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Vladimir Jankélévitch Der Tod suhrkamp taschenbuch wissenschaft
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Suhrkamp Verlag · 2017. 8. 10. · Hauptwerk analysiert Vladimir Jankélévitch das Ereignis des Todes in seiner gan-zen Banalität und Fremdheit, in seiner Widersprüchlichkeit

Mar 30, 2021

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Vladimir Jankélévitch

Der Todsuhrkamp taschenbuch

wissenschaft

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suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2240

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Warum ist der Tod eines Menschen immer eine Art Skandal? Warum ruft dieses ganz normale Ereignis bei jenen, die dabei Zeuge sind, ebensoviel Neugier wie Grauen hervor? Wie kommt es, daß man sich nicht längst an dieses natürliche und doch stets zufällige Geschehen gewöhnt hat? In seinem philosophischen Hauptwerk analysiert Vladimir Jankélévitch das Ereignis des Todes in seiner gan-zen Banalität und Fremdheit, in seiner Widersprüchlichkeit und auch im Kontext der komplexen Auslegungen, die der Tod in der Geschichte der Philosophie er-fahren hat.

Vladimir Jankélévitch (1903-1985) lehrte zuletzt Moralphilosophie an der Sor-bonne in Paris. Im Suhrkamp Verlag sind erschienen: Das Verzeihen (stw 1731), Die Ironie (2012) und Die Musik und das Unaussprechliche (2016).

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Vladimir Jankelevitch

DER TODAus dem Französischen

von Brigitta Restorff

Herausgegeben undmit einer Nachbemerkung

von Christoph Lange

Mit einem Nachwort vonThomas Kapielski

Suhrkamp

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Titel der Originalausgabe: La mort © 1977 Flammarion Paris

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2240Erste Auflage 2017

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in Germany

ISBN 978-3-518-29840-4

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Inhalt

Das Geheimnis Tod und das Phänomen Tod . . . . . . . . . . . . . . . 111. Eine metaempirische Tragödie und eine naturgegebene

Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122. Der ernstgenommene Tod: Tatsächlichkeit, nahes Bevor-

stehen und persönliche Betroffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 223. Der Tod in der dritten, in der zweiten und in der ersten

Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

Erster TeilDer Tod diesseits des Todes

I. Kapitel: Der Tod im Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541. Nachdenken über den Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542. Der Tod in seiner Unergründlichkeit und

Zukünftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583. Euphemia und apophatische Inversion . . . . . . . . . . . . 784. Nichtsein und Sinnlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 875. Das unsägliche Schweigen und das unaussprechliche

Schweigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

II. Kapitel: Das Organon-Obstaculum . . . . . . . . . . . . . . . . . 1171. Das kurze Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1172. »Weil« und »obwohl«: Endlichkeit, Leiblichkeit und

Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1233. Das Tragische des Notwendig-Unmöglichen . . . . . . . 1344. Die Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1445. Die Rückwirkung der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

III. Kapitel: Die Halböffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1641. Die Quodditas des Geheimnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . 1642. Mors certa, hora certa sed ignota . . . . . . . . . . . . . . . . . 1703. Mors certa, hora certa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1814. Mors incerta, hora incerta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1845. Mors certa, hora incerta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

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6. Das Sich-Schicken in die Quodditas:Sterblichkeit, Schmerzhaftigkeit, Räumlichkeit undZeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

7. Das Unerkennbare, das Unmögliche und dasUnheilbare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

8. Ausgang und Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

IV. Kapitel: Das Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2281. Der vom Untergang widerlegte Seinsbeginn . . . . . . . . 2282. Die Abtötung. Und wenn das Leben ein fort-

währender Tod wäre? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2353. Die allmähliche Abnutzung. Der zum Tode

Verurteilte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2394. Die beiden Blickwinkel: Was gelebt ist, ist gelebt,

und was gelebt ist, bleibt noch zu leben übrig . . . . . . 248

Zweiter TeilDer Tod im Augenblick des Todes

Die Scham des unerzählbaren Augenblicks . . . . . . . . . . . . . . 269

I. Kapitel: Der Augenblick des Todes entzieht sich jederKategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2781. Der Augenblick des Todes ist kein quantitatives

Höchstmaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2782. Der Augenblick des Todes ist keine qualitative

Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2833. Der Augenblick des Todes ist kein Wechsel in eine

andere Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2944. Der Augenblick des Todes weist jede Topographie

zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2985. Im Augenblick des Todes bricht jede

Verbindung ab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310

II. Kapitel: Das Fast-Nichts des Sterbens . . . . . . . . . . . . . . . 3121. Der Tod im Phaidon. Die Schwelle des Todes wird

ausgespart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312

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2. Der Tod als Kulminationspunkt kleinerTode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

3. Das Ereignis des Todes ist kein Nichts, sondern einFast-Nichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

4. Sterben lernt man nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3335. Die allmähliche Plötzlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

III. Kapitel: Das Irreversible . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3471. Die Hin- und Rückreise im Raum ist eine Hinreise

ohne Rückkehr in der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3472. Verjüngung? Wiedererleben? Alterslosigkeit? . . . . . . 3523. Die schicksalhafte Objektivität des

Irreversiblen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3574. Die relative Irreversibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3605. Das erste und das letzte Mal im Zuge der Fortdauer . . 3646. Die relative Erst-Letztheit (Erstmaligkeit):

Zweitrangigkeit und Vorletztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3697. Die Erst-Letztheit des Todes. Die verlöschende

Erscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3798. Das allerletzte Mal: Niemals mehr etwas . . . . . . . . . . 3879. Der Abschied. Über die kurze Begegnung . . . . . . . . . 393

IV. Kapitel: Das Unwiderrufliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3991. Das Irreversible des Gewesen-Seins, das Irreparable

der Tatsache des Gemacht-Habens: »Factum« und»Fecisse« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399

2. Das Unwiderruflich-Irreparable des Todes. Falle undVentil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408

3. Wiedergeburt, Wiederverkörperungen,Wiederbelebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412

4. Das Nichts als Vernichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4215. Die sich verflüchtigende Botschaft der Letztheit . . . . 4236. Das letzte Mal birgt kein Geheimnis . . . . . . . . . . . . . . 4347. Eine ganz andere Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442

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Dritter TeilDer Tod jenseits des Todes

I. Kapitel: Die eschatologische Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . 4491. Ist das Jenseits eine Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4512. Die Angst vor dem Augenblick und die Furcht vor

dem Jenseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4563. Hoffnung und Wunschform der Verzweiflung . . . . . . 460

II. Kapitel: Die Absurdität des Fortlebens . . . . . . . . . . . . . . 4651. Unsterblichkeit, Wiederauferstehung, fortwährendes

Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4652. Die Ewigkeit der denkenden Essenz . . . . . . . . . . . . . . 4753. Das Fortleben der Seele gemäß dem Dualismus . . . . . 4784. Gegen das Selbsterhaltungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . 482

III. Kapitel: Die Absurdität der Vernichtung . . . . . . . . . . . . . 4871. Etwas anderes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4872. Die Selbstverständlichkeit der Fortdauer und der

Skandal des Abbruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4883. Das Denken des Todes und der Tod des

denkenden Wesens. Die ewig-sterbliche Wahrheit . . . 4944. Außen und innen. Das umfassende Überbewußtsein

und die umfaßte Ahnungslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 5045. Der Triumph des Todes. Der allmächtige Tod . . . . . . 5086. Der Tod ist stärker als das Denken; das Denken ist

stärker als der Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5117. Liebe, Freiheit und Gott sind stärker als der Tod –

und umgekehrt! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5198. Doppeldeutigkeit der Sterblichkeit und der

Unsterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5299. Weder Palingenese noch Panbiotismus sind ein

Trost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534

IV. Kapitel: Die Quodditas ist unvergänglich.Die Unwiderruflichkeit des Irreversiblen . . . . . . . . . . . . 5411. Was nicht stirbt, lebt nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5412. Gewesen sein, gelebt und geliebt haben . . . . . . . . . . . 546

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NachwortThomas Kapielski: Die Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563

Nachbemerkung des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567

Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570

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Das Geheimnis Tod und das Phänomen Tod

Man kann daran zweifeln, ob das Problem des Todes ein philoso-phisches Problem im eigentlichen Sinne ist. Betrachtet man esobjektiv und unter einem allgemeinen Gesichtspunkt, wird manschwerlich erkennen, was eine »Metaphysik« des Todes seinkönnte, eine »Physik« des Todes hingegen ist sehr wohl vorstell-bar; ob diese Physik nun in den Bereich der Biologie, Medizin,Soziologie oder Demographie fällt, ist unerheblich, denn der Todist ein biologisches Phänomen wie Geburt, Pubertät und Alte-rungsprozeß; die Sterblichkeit ist ein soziales Phänomen wieGeburtenziffer, Ehestand oder Kriminalität. Für den Medizinerist das letale Phänomen ein bestimmbares und vorhersehbaresPhänomen, das von der betreffenden Gattung, deren durch-schnittlicher Lebensdauer und allgemeinen Lebensumständenabhängig ist. Vom juristischen und legalen Standpunkt aus ist derTod ein ebenso natürliches Phänomen: auf dem Bürgermeisteramtist das Sterberegister ebenso vertreten wie das Geburten- oderEheregister und gehört wie sie in die Rubrik Personenstand. DieBestattungsunternehmen können ebenso eine städtische Dienst-leistung sein wie das Straßenbauamt, das Gartenbauamt oder dasAmt für öffentliche Ordnung, das unter anderem für die Straßen-beleuchtung zuständig ist, das Gemeinwesen unterhält unter-schiedslos Entbindungsstationen und Friedhöfe, Schulen und Al-tersheime. Die Bevölkerung nimmt durch Geburten zu und durchTodesfälle ab: darin liegt nichts Geheimnisvolles, es ist lediglichein Naturgesetz und ein normales empirisches Phänomen, demdie Unpersönlichkeit von Statistiken und Durchschnittswertenjegliche Tragik nimmt. Unter diesem beruhigenden und sehr bür-gerlichen Aspekt sieht Tolstoj am Anfang seines berühmten Ro-mans den Tod des Iwan Iljitsch.1

1 [Leo Tolstoj: Der Tod des Iwan Iljitsch, Frankfurt/M. 1979; Anmerkun-gen und Ergänzungen der Übersetzerin bzw. des Herausgebers stehenzur Unterscheidung von denen Jankelevitchs hier und im folgenden ineckigen Klammern.]

Dieser Tod ist nicht nur der qual-volle Tod Iwans, er ist vor allem das Ableben des Herrn IwanGolowin, Mitglied des Gerichtshofes, er ist ein banaler und ab-strakter administrativer Vorgang, ein »nekrologischer« Vorgang,

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der wie eine Pensionierung eine Fülle von Ernennungen, Verset-zungen und Beförderungen nach sich zieht. Iwans Tod ist ein pri-vates Drama und ein Unglück für die Familie, der Tod des Richtersaber versetzt vor allem die Jurisprudenz in Bewegung. Iwans Todist das Ende eines unsäglichen Leidensweges, das Ableben Golo-wins aber setzt, wie in der Todesanzeige mitgeteilt wird, denSchlußpunkt unter den Lebenslauf eines Beamten und die Biogra-phie eines russischen Staatsangehörigen.

1. Eine metaempirische Tragödie und eine naturgegebeneNotwendigkeit

Kosmologische Verallgemeinerungen und rationale Überlegungversuchen, den Tod zu bagatellisieren oder zu konzeptualisieren,sie wollen die metaphysische Bedeutung des Todes verringern,wollen aus der absoluten Tragödie ein relatives Phänomen, ausdem völligen Zunichtewerden ein partikuläres Dahingehen, ausdem Geheimnis ein Problem und aus dem Skandal ein Gesetzmachen. Das philosophische Bewußtsein will trösten, es münztdas metaempirische Aufhören geschickt in eine empirische Fort-dauer oder eine ideale Ewigkeit um, indem es die Übernatürlich-keit des Todes entweder zu etwas Natürlichem macht oder seineIrrationalität rationalisiert. Doch die Offensichtlichkeit der Tra-gödie protestiert auf ihre Weise gegen die Banalisierung des Phä-nomens: die Selbstheit der dahingegangenen Person bleibt ebensounersetzlich wie das Dahinscheiden dieser Person an sich nicht zukompensieren ist; und andererseits stünde das lächerliche Zunich-tewerden des denkenden Wesens auch dann noch zur Debatte,wenn das Denken das denkende Wesen überlebte. Kurz, es han-delt sich um zwei sich widersprechende Tatsachen, die paradoxer-weise gleich offensichtlich sind, die einander aber dessen ungeach-tet den Rücken zudrehen. Der verwirrende und sogar schwindel-erregende Charakter des Todes, den P. L. Landsberg2

2 P.[aul] L.[udwig] Landsberg: Essai sur l’experience de la mort, Paris 1936[dt.: Die Erfahrung des Todes, Frankfurt/M. 1973].

so tiefgehendanalysiert hat, rührt von ebendiesem Widerspruch her: auf dereinen Seite steht das Geheimnis, das metaempirische Dimensio-nen, das heißt unendliche, oder besser, überhaupt keine Dimen-

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sionen hat, und auf der anderen Seite das vertraute Ereignis, daserfahrungsgemäß eintritt und sich bisweilen vor unseren Augenvollzieht. Gewiß, es gibt natürliche Phänomene, die einer Gesetz-mäßigkeit folgen (obwohl ihre »Washeit« oder ihr eigentlicherUrsprung letztendlich unerklärlich bleiben), Phänomene, die inden Bereich der Empirie fallen und stets von anderen Phänome-nen abhängen. Andererseits gibt es metaempirische Wahrheitena priori, die sich nicht hic et nunc3

3 [»Hier und jetzt«.]

verwirklichen, die niemals »ein-treten«, die aber ganz bestimmte Phänomene zur Folge haben.Dazwischen liegt die zugleich ungewöhnliche und banale Tatsa-che, liegt jenes empirisch-metaempirische Ungeheuer, das manTod nennt: einerseits ist der Tod eine journalistische Meldung, dieunter die Rubrik »Vermischtes« fällt und die der Berichterstat-ter verzeichnet, ein Vorkommnis, das der Gerichtsmediziner fest-stellt, ein universelles Phänomen, das der Biologe untersucht; dader Tod jederzeit und überall eintreten kann, kann man ihn durchzeitliche und örtliche Koordinaten fixieren: diese Umstandsbe-stimmungen der Zeit und des Ortes sucht der Untersuchungsrich-ter zu ergründen, wenn er dem Wo-und-Wann des »Todesfalles«nachgeht. Und doch gleicht dieses Vorkommnis keinem anderenempirischen Vorkommnis, denn es übersteigt jedes Maß und istmit anderen natürlichen Phänomenen nicht zu vergleichen. EinGeheimnis, das ein tatsächliches Ereignis, etwas Metaempirischesist, das erfahrungsgemäß eintritt, trägt ohne Zweifel alle Merk-male des Wunders … jedoch unter einem doppelten Vorbehalt: dieletale Wundertätigkeit ist keine positive Offenbarung, sie ist auchkeine glückbringende Metamorphose, sie ist Verlöschen und Ver-neinung; im Gegensatz zu den feenhaften Erscheinungen ist siekein Gewinn, sondern ein Verlust: der Tod ist eine Leere, dieplötzlich mitten im Leben eines Wesens aufbricht; das Seiende, daswie durch eine wundersame Verfinsterung plötzlich unsichtbarwird, stürzt auf einmal durch die Falltür des Nicht-Seins. Ande-rerseits ist dieses »Wunder« keine außergewöhnlich seltene Unter-brechung der natürlichen Ordnung, es ist keine außergewöhnlicheAbweichung vom üblichen Verlauf der Existenz, nein, dieses»Wunder« ist zugleich das universelle Gesetz jeglichen Lebensund das gemeinsame Schicksal der Wesen. Auf ihre Weise, die

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wundersam ist, ist die Feerie des Todes eine ganz natürliche; derTod ist im wahrsten Sinne des Wortes »extra ordinem«, außeror-dentlich, weil er in der Tat einer ganz anderen Ordnung zugehörigist als die Interessen der Erfahrung und belanglosen Angelegen-heiten der Zwischenzeit. Und doch gibt es nichts, das mehr in derOrdnung der Dinge läge! Der Tod ist die außerordentliche Ord-nung par excellence. Die Aufhebung der Sterblichkeit zugunsteneines Wesens, die Unsterblichkeit also, wäre viel eher das wunder-same Wunderding, das wunderbare Wunder, von dem die Langle-bigkeit der Greise uns einen Vorgeschmack zu geben scheint. DieUnsterblichkeit ist in Wahrheit ebenso unbeweisbar und ein-gängig zugleich, wie der Tod notwendig und unverständlich ist.Doch im Gegensatz zur Unsterblichkeit (und zu Gott) ist der Todvor allem eine Tatsache, eine unabwendbare und alltägliche Er-fahrungstatsache. Und trotzdem ist diese Tatsache jedesmal einSchock für uns, wenn wir auf sie treffen! Es ist noch niemals vor-gekommen, daß ein »Sterblicher« nicht gestorben und dem allge-meinen Gesetz entgangen wäre und das Wunder des Immer-Lebens und des Niemals-Vergehens erlebt hätte oder daß sich dieLanglebigkeit, indem sie die Grenze überschritten hätte und zumUnendlichen übergegangen wäre, in eine Ewigkeit verwandelthätte, denn das Absolute ist einer ganz anderen Ordnung zugehö-rig als das Leben. Warum also ist dann der Tod eines Menschenstets eine Art Skandal? Warum ruft dieses so normale Ereignis beijenen, die Zeugen sind, Neugier und Grauen hervor? Wie kommtes, daß sich der Sterbliche, seitdem es Menschen gibt, die sterben,noch nicht an diesen natürlichen und doch stets zufälligen Vor-gang gewöhnt hat? Warum ist er jedes Mal erstaunt, wenn ein Le-bender dahingeht, erstaunt, als fände ein solches Ereignis zumersten Mal statt? Und in der Tat, »jeder ist der erste, der stirbt«,sagt Ionesco.4

4 [Eugene Ionesco:] Le Roi se meurt [Paris 1963], S. 65 [dt.: Der Königstirbt, Neuwied/Berlin 1964, S.28].

Die stets neue Banalität eines jeden Todes entbehrtnicht der Ähnlichkeit mit der sehr alten Neuheit der Liebe, dersehr alten Jugend jeder Liebe: für diejenigen, die sie erleben, ist dieLiebe immer neu, und sie sagen die Worte, die die Liebe schon tau-sendmal wiederholt hat, als habe sie nie jemand vor ihnen gesagt,als sei es seit Anbeginn der Zeiten das erste Mal, daß ein Mann zueiner Frau Worte der Liebe sagt, als sei dieser Frühling der erste

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Frühling und dieser Morgen der erste Morgen; der Verliebte stehtvor diesem taufrischen Morgenrot und diesem taufrischen Tag wieein unermüdlicher Mensch vor einer unerschöpflichen Sache.Hier ist jeder, der nachahmt, ein Erfinder und Anreger; die nach-empfundene Schöpfung ist Neuschöpfung, der Wiederbeginnerster Beginn. Wie kann man noch etwas über die Liebe zu sagenfinden, seitdem es Dichter gibt, die sie besingen? Und doch ist eseine Tatsache: jeder, der sie empfindet, legt auf unerhörte WeiseZeugnis ab von ihr, die Erfahrung, die er macht, ist beispiellos, seinBeitrag originell; in diesem Bereich ist ein jeder zuständig! Aga-thon hält Phaidros entgegen, daß der Gott Eros der jüngste derGötter sei, íåþôáôïò èåùí;5

5 [Platon:] Symposion 195 a-b: öåýãùí öõãç ôï ãçñáò. ’Áåé íÝïí . . . [»indemer fliehend dem Alter entkommt … Stets mit der Jugend gesellt er sich«].

weil er stets von neuem geboren wird,heißt es in der Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe,6

6 [Blaise Pascal: Discours sur les passions de l’amour, in: Œuvres (hg. v. L.Brunschvicg u. P. Boutroux), Paris 1923, Bd. III.]

wirdEros mit den Zügen eines Kindes dargestellt. So paradox dies auchscheinen mag, auch der Tod ist auf seine Weise stets jung. Daherrührt die Mischung aus Vertrautheit und Fremdheit, die den Todkennzeichnet: die widernatürliche Natürlichkeit, die natürlicheÜbernatürlichkeit des Todes ist ungewöhnlich und doch so ver-traut, daß auch der plumpeste Mensch sie sofort anerkennt,begreift und begrüßt, wenn er auf sie trifft. Lukrez7

7 [Lukrez: De rerum natura. Welt aus Atomen, Stuttgart 1977.]

will die beru-higende physische Rechtmäßigkeit der Auflösung im Sterbenbeweisen und bietet alles auf, um uns – und ohne Zweifel auchsich selbst – davon zu überzeugen (denn dieser leidenschaftlicheMann ist vielleicht gar nicht so recht davon überzeugt): deshalbläßt er die tiefe und unbeugsame Fremdheit eines fast ebensonatürlichen wie eigentlich geheimnisvollen Phänomens, nämlichden Fall der schweren Körper, außer acht. Ist nun die endgültigeAuflösung eines menschlichen Wesens in das Nichtsein einfach dieBefolgung der Gesetze einer ich-weiß-nicht-welchen metaphysi-schen Schwerkraft? Die Tragödie des persönlichen Todes weist dieTröstungen des Atomismus energisch zurück. Während Gottabsolut fern ist, ist der Tod fern und nah zugleich. Diese extremeNähe erklärt ohne Zweifel die Versuchung des Selbstmordkandi-daten vor der Giftphiole: gäbe es zwischen dem Lebenden und den

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großen Geheimnissen des Jenseits also nur die durchsichtigeStärke der Glaswandung? Dostojewskijs Gestalten erliegen bis-weilen dieser Anziehungskraft … Eine durchscheinende Mem-bran, sagt Maeterlinck, trennt das Diesseits vom Jenseits: auf dereinen Seite ist ein Diesseits, das bereits jenseitig ist, und auf deranderen Seite der Membran liegt ein Jenseits, das noch kaum jen-seitig, ja so wenig jenseitig ist, daß es eigentlich fast irdisch ist: esist eine jenseitige Welt, die eine andere Welt, die absolut andersund absolut woanders ist (anderswo als das Hier, anders als dieseWelt) und die dennoch überall gegenwärtig, also wie Gott zugleichallanwesend und allabwesend und auf beiden Seiten zugleich ist,auf jener wie auf dieser, ’åêåé und ’åíôáõèá,8

8 [»Dort« und »hier«.]

und die ein transzen-dentes und immanentes Ganzes ist – denn es braucht nicht viel, einBlutgerinnsel in einer Arterie, ein Herzkrampf, und das, was»dort« ist, wird im Handumdrehen zum »Hier«. Der Tod stehtunsichtbar und doch so nah vor der Tür! Wäre der Tod ein Stachel,den das Jenseits in das Diesseits treibt? So nah und fern zugleich!In bezug auf den verletzlichen Organismus, in den die tödlicheGefahr auf so verschiedene Arten eindringen kann, ist der Todzugleich innerlich und von außen kommend. Unser ganzes Lebenhängt also von der nächsten Systole oder Diastole, vom fortwäh-renden Wunder jeder Sekunde ab! Diese ferne Nähe ließ Maeter-linck in L’interieur9

9 [Maurice Maeterlinck: L’interieur, Paris 1894; dt.: Im Innern, München1983.]

in der Schwebe: zwischen der verhängnisvol-len Nachricht, die in der Nacht kommt, und dem friedlichenGlück einer Familie, die von dem Drama, in das sie bereits verwik-kelt ist, noch nichts weiß, zwischen dem quälenden Gewissen unddem heiteren Leichtsinn stehen die Glasscheibe und der Gartenund die Wand der Finsternis.

Im Tod berühren sich metaempirisches Geheimnis und natür-liches Phänomen; das letale Phänomen fällt in das Gebiet der Wis-senschaft, das übernatürliche Geheimnis des Todes aber ruft nachdem Beistand der Religion. Bald zieht der Mensch lediglich dasNaturgesetz in Betracht und läßt das Geheimnis außer acht, baldliegt er vor dem Geheimnis auf den Knien und schenkt dem natür-lichen Phänomen keine Beachtung. Diese widersprüchlichen Hal-

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tungen erzeugen die unterschiedlichsten Verdrängungen, die vageEinschätzungen, Konventionen und Euphemismen zur Folgehaben und die sich als Beruhigung darbieten, während sie Miß-deutungen weiter zulassen. Ein unbegründetes Vorrecht und eineebenso stillschweigende wie ungerechtfertigte Ausnahme zu mei-nen Gunsten sorgen dafür, daß der eigene Tod verdrängt wird. DerTod, jeder weiß das, ist etwas, das nur den anderen widerfährt.Erinnern wir uns hier noch einmal an den Anfang des Todes desIwan Iljitsch:10

10 [Leo Tolstoj: Der Tod des Iwan Iljitsch, a. a.O.]

da ist ein anderer gestorben, Gott sei Dank, undPiotr Iwanowitsch erkundigt sich angelegentlich nach den Todes-umständen, als sei dieser Tod dem persönlichen Pech Iwans zu-zuschreiben, als sei der Tod ein Mißgeschick, das den anderen vor-behalten ist, als sei also der Tod eines Menschen etwas, das ihnnichts angehe. Ich werde auch an die Reihe kommen, im Augen-blick sind aber erst Pierre, Elvire oder die schöne Zelinde, die ichso sehr geliebt habe, an der Reihe.11

11 Jean Cassou: La Mort et le Sarcasme, [in:] Les Cahiers du Sud [38 (1951),Nr.306].

Das Gesetz der Sterblichkeit,das die Menschen in ihrer Allgemeinheit betrifft, betrifft michebensowenig, wie mich der Philanthrop liebt, der doch die ganzeMenschheit zu lieben vorgibt. Daraus schließt man dann hastigund wie verstohlen, daß einen der Tod in keiner Weise etwasangehe. Wer vom Tod spricht, wer es wagt, über den Tod zu philo-sophieren und ihn zu denken, nimmt sich selbst aus von der uni-versellen Sterblichkeit: da man, um das Problem angehen zu kön-nen, so tut als ob, betrifft einen der Tod nicht, und man vergißtdarum auch bald die Übereinkunft des »so als ob«. In Wahrheit istdiese »Schlußfolgerung« der Sophismus einer leidenschaftlichenHoffnung, einer Frivolität und eines Glaubens wider besseresWissen, der durch die Ungewißheit des Zeitpunkts ungemeinbegünstigt wird. Das Gesetz der Sterblichkeit gilt für alle Ge-schöpfe … außer für mich. Doch wir wollen das nicht vertiefen;oder besser, denken wir lieber nicht zu intensiv daran! Die Aus-nahme, die der ersten Person solch unvernünftige Vorrechte ein-räumt, hat weder mit dem immerwährenden Leben noch mit derEwigkeit des Wesens etwas gemein, genausowenig hat sie etwasmit der kosmologischen Wirklichkeit oder der rationalen Wahr-heit zu tun, sie ist lediglich Ausdruck des einseitigen und egozen-

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trischen Blickwinkels des Ich! Die mir zum Vorteil gereichendeAusnahme ist ein Glücksfall und ein glücklicher Zufall: wer weiß?vielleicht vergißt mich der Tod! Vielleicht nimmt mich eine Aus-sparung des Schicksals aus von dieser letzten Prüfung. Vielleichtwird das allgemeine Gesetz auf mich nicht in Anwendung ge-bracht. Und vielleicht wird man inzwischen einen neuen Impf-stoff, ein neues Elixier gegen das Übel des Alterns erfinden. In die-ser Hinsicht ist es jedem erlaubt, zu hoffen. Jedenfalls genügt es,daß ein einziges Wesen, genau gesagt, das Subjekt selbst, der Allge-meingültigkeit des Todes entgeht, denn von diesem Augenblick anhat der Tod aufgehört, allumfassend zu sein: er wird zum Beinahe-Allumfassenden; fast alles ist verloren, doch einer ist gerettet wor-den. Also ist alles gerettet! Mein eigenes Überleben ist daher dasnotwendige Minimum, um etwas vor dem Nichts zu retten undaus dem Tod ipso facto etwas Abstraktes zu machen. Die Ausnah-me zugunsten der ersten Person reicht aus, um den Tod zu proble-matisieren, und erlaubt, ihn mit anderen Konzepten in Verbin-dung zu bringen. Es wird zumindest einen Überlebenden geben,der das Todesbewußtsein wachhält, so wie bisweilen ein einzigerÜberlebender aus großen Schiffskatastrophen hervorgeht (dochist dieser einzige nicht ein wundersamer Glücksfall?), um den an-deren das Unheil zu erzählen.

Natürlich ist dies ein unannehmbarer Trugschluß, denn die Logiksagt uns etwas ganz anderes. Zuerst einmal ist es noch nie vorge-kommen, daß ein Mensch dem Tode entgeht, folglich wird keinMensch je dem Tod entgehen: da der triumphierende Tod absolutkeine Ausnahme zuläßt, ziehen wir die Schlußfolgerung, daß dieseRegel ein Gesetz und dieser Triumph eine Notwendigkeit ist,daß diese Notwendigkeit trotz des Fortschrittsglaubens und derwachsenden Lebenserwartung des Individuums ewig existierenwird und daß die Sterblichkeit letztlich zu einer Definition desMenschen verhelfen kann. Da die Induktion den Syllogismeneinen allgemeingültigen Obersatz liefert, erlaubt sie eine Deduk-tion; denn ein allgemeines Gesetz, das ausnahmslos für alle Men-schen gilt, gilt um so mehr für mich; dem Tod fallen alle Wesenanheim, mich eingeschlossen. Wie steht es aber nun um die Induk-tion? Ist die Sterblichkeit eine abstrakte und unpersönliche Eigen-tümlichkeit der Kreatur im allgemeinen? Ist sie nur eine »Wahr-

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heit«? Im eigentlichen Sinne ist das Sterbenmüssen keine ein-leuchtende Wahrheit wie eine mathematische Wahrheit zum Bei-spiel. So wie die Wahrheit auf den Tod keine Rücksicht nimmt, soist auch der Tod, obgleich er »wahr« ist, nicht das letzte Wort derWahrheit, noch ist er die Wahrheit schlechthin. Die Wahrheit istder Nicht-Tod, und der Tod ist gewissermaßen die Un-Wahrheit:die unsterbliche Wahrheit des Todes ist vielmehr eine Absurditätoder zumindest eine undurchdringliche Paradoxologie. Wennman sagt, daß der Tod eine Wahrheit und folglich die Un-Wahrheiteine Wahrheit ist, bringt man dann nicht noch einmal mehr sei-nen widersprüchlichen und geheimnisvollen Charakter zum Aus-druck? Deshalb liegt im Übergang zu der Grenze, die zum Welt-gericht führt, eine Art winziger Zweifel, eine unsinnige Hoffnungund eine ganz kleine Chance für uns. Darum scheint auch um-gekehrt der Tod eines Menschen niemals nur die mechanischeAnwendung eines allgemeingültigen Gesetzes auf einen Einzelfallzu sein; es gibt nur Einzelfälle, da jedes Schicksal auf seine Weiseeinzigartig und unvergleichlich ist. Peters oder Pauls Tod ist mehrals nur ein Beispiel von vielen, ist mehr als nur die eigenartigeFolge einer allgemeinen und abstrakten Eigentümlichkeit, dieSterblichkeit heißt. Diese Eigentümlichkeit, die bewirkt, daß dieLebenden Todeskandidaten sind oder daß sie, da sie zu einer sterb-lichen Gattung gehören, imstande sind zu sterben, sagt uns nichtsüber den eigenen Tod. Sicher, alle Menschen sind sterblich, undPeter ist einer dieser Menschen; und doch liegt in einer solchenlogischen Schlußfolgerung – ob ich nun Peter bin oder Peter einemir nahestehende Person ist – etwas, das ich nicht glauben will,etwas, das ich nicht wirklich ernst nehme; denn diese Deduktionist eher schlagend als überzeugend, und wir zögern unvernünfti-gerweise, die Schlußfolgerung zu ziehen, die die Prämissen zwin-gend nahelegen. Ich weiß, daß ich sterben werde, aber ich glaubees nicht, sagt Jacques Madaule sehr tiefgründig. Ich weiß, daß ichsterben werde, aber ich bin nicht eigentlich davon überzeugt. IwanIljitsch in Tolstojs Roman12

12 [Leo Tolstoj:] Der Tod des Iwan Iljitsch [a.a.O.], 6. Abschnitt.

empfindet zutiefst den übernatür-lichen und fast verzweifelten Widerwillen, von dem der Menschergriffen wird, wenn er seinen unvergleichlichen »Einzelfall« un-ter ein allgemeines Gesetz stellen soll, wenn er sich auf einmal vom

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