System, Diskurs, Semantik David Kaldewey Drei soziologische Perspektiven Die Unterscheidung von Struktur und Semantik Einführung des Diskursbegriffs Methodologische Konsequenzen Empirisches Beispiel: Studien zur Semantik der Wissenschaft System, Diskurs, Semantik — Methodologische Überlegungen zum Verhältnis von Differerenzierungstheorie, Kultursoziologie und Wissenssoziologie David Kaldewey Forum Internationale Wissenschaft (FIW) Universität Bonn Beitrag zur Frühjahrstagung der Sektion Wissenssoziologie der DGS 21./22. März 2013 1 / 19
19
Embed
System, Diskurs, Semantik Methodologische Überlegungen zum ... · System, Diskurs, Semantik DavidKaldewey Drei soziologische Perspektiven Die Unterscheidung vonStrukturund Semantik
This document is posted to help you gain knowledge. Please leave a comment to let me know what you think about it! Share it to your friends and learn new things together.
I Differenzierungstheorie, Kultursoziologie undWissenssoziologie als drei soziologische Perspektiven,die sich weder als ›Theorien‹ und ›Methoden‹ noch als›Bindestrichsoziologien‹ befriedigend fassen lassen;ähnliches gilt für die Diskursforschung
I Gemengelage von Grundbegriffen: System, Kultur,Wissen, Diskurs
1. Mögliche Definitionen:I Kultur als Gesamtheit menschlicher Äußerungen, die in
einer materialisierten Form vorliegenI Kultur als AlteritätI Kultur als Modus der Beobachtung im Hinblick auf
Vergleichsmöglichkeiten
2. Wie wird der Kulturbegriff in der Soziologie verwendet;wovon wird Kultur unterschieden?
I Kultur als ein sozialer Teilbereich unter anderem, etwabei Parsons, der vier primäre Subsystemen derGesellschaft unterscheidet: (A) Wirtschaft, (G) Politik,(I) Gemeinwesen, (L) Kultur
I »Kultur« als Komplementärbegriff zu »Struktur«; oftgeht damit eine implizite hart/weich-Unterscheidungeinher
I Zusammenfassung: Die Differenzierungstheorieinteressiert sich für das Nebeneinander verschiedenerStrukturgebilde, die Kultursoziologie für dieUnterscheidung von Struktur und Kultur, dieWissenssoziologie für das Verhältnis von Sozialstrukturund Wissen
I In der systemtheoretischen Unterscheidung vonStruktur und Semantik sind diese Perspektiven auf eineLeitdifferenz hin verdichtet
I Unabhängig davon, ob man diese Synthese mitmachtoder nicht, verdeutlicht die systemtheoretische Debattezur Struktur/Semantik-Unterscheidung einige zentraleProbleme der Differenzierungstheorie, Kultursoziologieund Wissenssoziologie
Kritikpunkte im Rahmen der systemtheoretischenStruktur/Semantik-Debatte (Stäheli, Kogge,Stichweh, Göbel, Burkart, Srubar)
1. Kritik an der Vernachlässigung der Alltagssemantikgegenüber der »gepflegten Semantik«
2. Kritik am Primat der Sozialstruktur und amNachträglichkeitstheorem
3. Kritik am historischen Fokus von Luhmanns Studienauf die »semantische Katastrophe« der Sattelzeit.Dadurch ergibt sich eine Art »Transformations-begleitforschung für den Übergang von stratifikat-orischer zu funktionaler Differenzierung« (Göbel)
4. Auch der Semantikbegriff ist ein Strukturbegriff; damitwird das Korrelationstheorem problematisch.
1. Fokus auf gepflegte Semantik ist nicht zwingend; dieTheorie erlaubt es, verschiedene Stufen der Abstraktionund Generalisierbarkeit von Sinn zu unterscheiden.
2. Die Semantik kann sich zur Struktur rekonstruktiv,antizipativ oder sogar konstitutiv verhalten (sozusammenfassend Stichweh).
3. In einer Wissenssoziologie der modernen Gesellschaftlässt sich die Struktur/Semantik-Unterscheidungweniger bzgl. der Gesamtgesellschaft als bzgl. einzelnerFunktionssysteme fruchtbar machen.
4. Eine zentrale Prämisse des späten Luhmanns ist, dassSysteme über eine operative und eine semantischeEbene verfügen – und dass auf beiden EbenenDifferenzierungsprozesse stattfinden. Es könnenentsprechend Differenzierungsstrukturen undsemantische Strukturen unterschieden werden.
I Diskurse sind Formen der Differenzierung auf dersemantischen Ebene im Unterschied zu Subsystemenals Formen der Differenzierung auf der operativenEbene.
I In der neueren Forschung wird immer wiederangedeutet, dass auch die Systemtheorie einenDiskursbegriff benötigt – ohne diesen aber mitSystemen oder Semantiken gleichzusetzen:
I Bora (2005): Diskurs als »eine Form der internenDifferenzierung von Sozialsystemen«
I Stichweh (2006): Diskurs als ein »Systemverselbständigter semantischer Produktion, das in sichselbst zirkuliert«
I Stäheli (2007): Während Semantikanalysen dieEtablierung von Unterscheidungen thematisieren,zielen Diskursanalysen auf deren »Einbettung inübergreifende diskursive Strategien«
I Verhältnis Diskurs / SemantikI Diskurse sind Strukturen, die unter der semantischen
Oberfläche operierenI Anders als etwa semantische Felder sind Diskurse also
nicht unmittelbar empirisch zugänglichI Verhältnis Diskurs / System
I Anders als Systeme sind Diskurse sind geschlossenI Diskurse sind nicht gänzlich freischwebend, sondern
eingebettet in systemische Strukturen bzw. in diesemantische Ebene von Systemen
I In handlungstheoretischer Perspektive könnte derSystembegriff ersetzt werden durch Konzepte wie»Seinslagen« oder »Diskursgemeinschaften«
I Die Rekonstruktion von Diskursen geschieht einerseitsempirisch, u.a. über Semantikanalysen, andererseitstheoretisch, d.h. ausgehend von Vermutungen über dieOperationsweise von Systemen.
Empirisches Beispiel: Studien zur Semantik derWissenschaft (Kaldewey 2012)
I Fragestellung: Historische Verschiebungen imSelbstverständnis der Wissenschaft zwischen autonomerWahrheitssuche und gesellschaftlicher Relevanz
I Semantik als empirisches Material, z.B.:I ›theoria‹, ›praxis‹, ›poiesis‹I ›vita contemplativa‹ und ›vita activa‹I ›reine‹ und ›angewandte‹ Wissenschaft
I Heuristische Annahme: Einbettung dieser Semantikenin Autonomiediskurse und Praxisdiskurse
I Theoretisches Hintergrundwissen:Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftsphilosophie undWissenschaftssoziologie
Wolff (1716) ›mathesis theoretica‹ ›mathesis practica‹›mathesis pura sive simplex‹ ›mathesis impura sive mixta‹
Wallerius (1751) ›chemia pura‹ ›chemia applicata‹
Reine Wissenschaft Angewandte Wissenschaft
Abbildung 7.2Vorstufen des dichotomen Modells
untersuchte Fall des Chemikers Wallerius und der Selbstdarstellung der ChemieMitte des 18. Jahrhunderts ist nun vor allem deshalb interessant, weil hier dergordische Knoten der vielfältigen antiken, scholastischen und frühneuzeitlichenSinnschichten mit einer einzigen semantischen Setzung durchschlagen wird. Eslohnt sich deshalb, Wallerius’ semantische Strategie noch etwas genauer zu be-trachten.
Johan Gottschalk Wallerius’ Neukonzeption der Chemie (1751)
Wie oben schon angedeutet, hatte die frühe Chemie im universitären Kontextmit allerlei Vorurteilen zu kämpfen, die vor allem mit ihrer unabdingbaren Ver-ortung im Labor, mit ihrer experimentellen Praxis einhergingen. Gemäß dentraditionellen Vorstellungen handelte es sich bei der Chemie eben deshalb umeine bloße Kunst (›ars‹), nicht aber um eine Wissenschaft (›scientia‹). Für dieInstitutionalisierung der Disziplin und für die dafür benötigte gesellschaftlicheUnterstützung war dieser »Ruch des Unakademischen, Handwerklichen und nochdazu Unreinlichen« ein elementares Hindernis (Meinel 1985, S. 28). Um in denRang einer Wissenschaft aufzusteigen, galt es deshalb zunächst, die meist nur inForm isolierter Fakten vorliegenden Ergebnisse der praktischen Forschung mit-tels allgemeingültiger Theorien, Methoden und Nomenklaturen in die Form eines
Konsequenzen für die wissenschaftssoziologischeTheoriebildung: Skizze eines integrativensoziologischen Wissenschaftsbegriffs3 Die Semantik der Wissenschaft
Semantische Ebene der Wissenschaft Differenzierung von Diskursen, z. B.:
Abbildung 3.3Skizze eines integrativen Wissenschaftsbegriffs
tischen Superkategorie der modernen Gesellschaft (vgl. Kap. 3.1). In einem ganzähnlichen Sinne wird die Systemtheorie heutzutage weniger als Makro-Soziolo-gie denn als als operative Theorie begriffen, die »den Vollzug der Gesellschaftin konkreten Operationen« beschreibt (Nassehi 2004, S. 105). Eben deshalb ver-mag die Konzeption einer Semantik der Wissenschaft auch Beiträge zu den vonden anderen Paradigmen besetzten Domänen zu leisten. Auf eine weitergehen-de und umfassende Diskussion aller wissenschaftssoziologisch relevanten Aspekteder Systemtheorie wird hier jedoch ebenso verzichtet wie auf eine entsprechen-de Rezeption der konkurrierenden Ansätze. In Abbildung 3.3 ist zumindest ingroben Zügen angedeutet, wie auf dieser Grundlage ein integratives Modell derWissenschaft entworfen werden könnte. Die Grafik zeigt auch, dass die hier ver-tretene Luhmann-Lektüre eine partielle ist, da sie sich auf die semantische Ebenebeschränkt. Deren Erforschung, das wird sich im Folgenden zeigen, ist dennochanspruchsvoll genug.
Bedeutung der antiken und mittelalterlichen Theorie/Praxis-Semantik sowie der Unterscheidung zweier entsprechenderLebensformen (›vita contemplativa‹ und ›vita activa‹) fürdie spätere Ausdifferenzierung der modernen Wissenschaft:Die historischen Analysen machen eine religiöse und einepolitische Wurzel der Semantik der Wissenschaft sichtbar.
Die Semantik der Universität und die Semantik derWissenschaft fallen im Mittelalter und in der frühen Neuzeitineinander. Die Spannung von ›Wahrheit‹ und›Nützlichkeit‹, d.h. die Frage nach der Identität derWissenschaft und ihrem Verhältnis zu Staat und Kirchekönnen deshalb auf der Ebene der Organisation gelöstwerden: In Form der Vier-Fakultäten-Universität.
Die Unterscheidung von Grundlagenforschung undangewandter Forschung sowie das im 20. Jahrhundertemergierende ›lineare Innovationsmodell‹ ermöglichen eineAustarierung von Autonomie- und Praxisdiskursen auf derEbene der Semantik des Wissenschaftssystems selbst. Esentstehen Einheitsnarrative, die die unterschiedlichenFormen autonomer und praxisrelevanter Wissenschaft zuintegrieren vermögen. Diese Identitätsarbeit findet ihrenhistorischen Ausdruck in der Substitution der Semantik der›reinen‹ Wissenschaft durch diejenige der›Grundlagenforschung‹ seit den 1940er Jahren.