltern abgelegt werden. 3. Vertretungsorganeder Schüler und Eltern: Die Möglichkeiten, Vertre-tungsorgane der Schüler und Eltern zu bilden, sind

172 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 30, Heft 3, Juni 2001, S. 163–184

17 Der Prozess wird begleitet von einer Kritik der hierar-chischen Schulverwaltung, die sich mit Forderungen nacheiner Demokratisierung der Schule konfrontiert sieht (vgl.zusammenfassend Kuper 1977).18 Dies gilt für Berlin, ist im Übrigen aber von Bundeslandzu Bundesland unterschiedlich geregelt. Eine tabellarischeÜbersicht findet sich bei Hans Rauschenberger (1999:48).

Page 11: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

im Zeitverlauf gestiegen, die Einspruchsmöglich-keiten und Kompetenzen haben sich im Zeitver-lauf erhöht.

Das Schulrecht folgt also den diskursiven Umdeu-tungen des Verhältnisses von Schüler- und Lehrer-rolle, insofern die Mitsprachemöglichkeiten sicherhöht haben. Auch im Bereich des Erziehungssys-tems sind die beobachtbaren Veränderungen, u. a.durch Selbstorganisationen des Publikums – indiesem Fall der Schüler und Eltern – auf die Agen-da gesetzt worden. Ein Ausdruck dieser Ent-wicklung war die Gründung der unabhängigenSchülergemeinschaft (USG) 1967 in Berlin, „einerVorgängerin des ‚Aktionszentrums unabhängigerund sozialistischer Schüler (AUSS)‘“ (Kuper 1977:92).

2.4 Kunst: Von der Hochkultur zur Soziokultur

Eine ähnliche Entwicklung wie im Bereich der Me-dizin, des Rechts und der Erziehung lässt sich imBereich der Kunst beobachten.19 Eine Veränderungdes Verhältnisses von Leistungsrollen und Publi-kumsrollen manifestiert sich hier, wie auch in denanderen Bereichen, zum einen auf der Ebene einerdiskursiven Auseinandersetzung mit einem als tra-ditionell etikettiertem Kunstverständnis und einerUmcodierung der normativ erwünschten Rolle desPublikums (1), zum anderen in der Bildung vonneuen Organisationen, Institutionen und Publi-kumsrollen, die die Neudeutung strukturell absi-chern und auf Dauer stellen (2).

1. Bei der Auswahl der Texte, die eine diskursiveUmcodierung des Verhältnisses von Leistungs- undPublikumsrollen zum Ausdruck bringen, habe ichmich auf wenige Autoren und Schlüsseltexte kon-zentriert. Diese repräsentieren insofern die Gesamt-debatte, als sie von den Akteuren des Kunstfeldesselbst als Schlüsseltexte interpretiert und immerwieder zitiert werden (vgl. Glaser 1990: 148 f.). Zuden wichtigsten Autoren gehören sicherlich zum ei-nen der frühere Kulturdezernent von Frankfurt,Hilmar Hoffmann, zum anderen Hermann Glaser,von 1964 bis 1990 Schul- und Kulturdezernent inNürnberg, schließlich Olaf Schwencke, Studienlei-ter an der Evangelischen Akademie Loccum, später

Mitbegründer der „Kulturpolitischen Gesell-schaft“.20

Der Schlüsselbegriff, der das geforderte neue Ver-hältnis von Leistungs- und Publikumsrollen tref-fend zum Ausdruck bringt, ist der der „Kultur füralle“ von Hilmar Hoffmann (1979); Hermann Gla-ser und Karl Heinz Stahl (1974) sprechen von ei-nem „Bürgerrecht Kultur“. Der staatlich alimen-tierte Kulturbetrieb wird in dreifacher Weisekritisiert: zum Ersten, weil sein Publikum auf einenkleinen elitären Kreis der Bildungsbürger be-schränkt ist, das formale Inklusionsprinzip also zurfaktischen Exklusion geworden ist;21 zum Zweiten,weil die Publikumsrolle auf eine passive Rolle desClaqueurs zurechtgestutzt ist, ihre Einflussmöglich-keiten als sehr gering wahrgenommen werden; zumDritten, weil die Organisationsform der Kunst-betriebe, in die die Leistungsrollen der Kunst einge-bettet sind, in ihrer Binnenstruktur als hierarchisch-bürokratische Anstalten interpretiert werden, diesich gegenüber den legitimen Bedürfnissen desnachfragenden Publikums und der Mitarbeiter ab-geschottet haben. Die Vertreter einer „Kultur vonunten“ fordern nun in allen drei Dimensionen eineUmorientierung. Zum Ersten soll das Publikum derKunstbetriebe auf alle Bürger erweitert werden:„Eine neue Kulturpolitik wird von den konkretenBedürfnissen und den Interessenslagen vor allemderjenigen ausgehen müssen, die durch ein Chan-cengleichheit bisher verweigerndes Bildungssystemvon kultureller Teilhabe weitgehend ausgeschlossenwurden und deren Freizeit zwangsläufig außerhalbdes kulturellen Angebots liegt“ (Hoffmann 1975:1027). Zum Zweiten soll die Rolle des Publikumsvon einer passiven Teilhabe zu einem aktiven Mit-machen erweitert werden: „Die Forderung nach äs-thetischer Erziehung der Gesellschaft erschöpft sichnicht in der Thematisierung neuer relevanter Berei-che des visuellen Alltags, sondern hat ihr Propriumin den Zielen: Menschen zu Phantasie und Vernunft

Jürgen Gerhards: Der Aufstand des Publikums 173

19 Im Alltagssprachgebrauch und in den im Folgendenanalysierten Texten wird der Bereich der Kunst häufig alsKultur bezeichnet; auch wenn ich diese Begriffsverwen-dung aus den Texten übernehme, meine ich immer den en-geren Bereich der Kunst, da ich den gesamten Bereich dergesellschaftlich relevanten Deutungsmuster als Kultur be-zeichne.

20 Weiterhin sind Alfons Spielhoff und Dieter Sauberzweigbedeutsam, weil sie „maßgeblich daran mitwirkten, dassdas soziokulturelle Ideengut Eingang in die offiziellen Stel-lungnahmen des Deutschen Städtetages zur künftigen Rol-le der Kultur in der Stadtentwicklung fand“ (Röbke:1992: 39 f.).21 So formuliert Hilmar Hoffman (1975: 1027): „Die Wir-kungsmöglichkeiten von Kulturpolitik sind an eine radika-le Umorientierung des bisher kanonischen Kulturbegriffsgebunden. Eine vornehmlich auf Affirmation geeichteKulturpolitik, die zur Kultur deren museale Werte addiertund zu ihrer Rezipierung den ‚gebildeten‘, den kunstbeflis-senen Bürger voraussetzt, verödet in ihrem exklusivenCharakter zum sich selbst aufhebenden Zweck“.

Page 12: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

zu befähigen – für die kritische Analyse seines Le-bens, seiner Umwelt sowie ihrer gesellschaftlichenBedingungen im politischen Umfeld und seinemdiesbezüglichen Engagement –, ästhetische Erzie-hung ist ein eminent politischer Akt“ (Schwencke1972: 12).22 Schließlich wird eine Veränderung derOrganisationsform der Kulturbetriebe selbst undder diese steuernde Kulturpolitik gefordert. EineVerlagerung von den zentralen „großen Häusern“der Kunst hin zu stadtteilbezogenen Einrichtungen,die Förderung von selbstverwalteten „Betrieben“,die als Kulturszene bezeichnet werden, stehen imZentrum der Neudefinitionen und finden sich inden bekannten Entschließungen des DeutschenStädtetages von 1973 (Deutscher Städtetag 1979:37 ff.).

b. Die Neudefinitionen des Verhältnisses von Leis-tungs- und Publikumsrollen im Bereich der Kunstbleiben aber nicht reines diskursiven Glasperlen-spiel, sondern werden folgenreich im Hinblick aufdie Ausdifferenzierung von neuen Rollen und Insti-tutionen. Die Entstehung einer breiten Alternativ-kultur mit einer Vielzahl an freien Bühnen undkommunalen Kinos, die Expansion von Stadtteil-kultur, getragen von freien Trägern und Bürgerini-tiativen (Wagner 1992), und die Entstehung undExpansion soziokultureller Zentren sind Versuche,die Idee „Kultur für alle“ in institutionelle Bahnenzu gießen, die bis heute Bestand haben.23 Die Grö-ße und die quantitative Entwicklung dieses als So-ziokultur bezeichneten Bereichs empirisch genau zubestimmen, ist nach meiner Kenntnis der Literaturbis dato nicht erfolgt, sieht man von folgenden bei-den Ausnahmen ab.

Für den Bereich der soziokulturellen Zentren liegendie Ergebnisse einer Befragung aus dem Jahr 1987vor (Husmann 1992). Viele der soziokulturellenZentren sind in der 1979 gegründeten „Bundesver-einigung Soziokultureller Zentren“ zusammen-geschlossen, die 119 Mitglieder umfasst. In derSatzung der Bundesvereinigung spiegeln sich dieoben erläuterten Ideen eines mobilisierten Publi-kums recht genau wider: Die Mitglieder des Ver-bandes sollen u. a. 1. möglichst breite Bevölke-rungsschichten ansprechen, 2. diese zu Aktivitätenanleiten („Initiierung sozialer, politischer und kul-tureller Lernprozesse“) und 3. durch eine demo-kratische Entscheidungsstruktur ausgewiesen sein(vgl. Husmann 1992: 204).24 Die erste Initiativ-phase der Gründung von soziokulturellen Zentrengeht auf die Jahre 1965–1969 zurück, die Haupt-gründungszeit der Zentren, die 1987 befragt wur-den, liegt in den Jahren von 1975 bis 1982 (Hus-mann 1992: 208). Zwei Drittel der Mitarbeiterder Zentren sind ehrenamtlich tätig; die Entschei-dungsstrukturen sind flach und in einem geringenMaße formalisiert; in den befragten Zentren wur-den jährlich ca. 130.000 Veranstaltungen undGruppentreffen durchgeführt. Die Arbeitsfelderder Zentren sind sehr heterogen; sie reichen vonder Erwachsenenbildung, über die Sozialarbeitund die politische Arbeit bis hin zur Organisationvon Veranstaltungen in allen Kunstsparten. Akti-vitäten im Kunst/Kreativbereich scheinen, ohnedass dafür genaue Zahlen angegeben werden, dengrößten Aktivitätsbereich auszumachen (Hus-mann 1992: 215).25

Einen zweiten Indikator, der die Entwicklung desselbstverwalteten Kunstsektors, zu bestimmen hilft,findet man in der oben bereits zitierten Unter-suchung von Dieter Rucht, Barbara Blattert undDieter Rink (1997). Im Bereich der Kultur gab es inBerlin 1974 31, 1980 32, 1984 97 und 1989 100unterschiedliche Gruppen, die sich mit Kunst be-schäftigten; innerhalb eines Zeitraums von 15 Jah-ren hat sich die Anzahl also mehr als verdreifacht(Rucht, Blattert und Rink 1992: 235).

174 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 30, Heft 3, Juni 2001, S. 163–184

22 Hilmar Hoffmann (1990: 8) hat rückblickend die Ver-änderungen der 70er Jahre als „volkspädagogischen Mis-sionarismus“ bezeichnet. Der Aufschwung der Museums-pädagogik scheint mir ein unmittelbarer Ausläufer dieserEntwicklung zu sein. Seit der Wende vom 19. zum 20.Jahrhundert gibt es zwei unterschiedliche Vorstellungenim Hinblick auf die Frage, ob man die Entschlüsselung ei-nes Kunstwerks dem Rezipienten selbst überlassen solloder ob man Ausstellungsbesucher zur Decodierung derverschiedenen Sinnschichten anleiten soll (vgl. Klein1997). Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wird dieVorstellung einer Anleitung des Publikums zur dominan-ten Idee und führt zum Aufschwung der Museumspädago-gik.23 Begleitet wird dieser Prozess durch die Ausdifferenzie-rung von Kulturforschung, die vor allem von dem vonKarla Fohrbeck und Andreas J. Wiesand geleiteten und1969/70 gegründeten Zentrum für Kulturforschung be-trieben wurde (Glaser 1990, Band 3: 149).

24 Norbert Sievers (1992) hat Projektanträge, die an denFonds „Soziokultur“ gestellt wurden, ausgewertet. Auchhier zeigt sich, dass die Ideen der „Kultur für alle“ weiter-hin die dominante Ideologie der verschiedenen Gruppie-rungen darstellt.25 Dies wird auch durch die Auswertung von Projekt-anträgen bestätigt, die Norbert Sievers (1992) durch-geführt hat. 46 % der Anträge beziehen sich auf das FeldKunst/Kultur, 23 % auf den Bereich Soziales, 12 % aufBildung und Erziehung, 5 % auf interkulturelle Hilfe und11 % auf sonstige Arbeitsfelder.

Page 13: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

2.5 Politik: Politiker, politische Verwaltungund Staatsbürger

In Übereinstimmung mit vielen Definitionen despolitischen Systems besteht die Funktion des politi-schen Systems in der Formulierung, Herstellungund der Durchsetzung kollektiv verbindlicher Ent-scheidungen.26 Interessengruppen und Parteien sinddie Leistungsrollen, die kollektive Ziele formulie-ren, Regierung und Parlament sind die Akteure, diein demokratischen Gesellschaften kollektiv ver-bindliche Entscheidungen herstellen, die politischeAdministration der Akteur, der die beschlossenenEntscheidungen durchsetzen soll. Die Formulie-rung, Herstellung und Durchsetzung kollektiv ver-bindlicher Entscheidungen lässt sich nur erreichen,wenn Akteure Positionen besetzen, die ihnen dieChance der Machtausübung geben. Luhmannschlägt deswegen vor, Verfügen bzw. Nicht-Ver-fügen über Machtpositionen bzw. Regierung/Oppo-sition als den binären Code des politischen Systemszu bezeichnen (vgl. Luhmann 1986: 170). Akteure,die innerhalb des Systems handeln, versuchen,Machtpositionen zu erringen und Oppositionsposi-tionen zu vermeiden, weil man nur von Machtposi-tionen aus kollektiv verbindliche Entscheidungenherstellen und durchsetzen kann. Spezifiziert wirdder Code durch die inhaltlichen Programme undThemen der politischen Akteure, die Auskunft da-rüber geben, was sie denn als kollektiv verbindlichentscheiden wollen bzw. was politisch erstrebens-wert ist oder was verhindert werden soll.

Das Publikum ist in das politische System durch dieRolle des Staatsbürgers an zwei Seiten inkludiert.Zum Ersten an der Input-Seite durch die Möglich-keit der Mitbestimmung über die relevanten The-men und vor allem durch die Möglichkeit, die je-weiligen Träger der Leistungsrollen, die politischeEntscheidungen treffen sollen, auszuwählen. Diewichtigste, weil machtvollste, Publikumsrolle inkompetitiven Demokratien besteht in der Wähler-rolle. Die Macht dieser Rolle ergibt sich aus derTatsache, dass Regierungspositionen befristet be-setzt werden und die Wähler in regelmäßigen zeitli-chen Abständen mit ihrer Stimme über die Akteureentscheiden, die die Regierung stellen.

Das Publikum ist zum Zweiten in das politischeSystem eingebunden, insofern es der Abnehmer dereinmal getroffenen Entscheidungen ist; an der Out-put-Seite des politischen Systems kommuniziert dasPublikum mit den Vollzugsorganen des politischeSystems, wie der Polizei und mit der politischenVerwaltung. Ich gehe von der Hypothese aus, dasssich sowohl das Verhältnis des Publikums an der In-put-Seite als auch an der Outputseite des politi-schen Systems insofern gewandelt hat, als die Inklu-sionsansprüche im Zeitraum von 1960 bis 1989gestiegen sind.

Das veränderte Verhältnis zwischen Publikum undLeistungsrollen an der Input-Seite des politischenSystems gehört zu den wohl am besten erforschtenGebieten von den verschiedenen hier diskutiertenFeldern; insofern genügt es an dieser Stelle, die Lite-raturlage zu bilanzieren. Samuel Barnes und MaxKaase et. al. (1979) haben in ihrer Studie „PoliticalAction“ gezeigt, dass in verschiedenen westlichenGesellschaften (Österreich, USA, Großbritannien,Niederlanden und BRD) die vormals konventionel-len politischen Partizipationsformen (sich politischinformieren, zur Wahl gehen etc.) ergänzt werdendurch unkonventionelle Formen der Partizipation(Teilnahme an Demonstrationen, Petitionen, Unter-schriftenlisten etc.). Die Ergebnisse sind verschie-dentlich repliziert worden, zuletzt in dem vonHans-Dieter Klingemann und Dieter Fuchs (1995)publizierten Band „Citizens and the State“. DieAnalysen zeigen, dass sich nicht allein in der Bun-desrepublik, sondern in mehreren europäischenLändern der Anteil der Bürger, die sich an unkon-ventionellen Formen der Partizipation beteiligt ha-ben, in der Zeit zwischen 1959 und 1990 fast ver-vierfacht hat. Das von den Bürgern genutzteRepertoire der Teilnahme an Politik hat sich imZeitverlauf erhöht, der Wunsch, über die engeWählerrolle hinaus den Leistungsrollen des politi-schen Systems auch zwischen den Wahlen die Wün-sche und Forderungen mitzuteilen, ist gestiegen, dieInklusionsansprüche des politischen Publikums derStaatsbürger ist insgesamt also gewachsen.

Lässt sich ein ähnlicher Befund auch für die Out-put-Seite des politischen Systems bilanzieren? Sinddie Bürger immer weniger bereit, die einmal getrof-fenen Entscheidungen zu akzeptieren? Für dieDurchsetzung von politischen Entscheidungen istdie politische Administration und im Ernstfall diedas Gewaltmonopol des Staates repräsentierendePolizei zuständig. Eine Veränderung des Verhältnis-ses zwischen Polizei einerseits und den gegen Be-schlüsse des politischen Systems protestierenden

Jürgen Gerhards: Der Aufstand des Publikums 175

26 In der Literatur (z.B. Luhmann 1986: 167 f.) findetman häufig nur den Oberbegriff „Herstellung kollektivverbindlicher Entscheidungen“. Ich habe hier absichtlichverschiedene Stufen der Herstellung von Entscheidungenunterschieden, um die verschiedenen Leistungsrollen desSystems auf diese Subfunktionen beziehen zu können. Da-mit greife ich einen Vorschlag von Dieter Fuchs (1993: 34ff.) auf.

Page 14: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

Bürgern andererseits hat Martin Winter in seinerDissertation herausgearbeitet. Winter (1998,1998a) hat eine Inhaltsanalyse der 31 Jahrgängeder monatlich erscheinenden Zeitschrift „Die Poli-zei“ für den Zeitraum von 1960 bis 1990 durch-geführt, um u.a. Veränderungen der sozialen Kon-struktion von politischen Demonstrationen durchdie Polizeielite nachzuzeichnen. Winter unterschei-det drei verschiedene, auf unterschiedlichen Abs-traktionsebenen gelagerte Deutungsmuster der Poli-zei, die bei der Interpretation von Demonstrationeneine Rolle spielen. Auf der abstraktesten Ebene fin-den sich Vorstellungen über die Gesellschaft undden Staat, die Winter mit dem Begriff Gesellschafts-diagnose bezeichnet. Auf mittlerer Abstraktions-ebene lagern Vorstellungen über die Rolle der Poli-zei in Staat und Gesellschaft, die Winter alsPolizeiphilosophie beschreibt, während konkreteÜberlegungen über den Umgang mit Demonstran-ten von ihm als Einsatzphilosophie bezeichnet wer-den.

Im Zeitverlauf finden nun auf allen drei EbenenVerschiebungen innerhalb der dominanten Deu-tungsmuster statt. Die Selbstinterpretation der Poli-zei wandelt sich von einer Staatspolizei hin zu einerBürgerpolizei. Die Philosophie der Staatspolizei de-finiert die Sicherung des staatlichen Gewalt-monopols durch Wahrung der gesetzlichen Ord-nung; Rechtsdurchsetzung und Strafverfolgung istdie oberste Aufgabe der Polizei. Demonstrationenstoßen auf ein prinzipielles Misstrauen und werdenals lästig empfunden. Die polizeiliche Eingriffs-schwelle ist relativ niedrig, die Einsatzphilosophieist eher konfrontativ und repressiv orientiert.

Die Philosophie der Bürgerpolizei geht hingegendavon aus, dass die Rechtsordnung selbst veränder-bar ist und politische Beschlüsse nicht einfach vonden Bürgern akzeptiert werden müssen. Demon-strationen werden als eine legitime Möglichkeit in-terpretiert, wie sich Bürger gegen Beschlüsse derPolitik wehren können. Entsprechend werden De-monstrationen in einem stärkeren Maße als norma-le Mittel der politischen Artikulation interpretiert.Die Einsatzphilosophie ist kooperativ orientiert;Gewaltanwendung ist allein eine ultima ratio; Ge-spräche und Absprachen zwischen Einsatzleitungund Demonstranten und situationsspezifisch-flexi-ble Lösungen werden präferiert.27 Zwar findet sichin dem Diskurs der Polizei zu allen Zeitpunkten so-wohl die Idee der Staatspolizei als auch die der Bür-

gerpolizei, allerdings wandelt sich die Deutungshege-monie in der Weise, dass im Zeitverlauf diePhilosophie der Bürgerpolizei an Bedeutung gewinntund schließlich zur dominanten Ideologie wird.

Martin Winter benutzt zur Interpretation seinerempirischen Ergebnisse nicht die systemtheoreti-sche Terminologie, seine Befunde lassen sich aberleicht in die hier vorgeschlagene Perspektive der In-terpretation von Kulturwandel integrieren. In derZeit zwischen 1960 und 1990 findet eine Umcodie-rung der Publikumsrolle auf der Output-Seite despolitischen Systems statt. Die durch Demonstratio-nen zum Ausdruck gebrachte Ablehnung von politi-schen Entscheidungen gewinnen an Legitimität undwerden von der Polizeispitze als zunehmend be-rechtigt interpretiert, der unmittelbare Umgang mitden Demonstranten wird von Konfrontation aufKommunikation umgestellt.

Eine ähnliche Entwicklung lässt sich für den Um-gang der politischen Verwaltung mit den Bürgernrekonstruieren. 28 Dorothea Eppler ist in einer vonmir betreuten Magisterarbeit der Frage nachgegan-gen, inwieweit sich das Verhältnis von Verwaltungund Bürgern im Zeitverlauf verändert hat. Zur Be-antwortung dieser Frage hat sie eine Inhaltsanalyseder Fachzeitschrift „Verwaltungsrundschau“ fürden Zeitraum von 1960 bis 1989 durchgeführt. DieVerwaltungsrundschau wendet sich an alle Beamtenund Angestellten der öffentlichen Verwaltung, vorallem aber an die in der Ausbildung befindlichenStaatsdiener. Die Zeitschrift versteht sich als daszentrale Diskussionsforum für sämtliche Fragen derAus- und Fortbildung der Mitarbeiter der öffent-lichen Verwaltung (Eppler 2000: 30). Eppler hat ih-re Analyse auf den Aufsatzteil der Zeitschrift be-schränkt. Sie hat in einem ersten Schritt alle ca.2100 Artikel, die in dem Zeitraum von 1960 bis1989 publiziert wurden, gesichtet und diejenigenArtikel ausgewählt, in denen das Verhältnis vonBürger und Verwaltung thematisiert wurde. DieseArtikel wurden dann drei Themenbereichen zuge-ordnet: 1. Bürgerbezugnahme in der Überschrift ei-

176 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 30, Heft 3, Juni 2001, S. 163–184

27 Zu einem ganz ähnlichen Befund im Hinblick auf denWandel der Einsatzphilosphie der Polizei kommen für dieUSA John MacCarthy und Clark McPhail (1999).

28 Renate Mayntz (1985: 173) diskutiert das veränderteVerhältnis der öffentlichen Verwaltung zum Publikum.Dabei bezieht sie sich auf eine Befragung, die sie 1972 zu-sammen mit Niklas Luhmann in der öffentlichen Verwal-tung durchgeführt hat. Die dort gefundenen Unterschiedezwischen verschiedenen Generationen von Verwaltungs-beamten interpretiert sie als einen Indikator für einenWandel der Verwaltung: „In seinem nach außen gerich-teten Handeln verschiebt sich das funktionelle Selbst-verständnis des Personals im öffentlichen Dienst grobformuliert auf der Achse vom Staatsdiener zum ‚Bürger-anwalt‘.“ (Mayntz 1985: 174).

Page 15: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

nes Artikels. 2. Thematisierung der Kommunika-tion zwischen Bürger und Verwaltung und 3.Selbstbild und Fremdbild der Verwaltung. Die dendrei Themenbereichen zugeordneten Artikel wur-den dann einer quantitativen und qualitativen Ana-lyse unterzogen. Für den ersten Themenbereichzeigt sich, dass eine Bürgerbezugnahme bis 1969nicht häufig vorkommt. Von 1970 an erhöht sichdann die Beschäftigung mit dem Thema, um in derZeit zwischen 1980 und 1984 zu einem der wich-tigsten Themen überhaupt zu werden.29 DasSchlagwort der Diskussion ist das der Bürgernäheder Verwaltung; damit ist gemeint, dass die Verwal-tung sich nicht in erster Linie als ausführendeStaatsgewalt interpretieren, sondern sich an denBürgerinteressen orientieren soll.

Diese Entwicklung geht einher mit einem Wandeldes zweiten Themenbereichs, der Thematisierungder Kommunikation zwischen Bürgern und Verwal-tung. Zunehmend wird gefordert, dass die Verwal-tung eine alltägliche und nicht eine Verwaltungs-fachsprache benutzen soll. Zur Illustration zweiBeispielzitate, das erste aus dem Jahr 1972, daszweite aus dem Jahr 1980: „Es sollte zu den vor-nehmsten ‚Amtspflichten‘ der Angehörigen des öf-fentlichen Dienstes – gleich an welcher Stelle sie ste-hen – gehören, ihren Teil dazu beizutragen, dieSprache der Behörden wieder einfach und verständ-lich zu machen. Sie würde damit zugleich die Kluftzwischen öffentlicher Verwaltung und Bevölkerungüberbrücken. Damit wird das Bemühen um eine gu-ten Stil in Sprache und Schrift eine wichtige staats-politische Aufgabe, zugleich aber auch ein Dienstan der deutschen Sprache selbst“ (zitiert in: Eppler2000: 64). „In unserer Zeit, in der die Verwaltungweniger eine den Bürger beherrschende Institutionals eine Organisation ist, die dem Bürger öffentlicheDienstleistungen bereitstellt, kann die verwaltungs-interne Offizialsprache nicht mehr ungebrochen zurexternen Kommunikation benutzt werden, wennman die erwähnten Entfremdungs- und Desintegra-tionsphänomene verhindern und abbauen will“ (zi-tiert in: Eppler 2000: 67). Zur Verbesserung derKommunikation zwischen Verwaltung und Bürgernwird eine Professionalisierung der Öffentlichkeits-arbeit und eine Beteiligung der Bürger an Verwal-tungsplanungen gefordert.

Schließlich wandelt sich in dem analysierten Zeit-raum auch die Selbstbeschreibung und Identität der

Verwaltung, der dritte von Eppler unterschiedeneThemenbereich. Die Pole der Entwicklung sinddurch die Vorstellung einer ordnenden Verwaltungeinerseits und einer leistungsgewährenden Verwal-tung andererseits bezeichnet. Auch dazu ein Bei-spielzitat: „Behörden sollen für den Bürger da sein– nicht umgekehrt . . . Der Einzelne ist zwar der öf-fentlichen Gewalt unterworfen, doch als Bürger,nicht als Untertan. Das preussische Staatsethos des18. Jahrhunderts konnte noch auf dem festen Ver-hältnis von Obrigkeit und Untertan aufbauen, Vor-stellungen, die heute als überwunden gelten müs-sen. . . . Gegenseitige Achtung, partnerschaftlichesVerhalten zwischen der Behörde und dem Publikumsind ein wesentlicher Schritt zur Schaffung eines gu-ten Klimas und angemessenen Umgangstons. DerBeamte ist der Berater des Publikums, nicht seinVorgesetzter . . . Das Fehlen einer ‚Konkurrenz‘ än-dert hieran nichts, denn die Behörde ist vom Bürgerabhängig, nicht umgekehrt. Auch sie braucht Er-folgskontrolle, muss gewinnträchtig arbeiten. IhrGewinn muss sich zeigen im wachsenden Vertrauendes Bürgers zum Staat und in seiner Überzeugung:Die öffentliche Verwaltung dient nach Kräften demGemeinwohl“ (zitiert in Eppler 2000: 84).

Fassen wir zusammen: Das Publikum des politischenSystems ist in Form der Staatsbürgerrolle an zweiStellen in das System inkludiert. Wir hatten gesehen,dass sich seit den 60er Jahren sowohl auf der Input-Seite die geforderten und praktizierten Mitsprach-möglichkeiten des Publikums deutlich erweitert ha-ben – Max Kaase (1984) spricht sogar von einerpartizipatorsichen Revolution – als auch auf derOutputseite die Inklusionansprüche der Bürger ge-stiegen sind. Sowohl die Polizei als auch die Verwal-tung haben auf diesen Wandel reagiert, indem sie dieIdee eines aktiven Bürgers in die Handlungsrationali-tät des Systems eingebaut haben.

2.6 Ökonomie: Produzenten und Konsumenten

Von einem ausdifferenzierten Wirtschaftssystemspricht Luhmann dann, wenn die Operationen in-nerhalb des Systems über Geldzahlungen abge-wickelt werden (Luhmann 1988). ‚Zahlen/Nicht-zahlen‘ lautet entsprechend der Code desWirtschaftssystems.30 Ob Menschen nun bereitsind, für etwas zu zahlen oder nicht, ist im Wesent-lichen von den Preisen für Güter und Dienstleistun-

Jürgen Gerhards: Der Aufstand des Publikums 177

29 Eppler hat die Entwicklung der Textmenge der Artikelmit Bürgerbezug berechnet: 1960–64: 2354 cm2;1965–69: 218 cm2; 1970–1974: 4660 cm2; 1975–79:9135 cm2; 1980–84: 20.222 cm2; 1985–89: 8752 cm2.

30 Mit der Einführung des Geldes wird der eigentlicheCode des Wirtschaftssystems Haben/Nichthaben durch ei-ne Zweitcodierung in Form von Zahlen/Nichtzahlen er-gänzt (vgl. Luhmann 1986: 103).

Page 16: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

gen abhängig. Die Preise bilden entsprechend dasProgramm des Wirtschaftssystems und spezifizie-ren, ob die Zahlung oder Nichtzahlung für ein Gutoder eine Dienstleistung eine angemessene „Hand-lung“ darstellt.

Die Teilhabe des Publikums am Wirtschaftssystemerfolgt über die Rolle des Kunden und Verbrauchersvon Gütern und Dienstleistungen. Jeder Bürgerkann je nach Kaufkraft grundsätzlich alle Güterund Dienstleistungen erwerben; es gibt keine Be-schränkungen der Partizipation am ökonomischenSystem. Möchte das Publikum aber partizipieren,muss es sich an dem Code und dem Programm desSystems orientieren: Es kann Güter und Dienstleis-tungen nicht durch Gebete, politische Anordnungenoder wissenschaftliche Schriftstücke erwerben, son-dern durch an Preisen orientierte Geldzahlungen.

Lassen sich auch im Wirtschaftssystem Anzeichenfür eine Inklusionserweiterung des Publikums fest-stellen? Bezüglich dieser Frage ist die Forschungs-lage, auf die man zurückgreifen und die man sys-temtheoretisch reinterpretieren kann, mangelhaft.Eine Geschichte der Veränderung der Verbraucher-rolle und des Verbraucherschutzes in der Bundes-republik stellt ein Forschungsdesiderat dar. Nimmtman aber die Gründung und Ausdehnung der Orga-nisationen, die Verbraucherinteressen vertreten undVerbraucher beraten, als Indikator für eine Inklusi-onserweiterung der Rolle des Verbrauchers, dannscheint eine erste Sichtung die hier vertretene Theseeines Wandels in Richtung einer Inklusionserweite-rung des Publikums zu bestärken. Die Gründungund Ausbreitung der Verbraucherschutzorganisa-tionen fällt ziemlich genau in den Zeitraum, in demein Wandel der Publikumsrollen auch in anderenTeilbereichen stattgefunden hat: Die ca. 200 staat-lich finanzierten Verbraucherzentralen, die als ein-getragene Vereine die Verbraucherberatungsstellenbetreiben, wurden zwischen 1958 und 1964 ge-gründet. „Stiftung Warentest“ wurde von der Bun-desregierung 1964 gegründet, und führt verglei-chende Waren- und Dienstleistungstests durch;1971 haben sich alle Verbrauchervereine und -ver-bände zu einer Dachorganisation in der „Arbeits-gemeinschaft für Verbraucher“ zusammengeschlos-sen, die 1986 in „Arbeitsgemeinschaft derVerbraucherverbände“ umbenannt wurde (Kuhl-mann 1990: 424; Steffens 1990). Die Zahl der Rat-suchenden in den Verbraucherberatungsstellen unddie Auflagenhöhe der Verbraucherinformationen istJahr für Jahr kontinuierlich gestiegen (Steffens1990: 27). Alle Verbraucherorganisationen habenzum Ziel, das asymetrische Verhältnis zwischenProduzenten und Konsumenten zu Gunsten der

Konsumenten zu verbessern. In der Vorkaufsitua-tion sollen anbieterunabhängige Informationenüber Qualitäts- und Preisunterschiede eine bessereEntscheidung des Kunden ermöglichen; in derNachkaufssituation werden durch Reklamations-,Schulden- und Budgetberatung die Rechte undDurchsetzungschancen der Verbraucher gegenüberden Produzenten gestärkt. Auch wenn der empiri-sche Wissensstand über die Entwicklung der Ver-braucherrolle unterentwickelt ist, lassen sich derEntstehungszeitpunkt und die Ausdehnung der Ver-braucherorganisationen in der Bundesrepublik alsein Anzeichen für eine Inklusionserweiterung derPublikumsrolle im Wirtschaftssystem interpretie-ren.

3. Ursachen für den angenommenenKulturwandel

Die bis jetzt durchgeführten empirischen Analysenstimmen zuversichtlich, dass sich die formulierteHypothese eines Kulturwandels, beschreibbar alsWandel in der Codierung von Leistungs- und Publi-kumsrollen in verschiedenen gesellschaftlichen Teil-bereichen wird bestätigen lassen, wenn man die ex-plorativen Studien weiter systematisiert undvertieft.31 Die Tatsache, dass es in vielen Teilberei-

178 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 30, Heft 3, Juni 2001, S. 163–184

31 Dabei kann man überlegen, ob man auch andere Berei-che mit in die Analyse einbezieht. Ob sich dabei auchWandlungsprozesse im System der Familie mit der hier be-nutzten Begrifflichkeit von Publikums und Leistungsrollenbeschreiben lassen, ist auf den ersten Blick insofern zwei-felhaft, als die Merkmale, die Luhmann zur Beschreibungvon den meisten Teilsystemen benutzt, nicht konstitutivsind für die Merkmale von Familie (Luhmann 1990a). Fa-milien verfügen über keinen binären Code und keine Pro-gramme zur Strukturierung der Kommunikation (zumin-dest werden sie nicht von Luhmann beschrieben), siehaben keine Organisationen ausgebildet, die einzelnen Fa-milien lassen sich nicht zu einem Gesamtsystem Familieaggregieren, vor allem aber: sie verfügen nicht über dieDifferenz von Leistungs- und Publikumsrollen.Trotzdem begreift Luhmann ,Familie‘ als ein spezifischesSozialsystem innerhalb der Grundstruktur funktionalerDifferenzierung. Das Besondere der Familienkommunika-tion besteht darin, dass sie ihre Kommunikationen an denPersonen orientiert. Alles, was die Personen des Familien-ensembles betrifft – Erfahrungen im Betrieb, in der Schule,auf dem Spielplatz, vor dem Fernseher – kann kommuni-kativ relevant sein und zum Thema familiärer Kommuni-kation werden, wenn es als persönliches Erlebnis einge-führt wird. Eine solche Beschreibung von Familie decktsich mit den empirischen Analysen einer verstehenden Fa-miliensoziologie, wie sie von Angela Keppler (1994)durchgeführt wurde. Das bestimmende Element von Fa-

Page 17: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

chen gleichartige und parallel verlaufende Verände-rungen des Verhältnisses von Publikums- und Leis-tungsrollen gegeben hat, besagt dabei nicht, dassdadurch die Differenz zwischen den verschiedenenTeilsystemen aufgehoben wird. Eine Erweiterungder Inklusionsansprüche des Publikums als gleich-artiger Trend manifestiert und konkretisiert sich inden Teilbereichen insofern als ungleichartiges Phä-nomen, als die Ansprüche in die jeweilige Sinnratio-nalität übersetzt werden müssen: die Forderungnach ganzheitlicher Medizin im Gesundheitssys-tem, die Forderung nach Verbraucheraufklärung imWirtschaftssystem, der Wunsch nach Mitbestim-mung in der Politik etc.

Neben einem verstehenden Beschreiben besteht diezweite Aufgabe der Soziologie in der Erklärung be-schriebener Phänomene.32 Das zentrale Ziel meinerAusführungen besteht in der im letzten Kapitel ge-gebenen theoriegesteuerten Deskription des Kultur-wandels in der Bundesrepublik; nichtsdestotrotzmöchte ich im Folgenden einige Hinweise auf einemögliche Erklärung einer Umcodierung des Ver-hältnisses von Publikums- und Leistungsrollen ge-ben. Erklärungen von Kulturwandel sind ein rechtschwieriges Geschäft, weil bei der Induzierung von

Kulturwandel eine Vielzahl von Faktoren zusam-menwirken, deren Kausalgeflecht sich empirischnur sehr schwer rekonstruieren lässt. Zudem wer-den für die verschiedenen Teilbereiche unterschied-liche Bedingungsfaktoren wirksam gewesen sein.Der hier gewählte Theorierahmen legt für die Suchenach Erklärungen nahe, einerseits nach Verände-rungen auf der Publikumsseite (a), andererseitsnach Veränderungen auf der Seite der Leistungsrol-len (b) zu fragen.

(a) Veränderungen in den generalisierten Einstel-lungen der Bürger, die sich dann in spezifischenEinstellungen bezüglich der Inklusionsansprüchein den verschiedenen Teilsystemen manifestieren,sind vor allem in den Studien zum Wertewandelrekonstruiert worden (vgl. zusammenfassendMeulemann 1996). Die dort entwickelte „Kausal-kette“ hat folgende Struktur (vgl. das zusammen-fassende Schema in Inglehart 1989: 13): Makro-veränderungen in der Zeit nach dem zweitenWeltkrieg haben 1. zu einer Erhöhung der kogniti-ven Fähigkeiten, sich für die Belange der Teilsyste-me zu interessieren und sich daran zu beteiligen,und 2. zu einer Veränderung von generalisiertenWerteinstellungen der Bürger geführt, wie sie vonRonald Inglehart (1989) als Wandel von materia-listischen zu postmaterialistischen Werten, vonHelmut Klages (1984) als Wandel von Pflicht- undAkzeptanzwerten hin zu Selbstentfaltungswertenbeschrieben wurden. Worin bestehen die relevan-ten Makroveränderungen, die auf der Ebene derBevölkerung zur Erhöhung von Kompetenzen undzur Veränderung von Werteeinstellungen geführthaben?

Die 50er und 60er Jahre waren zum einen die Phaseeiner enormen volkswirtschaftlichen Prosperitäts-steigerung, die über historisch frühere Prosperitäts-phasen bei weitem hinausführte. Dies hat zu eineraußergewöhnlichen Steigerung der Durchschnitts-einkommen und damit auch des Lebensstandardsgeführt. Die Reallöhne haben sich zwischen „1949und 1973 in der Bundesrepublik vervierfacht undliegen damit weit über den demgegenüber recht be-scheidenen Steigerungsraten der Realeinkommenund Reallöhne während der Prosperitätsphasen deslangen 19. Jahrhunderts“ (Ambrosius/Kaelble 1992:17 f.). Der starke Anstieg der Realeinkommen undReallöhne hat den privaten Konsum fundamentalverändert (Ambrosius/Kaelble 1992: 20): DerWohnstandard wurde erheblich verbessert, lang-lebige Konsumgüter (Autos, Radios, Fernsehen,Konsumgüter für Kinder) konnten gekauft werden,und Reise- und Freizeitaktivitäten wurden ermög-licht; eine kräftige Reduzierung der Arbeitszeit kam

Jürgen Gerhards: Der Aufstand des Publikums 179

milie besteht nach Luhmann in der Inklusion der Vollper-son. „Die Familie lebt von der Erwartung, dass man hierfür alles, was einen angeht, ein Recht auf Gehör, aberauch eine Pflicht hat, Rede und Antwort zu stehen . . . Ge-rade der Umstand, dass man nirgendwo sonst in der Ge-sellschaft für alles, was einen kümmert, soziale Relevanzfinden kann, steigert die Erwartung und Ansprüche an dieFamilie“ (Luhmann 1990a: 208).Die definitorische Bestimmung von Familie über das Prin-zip der Inklusion der Vollperson lässt eine Analyse einesWandels von Inklusion an sich nicht zu. Geht man aberdavon aus, dass sich eine Inklusion von Personen in dieFamilie auf einer Skala von „mehr bis weniger“ verschie-ben kann, dann kann man auch empirisch danach fragen,ob sich die Inklusionsansprüche an die Familie im Zeit-raum von 1960 bis 1989 nicht erhöht haben. Dies scheintnun aber gerade der Fall zu sein: Vor allem die Frauen unddie Kinder (Publikumsrollen der Familie?) haben – zumTeil auf Kosten der Männer – (Leistungsrolle der Familie?)ihre Inklusionsansprüche erhöht: Die Kindererziehung hatsich von einer elternzentrierten zu eine kindzentrierten Er-ziehung entwickelt (Reuband 1988, Büchner 1989, Rer-rich 1983), die Ansprüche der Kinder werden zunehmendals legitime Ansprüche interpretiert, die es kommunikativzu bearbeiten gilt; Gleiches gilt für die Frauen; ihre Selbst-bestimmungsmöglichkeiten haben sich im Zeitraum 1960bis 1989 enorm erweitert (Meyer 1992, Lenz 1997).32 Die Ausführungen im letzten Kapitel sind, in der Spra-che des kritischen Rationalismus formuliert, empirischeÜberprüfungen/Illustrationen von singulären Aussagen(vgl. Opp 1995).

Page 18: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

hinzu.33 Die Zunahme der Möglichkeit der Befriedi-gung materieller Bedürfnisse führte mit einer Zeit-verzögerung, so die Inglhartsche These des Werte-wandels, zu einer Werteverschiebung in Richtungauf postmaterielle Werte. Zu den postmateriellenWerten gehören u.a. Wünsche nach Selbstgestaltungund nach Partizipation. Zusätzlich begünstigt wurdeder ökonomisch induzierte Wertewandel durch einerelativ lange Phase des Friedens.

Neben dem Wertewandel haben sich zugleich dieFähigkeiten der Bürger zur Partizipation erhöht. In-glehart führt die Verbesserung der kognitiven Fä-higkeiten auf die Verbesserung des Bildungsniveauszurück. In der Tat hat sich das Bildungsniveau be-trächtlich verändert. Gab es 1960 in der Bundes-republik 247.000 Studierende an deutschen Hoch-schulen, so waren es 1970 422.000, 19801.036.000 und 1990 1.579.000 (Statistisches Bun-desamt 2000: 68). Eine Steigerung der Beteiligungs-kompetenz und zugleich des Beteiligungswunschesder Bürger ist, nach Inglehart, die Folge der beidenskizzierten Makroveränderungen.

Die mit dem Wertewandel verbundenen Kom-petenz- und Einstellungsänderungen des Publikumsstellen generalisierte Dispositionen und Motivatio-nen dar, die dann im nächsten Schritt in die unter-schiedlichen Sinnrationalitäten der Teilsystemeübersetzt werden, so wie ich dies im letzten Kapitelzu beschreiben versucht habe.

Einstellungsänderungen auf der Ebene des Publikumswerden aber meist erst dann veränderungswirksam,wenn sie sich öffentlich Gehör verschaffen. Dazumuss das „Publikum an sich“ in ein „Publikum fürsich“ transformiert werden. Dies scheint mit derEntstehung einer „New Class“ (Kriesi 1989, Ger-hards 1993), die sich überdurchschnittlich häufigaus den höher Gebildeten und den in Dienstleis-tungsberufen Beschäftigten rekrutiert, der Fall zusein. Interessensgruppen und soziale Bewegungenspielen dabei eine wichtige Rolle. Martin Winter(1998, 1998a) zeigt in seiner Studie über die Ver-änderungen der Deutungsmuster der Polizei, dassder Diskurs über eine Veränderung der Polizeiphi-losophie jeweils durch soziale Bewegungen aus-gelöst wurde: Die Protestaktionen der Studentenbe-wegung, der Umwelt- und Friedensbewegunginduzierten erst eine polizeiinterne Diskussion überdie Legitimität von erweiterten Publikumsansprü-

chen. Eine ähnliche Rolle spielten soziale Bewegun-gen in anderen Bereichen. Veränderte Ansprüche inder Gynäkologie sind durch die Frauenbewegungund deren Gründung von Frauenhäusern, Frauenbe-ratungszentren und Geburtshäusern angestoßenworden; Schüler- und Studentengruppen haben dasBildungssystem unter Druck gesetzt und Initiativender Stadtteilkultur die etablierte Kunstszene. Aller-dings spielen soziale Bewegungen nicht in allen Be-reichen die Rolle des Auslösers von Kulturwandel:Die Reform der Strafjustiz war eine von Eliten indu-zierte Reform (Rechtswissenschaftler, Parlamenta-rier, Evangelische Kirche); der Aufbau der Verbrau-cherorganisationen in der Bundesrepublik war, imUnterschied zu den USA, kein Ergebnis einer erfolg-reichen Selbsthilfebewegung, sondern eine staatlichinduzierte Stärkung der Verbraucherinteressen.

(b) Veränderungen des Verhältnisses von Leistungs-und Publikumsrollen können aber auch bzw. ergän-zend durch spezifische Konstellationen auf der Seiteder Leistungsrollen ausgelöst bzw. begünstigt wer-den. Martin Winter zeigt in seiner Studie, dass zwardie Diskussion über den Umgang der Polizei mitDemonstranten durch die Protestaktionen sozialerBewegungen ausgelöst wurde, dass Veränderungenin den Deutungsmustern aber nur dadurch zustandekamen, dass es in der Polizei Akteure gab, die eineUmcodierung des Verhältnisses von Polizei und De-monstranten befürworteten. Die Tatsache, dass essich dabei um Nachwuchseliten der Polizei handelte,lässt vermuten, dass sich hier Karriereinteressen mitneuen Ideen verbunden haben. Ideen werden wahr-scheinlich nur dann wirkungsmächtig, wenn sie sichmit Interessen einer Trägergruppe verbinden.

Einen ähnlichen Zusammenhang vermuten wir fürden Bereich der Gynäkologie: Hebammen und Gy-näkologen konkurrieren miteinander um die Defi-nition von Aufgabenfeldern während des Geburts-vorgangs. Eine Umcodierung der Publikumsrolleder Frauen lag insofern im Interesse der Hebam-men, als damit die Hegemonie des fachwissen-schaftlich-medizinischen Diskurses gebrochen wer-den konnte und die Hebammen den Bereich einerpsychosozialen Betreuung für sich als neues Auf-gabenfeld definieren konnten.34 Wir gehen davonaus, dass in der Reform des Strafrechts und desStrafvollzugs ähnliche Professionsinteressen eineRolle gespielt haben. Die als Gutachter und als Be-

180 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 30, Heft 3, Juni 2001, S. 163–184

33 So lagen die bezahlten Wochenstunden der männlichenBeschäftigten im produzierenden Gewerbe (inklusiveÜberstunden) 1960 bei 46,3 Stunden und fielen bis 1990auf 40,0 Stunden kontinuierlich ab (Bundesamt für Statis-tik 2000: 337).

34 Wie es historisch umgekehrt den Ärzten gelungen war,den Bereich der Geburtshilfe als unter der Oberaufsichtder Ärzte stehend zu interpretieren und die Hebammen zumarginalisieren, versucht die Studie von Sandra Beaufays(1997) zu zeigen.

Page 19: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

treuer auftretenden Psychologen haben ein Interessedaran, die Rechte der Angeklagten und Strafgefan-genen zu stärken, den Strafvollzug zu individuali-sieren und die Betreuung zu psychologisieren. Diessind aber Vermutungen, die einer empirischen Prü-fung bedürfen.

4. Bilanz

Die Ausführungen hatten zum Ziel, mit Hilfe einersystemtheoretischen Begrifflichkeit den Wandel desVerhältnisses zwischen Experten und Bürgern inunterschiedlichen Teilsystemen der Gesellschaft derBundesrepublik zu rekonstruieren. Für die BereicheMedizin, Erziehung, Recht, Kunst, Politik undWirtschaft habe ich versucht zu zeigen, in welchemMaße die Inklusionsansprüche der Bürger im Hin-blick auf eine Partizipation an den verschiedenenTeilsystemen der Gesellschaft im Zeitraum1960–1989 zugenommen haben. Für alle Bereichekonnte gezeigt werden, dass eine solche Erweite-rung in der Tat stattgefunden hat. Diese Ver-änderung spiegelt sich sowohl auf der Ebene derteilsystemischen Diskurse als auch in der Ausdiffe-renzierung von neuen Rollen und Organisationenund in der Schaffung neuer rechtlicher Regelungen,die die Mitsprachemöglichkeiten des Publikums er-höhen. Dabei muss man allerdings einschränkend inRechnung stellen, dass die angeführten empirischenBelege weitgehend explorativen Charakter habenund die einer konkreteren empirischen Absicherungbedürfen. Die systemtheoretische Begrifflichkeit lie-fert uns die Möglichkeit, auf den ersten Blick rechtverschiedene empirische Veränderungen theoretischzu integrieren und sie dann in Form einer Gesamt-beschreibung als Kulturwandel zu verstehen.

Ich habe den Wandel des Verhältnisses zwischenLeistungs- und Publikumsrollen auf die Bundes-republik begrenzt und auf die Zeitphase von 1960bis 1989 terminiert, die Kernzeit des Wandels kannman wahrscheinlich mit dem Intervall 1965–1975noch genauer bestimmen. Seit der Mitte der 80erJahre, dann aber vor allem seit 1990 haben sich dieRahmenbedingungen der Gesellschaft der Bundes-republik verändert. Retrospektiv betrachtet war diePhase bis zur Wiedervereinigung in den Worten vonBurkhart Lutz ein „kurzer Traum der immerwäh-render Prosperität“ (1984). Nicht nur haben sichseitdem die inneren ökonomischen Rahmenbedin-gungen verschlechtert, auch die außenpolitischenProblemlagen, die mit den Begriffen Globalisierungund Europäisierung beschrieben werden, haben denProblemdruck merklich erhöht. Es scheint kein Zu-

fall zu sein, dass sich seitdem auch das Verhältnisvon Leistungs- und Publikumsrollen in den ver-schiedenen Teilbereichen zu verändern beginnt. ImBildungssystem wird vermehrt über Qualitätssiche-rung geredet, das Strafrecht und der Strafvollzugwird von vielen als zu lax interpretiert, Forderun-gen nach einer Erweiterung der Mitbestimmungs-möglichkeiten in der Politik sind von der Agendaverschwunden.

Aber nicht nur der Zeit- sondern auch der Länder-vergleich kann verdeutlichen, dass man vor einerÜbergeneralisierung der Trendaussagen zu warnenist. Für die USA zeigt z.B. Joachim J. Savelsberg(2000), dass sich im Hinblick auf die Strafrechtsent-wicklung seit den 70er Jahren die Strafbereitschaftnicht verringert, sondern deutlich erhöht hat. Savels-berg (1994; 2000) kontrastiert diese Entwicklungmit der in der Bundesrepublik und erklärt die unter-schiedliche Entwicklung durch ein Zusammenspielvon kulturellen und institutionellen Faktoren: Auf-grund der puritanischen Traditionslinie der USA istdort die Punitivitätsbereitschaft höher als inDeutschland. Diese kulturelle Disposition konnteaber nur wirkmächtig werden, weil die Institutionender Interessensvermittlung (Interessensgruppen, pri-vatisiertes Mediensystem, Responsivität der Eliten)in den USA poröser sind, als dies in Deutschland derFall ist, und damit einer mobilisierten „Moral Majo-rity“ die Gelegenheitsstruktur bot, ihre Vorstellun-gen einer rigiden Strafrechtspolitik durchzusetzen.

Die Notwendigkeit einer zeitlichen und räumlichenSpezifikation der Reichweite der hier formuliertenWandlungstrends hat aber auch Folgen für die Be-urteilung der Theorie funktionaler Differenzierung.Die Luhmannsche Theorie funktionaler Differen-zierung versteht sich als eine Theorie der Welt-gesellschaft, in der die Unterschiede zwischen natio-nalstaatlich verfassten Gesellschaften gleichsam perdefinitionem keine Rolle spielen.35 Auch Wand-lungsprozesse innerhalb bestimmter Zeitphasenund innerhalb der Teilsysteme, wie die hier be-schriebenen Veränderungen zwischen Leistungs-und Publikumsrollen in der Zeit von 1960 bis1989, sind in der Theorie nicht vorgesehen. DieTheorie funktionaler Differenzierung hat sich inso-

Jürgen Gerhards: Der Aufstand des Publikums 181

35 „Eine primär regionale Differenzierung widersprächedem Primat funktionaler Differenzierung. Sie würde daranscheitern, dass es unmöglich ist, alle Funktionssysteme aneinheitliche Raumgrenzen zu binden, die für alle gemein-sam gelten. Regional differenzierbar in Form von Staatenist nur das politische System und mit ihm das Rechtssys-tem der modernen Gesellschaft. Alle anderen operierenunabhängig von Raumgrenzen“ (Luhmann, 1997: 166).

Page 20: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

fern zwar einerseits als eine sinnvolle Heuristik er-wiesen, um heterogene Wandlungsprozesse inner-halb der Gesellschaft der Bundesrepublik theo-retisch zu synthetisieren, sie ist andererseits aber zuallgemein gehalten, um Länderunterschiede undVariationen „unterhalb“ des allgemeinen Prinzipsvon funktionaler Differenzierung empirisch über-haupt in den Blick zu bekommen.

Literatur

Alexander, J., 1987: Lecture One: What is a Theory?S. 1–21 in: Ders.: Twenty Lectures: Sociological Theo-ry. New York.

Ambrosius, G. / Kaelble, H., 1992: Einleitung: Gesell-schaftliche und wirtschaftliche Folgen des Booms der1950er und 1960er Jahre. S. 8–32 in: H. Kaelble(Hrsg.), Der Boom 1948–1973. Gesellschaftliche undwirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutsch-land und in Europa. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Barnes, S.H. / Kaase, M. (Hrsg.), 1979: Political Action.Mass Participation in Five Western Democracies. Be-verly Hills/London: Sage.

Beaufays, S., 1997: Professionalisierung der Geburtshilfe.Machtverhältnisse im gesellschaftlichen Modernisie-rungsprozess. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Ver-lag.

Bickenbach, W., 1962: Hebammenlehrbuch. Stuttgart:Thieme.

Büchner, P., 1989: Vom Befehlen und Gehorchen zum Ver-handeln. Entwicklungstendenzen von Verhaltensstan-dards und Umgangsformen seit 1945. S. 196–222 in: U.Preuss-Lausitz u.a. (Hrsg.), Kriegskinder, Konsumkin-der, Krisenkinder. Zur Sozialisationsgeschichte seit demZweiten Weltkrieg. Weinheim und Basel: Beltz.

Bundesamt für Statistik, 2000: Datenreport 1999. Zahlenund Fakten über die Bundesrepublik Deutschland.Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Deutscher Städtetag (Hrsg.), 1979: Kulturpolitik desDeutschen Städtetages. Empfehlungen und Stellung-nahmen von 1952 bis 1978. Köln.

Eppler, D., 2000: Bürger und öffentliche Verwaltung imWandel. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Institut fürKulturwissenschaften der Universität Leipzig.

Fuchs, D. / Klingemann, H.-D., 1995: Citizens and theState: A Changing Relationship? S. 1–21 in: H.-D.Klingemann / D. Fuchs (Hrsg.), Citizens and the State.Oxford: Oxford University Press.

Fuchs, D., 1993: Eine Metatheorie des demokratischenProzesses. Discussion Paper FS III 93–202. Berlin: Wis-senschaftszentrum Berlin.

Gerhards, J., 1991: Funktionale Differenzierung und Pro-zesse der Entdifferenzierung. S. 263–280 in: H.R. Fi-scher (Hrsg.), Autopoiesis. Eine Theorie im Brenn-punkt der Kritik. Heidelberg: Auer.

Gerhards, J., 1993: Neue Konfliktlinien in der Mobilisie-rung öffentlicher Meinung. Eine Fallstudie. Opladen:Westdeutscher Verlag.

Glaser, H. / Stahl, K.H., 1974: Die Wiedergewinnung desÄsthetischen. Perspektiven und Modelle einer neuenSoziokultur. München: Juventa (die aktualisierte Auf-lage von 1983 ist dann unter dem Titel „BürgerrechtKultur“ im Ulstein-Verlag erschienen).

Glaser, H., 1990: Die Kulturgeschichte der BundesrepublikDeutschland. 3 Bände. Frankfurt am Main: Fischer.

Herzlich, C. / Pierret, J., 1991: Kranke gestern, Krankeheute. Die Gesellschaft und das Leiden. München:Beck.

Hoffmann, H., 1975: Kommunen, Kulturpolitik und Frei-zeit, Demokratische Gemeinde 12: 1026–1029.

Hoffmann, H., 1979: Kultur für alle. Perspektiven undModelle. Frankfurt am Main: Fischer.

Husmann, U., 1992: Soziokulturelle Zentren in der Bun-desrepublik. S. 203–216 in: Norbert Sievers und BerndWagner (Hrsg.), Bestandsaufnahme Soziokultur. Beiträ-ge, Analysen, Konzepte. Stuttgart u.a.: Kohlhammer.

Illich, I., 1983: Die Nemesis der Medizin. Von den Gren-zen des Gesundheitswesens. Reinbek: Rowohlt.

Inglehart, R., 1989: Kultureller Umbruch. Wertewandel inder westlichen Welt. Frankfurt am Main: Campus.

Kaase, M., 1984: The Challenge of ‘Participatory Revolu-tion’ in Pluralist Democracies. International PoliticalScience Review 5: 299–317.

Kant. I., 1787/1998: Kritik der reinen Vernunft. (Hrsg.Timmermann, J.) Hamburg: Felix Meiner.

Keppler, A., 1994: Tischgespräche. Über Formen kom-munikativer Vergemeinschaftung am Beispiel derKonversation in Familien. Frankfurt am Main: Suhr-kamp.

Klages, H., 1984: Werteorientierungen im Wandel. Rück-blick, Gegenwartsdiagnose, Prognosen. Frankfurt amMain/New York: Campus.

Klein, H.J., 1997: Kunstpublikum und Kunstrezeption.S. 307–336 in: J. Gerhards (Hrsg.), Soziologie derKunst. Produzenten, Vermittler und Rezipienten. Opla-den: Westdeutscher Verlag.

Kriesi, Hp., 1989: New Social Movements and the NewSocial Class in the Netherlands. American Journal ofSociology 94: 1078–1116.

Kuper, E., 1977: Demokratisierung von Schule und Schul-verwaltung. München: Ehrenwirth.

Lenz, K., 1997: Ehe? Familie? – beides, eines oder keines?Lebensformen im Umbruch. S. 181–199 in: L. Böh-nisch / K. Lenz (Hrsg.), Familien. Eine interdisziplinäreEinführung. Weinheim und München: Juventa.

Luhmann, N., 1970: Soziologie des politischen Systems.S. 154–177 in: N. Luhmann.: Soziologische Aufklä-rung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Band 1.Opladen: Westdeutscher Verlag.

Luhmann, N., 1975: Interaktion, Organisation, Gesell-schaft. S. 9–20 in: N. Luhmann: Soziologische Aufklä-rung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Opla-den: Westdeutscher Verlag.

Luhmann, N., 1977: Differentiation of Society. CanadianJournal of Sociology 2: 29–53.

Luhmann, N., 1981: Der politische Code. „Konservativ“und „progressiv“ in systemtheoretischer Sicht.S. 267–286 in: N. Luhmann: Soziologische Aufklärung

182 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 30, Heft 3, Juni 2001, S. 163–184

Page 21: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

3. Soziale Systeme, Gesellschaft, Organisation. Opla-den: Westdeutscher Verlag.

Luhmann, N., 1983: Anspruchsinflation im Krankheits-system. Eine Stellungnahme aus gesellschaftstheoreti-scher Sicht. S. 28–49 in: P. Herder-Dorneich / A. Schul-ler (Hrsg.), Anspruchsspirale. Schicksal oderSystemdefekt. Stuttgart u.a.: Kohlhammer.

Luhmann, N., 1984: Soziale Systeme. Grundriß einer all-gemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Luhmann, N., 1986: Ökologische Kommunikation: Kanndie moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefähr-dungen einstellen? Opladen: Westdeutscher Verlag.

Luhmann, N., 1988: Die Wirtschaft der Gesellschaft.Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Luhmann, N., 1990: Der medizinische Code. S. 183–195in: N. Luhmann: Soziologische Aufklärung 5. Kon-struktivistische Perspektiven. Opladen: WestdeutscherVerlag.

Luhmann, N., 1990a: Sozialsystem Familie. S. 196–217in: N. Luhmann: Soziologische Aufklärung 5. Kon-struktivistische Perspektiven. Opladen: WestdeutscherVerlag.

Luhmann, N., 1997: Die Gesellschaft der Gesellschaft.Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Luhmann, N. / Mayntz, R., 1973: Personal im öffent-lichen Dienst. Eintritt und Karrieren. Baden Baden:Nomos.

Luhmann, N. / Schorr, K.-E., 1979: Reflexionsproblemeim Erziehungssystem. Stuttgart: Klett-Cotta.

Lutz, B., 1984: Der kurze Traum immerwährender Pros-perität – Eine Neuinterpretation der industriell-kapita-listischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhun-derts. Frankfurt am Main: Campus.

Mändle, Chr. / Opitz-Kreutzer, S. / Wehling, A. (Hrsg.),1995: Das Hebammenbuch. Lehrbuch der praktischenGeburtshilfe: Stuttgart und New York: Schattauer.

Martius, G.: 1971/1979/1983: Hebammenlehrbuch. Stutt-gart und New York: Thieme.

Mayntz, R. / Rosewitz, B., 1988: Ausdifferenzierung undStrukturwandel des deutschen Gesundheitssystems.S. 117–180 in: R. Mayntz / B. Rosewitz / U. Schimank /R. Stichweh, Differenzierung und Verselbständigung.Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme. Frank-furt am Main: Campus.

Mayntz, R., 1988: Funktionelle Teilsysteme in der Theoriesozialer Differenzierung, S. 11–44 in: R. Mayntz / B.Rosewitz / U. Schimank / R. Stichweh, Differenzierungund Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftli-cher Teilsysteme. Frankfurt am Main: Campus.

Mayntz, R., 1985: Soziologie der öffentlichen Verwaltung(3. Aufl.). Heidelberg: Müller (UTB).

McCarthy, J. / McPhail, C., 1999: Policing Protest. TheEvolving Dynamics of Encounters between CollectiveActors and Police in the United States.S. 336–351 in: J.Gerhards und R. Hitzler (Hrsg.), Eigenwilligkeit undRationalität sozialer Prozesse. Festschrift zum 65. Ge-burtstag von Friedhelm Neidhardt. Opladen: Westdeut-scher Verlag.

Mehlich, H., 1983: Politischer Protest und Gesellschaftli-che Entdifferenzierung. S. 134–153 in: P. Grottian / W.

Nelles (Hrsg.), Großstadt und neue soziale Bewegun-gen. Basel.

Merton, R.K., 1949: Discussion: The Position of Sociolo-gical Theory. American Sociological Review 13:164–168.

Merton, R.K., 1968: On Sociological Theories of theMiddle Range. S. 39–72, in: R. K. Merton, SocialTheory and Social Structure (3. Aufl.). New York: TheFree Press.

Meulemann, H., 1996: Werte und Wertewandel. ZurIdentität einer geteilten und wieder vereinten Nation.Weinheim: Juventa.

Meyer, T., 1992: Modernisierung der Privatheit. Differen-zierungs- und Individualisierungsprozesse des familia-len Zusammenlebens. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Murphy, R., 1988: Social Closure: The Theory of Mono-polization and Exclusion, Oxford.

Opp, K.-D., 1995: Methodologie der Sozialwissenschaf-ten. Einführung in Probleme ihrer Theorienbildungund praktischen Anwendung. Opladen: WestdeutscherVerlag.

Opp, K.-D. / Wippler, R. (Hrsg.), 1990: EmpirischerTheorievergleich. Erklärungen sozialen Verhaltens inProblemsituationen. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Pankoke, E., 1999: Selbsthilfe, Selbstorganisation, Selbst-steuerung: Wege in die aktive Gesellschaft. S. 125–137in: Deutsche Arbeitsgemeinschaft Sozialhilfe e.V.(Hrsg): Selbsthilfegruppenjahrbuch. Gießen: Focus.

Parsons, T., 1972: Das System moderner Gesellschaften.München: Juventa.

Popper, K.R. 1994/1934: Logik der Forschung. 10. Aufl.Tübingen: Mohr.

Rauschenberger, H., 1999: Umgang mit Schulzensuren.Funktionen, Entwicklungen, Praxis. S. 11–99 in: B.Grünig u.a. (Hrsg.), Leistung und Kontrolle. Die Ent-wicklung von Zensurengebung und Leistungsmessungin der Schule. Weinheim und München: Juventa.

Rerrich, M.S., 1983: Veränderte Elternschaft. Entwicklun-gen in der familialen Arbeit mit Kindern seit 1950. So-ziale Welt 34: 420–449.

Reuband, K.-H., 1988: Von äußerer Verhaltenskonformitätzu selbständigem Handeln. Über die Bedeutung kulturel-ler und struktureller Einflüsse für den Wandel von Erzie-hungszielen und Sozialisationsinhalten. S. 73–97 in: H.Meulemann / O. Luthe (Hrsg.), Wertewandel – Faktumoder Fiktum? Frankfurt am Main: Campus.

Röbke, T., 1992: Das frühe „politische Programm“ derSoziokultur. S. 37–54 in: N. Sievers / B. Wagner(Hrsg.), Bestandsaufnahme Soziokultur. Beiträge, Ana-lysen, Konzepte. Stuttgart u.a.: Kohlhammer.

Rucht, D. / Blatter, B. / Rink, D., 1997: Soziale Bewegun-gen auf dem Weg zur Institutionalisierung. Zum Struk-turwandel „alternativer“ Gruppen in beiden TeilenDeutschlands. Frankfurt am Main: Campus.

Rüschemeyer, D., 1961: Rekrutierung, Ausbildung undBerufsstruktur. Zur Soziologie der Anwaltschaft in denVereinigten Staaten und in Deutschland. S. 122–144 in:D.V. Glass / R. König (Hrsg.), Soziale Schichtung undMobilität. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Savelsberg, J.J., 1994: Knowledge, Domination, and Cri-

Jürgen Gerhards: Der Aufstand des Publikums 183

Page 22: Systemtheorie Empirisch - Der Aufstand Des Publikums

minal Punishment. American Journal of Sociology 99:911–943.

Savelsberg, J.J., 2000: Kulturen staatlichen Strafens. USA-Deutschland. S. 189–209 in: J. Gerhards (Hrsg.), DieVermessung kultureller Unterschiede. USA undDeutschland im Vergleich. Opladen: WestdeutscherVerlag.

Schattke, H., 1979: Die Geschichte der Progression imStrafvollzug und der damit zusammenhängenden Voll-zugsziele in Deutschland. Frankfurt am Main: PeterLang.

Schelsky, H., 1972: Das Jhering-Modell des sozialen Wan-dels durch Recht. S. 47–86 in: Jahrbuch für Rechts-soziologie und Rechtstheorie, Band 3.

Schimank, U., 1985: Der mangelnde Akteursbezug sys-temtheoretischer Erklärungen gesellschaftlicher Diffe-renzierung – Ein Diskussionsvorschlag. Zeitschrift fürSoziologie 14: 421–434.

Schimank, U., 1988: Gesellschaftliche Teilsysteme als Ak-teurfiktionen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und So-zialpsychologie 40: 619–639.

Schimank, U., 1988a: Die Entwicklung des Sports zumgesellschaftlichen Teilsystem. S. 181–232 in: R.Mayntz / B. Rosewitz / U. Schimank / R. Stichweh,Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwick-lung gesellschaftlicher Teilsysteme. Frankfurt amMain: Campus.

Schimank, U., 1996: Theorie funktionaler Differenzie-rung. Opladen: UTB.

Schütz, A., 1946: The Well-Informed Citizen: An Essay onthe Social Distribution of Knowledge. Social Research13: 463–478.

Schwencke, O., 1972: Ästhetische Erziehung und Kom-munikation. In: O. Schwencke (Hrsg.), Ästhetische Er-ziehung und Kommunikation. München und Frankfurtam Main: Diesterweg.

Schwencke, O., 1974: Kontinuität und Innovation – ZumDilemma der Kulturpolitik seit 1945 und zu ihrer ge-genwärtigen Krise. S. 11–47 in: O. Schwencke / K.-H.Revermann / A. Spielhoff (Hrsg.), Plädoyers für eineneue Kulturpolitik. München: Carl Hauser.

Sievers, N., 1992: Projektlandschaft Soziokultur.S. 217–242 in: N. Sievers / B. Wagner (Hrsg.), Be-standsaufnahme Soziokultur. Beiträge, Analysen, Kon-zepte. Stuttgart u.a.: Kohlhammer.

Sprondel, W.M., 1979: Experte und Laie: Zur Entwick-lung von Typenbegriffen in der Wissenssoziologie.S. 140–154 in: W.M. Sprondel / R. Grathoff (Hrsg.),Alfred Schütz und die Idee des Alltags in den Sozialwis-senschaften. Stuttgart: Enke.

Steffens, H., 1990: Verbraucherpolitik im Widerstreit derInteressen, in: Wirtschaft, Verbraucher und Markt. In-formationen zur politischen Bildung 173/1:

Stichweh, R., 1988: Differenzierung des Wissenschaftssys-tems.S. 45–116 in: R. Mayntz / B. Rosewitz / U. Schi-mank / R. Stichweh, Differenzierung und Verselbstän-digung. Zur Entwicklung gesellschaftlicherTeilsysteme. Frankfurt am Main: Campus.

Stichweh, R., 1988a: Inklusion in Funktionssysteme dermodernen Gesellschaft. S. 261–294 in: R. Mayntz / B.Rosewitz / U. Schimank / R. Stichweh, Differenzierungund Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftli-cher Teilsysteme. Frankfurt am Main: Campus.

Stichweh, R., 1994: Professionen und Disziplinen: Formender Differenzierung zweier Systeme beruflichen Han-delns in modernen Gesellschaften. S. 278–336 in: R.Stichweh: Wissenschaft, Universität, Professionen. So-ziologische Analysen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Tyrell, H., 1978: Anfragen an eine Theorie der gesell-schaftlichen Differenzierung. Zeitschrift für Soziologie7: 175–193.

Voget, H. (Hrsg.), 1991: Schwanger in Berlin. Informatio-nen, Adressen, Berichte. Berlin: Lia-Verlag.

Wagner, B., 1992: Fünfzehn Jahre Stadtteilkultur.S. 369–387, in: N. Sievers / B. Wagner (Hrsg.), Be-standsaufnahme Soziokultur. Beiträge, Analysen, Kon-zepte. Stuttgart u.a.: Kohlhammer.

Weber, M., 1988: Gesammelte Aufsätze zur Religions-soziologie I. Tübingen: Mohr.

Winter, M., 1998: Politikum Polizei. Macht und Funktionder Polizei in der Bundesrepublik Deutschland. Müns-ter: Lit.

Winter, M., 1998a: Police Philosophy and Protest Policingin the Federal Republic of Germany – from 1960 up toGerman unification 1990. In: D. Della Porta / H. Reiter(Hrsg.), Policing Protest. The Control of Public De-monstrations in Contemporary Democracies. Minneso-ta: University of Minnesota Press.

Zimmerman, D., 1998: Geburtshäuser: Ganzheitliche Ge-burt als Alternative. München: Beck.

Summary: Making use of systems theory this article analyzes a cultural change between experts and normal citizens indifferent subsystems of German society. In a first step the concept of functional differentiation, as developed by NiklasLuhmann, is explained. In a second section the concept of functional differentiation is used to describe how demands ofcitizens for participation in the subsystems of medicine, education, law, politics, and economics have increased in thetime period 1960–1989. Indicators of this cultural change are recent interpretations of the relationship between expertsand normal citizens’, as they can be found in official documents, and the emergence of new roles, organizations, and le-gal rules which support citizens claims of inclusion. In a third step an answer is attempted to the question of how onecan explain the cultural change described. The final section sums up the results. The considerations developed in this ar-ticle have the character of a sketch and the empirical evidence given is largely exploratory.

184 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 30, Heft 3, Juni 2001, S. 163–184