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Natur und Gesellschaft Natur Kruse / Baerlocher (Hrsg.) g dition esowip e Sylvia Kruse, Bianca Baerlocher (Hrsg.) g e ISBN 978-3-906129-52-5 Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Regulation und Gestaltung einer Wechselbeziehung und Gesellschaft Wie gehen Gesellschaften mit ihren natürlichen Ressourcen um und welche Gestaltungsspielräume und Regulationsme- chanismen bieten sich, um das Verhältnis von Natur und Gesellschaft nachhaltig zu gestalten? Ob bei der umweltpo- litischen Steuerung, bei der Regulation durch Eigentumsrecht, bei der Verhandlung von Gentechnik in der Landwirtschaft oder beim Umgang mit Naturgefahren – im Zentrum stehen jeweils Prozesse, in denen natürliche und gesellschaftliche Faktoren in Wechselwirkung miteinander stehen. Der Sam- melband vereint Aufsätze, die aus verschiedenen sozial- wissenschaftlichen Perspektiven aktuelle theoretische sowie empirische Analysen zur Regulation und Gestaltung dieser Wechselbeziehung zur Diskussion stellen. Sylvia Kruse studierte und promovierte in den Umweltwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Forschungsinteressen liegen an der Schnittstelle zwischen sozialwissenschaftlicher Umweltforschung und räumlicher Planung. An der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) erforscht sie den Umgang mit Naturgefah- ren und Klimawandel im Alpenraum. Bianca Baerlocher studierte Soziologie, MGU (Mensch, Gesellschaft, Umwelt) und Medienwissenschaften an den Universitäten Basel und Zürich. In ihren Forschungen an der Universität Basel erarbeitet sie mit dem theoretischen Konzept der ökologischen Regimes einen Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung.
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Streit um Materie?

Apr 01, 2023

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Page 1: Streit um Materie?

Natur undGesellschaft

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Sylvia Kruse, Bianca Baerlocher (Hrsg.)

geISBN 978-3-906129-52-5

Sozialwissenschaftliche Perspektivenauf die Regulation und Gestaltungeiner Wechselbeziehung

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Wie gehen Gesellschaften mit ihren natürlichen Ressourcen um und welche Gestaltungsspielräume und Regulationsme- chanismen bieten sich, um das Verhältnis von Natur und Gesellschaft nachhaltig zu gestalten? Ob bei der umweltpo- litischen Steuerung, bei der Regulation durch Eigentumsrecht, bei der Verhandlung von Gentechnik in der Landwirtschaft oder beim Umgang mit Naturgefahren – im Zentrum stehen jeweils Prozesse, in denen natürliche und gesellschaftliche Faktoren in Wechselwirkung miteinander stehen. Der Sam- melband vereint Aufsätze, die aus verschiedenen sozial- wissenschaftlichen Perspektiven aktuelle theoretische sowie empirische Analysen zur Regulation und Gestaltung dieser Wechselbeziehung zur Diskussion stellen.

Sylvia Kruse studierte und promovierte in den Umweltwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Forschungsinteressen liegen an der Schnittstelle zwischen sozialwissenschaftlicher Umweltforschung und räumlicher Planung. An der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) erforscht sie den Umgang mit Naturgefah- ren und Klimawandel im Alpenraum.

Bianca Baerlocher studierte Soziologie, MGU (Mensch, Gesellschaft, Umwelt) und Medienwissenschaften an den Universitäten Basel und Zürich. In ihren Forschungen an der Universität Basel erarbeitet sie mit dem theoretischen Konzept der ökologischen Regimes einen Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung.

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Sylvia Kruse, Bianca Baerlocher (Hrsg.)

Natur und Gesellschaft

Page 3: Streit um Materie?

Über das Buch 

Wie gehen Gesellschaften mit  ihren natürlichen Ressourcen um und 

welche  Gestaltungsspielräume  und  Regulationsmechanismen  bieten 

sich,  um  das  Verhältnis  von Natur  und  Gesellschaft  nachhaltig  zu 

gestalten? Ob bei der umweltpolitischen Steuerung, bei der Regulati‐

on durch Eigentumsrecht, bei der Verhandlung von Gentechnik in der 

Landwirtschaft oder beim Umgang mit Naturgefahren – im Zentrum 

stehen jeweils Prozesse, in denen natürliche und gesellschaftliche Fak‐

toren  in Wechselwirkung miteinander stehen. Der Sammelband ver‐

eint  Aufsätze,  die  aus  verschiedenen  sozialwissenschaftlichen  Per‐

spektiven aktuelle theoretische sowie empirische Analysen zur Regu‐

lation und Gestaltung dieser Wechselbeziehung zur Diskussion  stel‐

len. 

 

 

 

 

 

 

 

 

Über die Herausgeberinnen  

Sylvia Kruse studierte und promovierte in den Umweltwissenschaften 

an  der  Leuphana  Universität  Lüneburg.  Ihre  Forschungsinteressen 

liegen an der Schnittstelle zwischen sozialwissenschaftlicher Umwelt‐

forschung  und  räumlicher  Planung.  An  der  Eidgenössischen  For‐

schungsanstalt  für Wald, Schnee und Landschaft  (WSL) erforscht sie 

den Umgang mit Naturgefahren und Klimawandel im Alpenraum. 

  

Bianca  Baerlocher  studierte  Soziologie, MGU  (Mensch, Gesellschaft, 

Umwelt) und Medienwissenschaften an den Universitäten Basel und 

Zürich.  In  ihren Forschungen  an der Universität Basel  erarbeitet  sie 

mit dem theoretischen Konzept der ökologischen Regimes einen Bei‐

trag zur sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung.

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Sylvia Kruse, Bianca Baerlocher (Hrsg.)  

Natur und Gesellschaft

Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Regulation und Gestaltung einer Wechselbeziehung

 

edition gesowip

Basel 2011

Page 5: Streit um Materie?

Die Deutsche Bibliothek – CIP – Einheitsaufnahme 

Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek 

erhältlich 

 

Die Deutsche Bibliothek ‐ CIP‐Cataloguing‐in‐Publication‐Data 

A catalogue record for this publication is available from Die Deutsche Biblio‐

thek  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Originalausgabe 

 

 

Alle Rechte vorbehalten 

© 2011 by edition gesowip, Basel/Switzerland 

Herstellung: SDL Berlin 

 

 

Printed in Germany 

 

 

ISBN 978‐3‐906129‐52‐5 

Page 6: Streit um Materie?

Inhalt

Bianca Baerlocher und Sylvia Kruse 

Natur in den Sozialwissenschaften – Eine Einleitung…………….  7 

 

 

Teil 1: Perspektiven auf die Regulation von Natur und Gesellschaft 

 

Cedric Janowicz 

Das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse und seine 

Bedeutung für die Umweltsoziologie………………………….  21 

 

Thomas Barth 

Ökologische Krise und Krisenmanagement…..................................  45 

 

Karsten Gäbler 

Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum  67 

 

Henrike Rau 

Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz für die 

Wechselbeziehungen von Umwelt, Politik und Gesellschaft  93 

 

 

Teil 2: Gesellschaftliche Naturverständnisse von Akteuren 

 

Patrick Masius 

Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich……………………..  129 

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Inhalt

6

Birgit Peuker 

Natur und Gesellschaft in der Agrar‐Gentechnik‐Debatte………  165 

 

Daniela Gottschlich und Tanja Mölders 

Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung gesellschaftlicher 

Naturverhältnisse………………………………………………… 189 

 

Jana Flemming 

Streit um Materie?...................................................................................  227 

 

 

Teil 3: Ein Plädoyer zum Schluss 

 

Christina Katz 

Kein totes Pferd reiten!........................................................................... 255 

 

 

Autorinnen und Autoren……………………………………………… 281 

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Natur in den Sozialwissenschaften – Eine Einleitung

Bianca Baerlocher und Sylvia Kruse 

1. Einführung

Der anthropogen verursachte Klimawandel, die Zunahme technologi‐

scher Risiken und die Ressourcenknappheit  führen vor Augen, dass 

der  Umgang  der  modernen  Gesellschaft  mit  ihren  natürlichen  Le‐

bensgrundlagen zu unerwünschten Folgen führt. Das sich wandelnde 

Verhältnis von Gesellschaft und Natur wird  in verschiedenen sozial‐

wissenschaftlichen Disziplinen  bereits  seit  einigen  Jahrzehnten wis‐

senschaftlich reflektiert (z. B. Catton/Dunlap 1980; Ostrom 1990; Beck 

1986;  Luhmann  1986).  Zentrale  Fragen  sind  dabei, wie  sich Gesell‐

schaften nachhaltig entwickeln, wie sie mit ihren natürlichen Ressour‐

cen verantwortlich haushalten und wie sie mit (globalen) Umweltrisi‐

ken vorsorgend umgehen können.  

  Als  Reflexionsinstanz  trägt  die  sozialwissenschaftliche  For‐

schung vor allem  im Hinblick auf das Leitbild nachhaltiger Entwick‐

lung – dessen Kernidee die Abhängigkeit gesellschaftlicher Entwick‐

lung von knappen natürlichen Ressourcen beinhaltet – eine  intellek‐

tuelle Mitverantwortung  für die Gestaltung  gesamtgesellschaftlicher 

Entwicklungsprozesse. Mit  ihren  Analysen  und  Erklärungen  legiti‐

mieren  oder  kritisieren  die  Sozialwissenschaften  Optionen  gesell‐

schaftlichen Wandels und  zeigen Gestaltungsspielräume und Hand‐

lungsoptionen auf.  

  Genau diese Reflexionsaufgabe  im Hinblick  auf das Leitbild 

nachhaltiger Entwicklung stellt die sozialwissenschaftliche Forschung 

jedoch vor wissenschaftstheoretische und  forschungspraktische Her‐

ausforderungen. Um  diese  besser  zu  verstehen,  ist  ein  Blick  in  die 

Entstehung  der  Sozialwissenschaften  und  ihr  Selbstverständnis  als 

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Bianca Baerlocher und Sylvia Kruse

8

Forschungsrichtung notwendig. Die Sozialwissenschaften  etablierten 

sich im ausgehenden 19. Jahrhundert im westlichen Wissenschaftssys‐

tem, indem sie das „Soziale“ als Gegenstandsbereich einer neuen Wis‐

senschaftsrichtung in Abgrenzung zu den Naturwissenschaften iden‐

tifizierten. Das dabei zugrunde gelegte Paradigma „Soziales aus Sozi‐

alem zu erklären“, diente als Denkrahmen, der vorgab unter welcher 

Kategorie ein sozialwissenschaftliches Problem zu lösen sei. Die Klas‐

siker  der  Soziologie  gelangten  bei  der  Abgrenzung  ihres  Gegen‐

standsbereiches zu unterschiedlichen Lösungen. Bei Durkheim ist die 

Grundkategorie  des  Sozialen  das  Kollektivbewusstsein,  bei  Weber 

steht das soziale Handeln und später bei Luhmann die Kommunikati‐

on  im Zentrum  (Durkheim  1984; Weber  1984; Luhmann  1997). Den 

Klassikern  der  Soziologie  schwebte  dabei  ein  starkes  paradigmati‐

sches Programm vor, das auf Einheit der Disziplin abzielte. Indem sie 

Sachverhalte auf die Möglichkeit von Sozialität reduzierten, schlossen 

sie natürliche Gegebenheiten kategorisch aus (Conrad 1998). Auch in 

der  nachfolgenden  Phase  der  Etablierung  und  Ausdifferenzierung 

haben  sozialwissenschaftliche Disziplinen  ihre Anerkennung  in  der 

Abgrenzung  von  den  naturwissenschaftlichen  Disziplinen  gerade 

dadurch gewonnen, dass  sie das  Soziale  als  autonomen Realitätsbe‐

reich unabhängig von Natur verstanden (Brand 1998; Groß 2006; Groß 

2001; Kropp 2002; Zierhofer/Baerlocher/Burger 2008). Dies gilt  insbe‐

sondere für die Soziologie, aber auch für andere sozialwissenschaftli‐

che Disziplinen, wie die Politikwissenschaften oder die Ökonomie. So 

galt und gilt zum Teil noch heute Natur, verstanden als dualistisches 

Gegenüber der Gesellschaft, als blinder Fleck der Sozialwissenschaf‐

ten. 

  Natur und Gesellschaft werden also nicht nur  in den Natur‐

wissenschaften, sondern auch in den im Verlauf des 19. Jahrhunderts 

entstehenden Sozialwissenschaften als erkenntnistheoretisch und me‐

thodologisch  unterscheidbare Wissensobjekte  gefasst. Demnach wä‐

ren die Gesetzmässigkeiten der Natur Gegenstand der naturwissen‐

schaftlichen Erkenntnis; gesellschaftliche Entwicklung und die gesell‐

schaftliche  Verfasstheit  menschlichen  Handelns  beträfen  den  Er‐

kenntnisbereich der Sozialwissenschaften. Dynamische und wechsel‐

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Natur in den Sozialwissenschaften – Eine Einleitung

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wirksame Verhältnisse von Gesellschaft und Natur können aus dieser 

Sichtweise  allerdings  kaum  erfasst werden. Die  starke  Selbstbezüg‐

lichkeit der wissenschaftlichen Disziplinen kann zudem die  interdis‐

ziplinäre  Zusammenarbeit  zwischen  Sozialwissenschaften  und  Na‐

turwissenschaften erschweren (Scheffer/Schmidt 2009: 295).  

  Vor dem Hintergrund gravierender Umweltprobleme wurde 

in den  letzten  Jahrzehnten des 20.  Jahrhunderts vielen  sozialwissen‐

schaftlich Forschenden deutlich, dass die Fähigkeit der Reflexion über 

Natur  innerhalb  der  soziologischen  Tradition  nach  Durkheim  und 

Weber  eingeschränkt bleibt. Das klassisch  soziologische bzw.  sozial‐

wissenschaftliche Paradigma konnte die ökologische Krise nicht mehr 

angemessen  erfassen. Von  diesem Konsens  ausgehend  entwickelten 

sich verschiedene Richtungen einer sozialwissenschaftlichen Umwelt‐ 

und Nachhaltigkeitsforschung.  

2. Konzeptualisierungen von Natur und Gesellschaft

Will  die  sozialwissenschaftliche  Umweltforschung  ihrer  Reflexions‐

aufgabe nachkommen und Spielräume und Handlungsorientierung in 

Bezug auf das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft aufzeigen, 

so ist eine zentrale Herausforderung, Natur theoretisch und empirisch 

in  den Gegenstandsbereich  der  Sozialwissenschaften  zu  integrieren. 

In Bezug auf die beschriebene Ausgangslage sozialwissenschaftlicher 

Disziplinen,  stellt  sich die Frage, wie das Verhältnis von Natur und 

Gesellschaft beschrieben werden kann.  

  Catton und Dunlap (1980) zählen sich zu den ersten Umwelt‐

soziologen  und  propagierten  bereits  vor  über  dreissig  Jahren  die 

Aufweichung des  klassischen  soziologischen Paradigmas,  indem  sie 

eine Wende zu einem „New ecological paradigm“ forderten. Sie stell‐

ten die Möglichkeit zur Diskussion, dass auch natürliche Phänomene 

zur  Erklärung  sozialer  Phänomene  herangezogen  werden  könnten. 

Sie haben damit den Anstoss zu einer Reflexion des Verhältnisses von 

Natur und Gesellschaft  in Bezug  auf dessen wissenschaftliche Bear‐

beitung im Rahmen des gültigen soziologischen Paradigmas gegeben. 

Seitdem  sind  eine  Reihe  von Vorschlägen  gemacht worden,  die  im 

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Bianca Baerlocher und Sylvia Kruse

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Kontext  dieser  Forderung  stehen.  Naturalistische  Erklärungen  des 

Verhältnisses  von  Natur  und  Gesellschaft,  d. h.  dass  Naturgesetze 

soziale Prozesse determinieren würden, wurde bereits von den Klas‐

sikern  der  Soziologie  abgelehnt  und  sind  auch  heute  noch  wenig 

brauchbar. Auch die Ansicht, dass Menschen uneingeschränkt  in die 

Natur eingreifen können und absolute Autonomie über  sie besitzen, 

so wie  es die Vorstellung  in der Moderne war,  lässt  sich nicht  auf‐

rechterhalten. Seit Mitte der 1980er  Jahre wird die ökologische Krise 

zum Anlass  genommen  sich  soziologisch mit den Nebenfolgen  von 

Umweltveränderungen zu befassen. Zu den prominentesten Schriften 

gehören  Ulrich  Becks  „Risikogesellschaft“  (1986)  und  Niklas  Luh‐

manns „Ökologische Kommunikation“ (1986). Nicht zuletzt das Leit‐

bild  nachhaltiger  Entwicklung  legt  nahe,  dass  gesellschaftliche  Ent‐

wicklung nicht mehr unabhängig von natürlichen Ressourcen gesehen 

werden kann. Auch andere Autorinnen und Autoren der Sozialwis‐

senschaften  greifen das Argument  auf, dass Natur und Gesellschaft 

nicht unabhängig voneinander gedacht werden können. Die Ansätze 

in  diesem  Diskurs  variieren  von  systemtheoretischen  (z. B.  gesell‐

schaftlicher Metabolismus)  bis  handlungstheoretischen  Perspektiven 

(z. B.  Akteur‐Netzwerk‐Theorie,  Action‐Setting‐Theorie,  ökologische 

Regime, Reflexive Moderne). Alle diese theoretischen Ausarbeitungen 

stehen  vor der Aufgabe, die  Integration  von Natur  vor dem  klassi‐

schen Paradigma der Sozialwissenschaften  zu vollziehen oder  es  zu 

verwerfen. Sowohl naturalistische als auch  soziozentristische Heran‐

gehensweisen  an  das  Natur‐Gesellschafts‐Verhältnis  beinhalten  Re‐

duktionismen  (vgl. Kropp 2002: 137  ff.). Während  in naturalistischen 

Konzeptionen die kulturellen, sozialen und politischen Vermittlungen 

von Umweltproblemen ausgeblendet werden und auch die Wirkun‐

gen von Natur auf Gesellschaft weitgehend unberücksichtigt bleiben, 

erhalten  gesellschaftliche  Prozesse  in  den  soziozentristischen  bzw. 

konstruktivistischen  Perspektiven  kaum  Anbindung  an  natürlich‐

materielle  Bedingungen  (ausser  bei  Luhmanns  systemtheoretischer 

Perspektive). Auch der Zusammenhang von materiellen und diskur‐

siven Bedeutungen wird  in dieser  zweiten Perspektive  systematisch 

übersehen und dem Sozialen eine hohe Eigenständigkeit zugewiesen. 

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Natur in den Sozialwissenschaften – Eine Einleitung

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Weder die eine noch die andere Seite vermag natürliche Gegebenhei‐

ten befriedigend zu integrieren.  

3. Zum Inhalt

Die hier aufgeworfene Problematik wird  in den  folgenden Beiträgen 

von  den Autorinnen  und Autoren  aus  verschiedenen  sozialwissen‐

schaftlichen  Blickwinkeln  sowohl  theoretisch‐konzeptuell  als  auch 

anhand von empirischen Fallstudien aufgegriffen. Der erste Teil des 

Sammelbandes  befasst  sich mit Ansätzen  zur Regulation der Wech‐

selbeziehung  zwischen Natur und Gesellschaft  auf der Makro‐ und 

Mesoebene.  Im  zweiten  Teil  werden  die  Akteure  und  ihre  Gestal‐

tungsmöglichkeiten in Bezug auf Natur diskutiert. 

Teil 1: Perspektiven auf die Regulation von Natur und Gesell-schaft

Im  Rahmen  sozial‐ökologischer  Forschung wurde  das  sich  regulie‐

rende,  dialektische Wechselspiel  von Natur  und  Gesellschaft  unter 

der Begrifflichkeit  „gesellschaftlicher Naturverhältnisse“  erfasst. Das 

Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse ist allgemein gefasst 

und kann auf verschiedene Weise für die Theoriebildung und für die 

Empirie  konkretisiert  werden  (Becker/Jahn  2006).  Die  Beiträge  des 

ersten  Teils  dieses  Sammelbandes  greifen  das  Konzept  der  gesell‐

schaftlichen Naturverhältnisse  auf, wobei  eine  Konkretisierung  des 

Konzeptes über den Begriff der Regulation  vorgenommen wird.  Im 

gängigen Verständnis  in den Sozialwissenschaften beschreibt der Be‐

griff der Regulation intendierte Steuerungs‐ und Gestaltungsprozesse 

von Akteuren. Damit können soziale Prozesse und Dynamiken ange‐

sprochen sein, so z. B. ein Gesetz zur Schulpflicht. Die gesellschaftli‐

chen Intentionen können sich  jedoch auch auf natürliche Phänomene 

beziehen,  indem z. B. Flussläufe korrigiert werden oder die Verwen‐

dung von Holz durch ein Forstgesetz reguliert wird. Alle genannten 

Beispiele lassen sich im Rahmen des klassischen soziologischen Para‐

digmas  erfassen.  Ein  erweiterter  Regulationsbegriff  bezieht  darüber 

hinaus  neben  den  intendierten  auch  unintendierte  Prozesse  ein,  so 

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Bianca Baerlocher und Sylvia Kruse

12

dass  auch  natürliche  Phänomene  Einfluss  auf  gesellschaftliche  Ent‐

scheidungsprozesse  haben  und  unintendierte  natürliche  Prozesse 

Gesellschaft strukturieren können.  

  Der  erste  Beitrag  dieses  Sammelbandes  von  Cedric  Janowicz 

versucht dahingehend eine erste Antwort zu geben, in dem der Autor 

das Konzept der Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse und 

seine Bedeutung für die Umweltsoziologie ins Zentrum seiner theore‐

tischen Überlegungen  stellt. Ausgehend von dem Dilemma der um‐

weltsoziologischen  Theoriebildung  zwischen  Naturalismus  und 

Kulturalismus bzw. Sozialkonstruktivismus sieht er das Konzept der 

gesellschaftlichen  Naturverhältnisse  als  Lösungsansatz  für  die  um‐

weltsoziologische Theoriebildung, die der „Entmaterialisierung“ ent‐

gegenzuwirken  versucht.  Für  das  Verhältnis  von  Gesellschaft  und 

Natur wird  angenommen,  dass  dieses  in  Form  eines  dynamischen 

Beziehungsmusters reguliert wird.  

  Das Konzept der Regulation  gesellschaftlicher Naturverhält‐

nisse wird  in  den  nächsten  beiden  Beiträgen  für  die  institutionelle 

Ebene  konkretisiert. Thomas Barth  fokussiert  auf  politische Regulati‐

onsmechanismen  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse  auf  makro‐

struktureller  Ebene.  Seine  These  ist,  dass  es  trotz  umfassender  um‐

weltpolitischer Regulierungen  zu  sich  verschärfenden Problemlagen 

im Umweltbereich kommt. Diese Ausgangslage analysiert er mit Hilfe 

einer kritischen Staatstheorie nach Offe und Habermas, um Umwelt‐

politik und deren genuine Aufgabe des Schutzes der Umwelt kritisch 

zu hinterfragen. Dabei diskutiert er drei Thesen, nämlich: 1. Der Staat 

hat ein spezifisches Interesse an der Behandlung von Umweltproble‐

men; 2. Die staatliche Bearbeitung von Umweltproblemen ist struktu‐

rellen Einschränkungen unterworfen; 3. Krisenmanagement wird vor 

die Ergründung der Ursachen der Krise gestellt.  

  Klassischerweise werden  institutionelle Regulationsweisen  in 

Bezug  auf  Ressourcennutzungen  in  den  Rechtswissenschaften  und 

Politikwissenschaften vor allem mit eigentumsrechtlichen Fragen ver‐

knüpft. In diesem Sinne versteht Karsten Gäbler Eigentum als eine der 

Schlüsselformen der Regulation  gesellschaftlicher Naturverhältnisse. 

Er  entwickelt  eine  eigentumstheoretische  Betrachtung  entlang  der 

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Natur in den Sozialwissenschaften – Eine Einleitung

13

Frage, wie  gesellschaftliche Naturverhältnisse  durch  Eigentumsord‐

nungen reguliert werden können. Am Bespiel der Gemeingutdebatte 

diskutiert  er, welche Gestaltungsspielräume  im Hinblick  auf  Eigen‐

tum und Natur vorhanden sind.  

  Abgerundet werden  diese  konzeptuellen  Überlegungen mit 

einem Beitrag, der den Fokus auf die politischen Regulationsmöglich‐

keiten von Mobilität richtet. Henrike Rau diskutiert das „neue Mobili‐

tätsparadigma“  John Urrys  im Hinblick auf die Frage nach Möglich‐

keiten der politischen Regulierung  von Mobilität und deren Bedeu‐

tung  für die Wechselbeziehung von Gesellschaft und Natur.  Im Mit‐

telpunkt  ihrer Untersuchung steht die Diskussion um politische Ein‐

flussnahme  durch  national‐staatliche  Institutionen,  nicht‐staatliche 

und zivilgesellschaftliche Akteure. 

Teil 2: Gesellschaftliche Naturverständnisse von Akteuren

Der zweite Teil des Sammelbands befasst sich mit der Wahrnehmung 

von Natur und den kategorischen Zuordnungen von Natur und Ge‐

sellschaft, wobei die  individuelle Akteursebene und die Möglichkei‐

ten der Gestaltung des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft  in 

den Vordergrund gestellt werden. Im ersten Beitrag dieses Abschnit‐

tes  analysiert  Patrick Masius  den  politischen  und wissenschaftlichen 

Diskurs nach dem Rheinhochwasser 1882/83. An diesem Beispiel aus 

dem Deutschen Kaiserreich wird deutlich, dass schon damals natürli‐

che und  anthropogene Ursachen  für  extreme Überschwemmungser‐

eignisse gegenüber gestellt wurden und je nach Akteursgruppe unter‐

schiedliche Schlussfolgerungen für den Umgang mit Hochwasser ge‐

zogen wurden. Der Autor  zeigt  zudem  auf, wie  stark die Debatten, 

die über den Umgang mit Natur ausgetragen wurden, wissenschaftli‐

che Argumentationen von politischen Interessen durchzogen waren.  

  Dass  diese  kategorischen  Zuteilungen  im  Verhältnis  Natur 

und  Gesellschaft  auch  heute  noch  aktuell  sind,  demonstriert  Birgit 

Peuker  am  Beispiel  der  Agrar‐Gentechnikdebatte.  Sie  argumentiert 

dafür, das  jeweilige Naturverständnis um die Perspektive der Gesell‐

schaft zu erweitern, weil bestimmte Naturverhältnisse nicht losgelöst 

von einer Konzeption von Gesellschaft zu verstehen sind. Am Beispiel 

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Bianca Baerlocher und Sylvia Kruse

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der  Agrar‐Gentechnikdebatte  untersucht  sie,  welche  Auffassungen 

unterschiedliche soziale Akteure über das Verhältnis zwischen Natur 

und  Gesellschaft  besitzen  und  durch  welche  Besonderheiten  sich 

diesbezüglich Akteure aus der Umweltbewegung auszeichnen. 

  In einem ähnlichen Kontext verortet sich der Beitrag von Da‐

niela Gottschlich und Tanja Mölders. Die Autorinnen gehen davon aus, 

dass die ökologische Krise auch eine Krise des Politischen ist und dis‐

kutieren die Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Naturver‐

hältnisse  in  Richtung  Nachhaltigkeit.  Ihre  Arbeitshypothese  lautet, 

dass eine nachhaltige Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse 

der Reflexion  bzw. der Reformulierung  von Natur‐, Ökonomie und 

Politikverständnissen bedarf. Dies wird an den Politikfeldern Ländli‐

che Entwicklung und Agro‐Gentechnik erläutert.  

  Ein weiteres Fallbeispiel, wie  individuelle Akteure mit Natur 

umgehen, analysiert Jana Flemming in ihrem Beitrag. Die Autorin un‐

tersucht  soziale  Konflikte  um  Natur  im  Untersuchungsgebiet 

Schorfheide‐Chorin,  indem  sie  auf Ursachen  von  Konflikten,  deren 

Funktionen und deren Wahrnehmung durch die verschiedenen Ak‐

teure  fokussiert.  Ihr Ausgangspunkt  ist die These, dass  in Konflikt‐

handlungen  häufig  materielle  Motive  in  den  Vordergrund  gestellt 

werden und die nicht weniger wichtigen symbolisch‐kulturellen As‐

pekte der Gestaltung  von  gesellschaftlichen Naturverhältnissen  ver‐

deckt bleiben. Insofern legt die Autorin den Fokus ihrer theoretischen 

Überlegungen und  empirischen  Forschung  auf die  nicht‐materiellen 

Prämissen von Konflikten zwischen Naturschutz und Landwirtschaft. 

Teil 3: Ein Plädoyer zum Schluss

Die Beiträge des  Sammelbandes  spiegeln  einen Ausschnitt  über die 

Möglichkeiten, das Verhältnis von Natur und Gesellschaft, die Regu‐

lationsweisen  von Gesellschaften  und  die Gestaltungsmöglichkeiten 

einzelner Akteure  in den  Sozialwissenschaften  zu  erfassen. Die  ein‐

gangs  erwähnten  paradigmatischen  und methodologischen Heraus‐

forderungen zur Analyse dieser Wechselbeziehungen greift Christina 

Katz in ihrem Schlussplädoyer wieder auf. Mit ihrem Essay nimmt die 

Autorin einen Streifzug durch die Wissenschaftstheorie vor und fragt 

Page 16: Streit um Materie?

Natur in den Sozialwissenschaften – Eine Einleitung

15

sich: Wie können Umwelt, nachhaltige Entwicklung und Natur zum 

Untersuchungsgegenstand der sozialwissenschaftlichen Forschung  in 

Theorie und Praxis werden? Mit dem Bild eines wissenschaftstheore‐

tischen „Hindernisparcours“ entwirft sie vier Plädoyers,  in denen sie 

die forschungspraktischen Implikationen von integrativen Konzepten 

zur wissenschaftlichen Bearbeitung von Mensch‐Natur‐Verhältnissen 

beschreibt.  

4. Danksagung

Der Sammelband ist das Produkt einer Tagung der Nachwuchsgrup‐

pe Umweltsoziologie mit dem Titel „Natur und Gesellschaft – Gestal‐

tung  und  Regulation  der  Gesellschafts‐Natur‐Beziehung“,  die  im 

März 2009 an der Universität Basel stattgefunden hat.  In den Beiträ‐

gen führen die Autorinnen und Autoren ihre Vorträge weiter aus.  

  An dieser Stelle danken wir ganz ausdrücklich den Autorin‐

nen  und Autoren  für  ihr  Engagement  auf  der  Tagung  und  im  an‐

schliessenden Schreib‐ und Reviewprozess, ebenso wie den Kommen‐

tatorinnen und Kommentatoren für ihre konstruktive Kritik und ihren 

Beitrag zum Gelingen des Sammelbandes. Insbesondere in Veröffent‐

lichungen, an denen Autorinnen und Autoren verschiedener Diszipli‐

nen  beteiligt  sind,  ist  es  nicht  trivial  sowohl  eine  gemeinsame  und 

allgemeinverständliche Sprache zu finden als auch theoretische Bezü‐

ge zu  formulieren, die zur Verständlichkeit und Anknüpfungsfähig‐

keit der hier diskutierten Ideen sowohl in der eigenen Subdisziplin als 

auch im interdisziplinären Dialog beitragen.  

  Darüber hinaus danken wir Marcel Diel  für sein sorgfältiges 

Lektorat und Emily Schultz  für die Umsetzung des Layouts. Für  fi‐

nanzielle Unterstützung  für Druck, Layout und Lektorat des Buches 

danken wir der Edition gesowip, der Sektion Umweltsoziologie der 

Deutschen  Gesellschaft  für  Soziologie,  dem  Programm  Nachhaltig‐

keitsforschung der Universität Basel und der Forschungseinheit Wirt‐

schafts‐  und  Sozialwissenschaften  der  Eidgenössischen  Forschungs‐

anstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). 

Page 17: Streit um Materie?

Bianca Baerlocher und Sylvia Kruse

16

5. Literaturverzeichnis

Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 

Taschenbuch Verlag. 

Becker, Egon/Jahn, Thomas.  (Hrsg.)  (2006): Soziale Ökologie. Grund‐

züge einer Wissenschaft von den gesellschaftlichen Naturver‐

hältnissen Frankfurt am Main: Campus Verlag. 

Brand, Karl‐Werner (Hrsg.)(1998): Soziologie und Natur. Theoretische 

Perspektiven. Opladen: Leske & Budrich.  

Catton, William  R./Dunlap,  Riley  E.  (1980): A  new  ecological  para‐

digm  for  post‐exuberant  sociology.  In: American  Behavioral 

Scientist, 24, 15‐47. 

Conrad,  Jobst  (1998):  Umweltsoziologie  und  das  soziologische 

Grundparadigma.  In: Brand, Karl‐Werner  (Hrsg.): Soziologie 

und  Natur.  Theoretische  Perspektiven.  Opladen:  Leske  & 

Budrich, 33‐52. 

Durkheim,  Emile  (1984):  Die  Regeln  der  soziologischen  Methode. 

Neuwied: Hermann Luchterhand Verlag. 

Groß, Matthias (2001): Die Natur der Gesellschaft. Eine Geschichte der 

Umweltsoziologie. Weinheim: Juventa Verlag. 

Groß, Matthias (2006): Natur. Bielefeld: transcript Verlag. 

Kropp,  Cordula  (2002):  „Natur“:  soziologische  Konzepte,  politische 

Konsequenzen. Opladen: Leske + Budrich. 

Luhmann, Niklas (1986): Ökologische Kommunikation. Kann die mo‐

derne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstel‐

len? Opladen: Westdeutscher Verlag. 

Luhmann, Niklas  (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt 

am Main: Suhrkamp Verlag.Ostrom, Elinor (1990): Governing 

the  commons. The  evolution of  institutions  for  collective  ac‐

tion. Cambridge: Cambridge University press. 

Scheffer,  Thomas/Schmidt,  Robert  (2009):  Soziologie  als  modus 

operandi. Wie interdisziplinaritätsfähig ist die Soziologie? So‐

ziologie, Jg. 38/3, 291‐306. 

Weber, Max  (1984):  Soziologische Grundbegriffe.  Tübingen:  J. C.  B. 

Mohr. 

Page 18: Streit um Materie?

Natur in den Sozialwissenschaften – Eine Einleitung

17

Zierhofer, Wolfgang/Baerlocher, Bianca/Burger, Paul  (2008): Ökologi‐

sche  Regimes.  Konzeptionelle  Grundlagen  zur  Integration 

physischer  Sachverhalte  in  die  sozialwissenschaftliche  For‐

schung. Berichte zur dt. Landeskunde, 82, 135‐150. 

 

Page 19: Streit um Materie?

 

Page 20: Streit um Materie?

Teil 1: Perspektiven auf die Regulation von Natur und Gesellschaft

 

Page 21: Streit um Materie?

 

Page 22: Streit um Materie?

Das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse und seine Bedeutung für die Umweltsoziologie

Cedric Janowicz

1. Einführung

Auf dem 34. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der 

2008  in Jena stattfand, veranstaltete die Sektion  ‚Soziale Ungleichheit 

und  Sozialstrukturanalyse’  eine  Sitzung mit  dem  Titel  ‚Jenseits  von 

Stand und Klasse? 25 Jahre Individualisierungsthese’. Unter den An‐

wesenden befand  sich auch Ulrich Beck, und nachdem  alle Beiträge 

präsentiert worden waren,  glaubte  ich  aus  seinem Kommentar  eine 

gewisse Bestürzung herauszuhören –  eine Bestürzung darüber, dass 

nach 25 Jahren Debatten um die Individualisierungsthese immer noch 

die alten Diskussionen, durchsetzt von den  immer gleichen Missver‐

ständnissen, geführt wurden.  

  Ökologische Krisenerscheinungen werfen nun seit Längerem 

schwerwiegende  Fragen  für  die  soziologische  Theoriebildung  auf, 

und  auch  hier  bewies Ulrich  Beck  in  ganz  ähnlicher Weise wie  im 

Bereich  der  Ungleichheitssoziologie  in  seiner  „Risikogesellschaft“ 

(1986)  diagnostische  Weitsicht,  als  er  die  Konsequenzen  der 

anthropogen verursachten Zersetzung der natürlichen Lebensgrund‐

lagen für die Gesellschaftstheorie auf die griffige Formel brachte: „Na‐

tur kann nicht mehr ohne Gesellschaft, Gesellschaft kann nicht mehr 

ohne Natur begriffen werden.“ (Beck 1986: 107)  

  Hätte die Umweltsoziologie  eine ähnliche Veranstaltung mit 

dem  Thema  ‚25  Jahre Risikogesellschaft: Was  bleibt?’  durchgeführt, 

die Betroffenheit wäre bei  ihm aller Voraussicht nach nicht geringer 

ausgefallen. Denn  für  die Umweltsoziologie  scheint  in  besonderem 

Maße  jene Diagnose  stimmig, die Armin Nassehi  für die  Soziologie 

insgesamt traf, wenn er konstatiert, dass „das Fach sich […] kommod 

Page 23: Streit um Materie?

Cedric Janowicz

22

eingerichtet  [hat]  in Paradigmata, die  ihre  polemogene  gegenseitige 

Aufmerksamkeit inzwischen durch eine Art friedliche Koexistenz mit 

recht  stabilen Demarkationslinien  ersetzt haben“  (Nassehi  2006:  64). 

So  sind  auch  die  Lager  der Umweltsoziologie  zunächst  recht  über‐

schaubar: Auf der einen Seite befinden sich  jene, die oftmals  im An‐

schluss  an  den Versuch  einer  naturalistischen  Fundierung  der Um‐

weltsoziologie  durch William Catton  und  Riley Dunlap  (1979)  eine 

Neuorientierung des Faches einfordern, indem gegenüber ‚herkömm‐

lichen’ Theorien darauf beharrt wird, dass der Mensch nur eine Spezi‐

es unter anderen sei und dass seine zugegebenermaßen hohe Anpas‐

sungs‐  und  Lernfähigkeit  dennoch  nicht  darüber  hinwegtäuschen 

könne, dass seine Lebensgrundlage physische und biologische Gren‐

zen aufweise, deren Zerstörung zwangsläufig auch seine eigene Ver‐

nichtung impliziere. Im Wesentlichen wurde versucht, die Soziologie 

zu ökologisieren,  indem zentrale Ergebnisse und Methoden ökologi‐

scher Forschung auf Gesellschaften übertragen wurden (vgl. Wehling 

1989).  

  Auf der anderen Seite gibt es  jene, die  in  jeder Aussage über 

ökologische Prozesse bloß einen weiteren Diskurs zu erkennen glau‐

ben und  hartnäckig  eine Trennung  von Zeichen und  außersprachli‐

cher  Referenz  verteidigen.  Sie  sehen  im Naturbegriff  vor  allem  die 

soziale Projektion gesellschaftlicher Verhältnisse und fragen nach de‐

ren  ‚grammatischen’ Konstruktionsregeln.  Im Rahmen  einer  ganzen 

Reihe  von  begriffsgeschichtlichen  Arbeiten  konnten  beeindruckend 

die Wandlungen und Differenzen in den Vorstellungen, Mythen und 

Interpretationen  von  ‚Natur’  nachgezeichnet werden  (vgl. Merchant 

1987; Heiland 1992; Soper 1995; Kropp 2002): Was der Konstruktivis‐

mus in das „Säurebad seiner Kritik taucht, verliert sein prätendiertes 

Sosein  und  erweist  sich  als  Zusammengesetztes,  als  Konstrukt,  als 

Gewordenes“ (Sarasin 2009: 416).  

  Dieses Oszillieren umweltsoziologischer Auseinandersetzung 

zwischen  Natur‐  und  Kulturdeterminismus  und  der  beiden  damit 

verbundenen  „philosophical  undead“  (Rouse  2002)  Realismus  und 

Idealismus mag  vielen  als  ein  ‚alter Hut’  erscheinen  –  dennoch  ist 

mein Eindruck, dass die meisten umweltsoziologischen Debatten  im 

Page 24: Streit um Materie?

Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse

23

Kern nach wie vor um diese unfruchtbare Auseinandersetzung krei‐

sen. Genau an dieser Stelle setzt die Soziale Ökologie an, die man in‐

nerhalb der Umweltsoziologie einem dritten Lager zuschlagen könn‐

te, das oftmals als  ‚vermittlungstheoretische’  (vgl. Kropp 2002; Krae‐

mer 2008) Position bezeichnet wird. Diese dritte Möglichkeit der theo‐

retischen Konzeptualisierung  des  Verhältnisses  von Natur  und Ge‐

sellschaft  einzunehmen  bedeutet,  die  jeweiligen  Kurzschlüsse  und 

Blockaden  der  skizzierten Herangehensweisen  zu  überwinden.  Die 

zentrale Schwierigkeit eines  solchen Unterfangens besteht nun aller‐

dings darin, ein Verständnis von  ‚Natur’ zu entfalten, das auf der ei‐

nen  Seite  die  nicht  abzustreitende  Kontextabhängigkeit  derselben 

berücksichtigt,  auf der  anderen  Seite  an deren  extra‐diskursiver Be‐

deutung  und  Wirkmächtigkeit  im  Sinne  eines  nie  vollkommen  in 

Sprachspielen aufgehenden Restes festhält (vgl. Žižek 1996); denn nur 

unter diesen Bedingungen macht  letztlich die Rede von den Wechsel‐

wirkungen  zwischen  sozialen  und  ökologischen  Dynamiken meines 

Erachtens  erst  Sinn. Oder  anders  ausgedrückt: Die  zentrale  Schwie‐

rigkeit  besteht  darin,  stofflich‐materielle  Zusammenhänge  soziolo‐

gisch nicht einfach als Black Box zu behandeln, sondern sie sozialwis‐

senschaftlichen Interpretationen zugänglich zu machen und gleichzei‐

tig die konkreten  stofflich‐materiellen Auswirkungen  in  ihren Rück‐

wirkungen auf gesellschaftliche Zusammenhänge nicht auszublenden.  

  In einem solchen Verständnis erscheinen Repräsentiertes und 

Repräsentierendes als zwei Seiten derselben Medaille,  sodass  in den 

„Konstruktionsprozess  nicht  nur  soziale  und  kognititve/diskursive 

Elemente mit  ein[fließen],  sondern  ebenso materielle“  (Peuker/Voss 

2006: 15). Und in diesem Sinne sollte sich die Umweltsoziologie auch 

nicht von einem Nachdenken über Materialität verabschieden, indem 

sie sich  im Rahmen einer vermeintlich unumgänglichen  fachdiszipli‐

nären Beschränkung  lediglich „auf die soziale Dimension der gesell‐

schaftlichen Umweltnutzung“ (Kraemer 2008: 145) beschränkt.  

  Im  Folgenden  soll die  Soziale Ökologie  und das damit  ver‐

bundene  Konzept  der  gesellschaftlichen  Naturverhältnisse  als  eine 

theoretische  Variante  vorgestellt  werden,  die  dezidiert  gegen  eine 

umweltsoziologische Theoriebildung  im Sinne  einer  „sociology  as  if 

Page 25: Streit um Materie?

Cedric Janowicz

24

nature did not matter“ (Murphy 1995) plädiert. In einem ersten Schritt 

sollen kurz die  theoretischen Blockaden  aktueller Debatten  skizziert 

werden, vor deren Hintergrund in einem zweiten Schritt die Konturen 

einer  Sozialen Ökologie  deutlich  gemacht werden.  In  einem  dritten 

und  letzten  Schritt wird mit  Bezugnahme  auf  aktuelle Rezeptionen 

klassisch  pragmatistischer  Strömungen  ein  sozial‐ökologischer  Vor‐

schlag  zur  integrierten Betrachtung  von  kulturell‐symbolischen und 

materiell‐stofflichen Elementen bei der Analyse ökologischer Krisen‐

erscheinungen entworfen.  

2. Theoretische Blockaden

Zweifelsohne  sind  die  ersten  beiden  oben  skizzierten  Positionen  in 

ihrer Ausschließlichkeit  ein wenig überzeichnet, denn bei  einer  ent‐

sprechenden Diskussion mit den  einzelnen Vertreterinnen und Ver‐

tretern würde kein Sozialkonstruktivist behaupten, dass Umweltprob‐

leme  nicht  ‚wirklich’  sind,  oder  ein  Realist  den  Einfluss  kultureller 

Einflüsse  auf  die  Wahrnehmung  von  Natur  bestreiten  (vgl.  Groß 

2006: 100).  Beiden  Positionen  ist  allerdings  gemein,  dass  sie  partiell 

richtige und wichtige Einsichten absolut setzen und in der Folge auch 

mit schwerwiegenden Defiziten behaftet sind: Während die erste Va‐

riante ohne Zweifel  zu Recht  auf die natürlichen Lebensgrundlagen 

von  Gesellschaften  verweist,  erscheint  der  naive  epistemologische 

Realismus (im Sinne der Annahme eines direkten Zugangs zur ‚Wirk‐

lichkeit‐an‐sich’)  und  der  oftmals  damit  verbundene  naturalistische 

Imperativ  in Gestalt der Annahme  eines  (natur)wissenschaftlich  be‐

stimmbaren  Umgangs  von  Gesellschaften  mit  ihren  natürlichen 

Grundlagen weitestgehend blind für die Besonderheiten der kulturell 

geprägten und vermittelten gesellschaftlichen Naturverhältnisse. So‐

ziozentrische  Ansätze  verweisen  wiederum  auf  den  Anteil  gesell‐

schaftlicher  Konstruktionsleitungen  von  Natur,  indem  sie  auf  die 

prinzipielle  Unmöglichkeit  einer  von  semiotischen  ‚Verunreinigun‐

gen’ gesäuberten und unverzerrten Erkenntnis einer als außergesell‐

schaftlich gedachten Natur pochen. Was bei einer solchen Reduktion 

von Natur auf ihre semiotische Erzeugung und einer damit einherge‐

Page 26: Streit um Materie?

Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse

25

henden Ausblendung  stofflich‐materieller Aspekte verloren geht,  ist 

die Möglichkeit einer dezidierten Bearbeitung und Bewältigung öko‐

logischer  Krisenphänomene,  da  letztlich  im  Rahmen  ideologiekriti‐

scher Anmerkungen allenfalls auf die differenten Naturverständnisse 

unterschiedlicher,  miteinander  im  Widerstreit  stehender  Akteure 

verwiesen werden kann, die realen Konsequenzen historisch‐situierter 

Aneignungsstrategien als Folge dieser Auseinandersetzungen in ihren 

stofflich‐materiellen Rückwirkungen  auf Gesellschaften  aber  theore‐

tisch nicht erfasst werden können.  

  In beiden Fällen werden  in der Analyse ökologischer Krisen‐

erscheinungen  Reduktionismen  deutlich,  indem  entweder  die 

Vorgängigkeit der Natur oder der Gesellschaft postuliert wird; in der 

ersten Variante haben Krisenphänomene objektive Eigenschaften, die 

in der Natur der Dinge liegen. Ausgeblendet wird dabei die Prägkraft 

gesellschaftlicher Kontexte, denn die natürlichen Prozesse erscheinen 

so stark, dass sie ihrerseits gesellschaftliche Verhältnisse überformen. 

Für die zweite Position weist der Konstitutionspfeil geradewegs in die 

andere Richtung, also vom Gesellschafts‐ zum Naturpol: Ökologische 

Krisenerscheinungen  sind  keine  ‚objektiven’  Naturgegebenheiten, 

sondern, wie Bruno Latour  es  in  seiner Kritik  am Konstruktivismus 

einprägsam formuliert hat, „sie bilden nur die Leinwand, auf die die 

Gesellschaft ihren Film projiziert“ (Latour 1995: 74). So ist die ‚Natur’ 

entweder zu stark oder zu schwach: Entweder sie ist so stark, dass sie 

gesellschaftliche  Prozesse  kraft  ihrer  ‚Materialität’  determiniert  und 

dadurch  Gesellschaften  selber  schwach  und  immateriell  erscheinen 

lässt, oder  sie  ist  so  schwach, dass  ihre  inneren Eigenschaften nicht 

zählen, sondern sie  lediglich den formlosen Gegenstand gesellschaft‐

licher Kategorien bilden.  

  Erhebt  die Umweltsoziologie  dagegen  den Anspruch,  prak‐

tisch verändernd im Sinne einer nachhaltigeren Gestaltung des Natur‐

Gesellschafts‐Verhältnisses  in  die  Welt  einzugreifen,  muss  meines 

Erachtens für die Umweltsoziologie die Frage weniger „Verschwindet 

die Natur?“ (Voss/Peuker 2006) lauten als vielmehr „Wie bringt man 

die materielle Welt  zurück  ins  Bild?“  (Greif  2002:  28),  oder  stärker 

wissenschaftstheoretisch  formuliert: Kann man vom  epistemologischen 

Page 27: Streit um Materie?

Cedric Janowicz

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Standpunkt aus Antirealist sein, also die Unhintergehbarkeit der Ein‐

sicht  akzeptieren, dass wissenschaftliche  Fakten  immer  schon  sozial 

konstruiert sind, und ontologisch Realist sein, also anerkennen, dass es 

mithin Dinge gibt, die auch unabhängig von Sprache und Bedeutung 

bestehen?  

3. Soziale Ökologie und das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse

Die oben gestellte Frage beantwortet die Soziale Ökologie mit ‚Ja, man 

kann!’. Es gibt niemals nur  einen Weg, dieses  schwierige Verhältnis 

von Natur und Gesellschaft theoretisch zu konzeptualisieren, aber die 

Soziale Ökologie, wie sie am Institut für sozial‐ökologische Forschung 

in Frankfurt verstanden wird (vgl. Becker/Jahn 2006), ist der Weg, der 

im Folgenden vorgestellt wird. Die Soziale Ökologie entzieht sich den 

beiden oben  skizzierten Alternativen und  setzt gegen das  ausschlie‐

ßende Entweder‐oder ein komplementäres Sowohl‐als‐auch.  

  In der allgemeinsten Form geht es bei der Sozialen Ökologie 

um die Beschreibung der Wechselbeziehungen zwischen gesellschaft‐

lichen und natürlichen Prozessen und der komplexen Dynamiken, die 

sich  aus  diesen  Verflechtungen  ergeben  können  (vgl.  Be‐

cker/Jahn/Hummel  2006:  189).  Damit  wird  der  Einsicht  Rechnung 

getragen, dass ökologische Krisen nur als  sozial‐ökologische Krisen‐

phänomene angemessen theoretisiert und verstanden werden können, 

sie sich also weder als Vergesellschaftung der Natur noch als Natura‐

lisierung der Gesellschaft begreifen lassen. Durch Formen der doppel‐

seitigen  Kritik  an  naturalistischen  und  soziozentrischen  Positionen 

wird ein neuer Denkraum eröffnet, der es erlaubt, einen produktiven 

Ausweg  aus den Blockaden  und Lähmungen  aktueller Debatten  zu 

beschreiten,  indem  sowohl  neue Möglichkeiten  der  Theoretisierung 

als auch der Gestaltung sichtbar gemacht werden.  

  Zentraler Ausgangspunkt  der  Sozialen Ökologie  ist  die An‐

nahme, dass alle sozialen Systeme für eine erfolgreiche Entwicklungs‐ 

und Reproduktionsfähigkeit ihr Verhältnis zur Natur auf verschiede‐

nen Ebenen regulieren müssen. In diesem Bemühen gehen sie unwei‐

Page 28: Streit um Materie?

Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse

27

gerlich  das  ein, was man  als  gesellschaftliche Naturverhältnisse  be‐

zeichnen kann. Auf der abstraktesten Ebene sind damit „Formen und 

Praktiken gemeint, in und mit denen Gesellschaften ihr Verhältnis zur 

Natur stofflich regulieren und kulturell zu symbolisieren versuchen“ 

(Becker/Jahn/Hummel 2006: 193). Im Zentrum einer adäquaten sozio‐

logischen Analyse muss aus dieser Sicht ein Begriff von Gesellschaft 

stehen, der weder die natürlichen Bedingungen  ihrer Existenz  leug‐

net, noch zu einem unhistorischen und substantialistischen Begriff der 

Natur  zurückkehrt  und  damit  weiterhin  einen  Dualismus  zweier 

vermeintlich unabhängiger Bereiche reproduziert (vgl. Görg 2003: 26). 

Damit führt das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse das 

„Sein wieder dem Werden zu“ (Sarasin 2009: 416), indem es diese als 

sich vor dem Hintergrund ihrer historischen Gewachsenheit auf einen 

offenen Horizont zubewegend begreift und es gleichzeitig der Über‐

zeugung  ist, dass man Zusammenhänge erhellt,  in denen diskursive 

und außer‐diskursive Elemente in nicht‐kontingenter Weise miteinan‐

der interagieren.  

  Vor diesem Hintergrund lauten die zentralen umweltsoziologi‐

schen Fragen, die mit dem Konzept adressiert werden sollen: Welchen 

Einfluss haben materielle Prozesse und natürliche Gegebenheiten auf 

die Entwicklung von Gesellschaften? Wie  lassen sich weiterhin diese 

Einflüsse theoretisch konzeptualisieren und empirisch erfassen? Aber 

auch  die  umgekehrte  Richtung  ist  von  entscheidender  Bedeutung: 

Wie  verändern Gesellschaften  ihrerseits  das  ökologische Gefüge,  in 

dem bestimmte Naturbilder symbolisch und kulturell  in Handlungs‐

zusammenhänge eingelassen sind?  

  Der Begriff der  ‚gesellschaftlichen Naturverhältnisse’ signali‐

siert, dass  im Gegensatz beispielsweise zu Bruno Latours Netzwerk‐

theorie an der grundsätzlichen Differenz dieser beiden Bereiche  fest‐

gehalten  wird.  Auch  wenn  das  gesellschaftliche  Unterscheidungs‐

vermögen im Zuge der ökologischen Krise abgenommen hat, wird an 

der grundsätzlichen Einsicht festgehalten, dass Natur mehr ist als nur 

eine soziale Konstruktion und dass gesellschaftliche Prozesse eigene, 

mit natürlichen Prozessen nicht  identische Organisationsformen auf‐

weisen. Eine solche Position ist letztlich auch insofern konsequent, als 

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Cedric Janowicz

28

dass  Vermittlungsbeziehungen  nur  zwischen  unterscheidbaren  Ele‐

menten  untersucht werden  können.  Somit  geht  es  auf  theoretischer 

Ebene nicht so sehr um eine „Überbrückung von materieller und sozi‐

aler Welt“ (Heidenreich 2004: 33), sondern eher um die Frage, wie die 

Differenz von materieller und sozialer Welt als Verhältnis zu denken 

ist, ohne das eine auf das andere zu reduzieren.  

  Im  Anschluss  an  diese  ersten  Überlegungen  der  Kritischen 

Theorie  versucht  nun  das Konzept  der  gesellschaftlichen Naturver‐

hältnisse die Aporien naturalistischer und soziozentrischer Ansätze in 

eine  produktive  Form  zu  bringen,  indem  sie die  alte Ontologie der 

Substanzen durch eine Ontologie der Relationen ersetzt  (Becker/Jahn 

2006:  71). Damit  ist gemeint, dass Gesellschaft und Natur  innerhalb 

einer  Vermittlungsbeziehung  stehen,  die  letztlich  nach  keiner  Seite 

hin aufgelöst werden kann. Vielmehr handelt es sich um einen wech‐

selseitigen Verweisungszusammenhang,  in dem das, was unter  ‚Na‐

tur‘ verstanden wird, von dem Gesellschaftsbegriff abhängt und um‐

gekehrt. Somit werden  ‚Natur‘ und  ‚Gesellschaft‘ nicht als qualitativ 

unterschiedliche  Realitätsbereiche  ontologisch  verstanden,  sondern 

als methodisch unterscheidbare Wissensobjekte; die Unterscheidung 

ist daher  theorie‐ und  beobachtungsabhängig,  also mithin  abhängig 

von den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Formen der Wahr‐

nehmung und Bearbeitung und  liegt nicht  in  ‚der Natur der  Sache‘ 

selbst. Untersuchungsgegenstand sind daher vermittelnde Strukturen 

zwischen Gesellschaft  und Natur,  anhand  derer  die  vielfältigen  Be‐

ziehungsmuster konkret dargestellt und untersucht werden können. 

In dieser Bedeutung bezeichnet das Adjektiv  ‚sozial‐ökologisch’ kei‐

nen  eigenständigen,  ontologischen  Gegenstandsbereich,  sondern 

vielmehr einen Verknüpfungstyp. Ein solches Denken in Verhältnissen 

zieht  auch  wichtige  methodologische  Konsequenzen  nach  sich:  Es 

wird  in Relationen  statt  in  Substanzen  gedacht,  es wird  stärker  auf 

Differenz statt auf  Identität abgehoben und es werden eher Prozesse 

als Strukturen untersucht (vgl. ausführlich Becker/Jahn 2006). 

Page 30: Streit um Materie?

Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse

29

4. Das Verhältnis von Natur und Gesellschaft im Rahmen gesellschaftlicher Naturverhältnisse denken: Experimentelle Interaktivität

In dem Versuch, neben der Charybdis einer radikal‐realistischen Posi‐

tion,  die  jedweden  sozialen  Einfluss  auf  das Zustandekommen  (na‐

tur)wissenschaftlicher  Ergebnisse  negiert,  und  einer  vulgär‐

postmodernen Scylla eines  ‚anything goes’ eine dritte Alternative zu 

offerieren, die in gewisser Weise, wenn nicht ‚wahres’, so doch ‚robus‐

tes’ Wissen zu liefern vermag, haben in jüngster Zeit eine ganze Reihe 

von Autoren  eine Neurezeption  pragmatistischer  Positionen  vorge‐

schlagen (vgl. Rammert 1999; Strübing 2005). Gemeinhin wird  in der 

Literatur eine Unterscheidung gezogen zwischen den Vertretern des 

klassischen Pragmatismus, zu dem Autoren wie John Dewey, Charles 

S. Peirce oder William James, aber auch Herbert Mead gerechnet wer‐

den, und den Neopragmatisten, unter denen sich Denker wie Hilary 

Putnam,  Richard  Rorty  oder Donald Davidson  befinden  (vgl. Nagl 

1998;  Rorty  1994).  Das  für  den  vorliegenden  Zusammenhang  ent‐

scheidende Charakteristikum der pragmatischen Strömung ist meines 

Erachtens, dass bei  allen Unterschieden  in den  einzelnen Positionen 

an die Stelle der realistischen Haltung eines ungebrochenen Repräsen‐

tationsmodells oder der konstruktivistischen Konzeption des Verhält‐

nisses von Geist und Natur die praktische Involviertheit des tätigen Sub‐

jekts  tritt.  Der  ‚Clou’  der  neueren  Wissenschafts‐  und  Technikfor‐

schung  besteht  dabei  vor  allem  darin, Materialität  im  Sinne  einer 

‚wirklicheren Wirklichkeit’ zu deontologisieren, ohne die Einsicht  in 

ihre Nicht‐Identität mit sozialen Prozessen einer relativistischen Posi‐

tion zu opfern.  

  Wie  ich  im  Folgenden  zeigen  möchte,  ergibt  sich  aus  der 

Kombination  klassischer  Elemente  pragmatischer  Strömungen  und 

neuerer wissenschaftstheoretischer Ansätze, die gemeinhin unter dem 

Label „postconstructivist trends“ (Lynch 1993: 107) zusammengefasst 

werden,  eine  Position,  die  auf  eine  sozialtheoretisch  überzeugende 

Weise  die  alte  Debatte  zwischen  Konstruktivismus  und  Realismus, 

wenn nicht endgültig zu  lösen, so doch  ‚pragmatisch’ zu handhaben 

Page 31: Streit um Materie?

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weiß,  indem  Problemlagen  verschoben  werden.  Kernüberlegungen 

einer  solch  „pragmatischen Wende“  (Rorty  1986:  168)  ist die Forde‐

rung, „die Vorstellung  fallen  (zu)  lassen, wonach die Erkenntnis da‐

rauf aus ist, die Realität zu repräsentieren. Statt dessen sollten wir die 

Forschung  als  eine  Art  Nutzbarmachung  der  Realität  betrachten.“ 

(Rorty 1994: 24) Auch wenn  innerhalb der klassischen und der neue‐

ren pragmatistischen Strömungen, wie  in  jedem anderen geisteswis‐

senschaftlichen Paradigma auch, signifikante Unterschiede auszuma‐

chen sind, lässt sich eine übergreifende Gemeinsamkeit darin finden, 

dass  sie  alle  erklärte  „Antidualisten“  (ebd.:  37) und damit  in  einem 

besonderem Maße  anschlussfähig an die  sozial‐ökologische Theorie‐

bildung sind. Denn das Ziel der sozial‐ökologi¬schen Forschung ist es 

nicht, unerschütterlich wahres Wissen zu produzieren, sondern Wis‐

sensinhalte in Bezug auf konkrete Problemlagen zu generieren, die es 

ermöglichen, praktisch verändernd in die Welt einzugreifen (vgl. Be‐

cker/Jahn  2006:  114).  Diese  wichtige  Perspektive  einer  sozial‐

ökologischen Zugangsweise impliziert damit eine wichtige Annahme 

zu  ihrem Welt‐  und  Realitätsbezug:  Zwar  gibt  es  kein Wissen  von 

‚unabhängig gegebenen’ Objekten, denn dieses ist immer beobachter‐

abhängig; das heißt aber nicht, dass keine wissensunabhängigen rea‐

len Phänomene existieren (vgl. Wehling 2006: 244)!  

  Durch den konsequenten Bezug der Forschung auf problema‐

tische  Sachverhalte  (Problemorientierung)  einerseits  und  auf  gesell‐

schaftliche Lösungsmöglichkeiten  (Gestaltungsorientierung) anderer‐

seits, müssen  sich  theoretische Annahmen und Modelle  auch  in der 

‚Wirklichkeit’ bewähren (vgl. Hummel/Kluge 2006: 249). Genau dieses 

‚experimentelle’ Erproben von Begrifflichkeiten und Modellen  ist ge‐

meint, wenn Charles  Sanders Peirce mit Verweis  auf das Bibelwort 

„Denn an  ihren Früchten  sollt  ihr  sie erkennen“  (Matthäus 7,16) die 

Bewährbarkeit  als  Überprüfungskriterium  ihres  realen  Bedeutungs‐

gehalts  vorschlägt.  Auf  einer  erkenntnistheoretischen  Ebene  wird 

damit gewonnen, dass der Schwerpunkt von epistemologischen Aus‐

einandersetzungen nun nicht mehr um die schwierige Frage der Mög‐

lichkeitsbedingungen der Wirklichkeitserkenntnis kreist,  sondern das 

Page 32: Streit um Materie?

Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse

31

Hauptaugenmerk vielmehr auf die Möglichkeiten und pragmatischen 

Weisen menschlicher Wirklichkeitsveränderungen gelegt wird.  

  Hierbei handelt es sich ebenso wenig um eine utilitaristische 

wie eine empiristische oder relativistische Position. Im Pragmatismus 

wird keine subjektfreie und objektive Beziehung zu den Dingen pro‐

pagiert,  im Rahmen derer nun doch wieder die Natur aus den Expe‐

rimenten  als  vermittlungslos  Gegebenes  zu  sprechen  beginnt.  Das 

wird deutlich, wenn man den vor allem bei  James Dewey zentralen 

Begriff der ‚Erfahrung’ in seiner Erkenntnisfunktion genauer betrach‐

tet. Dewey gewinnt seinen Erfahrungsbegriff dezidiert aus einer Aus‐

einandersetzung sowohl mit der Tradition der Antike als auch mit der 

cartesischen Dualität  von  Leib  und  Seele  (vgl. Dewey  1989:  123  ff., 

1995). Dabei sollte der Deweysche Begriff der Erfahrung nicht als rein 

‚subjektives  Erlebnis’  aufgefasst werden.  Vielmehr  hält  sein  Begriff 

der Erfahrung die objektive und die  subjektive Seite zusammen,  ist, 

wie er unter Rückgriff auf William James schreibt, als ein ‚doppelläu‐

figes’ Wort zu verstehen:  

  „Erfahrung bezeichnet das gepflanzte Feld, die gesäten  Saa‐

ten, die eingebrachte Ernte, den Wechsel von Tag und Nacht, Frühling 

und Herbst, feucht und trocken, Hitze und Kälte, die beobachtet, ge‐

fürchtet, ersehnt werden; Erfahrung bezeichnet auch den, der pflanzt 

und erntet, der arbeitet und genießt, hofft, fürchtet, plant, Magie oder 

Chemie zur Hilfe nimmt.“ (Dewey 1995: 25)  

  Der Sinn der angesprochenen  ‚Doppelläufigkeit’ besteht also 

in  ihrer  antidualistischen  Stoßrichtung  und  richtet  sich  gegen  die 

Trennung von  Subjekt und Objekt, von Handlung und Material,  an 

deren Stelle eine relationierende Sichtweise tritt. Erfahrung wird eben 

nicht als passive, sensualistische Operation, sondern im Rahmen einer 

wechselseitigen Interaktivität als aktive Konstituierung von Wirklich‐

keit konzipiert (vgl. Rammert 1999: 285), man könnte auch sagen: im 

Rahmen gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Erfahrung ist eben nicht 

nur Erfahrung von der Natur, sondern immer auch Erfahrung  in der 

Natur, da  sie  immer  auch die Reaktionen  eines menschlichen Orga‐

nismus auf die ihn umgebende Umwelt im Kontext gesellschaftlicher, 

kultureller und sozialer Bedingungen darstellt.  

Page 33: Streit um Materie?

Cedric Janowicz

32

Pragmatistische  Positionen  erfahren  Natur  also  nicht  als  Substanz, 

sondern als „Set von Ereignissen“  (Rammert 1999: 285), die  sich da‐

durch charakterisieren  lassen, dass sie einer historischen Wandelbar‐

keit  unterworfen  sind,  da  sie  je  nach Kontext  auch  unterschiedlich 

‚erfahren’ werden und dennoch nicht  relativistisch zu  interpretieren 

sind:  

 

Auch wenn  es  kein  eigentliches  Sosein  der Welt  und  auch 

wenn es nichts von der Art eines  ‚inneren Wesens der Reali‐

tät’ gibt, dann gibt es dennoch kausale Zwänge. Diese Zwän‐

ge werden zwar zu verschiedenen Zeiten und zu verschiede‐

nen  Zwecken  unterschiedlich  beschrieben,  doch  das  ändert 

nichts daran, dass es Zwänge sind. (Rorty 1994: 23) 

 

Gleichzeitig sind diese Wahrnehmungen und die damit verbundenen 

Erfahrungen aber auch das wichtigste Erkenntnisinstrument, das dem 

Menschen  zur Verfügung  steht. Sowohl der Aspekt der Zwänge  als 

‚Widerstandsfähigkeit’ von Natur als auch der der Erfahrung als Er‐

kenntnisinstrument  sind  wichtige  Elemente  einer  transdisziplinär 

ausgerichteten Sozialen Ökologie.  

  Die ‚Objekte’, von denen hier die Rede ist, sind auch nicht zu 

verwechseln mit den Objekten einer modernistischen Wissenschafts‐

auffassung: Während letzteren ihre Funktion als epistemische Objekte 

aus  einer  konsequent  betriebenen  Dekontextualisierung  erwächst, 

erfüllen  erstere diese Funktion als Objekte des  situierten Alltagshan‐

delns.  Die  Annahme  eines  Wirkungszusammenhangs  zwischen 

menschlichen und nicht‐menschlichen Elementen kommt weiterhin in 

dem der Sozialen Ökologie  sehr vertrauten Begriff der  ‚Wechselwir‐

kung’  zum  Tragen. Wie  James  geht  auch Dewey  von  einem  engen 

Verhältnis von biologischer Konstitution, menschlichem Handeln und 

Umwelt aus. Erfahrung ist damit auch nicht nur schlicht und einfach 

ein  Erfahren  von Natur,  sondern  als  unaufhebbarer  Teil  der Natur 

beinhaltet die menschliche Erfahrung  auch  ein Reagieren des Orga‐

nismus  auf  seine  Umwelt,  wie  das  folgende,  etwas  ausführlichere 

Zitat deutlich macht:  

Page 34: Streit um Materie?

Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse

33

 

Die  Feststellung,  dass  Menschsein  immer  In‐der‐Welt‐sein 

bedeutet, heißt, dass der Mensch  in einer Reihe von Situatio‐

nen  lebt. Und wenn wir feststellen, dass der Mensch  ‚in’ die‐

sen Situationen  lebt, dann  ist hier die Bedeutung des Wortes 

‚in’ verschieden von  seiner Bedeutung  etwa  in der Aussage, 

dass Pfennige ‚in’ einer Tasche sind oder Farbe ‚in’ einer Dose 

ist.  Es  bedeutet,  dass  eine Wechselwirkung  zwischen  einem 

Individuum und seiner Umgebung stattfindet … Die Umwelt 

ist, mit anderen Worten, das Insgesamte der Bedingungen, die 

mit persönlichen Bedürfnissen, Wünschen, Zwecken und Fä‐

higkeiten  in Wechselwirkung stehen, um die  jeweilige Erfah‐

rung entstehen zu lassen. (Dewey 1974: 265)  

 

Die in diesem Zusammenhang von Dewey verwendete Rede von der 

‚Anpassung’ eines Organismus darf aber nicht  im Sinne einer deter‐

ministischen Wirkungskette missgedeutet werden.  So  verweist  bei‐

spielsweise  Joas  in  seiner  Interpretation  pragmatischer  Positionen 

darauf, dass es sich bei dieser Anpassung stets um eine kreative An‐

passungsleistung von Akteuren handelt; entgegen einer deterministi‐

schen  Interpretation, die  in der pragmatischen Praxisphilosophie  le‐

diglich  eine  Philosophie  der Anpassung  sehen will,  ist  die  Lösung 

potentiell problematischer oder schwieriger Situationen nicht eindeu‐

tig und objektiv durch das Problem vorgegeben (vgl. Joas 1992: 10 ff.; 

auch  Joas  1996).  Dewey  selbst  wendet  sich  explizit  (vgl.  Dewey 

1998: 10) gegen die Annahme einer linear‐kausalistischen Verkürzung 

des Verhältnisses  von  natürlichen  und  gesellschaftlichen  Elementen 

und denkt diese im Rahmen seines Funktionskreises ganz ähnlich wie 

die Soziale Ökologie in Rückkopplungen.  

  In  der Konsequenz  bedeutet  dies  die Annahme  ‚realer’ Ge‐

genstände,  die  Konstruktionsleistungen  in  ihrer  Widerständigkeit 

Grenzen setzen und zugleich „kontingenten Konstruktionsaktivitäten“ 

(Wehling 2006: 217) unterliegen: Weder  ist Materialität „wholly  ‚out 

there’“ noch  ist sie „wholly constructed out of thin air“ (Lynch 2003: 

223)  –  das  sind  die  tragenden  Konstruktionspfeiler  einer 

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34

pragmatistisch  interpretierten  Sozialen  Ökologie.  Die  Wechselwir‐

kung zwischen Sozialität und Materialität, die sich in der alltäglichen 

wie wissenschaftlichen Erfahrung vereint, hat Pickering mit dem an‐

schaulichen Bild eines „dance of agency“ (Pickering 1995: 21) zu erfas‐

sen  versucht,  innerhalb  dessen  sich  die  Interaktionsstrukturen  der 

Subjekte und die Widerständigkeiten der Objekte mit der Folge von 

„relative durabilities“ (Law/Mol 1995: 280) einander anpassen. Damit 

fallen  Erfahrung  und  Erkenntnis,  auf  je  unterschiedlichem Niveau, 

aus pragmatischer Sicht zusammen.  Im Rahmen der alltäglichen Le‐

bensführung dient  die  Erfahrung  der Widerständigkeit  einer  Justie‐

rung  von  Strategien  zur  praktischen  Bewältigung  der  Lebenswirk‐

lichkeit und sollte daher nicht „als Routine und Verlust der Subjekti‐

vität verstanden werden“, sondern als „praktische Innovation, kreati‐

ve Lösung  realer Probleme“  (Joas  1992:  102). Eine  solche Sichtweise 

hat  freilich zur Folge, dass wissenschaftliche Arbeit nicht als praxis‐

ferne Kontemplation, sondern als wissenschaftliche Praxis verstanden 

werden muss,  in der die uralte Frage nach der Korrespondenz zwi‐

schen  Erkenntnis  und  Gegenstand  in  den  Vorgang  der  „‚prakti‐

sche(n)’ Herstellung und Stabilisierung einer Kette von Repräsentati‐

onen“  (Wehling 2006: 238) übersetzt wird. Damit kann die  ‚Realität’ 

sowohl alltäglicher und wissenschaftlicher Erfahrungen als auch sozi‐

al‐ökologischer Problemlagen  als  „intertwining …  between material 

and human agency“ (Pickering 1995: 15) interpretiert werden. 

5. Soziale Ökologie – eine praktische Wissenschaft

Auch wenn Jared Diamond an vielen Stellen andere Wege geht als die 

Soziale Ökologie, so ist sein Ausgangspunkt demjenigen der Sozialen 

Ökologie doch recht ähnlich. Er geht davon aus, dass Menschen, wol‐

len sie  ihre Grundbedürfnisse befriedigen und überleben, sich Natur 

aneignen müssen und dass „die nachhaltige Bewirtschaftung der na‐

türlichen  Ressourcen  …  immer  schwierig“  (Diamond  2005:  23, 

Hervorh.  i. O.) war und bleiben wird. Um die daraus resultierenden 

komplexen Beziehungen von Menschen bzw. einzelner gesellschaftli‐

cher  Teilbereiche  zu  ihren  jeweiligen  natürlichen  und  gesellschaftli‐

Page 36: Streit um Materie?

Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse

35

chen Umwelten zu untersuchen, verwendet die Soziale Ökologie die 

Begriffe  Regulation,  Transformation  und  Adaptivität.  Ich  habe  an 

anderer Stelle ausführlich deutlich gemacht, welcher ‚Mehrwert’ einer 

so  verstandenen  sozial‐ökologischen  Perspektive  bei  der  Analyse 

konkreter Problemlagen erzielt werden kann (vgl. Janowicz 2008). Im 

Rahmen  dieses  Aufsatzes  habe  ich  argumentiert,  dass  hinsichtlich 

umweltsoziologischer Theoriebildung der wegweisende Beitrag der Sozia‐

len Ökologie  in der Beantwortung der zentralen Frage  liegt, wie auf 

eine theoretisch angemessene Weise der zu beob¬achtenden Tendenz 

der Entmaterialisierung soziologischer Theoriebildung entgegengetre‐

ten werden kann.  

  Der Begriff der Regulation nimmt  seinen Ausgangspunkt  in 

den Grundbedürfnissen menschlicher  Existenz. Auch wenn  der  Be‐

griff des ‚Bedürfnisses‘ alles andere als unumstritten ist, so existieren 

bestimmte, bis zu einem gewissen Grad anthropologisch vorgegebene 

Bedürfnisse, die Gesellschaften ‚erfolgreich‘ regulieren müssen, damit 

ihr  integrativer  Fortbestand  gewährleistet  ist:  beispielsweise die Be‐

reitstellung von  ausreichend Nahrung und Wasser, die Regulierung 

der  Fortpflanzung. Die  konkrete Regulation dieser  ‚natürlichen‘ Be‐

dürfnisse  ist selbstredend hochgradig von gesellschaftlichen Normen 

und Machtstrukturen abhängig: Nahrungsaufnahme und Wasser sind 

stark  kulturell  präformiert,  Fortpflanzung  ist  im  Rahmen  der  Ge‐

schlechterverhältnisse hochgradig  symbolisch  aufgeladen. Die Orga‐

nisation  solch  basaler  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse  erfolgt 

dann  auf  der Makro‐Ebene  im Rahmen  sog. Regulationsordnungen 

(kapitalistische Produktionsweise, Geschlechterverhältnisse), die, ähn‐

lich  wie  das  Giddenssche  Konzept  der  Strukturierung,  spezifische 

Formen  von  Regulationsmustern  ermöglichen  und  begrenzen.  Des 

Weiteren verweisen sie stets auf den materiell‐symbolischen Doppel‐

charakter gesellschaftlicher Naturverhältnisse.  

  Der  Begriff  der  ‚Regulation‘  eröffnet  im Anschluss  an,  aber 

auch im Gegensatz zu der ökonomischen Regulationstheorie ein adä‐

quateres  Verständnis  gesellschaftlicher Naturverhältnisse  und weist 

drei charakteristische Merkmale auf (vgl. Jahn/Wehling 1998: 87): Ge‐

sellschaftliche Naturverhältnisse werden  nicht  von  einem  zentralen 

Page 37: Streit um Materie?

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Akteur reguliert, sondern durch das Aufeinandertreffen einer Vielzahl 

heterogener und konfliktträchtiger Praktiken; damit wird die histori‐

sche  Variabilität  der  Regulationsformen  betont;  weiterhin  verweist 

der Begriff der Regulation  auf die Differenz von  symbolischer Kon‐

struktion und materieller Basis und  fokussiert explizit auf deren Zu‐

sammenhang.  

  Die Veränderungen  solcher Regulationsordnungen  bzw.  da‐

zugehöriger Regulationsmuster in der Zeit lassen sich nun als sozial‐

ökologische  Transformationen  beschreiben.  Die  wissenschaftliche 

Problematik  sozial‐ökologischer  Forschung  besteht  folglich  darin, 

diese Veränderungen als eine spezifische Wechselwirkung natürlicher 

und  gesellschaftlicher Elemente  zu  formulieren: Durch Regulations‐

ordnungen wird ‚Natur‘ von Gesellschaften symbolisch und materiell 

‚angeeignet‘ und damit verändert, gleichzeitig  ist diese  ‚Natur‘  aber 

nicht passiv, sondern wirkt auf die Gesellschaft zurück und setzt sie 

einem Veränderungsdruck aus.  

  Regulationsordnungen  sind  so  in gewisser Weise mit gesell‐

schaftlichen  Institutionen  vergleichbar,  denn  beide  haben  ihren Ur‐

sprung in der Bereitstellung von zeitstabilen Lösungsmustern für ge‐

sellschaftlich  relevante  und  dauerhaft  sich  stellende  Probleme. Und 

ebenso  wie  institutionelle  Arrangements  können  diese  materiell‐

symbolischen  Regulierungen  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse  in 

die  Krise  geraten  und  im  schlimmsten  Fall misslingen.  Krisenhafte 

Nebenfolgen bestimmter Regulierungen können zeitlich und räumlich 

erst sehr viel später zutage treten. Die dynamischen Beziehungsmus‐

ter zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Natürlichen als reguliert 

zu  betrachten,  bedeutet,  dass  ihr Verhältnis  durch  das  Zusammen‐

spiel  von  sozialen,  kulturellen  und  ökologischen  Wirkungszusam‐

menhängen  geprägt wird.  Ein  solches  Verständnis  impliziert  nicht, 

dass  derartige Regulationen  das  intendierte  Ergebnis  zielgerichteter 

Handlungen  einzelner  Akteure  darstellen,  wohl  aber,  dass  Gesell‐

schaften  bzw.  soziale  Gruppierungen  in  der  Befriedigung  ihrer 

Grundbedürfnisse ihr Verhältnis zur Natur regulieren müssen und in 

diesem  Zusammenhang  historisch  situierte  gesellschaftliche  Natur‐

verhältnisse etablieren. Das Konzept der Regulation beinhaltet damit 

Page 38: Streit um Materie?

Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse

37

wesentlich die Annahme, dass Beziehungsmuster untersucht werden 

müssen  und  nicht  isolierbare  Einzelphänomene  sowie  dass  es  sich 

dabei um hybride Verflechtungen handelt. Regulationen können aber 

auch  fehlschlagen  bzw.  problematische Entwicklungen  verursachen, 

wobei  als  ‚problematisch’  gilt, wenn  sich  die  Beziehungsmuster  so 

verändern, dass entweder  irreversible ökologische Schäden auftreten 

und/oder die Reproduktion und Entwicklungsfähigkeit gesellschaftli‐

cher  Zusammenhänge  gefährdet  sind  (vgl.  Hummel/Kluge  2006: 

248 f.).  Der  Begriff  der  Transformation  wiederum  verweist  darauf, 

dass  Regulationsformen  selbst  in  geschichtliche  Dynamiken  einge‐

bunden  sind  und  diese  sowohl  prägen  als  auch  von  ihnen  geprägt 

werden. Transformationen verweisen damit auf die historischen Ein‐

bettungen  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse  und  implizieren  das 

Verständnis  des  „Gewordenseins  des  Gegenwärtigen“  (Klu‐

ge/Hummel  2006:  260).  Bei  dem  Begriff  der  Adaptivität  schließlich 

handelt  es  sich  meines  Erachtens  weder  um  eine  verkappte 

Biologisierung  gesellschaftlicher  Prozesse  noch  sozialwissenschaftli‐

cher Theoriebildung. Vielmehr gilt  es auch gerade  für Sozialwissen‐

schaftlerinnen  und  Sozialwissenschaftler,  von  lieb  gewonnenen 

Selbstverständlichkeiten und  identitätsstiftenden Reflexbewegungen, 

wie bei dem Wort  ‚Anpassung’  sofort zusammenzuzucken, Abstand 

zu  nehmen  –  vielleicht  hilft  es  auch,  anstelle  des  Begriffs  der 

Adaptivität  das  im  angloamerikanischen  Wissenschaftsbetrieb  ge‐

bräuchlichere  ‚resilience’, das man mit  ‚Robustheit’ übersetzen könn‐

te, zu gebrauchen  (vgl. Folke et al. 2005). Robustheit  lässt sich dabei 

definieren  als  „the  capacity  of  a  system  to  absorb  disturbance  and 

reorganize while undergoing change so as to still retain essentially the 

same  function,  structure,  identity,  and  feedbacks“  (ebd.:  443). Somit 

geht es auch nicht um die Anpassung von ganzen Gesellschaften als 

von bestimmten funktionalen Teilbereichen.  

  Das  Leitbild  einer  so  verstandenen  Anpassung  ist  das  der 

Nachhaltigkeit.  Es  ist  der Versuch,  trotz  aller  kritischen Distanz  zu 

den prometheischen Versprechen der Moderne und dem damit ver‐

bundenen  technokratischen  Steuerungsoptimismus  an  der  Vorstel‐

lung der Gestaltbarkeit von gesellschaftlichen Naturverhältnissen und 

Page 39: Streit um Materie?

Cedric Janowicz

38

damit an der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis festzuhalten, 

die im philosophischen Verständnis des Pragmatismus ‚wahr’ ist und 

deren Leitstern die Deweysche Frage bildet: „Führt sie zu Schlussfol‐

gerungen, die dann, wenn  sie auf die gewöhnliche Lebenserfahrung 

und ihre Probleme zurückbezogen werden, diese bedeutsamer, erhel‐

lender  und  unseren Umgang mit  ihnen  fruchtbringender machen?“ 

(Dewey 1995: 24) Entscheidend  ist dabei die Annahme, dass die Er‐

zeugung  eines  solchen Handlungswissens  die  Erzeugung  von  Sys‐

temwissen  voraussetzt:  „Planvoll  gestaltendes  und  steuerndes  Ein‐

greifen  im Kontext nachhaltiger Entwicklung erfordert ein Verständ‐

nis der komplexen Wirkungszusammenhänge zwischen ökologischen, 

sozialen  und  ökonomischen  Prozessen.“  (Keil/Hummel  2006:  244) 

Adaptivität vereint  somit eine analytische und eine normative Seite, 

die sich beide wechselseitig bedingen: In analytischer Hinsicht geht es 

um  die  Identifikation  kritischer  Verzweigungspunkte  von  Entwick‐

lungen, an denen sie in krisenhafte Entwicklungen übergegangen sind 

bzw. übergehen können. Die normative Seite von Adaptivität äußert 

sich darin, dass es nicht um die deterministische Anpassung von Ge‐

sellschaften an natürlich vorgegebene Zwänge geht. Stattdessen geht 

es  immer  um  gesellschaftlich  gefilterte  Prozessbeurteilungen  und  ‐

entscheidungen,  die  nicht  nur das  ‚Wohin’  vorgeben,  sondern  auch 

das  ‚Auf  welchem  Weg’.  Eine  Einschätzung  kritischer  Übergänge 

kann somit nur vor dem Hintergrund des Konzepts der Nachhaltig‐

keit erfolgen. Adaptivität umfasst damit stets beides, die Analyse und 

die Bewertung alternativer Entwicklungspfade.  

  Eng damit verbunden ist auch eine Absage an all jene Positio‐

nen, die daran festhalten, dass „Wissenschaft selbst … frei von Praxis“ 

(Ipsen  2006:  163)  sei.  Soziale Ökologie  vollzieht  sich  als  Forschung 

durch  ihre  Problembezüge  und  durch  die  Bindung  an Normen der 

Nachhaltigkeit  in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten, die 

Probleme vordefinieren. Wer wie die Soziale Ökologie an der Gestalt‐

barkeit  von  gesellschaftlichen Naturverhältnissen  festhält, wirft  un‐

weigerlich die normative Frage nach den Kriterien dieser Gestaltung 

auf.  In gewisser Weise  scheint  es damit  so  zu  sein, dass die Soziale 

Ökologie einer Utopie anhängt, der Utopie einer nachhaltigeren Welt. 

Page 40: Streit um Materie?

Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse

39

Aber  diese Utopie  erfüllt  nicht  die  Funktion  einer  Entwertung  der 

Gegenwart zugunsten einer fernen Zukunft, sondern versteht sich als 

eine Utopie im Sinne Cavells, der in solchen Utopien ein wesentliches 

Mittel gegen Zynismus und Resignation sieht (Cavell 2004). In einem 

solchen  Sinne  dient  sie  nicht  dem  Fortschritt  als  solchem,  sondern 

überhaupt  erst  der  Möglichkeit  des  Fortschreitens  (vgl.  Hampe 

2006: 40). Sie liefert die Folie, die Forscherinnen und Forscher in ihren 

Bemühungen vorantreiben. In diesem Sinne plädiert die Soziale Öko‐

logie entschieden gegen die erwähnte Einschätzung von Wissenschaft 

als  praxisfreier  Tätigkeit.  Ganz  im  Gegenteil: Wissenschaft  ist  eine 

Erkenntnisleistung,  die  einen  praktischen Unterschied  im  Leben  der 

Menschen ausmachen sollte. 

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Page 45: Streit um Materie?
Page 46: Streit um Materie?

Ökologische Krise und Krisenmanagement

Die Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse im demokratisch-kapitalistischen Staat

Thomas Barth 

1. Einleitung

Ein Blick  auf die  gegenwärtige  Situation der  gesellschaftlichen Um‐

welt,  der  besonders  die  Auseinandersetzungen  um  und  die  politi‐

schen  Reaktionen  auf  die  dahingehenden  Problemdiagnosen  einbe‐

zieht,  ergibt  ein  eigentümliches  Bild: Zwar wurden  seit  der  breiten 

Thematisierung der ökologischen Krise seit Ende der 1960er Jahre bis 

heute  unzählige  umweltpolitische Maßnahmen,  Regulierungen  und 

Programme  verabschiedet, Vereinbarungen  getroffen  und  Institutio‐

nen gegründet. Dem steht jedoch v. a. im globalen Maßstab eine wei‐

tere Zuspitzung der Umweltsituation gegenüber. Angefangen bei der 

drohenden  Klimakatastrophe  über  die  zu  erwartenden  Wasser‐, 

Biodiversitäts‐ und Landverbrauchskrisen bis hin zum Abfallproblem 

und  näher  rückenden Ressourcenengpässen  verdichten  sich  die  Be‐

obachtungen zum Gesamtbild einer ökologischen Krise.  

  Ich gehe  im Folgenden von der Annahme  aus, dass mit der 

Herangehensweise einer kritischen Staatstheorie – die v. a. auf  frühe 

Arbeiten von Claus Offe und Jürgen Habermas sowie die Regulations‐

theorie zurückgreift – ein klarerer Blick auf die Frage danach möglich 

wird, wie es zu dieser Eigentümlichkeit von umfassenden umweltpo‐

litischen Regulierungen und  trotzdem  sich verschärfenden Problem‐

lagen kommt. Aus einer solchen Perspektive wird die Selbstbeschrei‐

bung des Feldes hinterfragt, die da  lautet, die genuine Aufgabe der 

Umweltpolitik sei der Schutz der Umwelt. Erst wenn diese Selbstbe‐

gründung in Frage gestellt wird, lassen sich wesentliche Aspekte klä‐

ren, die ich  in Form von drei Thesen bearbeiten will: Die erste These 

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Thomas Barth

46

lautet, dass der Staat ein spezifisches Interesse an der Behandlung der 

Umweltproblematik hat. Jedoch  ist zweitens die Form der staatlichen 

Problembearbeitung  strukturellen  Beschränkungen  unterworfen,  die 

drittens  eine Bearbeitung der Ursachen der  ökologischen Krise  ver‐

unmöglichen. Was  sich  stattdessen  vollzieht,  ist  ein Krisenmanage‐

ment, welches die Krise und ihre Behandlung auf Dauer stellt. 

  Wenn ich im Folgenden aus einer Perspektive der politischen 

Soziologie  von  der  Gestaltung  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse 

spreche, beziehe  ich mich auf die  staatliche Umweltpolitik der Bun‐

desrepublik  Deutschland.  Mit  dieser  Fokussierung  des  politisch‐

administrativen Bereiches – also dem des Governments – klammere ich 

alltagsweltliche  und  individuelle  Umwelterfahrungen  und  

‐bezüge weitgehend aus und bewege mich auf einer eher makrostruk‐

turellen Ebene. (I) Zunächst will ich im Anschluss an vorhandene Kri‐

sentheorien diskutieren,  inwiefern es sinnvoll  ist, nicht nur von öko‐

logischen  Problemen,  sondern  einer  Krise  gesellschaftlicher  Natur‐

verhältnisse  zu  sprechen.  (II)  Daran  schließt  sich  die  konkrete  Be‐

stimmung des  ‚Krisenmanagers’ moderner westlicher Gesellschaften 

wie der Bundesrepublik an: des demokratisch‐kapitalistischen Staates. 

(III) Dieser  ist charakterisiert durch eine ganz bestimmte, aus seinen 

Strukturproblemen  resultierende Bearbeitungsform der ökologischen 

Krise als staatliche Umweltpolitik. 

2. Gesellschaftliche Naturverhältnisse und ökologische Krise

Gegenwärtig ist es, der umfassenden Wirtschaftskrise sei es gedankt, 

wieder en vogue, von Krisen zu sprechen. Der ursprünglich medizini‐

schen Wortbedeutung  nach wird mit  Krise  „die  akute  Phase  eines 

Krankheitsverlaufes bezeichnet, wo über Heilung, Tod oder Aufschub 

entschieden wird“ (Lipietz 1986: 712). Auf soziologische Fragestellun‐

gen übertragen,  lautet die daraus  folgende Konsequenz, dass gesell‐

schaftlichen Akteuren  deutlich wird: Man  kann  „nicht mehr  in  der 

alten Weise weitermachen“ (ebd. 713). In diesem Sinne wurde  in der 

soziologischen Diskussion v. a.  in den 1970er Jahren von verschiede‐

Page 48: Streit um Materie?

Ökologische Krise und Krisenmanagement

47

nen  gesellschaftlichen  Krisen  gesprochen,  z. B.  von  ökonomischer 

Krise,  Rationalitätskrise,  Legitimationskrise  und  Motivationskrise 

(Habermas 1973).  Im Zentrum steht dabei u. a. die Überlegung, dass 

gesellschaftliche Krisen  „Prozesse  bezeichnen,  in denen die  Struktur 

eines Systems  in Frage gestellt wird“  (Offe 1973: 198). Mit  solch einem 

prozessualen Krisenverständnis wird zweierlei  impliziert: zum einen 

die Überlegung, dass es  sich  stets um die  Identifikation von Krisen‐

tendenzen handelt, und zum anderen, dass der Ausgang von Krisen 

nicht vollständig determiniert, sondern offen  ist  (ebd.: 199). Mit dem 

ersten Punkt wird differenziert zwischen tatsächlich eintretenden Kri‐

sen und den strukturell erzeugten Krisentendenzen, womit der empiri‐

sche Analysefokus1 auf die Suche nach Bedingungen gerichtet wird, 

unter denen „mögliche Krisentendenzen tatsächlich eintreten und sich 

durchsetzen“  (Habermas 1973: 50). Mit dem zweiten Punkt wird be‐

tont, dass  es  bei Krisenverläufen  auf die  sozialen Kämpfe  zwischen 

Akteuren ankommt, die um „einen Ausgang aus der Krise  [ringen], 

der  jedoch  nie  genau  der  angestrebte  ist“  (Lipietz  1998:  40). Damit 

wird  neben  den  strukturell  angelegten  Krisentendenzen  auch  die 

Akteursperspektive nicht vernachlässigt, die v. a. bei der Krisenbear‐

beitung von Bedeutung ist. Bei der Analyse von kriseninduzierenden 

Prozessen  konzentriert man  sich demnach  nicht  nur  auf  punktuelle 

Ereignisse,  sondern  nimmt  die  systemimmanenten Mechanismen  in 

den Blick, welche derartige Ereignisse generieren (Offe 1973: 199). Die 

Wahl einer derartigen Analyseebene zielt darauf ab, aus einer gege‐

benen Gesellschaftsstruktur sowohl die auftretenden Krisen als auch 

die Potentiale zur Krisenbewältigung herzuleiten. 

  Unter diesen theoretischen Voraussetzungen macht es einen – 

auch analytischen – Unterschied, ob von einer Krise gesellschaftlicher 

Naturverhältnisse  bzw.  einer  ökologischen  Krise  gesprochen  wird 

oder  ‚lediglich’ von ökologischen Problemen. Denn zusammenfassend 

wird mit der Wahl des Krisenbegriffes der Blick auf a) systemimma‐

nente Ursachen der Krisentendenzen gerichtet und damit b) nach sys‐

1   Auf diesem und der damit verbundenen Frage liegt in diesem Aufsatz jedoch 

nicht das Hauptaugenmerk. 

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Thomas Barth

48

tematischen Zusammenhängen  zwischen  einer Gesellschaftsstruktur 

und ihren ökologischen Problemen gefragt sowie c) nach strukturellen 

Begrenzungen  möglicher  Bearbeitungsformen.  Aus  einer  neo‐

marxistischen Perspektive, die auch die oben zitierten Autoren vertre‐

ten, erscheint die Annahme schlüssig, dass  für kapitalistische Gesell‐

schaften Krisen nicht vollkommen unvorhersehbare und rein exogene 

Ereignisse sind, sondern diese Gesellschaftsformationen ihrem Wesen 

nach krisenhaft sind.  

  Neben  theoretischen Gründen  gibt  es  jedoch  auch  eine  fak‐

tisch‐historische  Verbindung  zwischen  den  von  historisch‐

materialistischen Theoretikerinnen und Theoretikern vor allem in den 

Blick genommenen ökonomischen und der hier diskutierten ökologi‐

schen Krise. Denn die gesellschaftsweite Thematisierung der ökologi‐

schen Krise trat nicht zufällig gleichzeitig mit der Krise des Fordismus 

in den 1970er Jahren auf. Die ökologische Krise ging dagegen mit der 

tief  greifenden Krise der  fordistischen Vergesellschaftung  insgesamt 

einher und  trug mit dazu  bei,  „die Widersprüche und  immanenten 

Grenzen  dieser  historisch  spezifischen  Phase  kapitalistischer Verge‐

sellschaftung  zu  artikulieren“  (Görg  2004:  201). Der  den  Fordismus 

kennzeichnende  Zusammenhang  von  standardisierter  und  ressour‐

cenintensiver Massenproduktion  und Massenkonsum war mit  einer 

extremen  Naturausbeutung  verbunden.  Neben  diese  materiellen 

Merkmale trat auf ideeller Seite der verbreitete „Glaube an einen un‐

endlichen  Fortschritt  im  Sinne  des materiellen Warenreichtums,  an 

die  politische Gestaltbarkeit  aller  gesellschaftlichen Verhältnisse,  an 

die Wohltaten der technischen Entwicklung, an fortschreitende gesell‐

schaftliche Gleichheit  und  das  Vertrauen  in  eine  staatsbürokratisch 

garantierte soziale Sicherheit“ (Hirsch 2005: 120). Nun setzte sich aber 

zunehmend das Bewusstsein durch, dass gerade die Institutionen der 

Bearbeitung von Legitimationsproblemen, nämlich die erreichten so‐

zialen Sicherheiten und die breite Partizipation am Wohlstand, durch 

ihre  Koppelung  an  kontinuierliches Wirtschaftswachstum  nur  auf‐

grund  erheblicher  Umweltbelastungen  erreicht  wurden  (vgl. 

Demirović 1991: 443 f.). Damit gewann die ökologische Bewegung an 

Gewicht, die dieses  fordistische Gesellschaftsmodell  in Frage  stellte. 

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Ökologische Krise und Krisenmanagement

49

Die ökologische Kritik verband sich nun mit den verschiedenen Pro‐

testbewegungen, die die zahlreichen Widersprüche dieser konkreten 

Gesellschaftsformation thematisierten, wie etwa die Studenten‐, Frau‐

en‐  und  Friedensbewegung, was  zu  einer Krise  fordistischer Hege‐

monie  insgesamt  führte. Zu den ökonomischen Krisentendenzen des 

Fordismus  (vgl. z. B. Fulcher 2007: 161‐164)  trat  insofern eine Legiti‐

mationskrise hinzu, sodass, wenn von der ökologischen Krise gespro‐

chen wird,  von  einer  umfassenden  gesellschaftlichen  Krise  gespro‐

chen werden muss. Die Bearbeitung der ökologischen Krise unterliegt 

aber auch denselben gesellschaftsstrukturell bedingten Möglichkeiten 

und Beschränkungen wie die anderer Krisen. 

  Auf der damit skizzierten theoretischen Basis kann dann eine 

These  wie  die  folgende  formuliert  werden:  „Die  gesellschaftlichen 

Einrichtungen,  die  für  die  Bearbeitung  ökologischer  Probleme  ge‐

schaffen wurden, sind von den allgemeinen Strukturmerkmalen kapi‐

talistischer Vergesellschaftung geprägt und insofern von einer Irratio‐

nalität  gekennzeichnet, die die Bearbeitung der Probleme  erschwert 

und eine Überwindung der Krise verunmöglicht“ (Görg 2003: 39). Ich 

schließe im Folgenden an der These Görgs an, werde aber versuchen, 

diese „allgemeinen Strukturmerkmale kapitalistischer Vergesellschaf‐

tung“ konkreter zu fassen, indem ich mich auf die staatliche Umwelt‐

politik konzentriere.  

  Der Staat  rückt, wenn von  systematisch  auftretenden Krisen 

gesprochen wird,  insofern  ins Zentrum der Aufmerksamkeit als sich 

die Frage stellt, wie es unter diesen widersprüchlichen und krisenhaf‐

ten Bedingungen zur empirisch zu beobachtenden Stabilität und Kon‐

tinuität  in diesen Gesellschaftsformationen  kommt. Diese  Frage, die 

die  Kernfrage  der  Regulationstheorien  darstellt  (Lipietz  1985:  109), 

wird im Rahmen dieser Schule mit der Rolle des Staates beantwortet. 

„Dessen vordringliche Aufgabe besteht unter den Bedingungen kapi‐

talistischer  Vergesellschaftung  darin,  jene  sozialen  Prozeduren  und 

regulativen  Instanzen  zu  entwickeln, die  eine  Stabilität der  sozialen 

Verhältnisse über alle Krisen und Transformationen hinweg garantie‐

ren“  (Hartel  2000:  42).  Ich will mich  im  Folgenden dieser  zentralen 

Positionsbestimmung des Staates anschließen, weiche jedoch von den 

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Thomas Barth

50

regulationstheoretischen Arbeiten insofern ab, als ich eine Staatstheo‐

rie  in Anschlag  bringe,  die  sich  v.  a.  an  die  frühen Arbeiten Claus 

Offes anlehnt. 

3. Der demokratisch-kapitalistische Staat

Als eine dominierende Sichtweise der umweltpolitischen Entwicklung 

kann die der „ökologischen Modernisierung“ gelten, die sowohl auf 

einer  analytischen  als  auch  politisch‐programmatischen  Ebene  an‐

setzt. Vertreter dieses Ansatzes begreifen Umweltprobleme als prin‐

zipiell lösbar, sehen als Voraussetzung einer gelingenden Bearbeitung 

jedoch  eine Staatstätigkeit, welche  sich am Anstoßen von  Innovatio‐

nen ausrichtet. Von den Vertretern werden allerdings auch die Gren‐

zen der Machbarkeit dieses Konzeptes  reflektiert, was  sich  an  zwei 

Aspekten  festmachen  lässt  (Jänicke 2000): Zum einen basiert ein sol‐

cher  Lösungsweg  der  ‚modifizierten Weiter‐so‐Modernisierung’  auf 

der Vorstellung,  technische  Innovationen durch marktwirtschaftliche 

Prozesse entwickeln und verbreiten zu können. Das bei einer solchen 

Fixierung  auf  Marktsteuerung  vorausgesetzte  permanente  Wirt‐

schaftswachstum hat jedoch die Effizienz‐Erfolge bisher stets in para‐

doxer Weise  relativiert.  Zum  anderen  gibt  es  Kategorien  von  Um‐

weltproblemen  die  sich  einer  technischen  Bearbeitung  schlichtweg 

entziehen.  Dazu  zählen  etwa  Flächenverbrauch,  Artenschutz  und 

Atommüll‐Endlagerung. Jänicke folgert daraus, dass es zusätzlich zur 

ökologischen Modernisierung  eines  „ökologischen  Strukturwandels“ 

bedarf, der mit der Wachstums‐Modernisierungs‐Logik bricht. Auch 

wenn eine solche Perspektive also die Probleme ernst nimmt und ihre 

Grenzen mitdenkt, bleibt sie doch ihrem Standpunkt verhaftet. Denn 

als Lösung für die immanenten Beschränkungen des Weges angepass‐

ter Modernisierung wird  auch  hier  die  Staatstätigkeit  ins  Spiel  ge‐

bracht,  die  via  „ökologischer  Strukturpolitik“  einen  solchen  funda‐

mentalen Wandel einleiten und gestalten soll. 

  Ein zentrales Problem derartiger Ansätze ist damit ihr Staats‐

verständnis:  Sie  scheinen  den  Staat  als  ein  neutrales  Instrument  zu 

begreifen, welches den Interessen der Mehrheit nach in Dienst gestellt 

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Ökologische Krise und Krisenmanagement

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werden  kann.  Sie  gehen  damit weder  von  einem  Eigeninteresse  des 

Staates aus, noch nehmen sie die strukturelle Privilegierung bestimm‐

ter Interessen in den Blick. Mit dem hier gewählten theoretischen Zu‐

gang kann Staatstätigkeit nicht auf ein neutral und eigenlogisch ope‐

rierendes  Institutionensystem  reduziert  werden.  Gleichwohl  kann 

auch nicht davon gesprochen werden, dass  sich  im  Staat  Interessen 

unvermittelt durchsetzen und dieser dadurch nur der Agent der Eli‐

ten  sei.  Insofern  diese  beiden Aspekte  nicht  vernachlässigt werden 

sollen,  könnte man durchaus davon  sprechen, dass  ich  bei der  nun 

folgenden Anwendung  der  kritischen  Staatstheorie  auf  ökologische 

Fragestellungen  eine  materialistische  mit  einer  systemtheoretischen 

Vorstellung des Politischen verknüpfen will.2 Ich werde im Folgenden 

die Theorie des demokratisch‐kapitalistischen  Staates  skizzieren,  in‐

dem  ich  zunächst  a)  auf  die Aspekte  eingehe,  die  es  rechtfertigen, 

vom gegenwärtigen Staat als einem kapitalistischen zu sprechen. Da‐

ran anschließend will ich b) die Schwierigkeit andeuten, in einer Wei‐

se  vom  Staat  zu  sprechen, die diesen missverständlich  als  einheitli‐

chen Akteur erscheinen lässt. Danach werde ich c) die demokratischen 

Aspekte dieses Staates darstellen. 

3.1 Der kapitalistische Staat

Für eine kritische Staatstheorie, wie sie hier zur Anwendung kommt, 

ist es kennzeichnend, die politische Verfasstheit der modernen Gesell‐

schaft – den Staat – nicht unabhängig von der kapitalistischen Grund‐

struktur dieser Gesellschaft zu sehen. Also weder das eine – der mo‐

derne  Kapitalismus  –  noch  das  andere  –  der  liberal‐demokratische 

Staat – sind ohne ihr Gegenüber denkbar. Diese Ausgangsüberlegung 

lässt  sich  konkretisieren,  indem  der  Staat  in  doppelter Hinsicht  als 

kapitalistischer Staat verstanden wird. Einerseits, weil  er allein es ver‐

mag, eine marktförmig organisierte Ökonomie mittels unerlässlicher 

institutioneller  und  infrastruktureller  Leistungen  –  marktfremden 

Institutionen – abzusichern. Ein Kapitalismus ohne ein derartiges  in‐

stitutionelles Gerüst wäre auf Dauer nicht existenzfähig, da notwen‐

2   Dies gilt so auch für die frühen Arbeiten Claus Offes (2006). 

Page 53: Streit um Materie?

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dige Voraussetzungen des Kapitalverwertungsprozesses, wie z. B. die 

Reproduktion der Arbeitskraft und Vertragssicherheit, nicht profita‐

bel produziert werden können.3 Andererseits ist der Staat ein kapitalis‐

tischer,  weil  er  seine  fiskalische  Ausstattung  aus  (Steuer‐) 

Ressourcen  bestreitet,  die  in  der  von  ihm  erst  ermöglichten Wirt‐

schaftsweise  produziert werden. Der  Staat  selbst  ist  kein Kapitalist 

und kann es auch nicht sein (Offe 2006: 137), jedoch liegt es in seinem 

Eigeninteresse,  den  Erfordernissen  der  Akkumulation  nachzukom‐

men, weil seine Bestandsfähigkeit davon abhängt – es für seine Selbst‐

erhaltung notwendig ist.  

3.2 Der Staat als Akteur?

Mit den obigen Formulierungen wird z. T. die Vorstellung des Staates 

als  eines  sich  selbst  bewussten  Akteurs  nahegelegt,  der  bestimmte 

Zielsetzungen  in rationaler Weise verfolgt, was natürlich nicht ernst‐

haft  gemeint  sein  kann.  Vielmehr  sind  diese  Äußerungen  heuristi‐

scher Natur,  da  in  dieser Weise  staatliches Handeln  vereinfachend 

beschrieben werden kann, jedoch der Blick auf die dieses Bild konsti‐

tuierenden Prozesse  gelenkt werden muss. Offe versteht  ‚den’  Staat 

nicht  als  „einheitlichen Akteur“,  sondern  als  „ein  in  zahlreiche und 

gegeneinander  relativ  isolierte  Instanzen  gegliedertes  soziales  Sys‐

tem“  (Offe  2006:  142).  Das,  was  dann  als  staatliches  Handeln  er‐

scheint, sind die „‚aufsummierten’ Aktivitäten“ dieser verschiedenen 

Instanzen, wie z. B. Parlamente, Parteien und Behörden.  Indem  jede 

dieser Instanzen einen bestimmten „Umweltausschnitt“ „aus der Sicht 

ihrer organisatorischen Prämissen“ (ebd.) bearbeitet und unter Bedin‐

gungen der Konkurrenz ein Interesse an sich selbst (z. B. über Haus‐

haltszuweisungen) verfolgt, welches  sich mit  Interessen anderer Ab‐

teilungen widersprechen kann, konstituiert sich „das  jeweils  ressort‐ 

3   Vgl. dazu  auch Karl  Polanyi  (1990:  19 f.):  „Eine  solche  Institution  [eine  sich 

selbst  regulierende  Marktwirtschaft,  d. A.]  konnte  über  längere  Zeiträume 

nicht bestehen, ohne die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft 

zu vernichten; sie hätte den Menschen physisch zerstört und seine Umwelt in 

eine Wildnis verwandelt.“ 

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Ökologische Krise und Krisenmanagement

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oder parteipolitisch gebrochene  ‚Interesse des Staates an sich selbst’“ 

(ebd. 143).  

3.3 Der demokratische Staat

Der Staat ist nicht bloßer Vollzug kapitalistischer Interessen, sondern 

ein  in  Wahlen  legitimierter  Staat,  der  auch  den  Forderungen  der 

Nicht‐Kapitalisten  in  gewissem Maße  entsprechen muss. Denn  erst 

durch die „Trennung von ‚Staat’ und ‚Gesellschaft’, von ‚Politik’ und 

‚Ökonomie’  […], wenn  [also] die ökonomische und gesellschaftliche 

Macht mit der politischen nicht unmittelbar  identisch  ist, kann Herr‐

schaft  einer demokratischen  politischen Kontrolle  unterworfen wer‐

den“  (Hirsch  2005:  76  f.).  Jedoch  kann  gleichwohl  nicht  von  einer 

wirklichen Trennung dieser Bereiche gesprochen werden, da der Staat 

„gerade  durch  die Ausgrenzung  einer  ‚staatsfreien’  Sphäre  von  Pro‐

duktion und Reproduktion diese Sphäre mit einem spezifischen staat‐

lichen Organisationsmittel ausstattet, nämlich der (Vertrags‐)Freiheit“ 

(Offe  2006:  128). Treffender  spricht Offe deshalb  von der  „relativen 

Autonomie“ des Staates, da durch den „rein formalen Charakter staat‐

licher Organisationsmittel  […]  jede  direkte  Parteinahme  der  Staats‐

gewalt  für  konkrete  gesellschaftliche  Interessen  abgewehrt  [wird]“ 

(ebd.: 129). Insofern abstrahiert der Staat auch als „ideeller Gesamtka‐

pitalist“ vom  Interesse des einzelnen Unternehmens und der einzel‐

nen Branche, indem er oftmals ausdrücklich gegen individuelle Kapi‐

talinteressen agiert, und bleibt trotzdem kapitalistischer Staat. Im Sin‐

ne  dieser  beiden Aspekte  ist  der  Staat  demokratischer  Staat,  der  das 

Allgemeininteresse  als Ziel und Zweck  seines Handelns  angibt und 

erst  aufgrund  seiner  repräsentativ‐demokratischen  Verfassung  das 

Recht  zum Eingriff  in  gesellschaftliche Zusammenhänge  erhält. Der 

Staat  hat  sich  also  aus  Selbsterhaltungsgründen  auch  in  bestimmter 

Weise auf die demokratischen Legitimationsforderungen zu beziehen, 

sofern er nicht Gefahr  laufen will, Legitimationsnöte zu einer Legiti‐

mationskrise anwachsen zu lassen. Diese „Legitimationszwänge“ des 

Staates  ergeben  sich direkt  aus der Trennung von Politik und Öko‐

nomie und der damit einhergehenden „Repolitisierung“ der Klassen‐

verhältnisse (Habermas 1973: 84). Denn  indem der Staat durch staat‐

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lich  vermittelte Kompromisse, wie  z. B.  Tarifverhandlungen,  gewis‐

sermaßen  zwischen  die  Nicht‐Kapitalisten  und  Kapitalisten  tritt, 

transformiert er gesellschaftliche Konflikte zu politischen Konflikten. 

Im Zuge dieser Transformation von Konflikten werden auch „die Ri‐

siken und die Art ihrer Bearbeitung von vornherein so definiert […], 

daß die Struktur des Kapitalverwertungsprozesses unmittelbar kaum 

berührt wird“ (Offe 2006: 167). Hieraus ergibt sich ebenfalls die Not‐

wendigkeit, die  Form der demokratischen Legitimationsbeschaffung 

so  zu  beschränken,  dass  nicht  der  Bestand  des  Systems  gefährdet 

wird. Geleistet wird dies durch die Dominanz formal‐demokratischer 

Partizipation  und  eine weitgehende  Entpolitisierung  der Öffentlich‐

keit (Habermas 1973: 84). 

  Zusammenfassend  gesagt,  können  sämtliche  Staatstätigkeiten 

als Bearbeitungsformen der  zwei widersprüchlichen  Strukturproble‐

me verstanden werden: den Akkumulationserfordernissen  einerseits 

und  den  Legitimationsforderungen  andererseits. Das  Eigeninteresse 

des  Staates  besteht  dann  darin.  die Widersprüche  zwischen  diesen 

beiden Herausforderungen unsichtbar zu machen bzw.  in  ihren Fol‐

gen  abzumildern.  Die  Bearbeitung  beider  Probleme muss  dabei  in 

möglichst  widerspruchsloser Weise  vonstatten  gehen.  Insofern  der 

Staat  nämlich  ständig  bestrebt  ist,  zwischen  den widersprüchlichen 

Logiken von Akkumulation und Legitimation zu vermitteln, geht er 

nur der Aufgabe nach, die ihm sein Eigeninteresse auferlegt: „ein Sys‐

tem von Organisationsmitteln des gesellschaftlichen Lebens zu finden 

und  zu  erhalten,  das widerspruchsfrei  und  bestandsfähig  ist“  (Offe 

1975: 13). 

Diese  theoretische Herangehensweise weist  trotz  ihrer hier nicht  im 

Einzelnen darzustellenden Tiefenschärfe und Aktualität – die gegen‐

wärtige Wirtschaftskrise und der darauf folgende enorme Staatsinter‐

ventionismus belegen dies – eine Fehlstelle auf: In der ursprünglichen 

Theoriekonstruktion  bleibt  die  Frage  nach  den  Naturverhältnissen 

außen vor. Offe richtet sein Augenmerk ausschließlich auf Sozialpoli‐

tik,  sodass  im Folgenden eine Aktualisierung dieses Ansatzes durch 

eine Übertragung seiner Analysen auf den Bereich der Umweltpolitik 

erfolgen soll.  

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Ökologische Krise und Krisenmanagement

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4. Umweltpolitik im kapitalistischen Staat

Die Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse  im Rahmen einer 

kritischen  Staatstheorie  zu  beschreiben,  bedeutet  staatliche Umwelt‐

politik  als  eine  spezifische  Bearbeitungsform  des  strukturellen  Di‐

lemmas  des  demokratisch‐kapitalistischen  Staates  zu  verstehen.  Ba‐

sierend  auf  den  bisherigen  theoretischen  Annäherungen  ist  es  die 

Aufgabe der Umweltpolitik, zwischen den Erfordernissen des Akku‐

mulationsprozesses und den Legitimationsforderungen so zu vermit‐

teln, dass  es nicht  zu  einer Bestandsgefährdung des Gesamtsystems 

kommt. Damit sind die beiden zu Beginn genannten Thesen nunmehr 

explizit  angesprochen: Das  spezifische  Interesse  des  Staates  an  der 

Behandlung der ökologischen Krisentendenzen besteht einerseits da‐

rin, die natürlichen Bedingungen des Kapitalverwertungsprozesses zu 

erhalten,  die  ansonsten  durch  diesen  nicht  berücksichtigt  würden. 

Andererseits  ist  auch den Legitimationsnöten  seitens des  Staates  zu 

begegnen, die durch ökologische Kritik  ausgelöst werden, was v.  a. 

eine Reaktion der Einbeziehung und Vereinnahmung der Kritik, aber 

auch repressive Maßnahmen beinhaltet. 

4.1 Staatliche Umweltpolitik als Bearbeitung des Akkumulati-onsproblems

Oben wurde  schon  auf die  beiden Gesichtspunkte  verwiesen, unter 

denen  der  Staat  als  ein  kapitalistischer  Staat  erscheint: Während  er 

einerseits  a)  durch  die  Bereitstellung  systemfremder  –  d.  h.  nicht‐

kapitalistischer – Organisationsmittel den Bestand des Kapitalverwer‐

tungsprozesses  sichert,  ist  er  andererseits  b)  auf die materiellen Er‐

gebnisse  ebendieses  Prozesses  notwendig  angewiesen,  weil  dieser 

„(und nur er) die materielle Basis seines Wirkens – via Steuerabschöp‐

fung – garantiert“ (Borchert/Lessenich 2006: 13). 

 

a) Der Staat fungiert hinsichtlich institutioneller und infrastruktureller 

Faktoren  als  Unterhalter  der  „Gleisanlagen  des  gesellschaftlichen 

Verkehrs“ (Offe 2006: 128), indem er mit seinen Organisationsmitteln, 

etwa des Rechtes, zwar nicht den materiellen Inhalt gesellschaftlicher 

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Vorgänge bestimmt, aber gewissermaßen ein formales Gerüst schafft. 

In diesem Sinne wird der kapitalistische Staat nicht selbst zum Kapita‐

listen und legt fest, was produziert wird, aber er definiert die system‐

notwendigen Rahmenbedingungen der kapitalistischen Produktions‐

weise,  z.  B.  durch  Eigentumsrecht, Arbeitsmarkt‐  und  Sozialpolitik 

und eben auch Umweltpolitik. Dass es ein Kennzeichen des Kapita‐

lismus darstellt, die Bedingungen, die er voraussetzt, selbst nicht ren‐

tabel schaffen zu können, sondern sie bei  in höchstem Maße egoisti‐

schem  Verhalten  der  einzelnen  Unternehmen  rücksichtslos  zu 

vernutzen, wurde  oben  schon  festgestellt. O’Connor  (1988)  identifi‐

ziert  drei  Kategorien  von  derartigen  notwendigen  „Produktionsbe‐

dingungen“:  die  äußere Umwelt,  die menschliche Arbeitskraft  und 

die  gesellschaftliche  Infrastruktur.  Nahezu  jegliche  Staatstätigkeit 

kann dann  unter der  „Rubrik  ‚Regulation  und Produktion der Pro‐

duktionsbedingungen’  zusammengefasst  werden“  (O’Connor 

1996: 28).  

  Die  Regulation  der  ‚Produktionsbedingung Umwelt’  betrifft 

sowohl die natürlichen Ressourcen, auf die die Produktion angewie‐

sen ist, als auch die Reproduktion der Arbeitskraft, also etwa die Ge‐

sundheit  der Arbeiter/innen. Zwar  ist  es  für  einzelne Unternehmen 

(Einzelkapital) rational, in hohem Maße ausbeuterisch mit diesen Be‐

dingungen  umzugehen,  damit  entsteht  jedoch  ein  Problem  für  das 

Gesamtkapital. Denn unter sich verschlechternden Umweltbedingun‐

gen wird es immer schwieriger – d. h. teurer –, Profite zu erwirtschaf‐

ten, da z. B. Ressourcen knapper werden, die Wasserqualität schlech‐

ter  und die Produktivität der Arbeitskräfte  krankheitsbedingt  sinkt. 

Staatliche Regulierungen der Naturverhältnisse  finden  ihren Beginn 

deshalb schon  in den Gewerbeordnungen des 19. Jahrhunderts (Jäni‐

cke/Kunig/Stitzel  2000:  165),  bevor  sie  als  eigentliche Umweltpolitik 

Ende der 1960er  Jahre  in der Bundesrepublik  implementiert werden. 

Damit  tritt der  zunächst  rein wirtschaftspolitische Charakter  staatli‐

cher Umweltpolitik deutlich hervor,  insofern diese darauf ausgerich‐

tet bleibt, die durch Umweltverschmutzung entstehenden Kosten zu 

minimieren  (Ronge  1972:  834). Auch  auf  europäischer  Ebene  findet 

sich  dieser  ökonomieorientierte  Beginn,  allerdings  in  etwas  anderer 

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Form: Umweltpolitik wurde dort v. a. im Rahmen von Handelspolitik 

definiert,  um  aus  unterschiedlichen  Umweltstandards  resultierende 

Handelshemmnisse  zu  beseitigen  (Knill  2008:  18  f.).  Inwiefern Um‐

weltpolitik  auch  nicht‐produktionsrelevante  Aspekte  aufweist,  ist 

unter dem Gesichtspunkt der Legitimation Gegenstand des nächsten 

Kapitels.  

 

b) Neben diesen restriktiven Aktivitäten seitens des Staates, die eine 

langfristige – bzw., um im Sprachspiel zu bleiben, nachhaltige – Kapi‐

talverwertung  und  Akkumulation  sicherstellen  sollen,  ergibt  sich 

auch die Möglichkeit der direkten Steuerabschöpfung, wie sie  in der 

Bundesrepublik etwa mit dem „Gesetz zum Einstieg  in die ökologi‐

sche  Steuerreform“  vom  24. März  1999  (BGBl.  I,  378)  verabschiedet 

wurde. Nicht nur wurde damit eine zusätzliche Einnahmequelle des 

Staates geschaffen, diese  fügte  sich auch nahtlos  in den Diskurs um 

die Unzulänglichkeit  bisheriger  umweltpolitischer Maßnahmen  ein, 

wie  sie  v.  a.  unter  dem  Stichwort  „Vollzugsdefizit“  (Mayntz  et  al. 

1978)  geführt  wurden.  Als  wesentlich  für  ausbleibende  Erfolge  im 

Umweltschutz galt in diesem Rahmen nicht die Gestalt der bestehen‐

den Gesetze und Verordnungen, sondern deren mangelhafte Umset‐

zung. Die Lösung des Problems wurde darin gesehen nach alternati‐

ven  Steuerungsmöglichkeiten  zu  suchen, was  eine  Entwicklung  hin 

zu ökonomisch ausgerichteten Politikinstrumenten wie eben Steuern 

und  Abgaben  sowie  weicheren  Maßnahmen  wie  Umweltvereinba‐

rungen, Öko‐Auditierung und Umweltzeichen bedeutete. Ziel war es 

somit, das Umweltrecht effektiver zu gestalten, was durch eine Über‐

tragung  der marktförmigen  Kosten‐Nutzen‐Abwägung  auch  in  die 

Sphäre des Rechts erreicht werden sollte (Fisahn 2008). Dieser Wandel 

vom „befehlenden Staat“, der vorrangig über ordnungsrechtliche Ge‐ 

und  Verbote  steuert,  hin  zum  „kooperativen  Staat“,  der  ökonomi‐

schen  Instrumenten hohe Bedeutung beimisst,  tritt  sehr deutlich  im 

Falle  des  globalen  Emissionsrechtehandels  hervor.  Nicht  vergessen 

werden darf an dieser Stelle auch, dass von einem wirklichen  ‚Rück‐

zug’  des  Staates  kaum  zu  sprechen  ist. Denn  gerade  auch  die  Ent‐

scheidung,  im  Zeichen  neoliberaler  Politik  staatliche  Aufgaben  zu 

Page 59: Streit um Materie?

Thomas Barth

58

privatisieren, bleibt letztlich eine staatliche im rechtlich abgesicherten 

Rahmen. 

  Der  Staat  besitzt  also  in  diesem  Sinne  eine  ökonomische 

Schlagseite zugunsten der Bearbeitung der kapitalistischen Erforder‐

nisse, was nicht heißen muss, dass das stets zu Lasten umweltbezoge‐

ner  Forderungen  geht.  Aber  er muss  zusätzlich  die  strukturelle  Be‐

günstigung dieser Erfordernisse und damit auch bestimmter  Interes‐

sen unsichtbar machen, wenn er den Anschein der Neutralität, der  ja 

eine Bedingung seiner demokratischen Herrschaftsausübung ist, wah‐

ren will. Dieser Problemkomplex  liegt  jedoch  thematisch  im Bereich 

der staatlichen Bearbeitung des Legitimationsproblems, dem ich mich 

nun zuwenden werde. 

4.2 Staatliche Umweltpolitik als Bearbeitung des Legitimati-onsproblems

Die ökologischen Forderungen stellen sich als ein Legitimationsproblem 

für den Staat,  insofern dessen Problemlösungskompetenz angesichts 

der dämmernden Krise durch die Ökologiebewegung  in den  1970er 

Jahren massiv in Frage gestellt wurde. So „ging die ökologische Kritik 

[...] mit einer Strukturkritik an Staat und Parteien einher. Charakteris‐

tisch war  eine  antiinstitutionelle  Grundhaltung. Damit  vermischten 

sich zum Teil auch antikapitalistische und antiindustrialistische Posi‐

tionen und begünstigten einen ökologischen Fundamentalismus, der 

für radikale und konfrontative Strategien optierte“ (Rucht 1994: 272). 

„Legitimationsnöte“  bzw.  eine  Tendenz  zur  Legitimationskrise 

scheint  sich  bezüglich  ökologischer  normativer  Forderungen  abzu‐

zeichnen, wenn darunter mit Habermas  verstanden wird, dass  „Er‐

wartungen  entstehen,  die  mit  systemkonformen  Entschädigungen 

nicht befriedigt werden können“ (Habermas 1973: 104). Als Indikator 

hierfür  kann  das  Aufkommen  der  ökologischen  Protestbewegung 

interpretiert werden, also zunächst die Gründung von  lokalen Initia‐

tiven,  dann  die  Radikalisierung  der  Proteste  (z. B.  Startbahn West, 

Anti‐AKW) aber etwa auch die Gründung der GRÜNEN. Auf Legiti‐

mationsnöte weisen diese Entwicklungen insofern hin, als sie sämtlich 

Alternativen zu den etablierten Problemlösungsmöglichkeiten darstel‐

Page 60: Streit um Materie?

Ökologische Krise und Krisenmanagement

59

len.  Indem  sie  diese  als  unzulänglich,  ungerecht,  ungeeignet  und 

überholt ausweisen, fordern sie gleichzeitig zur Veränderung des Be‐

stehenden auf.  

  Für den Staat, der ein  Interesse an sich selbst hat, kommt es 

folglich darauf  an, diese Forderungen  in  systemkonformer Weise  auf‐

zunehmen. Sie müssen also in möglichst widerspruchsloser Weise mit 

den Akkumulationserfordernissen  in Einklang gebracht und demge‐

mäß v. a. befriedet werden. D. h. einerseits müssen die  formulierten 

Ansprüche  in  gewisser Weise  erfüllt  und  andererseits  institutionell 

abgesicherte  Räume  zu  ihrer  friedlichen  Artikulation  bereitgestellt 

werden. Die Erfüllung der ökologischen Forderungen wurde zum ei‐

nen  in  Form  des  Sofortprogramms  Umweltschutz  (1970)  begonnen 

und dann in zahlreichen Gesetzen, allerdings in stark abgeschwächter 

Form, umgesetzt, zumal schon im Zuge der Öl‐ und Wirtschaftskrise 

Mitte  der  1970er  Jahre  eine  „Tempoverlangsamung“  (Jäni‐

cke/Kunig/Stitzel  2000:  34)  in  Sachen Umweltpolitik  zu  beobachten 

war. Zum anderen erfolgte die Erfüllung der Forderungen durch die 

Unterstützung  lokaler  Umweltschutzinitiativen  und  zahlreiche  Ap‐

pelle an das Umweltgewissen  jedes Einzelnen (Ronge 1972: 832). Mit 

diesem Aspekt  ist  auch  die  Bereitstellung  systemkonformer Kanäle 

politischer Willensbildung  bereits  angesprochen,  die  eine  friedliche 

Artikulation gewährleisten soll. Während eine Möglichkeit, die damit 

bezweckte  Entradikalisierung  von  Protestpotential  zu  betreiben,  in 

der Entpolitisierung der umkämpften Fragen besteht,  liegt die andere 

in der produktiven und partizipativen Einbindung der Akteure. „Die 

Strategie der  Individualisierung des Umweltschutzes –  jeder  sein ei‐

gener  Umweltschützer;  Umweltbewußtsein,  Umweltverantwortung, 

Umwelterziehung, Umweltkriminalität  – vollzieht diese Entpolitisie‐

rung“ (Ronge 1972: 845). Die Strategie der Kooperation mit kritischen 

Akteuren  –  Verbandsbeteiligung  im  Bundesnaturschutzgesetz, Um‐

weltorganisationen werden zu gefragten Sachkennern der Administ‐

ration, eine grüne Partei geht ihren Weg durch die Parlamente – voll‐

zieht diese Einbindung.  

  Die  bundesdeutsche Umweltpolitik  kann  in  dieser Hinsicht 

der Bearbeitung der Legitimationsprobleme als  recht erfolgreich gel‐

Page 61: Streit um Materie?

Thomas Barth

60

ten:  In  Bezug  auf  ökologische  Forderungen  ist  keine  Systembedro‐

hung, kaum mehr ein radikales In‐Frage‐Stellen der industrialisierten 

Moderne, zu erkennen, sondern es dominieren systemkonforme, pro‐

duktive Lösungen,  die  dem Modernisierungspfad  folgen.  Lässt  sich 

etwa  die  Frühphase  der  Ökologiebewegung  noch  als  konflikthafte 

Fundamentalopposition  beschreiben,  ist  ab  Mitte  der  1980er  Jahre 

eher von einer kooperativen Mitarbeit zu sprechen, was  jedoch nicht 

bedeuten muss, dass  „Konfrontationsepisoden“  (Kriesi/Guigni  1996) 

v. a. im Bereich von Anti‐AKW‐Protesten verschwunden sind. 

5. Fazit

Ausgehend von krisentheoretischen Überlegungen habe  ich  im Rah‐

men  einer kritischen Staatstheorie versucht, den Charakter der bun‐

desdeutschen  Umweltpolitik  als  eine  Form  der  Regulation  gesell‐

schaftlicher Naturverhältnisse näher zu bestimmen. Ich wählte für die 

Formbestimmung des zu regulierenden Verhältnisses den Begriff der 

ökologischen  Krise,  im  Gegensatz  zu  einer möglichen  Fassung  des 

Gegenstandes als ökologische Probleme oder ökologische Frage. Die 

beiden letzteren Bestimmungen verstellen nämlich m. E. den Blick auf 

die in der gegenwärtigen Gesellschaftsformation systematische – weil 

systemimmanent unausweichlich erfolgende – Erzeugung von ökolo‐

gischen Gefährdungen. 

  Aus der hier eingenommenen Perspektive erscheint die Regu‐

lation  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse  durch  den  Staat  als  eine 

Form  der  Bearbeitung  des  Strukturproblems,  dessen  er  sich  als  ein 

demokratischer und kapitalistischer Staat ausgesetzt sieht. D. h. staat‐

liche Umweltpolitik ist daran orientiert, zwischen den sich widerspre‐

chenden  Erfordernissen  des  Kapitalverwertungsprozesses  einerseits 

und  legitimen  demokratischen  Forderungen  andererseits  eine mög‐

lichst widerspruchsfreie  Regulierungsform  herzustellen  bzw.  zu  er‐

halten.  Indem  diese  beiden  Logiken  den möglichen  Spielraum  der 

umweltpolitischen Staatstätigkeit markieren, werden bestimmte theo‐

retisch vorstellbare Regulierungsformen höchst unwahrscheinlich. So 

sind aufgrund der notwendigen Angewiesenheit des Staates auf die 

Page 62: Streit um Materie?

Ökologische Krise und Krisenmanagement

61

Ergebnisse  des  Kapitalverwertungsprozesses  sowie  auf  bestimmte 

Formen der Zustimmung weder eine umfassende radikal‐ökologische 

Wende  vorstellbar,  noch  ein  umfassender  Rückbau  von  bisherigen 

Errungenschaften des Umweltschutzes. Die gegenwärtige (stets:  libe‐

ral‐demokratische) Gesellschaft befindet sich damit  in einer Art Zwi‐

schenposition, in welcher jenseits systemdestabilisierender Tendenzen 

ein Management der ökologischen Krise betrieben wird. Diese zeich‐

net sich durch zwei grundlegende Eigenschaften aus: Umweltpolitik 

findet erstens in hohem Maße statt, das Problem wird also nicht igno‐

riert; jedoch findet sie zweitens in einer Weise statt – und kann unter 

den angegebenen Bedingungen nur  in dieser Weise  stattfinden –,  in 

der  keine  Lösungen  gefunden  bzw.  implementiert werden  können, 

die  die  grundlegenden  Pfeiler  der  gegenwärtigen wachstums‐  und 

rentabilitätsorientierten  und  damit  notwendig  krisenhaft 

naturvernutzenden Gesellschaftsformation  in Frage stellen. Denn da‐

mit kann sich  trotz der umweltpolitischen Fortschritte  letztlich nicht 

aus dem Zirkel herausbewegt werden, dass Umweltschutzerfolge bei 

„gleichzeitigem  Wirtschaftswachstum  gemindert,  neutralisiert  oder 

gar überkompensiert werden können“ (SRU 2008: 37). 

  Aus  dieser  staatsorientierten  Perspektive  lassen  sich  zwei 

Überlegungen  zum  umfassenderen  Problemkontext  der  Regulation 

und Gestaltung  gesellschaftlicher Naturverhältnisse  anschließen, die 

auch von praktischer politischer Bedeutung sind: In einer ersten, eher 

allgemeinen Hinsicht kann sich zwar der Behauptung angeschlossen 

werden, dass Natur‐Gesellschaft‐Verhältnisse prinzipiell gestalt‐ und 

also veränderbar sind. Doch dabei müssen gleichzeitig die historisch‐

konkreten Grenzen der Gestaltbarkeit im Auge behalten werden, wie 

sie etwa in einer Gesellschaft bestehen, deren politisches Steuerungs‐

system auf kapitalistisches Wachstum strukturell angewiesen ist. Der 

Fokus sollte deshalb  in der Praxis wie auch analytisch darauf gelegt 

werden,  welche  Akteure mit  welchen  Interessen  in  der  staatlichen 

Page 63: Streit um Materie?

Thomas Barth

62

Sphäre um Hegemonie4  ringen und unter welchen Bedingungen  sie 

das tun. Sofern dies nicht aus dem Blick verloren wird, können spezi‐

fische umweltpolitische Entwicklungen,  z. B.  auf  globaler Ebene die 

Regulierungen zur biologischen Vielfalt  (vgl. Brand/Görg 2003) oder 

aktuelle  Klimaschutzvereinbarungen  (vgl.  Altvater/Brunnengräber 

2008),  in  ihrer  dominanten  ökonomischen  Ausrichtung  und  ihren 

problematischen  Konsequenzen  besser  eingeschätzt  werden.  Eine 

zweite, zunächst auf die individuelle Ebene abzielende, also etwa For‐

derungen nach individuell nachhaltigem Konsum betreffende Bemer‐

kung lässt sich ebenfalls anschließen: Zwar sind es letztlich tatsächlich 

die Handlungen und die Orientierungen einzelner Menschen, bspw. 

in Kooperativen  ökologisch  zu wirtschaften, welche  alternative For‐

men gesellschaftlicher Naturverhältnisse praktisch umsetzen. Aber es 

sollte nicht der Eindruck entstehen, die Verlagerung kollektiver Ver‐

antwortung  auf die vielen  einzelnen  ‚widerständigen Willen’  (deren 

‚Korrektur’ z. B. mittels Konsumentenerziehung möglich wäre) sei der 

Weg  zu  einer konfliktfreien Umgestaltung der Gesellschaft. Wie  ich 

oben dargelegt habe, werden mit  solch  einer Politik massive  soziale 

Ungleichheiten in Kauf genommen, denn wenn die Preise wirklich die 

‚ökologische Wahrheit’ sagen, dann sagen sie es den einen deutlicher 

als den anderen. Umweltschützer sind dann v. a. jene, die es sich leis‐

ten können.  

6. Literaturverzeichnis

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Strukturprobleme  des  kapitalistischen  Staates.  Aufsätze  zur 

4   Diese Aspekte standen nicht  im Zentrum dieses Textes, da  ich hier eine Per‐

spektive eingenommen habe, die mehr auf die Struktureigenschaften des Staa‐

tes abzielte. 

Page 64: Streit um Materie?

Ökologische Krise und Krisenmanagement

63

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Thomas Barth

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Page 67: Streit um Materie?

 

 

Page 68: Streit um Materie?

Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum

Karsten Gäbler 

1. Einleitung

Es  ist  ein Gemeinplatz  umweltpolitischen Denkens  geworden,  dass 

die Institution des Eigentums eine Schlüsselkategorie der Bearbeitung 

ökologischer  Probleme  ist. Wo  Eigentumsrechte  nur  unzureichend 

spezifiziert  sind,  so wird  argumentiert,  entstehen Umweltprobleme 

viel  eher als dort, wo  eindeutige Regelungen vorhanden  sind  (Han‐

na/Folke/Mäler  1995: 15). Oder positiv  formuliert: Um Umweltprob‐

leme zu  lösen, bedarf es der Implementation eines geeigneten Eigen‐

tumsregimes. 

  In der Frage danach, welche konkreten Eigentumsformen zur 

Bearbeitung der ökologischen Krise zweckmäßig sind, herrscht jedoch 

Dissens. In der Tradition der ökonomischen Klassik wird das private 

Eigentum  als Garant der Hege und des  gemeindienlichen Einsatzes 

einer (natürlichen) Ressource betont. Andere Argumentationen unter‐

streichen hingegen, dass bestimmte Güter gerade nicht der Verfügung 

Einzelner  unterstehen  dürfen,  sondern  als Gemeingut  demokratisch 

verwaltet  werden  müssen  (vgl.  z. B.  Barnes  2006:  65  ff.;  Gresh 

2006: 106  f.). Beide Ansätze eint der Gedanke, dass ein unregulierter 

Zugang zu wertvollen materiellen und immateriellen Ressourcen (wie 

z. B.  die Atmosphäre,  die Ozeane  oder  die Artenvielfalt)  durch  die 

Einrichtung von Zugangsregeln verhindert werden muss. Gesellschaf‐

ten müssten, so der Tenor der Kritik, ihre gemeinsame Verantwortung 

für Umwelt und Natur  anerkennen und die Ausbeutung der  endli‐

chen Ressourcen stoppen (vgl. ebd.).  

  Eine solche Betrachtung der globalen Ebene des gesellschaftli‐

chen Naturbezugs darf dabei jedoch über eines nicht hinwegtäuschen: 

Page 69: Streit um Materie?

Karsten Gäbler

68

„Umweltprobleme“ entstehen nicht durch Handlungen eines Kollek‐

tivsubjekts  „Gesellschaft“,  sondern  durch Aggregation  sozial  einge‐

betteter  individueller Handlungen. Die ökologische Krise kann  inso‐

fern ebenso etwas mit dem Scheitern globaler Umweltschutzabkom‐

men zu tun haben wie mit der individuellen Entscheidung, ein Eigen‐

heim  zu  erwerben. Auch  im  lokalen Handeln  spielen Eigentumsbe‐

ziehungen eine elementare Rolle. Blomley (2003: 131) etwa konstatiert: 

„The environment of  the everyday  is, of course, propertied, divided 

into both thine and mine and more generally  into public and private 

domains, all of which depend upon and presuppose  the  internaliza‐

tion  of  subtle  and  diverse  property  rules  that  enjoin  comportment, 

movement,  and  action.” Welche Handlungsspielräume  im Umgang 

mit materiellen Ressourcen, mit dem, was wir „Natur“ nennen, vor‐

handen  sind, hängt also ganz wesentlich von den  etablierten Eigen‐

tumsverhältnissen ab. 

  Die Verbindung  von  Fragen  des  gesellschaftlichen Naturbe‐

zugs mit Fragen der Eigentumsverhältnisse scheint naheliegend. Als 

eine  fundamentale  soziale  Institution  kann  Eigentum  einen  sowohl 

theoriebezogenen  als  auch  empirischen  Ansatzpunkt  zur  Analyse 

gesellschaftlicher Naturverhältnisse  liefern. Die Eigentumsforschung 

bewegt sich dabei – notwendigerweise – an der Schnittstelle zwischen 

Rechts‐, Wirtschafts‐ und Sozialwissenschaften.  

  Im Zentrum  dieses  Beitrages  steht  die  Frage  nach  der  Leis‐

tungsfähigkeit  einer  eigentumstheoretischen  Betrachtung  der  gesell‐

schaftlichen  Naturverhältnisse. Welche  Sachverhalte  werden  durch 

eine  Fokussierung  des  Eigentums  und  der  Eigentumsverhältnisse 

sichtbar gemacht? Und darauf aufbauend: Welche Möglichkeiten der 

Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum bzw. 

die Eigentumsordnung bestehen? Welche Gestaltungsspielräume sind 

im Hinblick auf Eigentum und Natur bzw. Umwelt vorhanden?  

  In einem ersten Schritt werden die juristischen und sozialwis‐

senschaftlichen Grundbestimmungen des Eigentums dargestellt. Die 

Leitfragen sind: Was ist Eigentum? Welche soziale Funktion erfüllt es? 

Welche Formen sind etabliert und welche normativen Vorstellungen 

sind in der Eigentumsordnung aufgehoben?  

Page 70: Streit um Materie?

Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum

69

  In einem zweiten Schritt werden die Möglichkeiten der Regu‐

lation  gesellschaftlicher Naturverhältnisse  durch  Eigentum  themati‐

siert. In welchem Verhältnis stehen Zugangsregeln zu einem Gut und 

das  Konzept  der  gesellschaftlichen Naturverhältnisse? Welcher  Ge‐

staltungsspielraum ergibt sich für den Gesetzgeber und den Bürger in 

Bezug auf eigentumsförmig geregelten Naturbezug? Am Beispiel der 

Gemeingutdebatte  wird  in  diesem  Zusammenhang  diskutiert,  mit 

welchen Schwierigkeiten das umweltpolitische Instrument der Verfü‐

gungsrechte konfrontiert ist. 

2. Bestimmungen des Eigentums

Eigentum  gehört  zu  den  fundamentalen  Institutionen  von  Gesell‐

schaften – gleich, ob es sich dabei um die antike Polis, die mittelalter‐

liche  Feudalgesellschaft  oder  um  spätmoderne,  marktwirtschaftlich 

organisierte  Gesellschaften  handelt.  Vorstellungen  von  eigentums‐

förmiger Bezugnahme zu Sachen sind  in nahezu allen sozialen Ord‐

nungssystemen  aufgehoben,  von  religiösen  Konzepten  bis  hin  zu 

rechtlichen Kodifizierungen. So etwa wird im Dekalog das Eigentum 

durch das Verbot des Diebstahls  geschützt  (siebtes Gebot), und die 

Gewährung  von  Eigentumsrechten  ist  in  den Verfassungen  zahlrei‐

cher Staaten als Grundrecht enthalten.  1 Die  für die soziale Wirklich‐

keit  folgenreichsten  Bestimmungen  des  Eigentums  finden  sich  im 

Rechtssystem. 

2.1 Eigentum im juristischen Sinn2

Im  juristischen Sinn können zwei Auffassungen von Eigentum diffe‐

renziert werden: einerseits die Vorstellung, beim Eigentum handele es 

1   Das deutsche Grundgesetz formuliert hierzu: „Das Eigentum und das Erbrecht 

werden  gewährleistet“  (Art.  14  GG).  Ebenso  die  Bundesverfassung  der 

Schweizerischen Eidgenossenschaft: „Das Eigentum ist gewährleistet“ (Art. 26 

BV). 2   Die  im Folgenden diskutierten konkreten Rechtsbestimmungen beziehen sich 

ausschließlich auf den deutschen Kontext  (Bürgerliches Gesetzbuch BGB und 

Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland GG). 

Page 71: Streit um Materie?

Karsten Gäbler

70

sich um die „Herrschaftsbeziehung“ zwischen einer Person und einer 

Sache;  andererseits die  Idee, Eigentum  sei  eine Beziehung  zwischen 

Personen, ein „Rechtebündel“ (Stepanians 2005: 232 f.). 

  Die  erste  Position  hebt  hervor,  dass  Eigentum  sich  auf  ein 

konkretes Objekt bezieht. Sie ähnelt damit der Alltagssemantik vom 

Eigentum, die  sich etwa  in Aussagen wie „Dieses Haus  ist mein Ei‐

gentum“  widerspiegelt  und  eine  Identifikation  von  Eigentum  und 

Gegenstand  des  Rechtstitels  vornimmt.  Kritiker  dieser  Auffassung 

wenden oft ein, sie  ignoriere den sozialen Charakter des Rechts und 

blende  aus,  dass  Eigentum  nur  als  Recht  gegenüber  einer  anderen 

Person  verstanden werden  kann.  Eigentum müsse  folglich  als  eine 

Beziehung  zwischen  Personen  aufgefasst  werden,  deren Wesen  in 

dem Recht bestehe, im Gegensatz zu anderen Personen über eine Sa‐

che verfügen zu können und sich – zumindest im formalen Sinn – der 

Zustimmung der Rechtsgemeinschaft zu dieser Verfügung sicher sein 

zu können.  

  Wie die Verfügungsmacht ausgefüllt werden kann, hängt von 

den  konkreten  rechtlichen  Bestimmungen  ab.  In  der  Regel  umfasst 

das Eigentumsrecht jedoch die Rechte des „Gebrauchs“ (ius usus), der 

„Nutzung“  (ius  usus  fructus),  der  „Veränderung“  (ius  abusus)  und 

der „Veräußerung“ (ius successionis) (Ullrich 2004: 106). 

  Auch wenn die Figur des Eigentums als Bündel von Rechten 

heute als Standardauffassung gilt (vgl. Siegrist 2006: 24 f.), haben bei‐

de  Interpretationen  in  den  Formulierungen  der  deutschen  Gesetz‐

gebung Spuren hinterlassen. So bestimmt das Bürgerliche Gesetzbuch: 

„Der  Eigentümer  einer  Sache  kann,  soweit  nicht  das  Gesetz  oder 

Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren 

und andere von jeder Einwirkung ausschließen […]“ (§ 903 BGB). Der 

Passus  der  Beliebigkeit  hebt  die  Herrschaftsbeziehung  hervor;  die 

Betonung des Gesetzes, der Rechtsansprüche Anderer und der Aus‐

schlusscharakter  des  Eigentums  unterstreichen  die  Sozialität  des 

Rechts. Eigentum kann  in diesem Sinne als Recht an einer Sache ge‐

genüber einer (oder mehreren) Person(en) verstanden werden. 

  Bereits  in  diesen  grundlegenden  rechtlichen  Bestimmungen 

des Eigentums ist also auf dessen sozialen Charakter hingewiesen. In 

Page 72: Streit um Materie?

Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum

71

einem  folgenden Schritt muss nun geklärt werden, worin die soziale 

Funktion des Eigentums genauer besteht. 

2.2 Soziale Funktionen des Eigentums

In sozialtheoretischer Hinsicht ist Eigentum, ganz allgemein, als Ver‐

ständigung über bestimmte Handlungsweisen aufzufassen. Es  regelt 

den Umgang mit materiellen und  immateriellen Objekten und bietet 

in Situationen konfligierender Interessen Entscheidungsregeln an (vgl. 

Demsetz 1967: 347  ff.; Siegrist 2006: 9). Soziale Beziehungen werden 

qua Eigentum dauerhaft koordiniert, Eigentumsrechte „standardisie‐

ren“ Handlungsmöglichkeiten von Akteuren (vgl. Siegrist 2006: 22).  

  Während  Eigentum  in  dieser  Hinsicht  eine  ermöglichende 

Funktion  für  die  Individuen  besitzt  und  Handeln  anschlussfähig 

macht, wirkt es im selben Zug auch einschränkend. Einerseits begrenzt 

die  Notwendigkeit  der  Achtung  der  Eigentumsansprüche  Anderer 

das eigene Handeln. Andererseits bedeutet das Innehaben von Eigen‐

tum auch, dass der Eigentümer/die Eigentümerin verantwortlich  für 

eine Sache  ist. Das Eigentum erlaubt also die Zuordnung der positi‐

ven wie negativen Erträge einer Sache zum Eigentümer/zur Eigentü‐

merin.3  

  Über  die  Koordination  individueller  Handlungen  sind  im 

Eigentum  schließlich  auch  gesellschaftliche Ordnung  und Dynamik 

begründet. Markt‐  und Tauschbeziehungen  z. B.  formieren  sich  erst 

auf  Grundlage  einer  Eigentumsordnung.  Erst wenn  es möglich  ist, 

Sachen exklusiv  in den eigenen Verfügungsbereich zu bringen  (d. h. 

hergestellte oder erworbene Dinge auch zu  ‚behalten‘),  sind Tausch‐

handel und Sparen sinnvolle Tätigkeiten. Denn was  in der ökonomi‐

schen Praxis letztlich bewertet, akkumuliert und getauscht wird, sind 

nicht Sachen im engeren Sinne, sondern Verfügungsrechte an Sachen 

(vgl.  Baecker  2006:  53).  Im  institutionalisierten  Tausch  werden  die 

Handlungsoptionen der  Individuen  schließlich entpersonalisiert und 

das Handeln über Distanz wird ermöglicht. Dies ist die Grundlage der 

3   Dieser  Gedanke  wird  in  der  (institutionen)ökonomischen  Terminologie  als 

Internalisierung externer Effekte beschrieben (vgl. Coase 1960). 

Page 73: Streit um Materie?

Karsten Gäbler

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arbeitsteiligen  Gesellschaft  (vgl.  Engels  1962  [1884]:  110;  Baecker 

2006: 53; Sturn 1998: 213 ff.). 

  Um  die  Reichweite  der  sozialen  Funktionen  des  Eigentums 

hervorzuheben, gilt es in einem nächsten Schritt dessen Erscheinungs‐

formen zu beschreiben. Die bisherigen Ausführungen haben unter der 

Hand  bereits  einen  bestimmten  Typus  als  Standardauffassung  des 

Eigentums eingeführt: das  individuelle Privateigentum. Es könnte so 

der  Eindruck  entstehen,  individuelles  Privateigentum  sei  Eigentum 

überhaupt.  Welche  sozialen  Funktionen  Eigentum  jedoch  konkret 

erfüllen kann,  ist  in ganz wesentlichem Maße davon abhängig, wel‐

cher Art der Träger des Eigentumsrechtes  ist  (eine Einzelperson, ein 

Unternehmen, der Staat etc.) und wie die Zugangsregelungen zu ei‐

nem Gut zustande kommen. 

2.3 Formen der Eigentumsbeziehung

Idealtypisch  lassen  sich  vier  Eigentumsformen  unterscheiden:  das 

Privateigentum,  das  Gemeineigentum,  das  Staatseigentum  und  das 

Eigentum jedermanns (vgl. Acheson u. a. 1998: 79 ff.). 

  Das  Privateigentum  stellt  die  Zuordnung  von  Zugangs‐  und 

Nutzungsrechten zu einer einzelnen privaten oder juristischen Person 

dar. Die Exklusivität der Verfügungsmacht  ist  beim Privateigentum 

im stärksten Maße verwirklicht und wird mit der Kodifizierung priva‐

ter Eigentumsrechte durch den  Staat unterstützt. Der Privateigentü‐

mer/die Privateigentümerin bestimmt nach eigenem Belieben über die 

Verwendung des Gutes.  

  Beim Gemeineigentum untersteht das Zugriffsrecht auf die Sa‐

che einer mehr oder weniger klar definierten Gruppe von Personen. 

Die Nutzungsregelungen  entstehen  durch  gruppeninterne  Überein‐

kunft. Im Unterschied zum Privateigentum besteht hier in jedem Falle 

die Notwendigkeit der (gruppeninternen) Koordination der Nutzung. 

  Im Falle des Staatseigentums ist eine Regierung – im Selbstver‐

ständnis des demokratischen Staats:  stellvertretend  für die Bürger  – 

Träger des Eigentumsrechts  an der  Sache. Die Nutzungsregelungen 

müssen durch Gesetze bzw. politische Verfahren  legitimiert  sein.  In 

Page 74: Streit um Materie?

Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum

73

der  Regel  soll  das  Staatseigentum  dabei  eine  Gemeinwohlfunktion 

erfüllen.  

  Das Eigentum jedermanns schließlich bezeichnet eine Situation, 

in der es keine festgelegten Nutzungsrechte für eine Sache gibt, da ein 

exklusiver  Zugang  zu  einem Gut  nicht  oder  nur  unter  sehr  hohen 

Kosten möglich  ist. Dieses  Bezugsverhältnis wird  deshalb  auch  als 

‚offener Zugang’ (open access) zu einem Gut charakterisiert. Im enge‐

ren Sinne  ist dies natürlich nicht als Eigentumssituation zu bezeich‐

nen,  sondern gerade  als Fehlen  einer  Institution Eigentum; dement‐

sprechend bestehen auch keine expliziten Nutzungsregelungen. 

  Die Klassifikation dieser vier bereits  im  römischen Recht be‐

kannten Eigentumsformen suggeriert auf den ersten Blick Eindeutig‐

keit.  Die  Kriterien  der  Abgrenzung  von  Eigentumsformen  können 

jedoch  je nach Argumentationskontext und Erkenntnisinteresse vari‐

ieren,  sodass  andere  Taxonomien  zustande  kommen. Während  die 

dargestellte  Klassifikation  auf  die  Kriterien  der  Größe  der Nutzer‐

gruppe  sowie die Etablierung der Nutzungsregelungen  zurückgeht, 

heben andere Klassifikationen die Dichotomie zwischen öffentlichem 

und privatem, zwischen individuellem und gemeinschaftlichem oder 

aber  zwischen  stark  und  schwach  definiertem  Eigentum  hervor.  Je 

nach  Unterscheidungskriterium  werden  dabei  unterschiedliche  As‐

pekte der Eigentumsbeziehung betont.4  

  Wird z. B. die Unterscheidung zwischen öffentlichem (im Sinne 

von  staatlichem,  öffentlich‐rechtlichem)  und  privatem  (zivilrechtli‐

chem)  Eigentum  hervorgehoben,  steht  dem  Staatseigentum  auf  der 

einen Seite das individuelle Privateigentum sowie das gemeinschaftli‐

che  Privateigentum  einer  Eigentümergruppe  auf  der  anderen  Seite 

gegenüber. Gemeineigentum  im obigen Sinne würde  in dieser Kate‐

gorisierung als Privateigentum mehrerer Personen aufgefasst werden. 

Die Unterscheidung öffentlich/privat betont die besondere Rolle der 

Gesetze, geschwächt wird dagegen die Differenzierung von individu‐

ellen und kollektiven Entscheidungsfindungen. 

4   Die dadurch  entstehende Pluralität macht  eine  sorgfältige  Identifikation der 

entsprechenden Leitunterscheidungen notwendig. 

Page 75: Streit um Materie?

Karsten Gäbler

74

  Unterscheidet man zwischen  individuellem und gemeinschaftli‐

chem Eigentum,  so  besteht  eine Dichotomie  zwischen  individuellem 

Privateigentum und Gemein‐ bzw. Staatseigentum. Staatseigentum im 

Verständnis der vier  Idealtypen wäre  in diesem Sinne  (nur) ein Son‐

derfall des Gemeineigentums, in welchem die Eigentümergruppe mit 

den Bürgern des  Staates  identisch  ist. Das Erkenntnisinteresse  einer 

solchen  Kategorisierung  steht  der  öffentlich/privat‐Dichotomie  dia‐

metral gegenüber: Das Erkenntnispotenzial  liegt  im Vergleich  indivi‐

dueller  Entscheidungen  und  kollektiver  Koordinationsprozesse,  der 

blinde Fleck ist die besondere Rolle der staatlichen Legitimationsver‐

fahren. 

  Wird  zwischen  definierten  und  undefinierten  Eigentumsver‐

hältnissen  differenziert,  stehen  dem  Eigentum  jedermanns  die  drei 

anderen Eigentumsformen gegenüber. Der Gewinn einer solchen Ge‐

genüberstellung  liegt  in  einer  Spezifizierung  der  allgemeinen  Leis‐

tungsfähigkeit  von  Eigentumsrechten.  Verloren  geht  hingegen  die 

Unterscheidung spezifischer Eigentumsregimes und ihrer Potenziale. 

  Bereits im kursorischen Überblick über diese Vielfalt von Un‐

terscheidungsmerkmalen deutet sich an, wo die Grenzen einer Klassi‐

fikation  idealtypischer  Eigentumsregimes  liegen: Weder  herrscht  in 

der theoretischen Auseinandersetzung begriffliche Schärfe und Einig‐

keit,  noch  entspricht  den  Eigentumsregimes  in  der  Praxis  in  jedem 

Falle  ein  konkretes Äquivalent.5  Typisierungen wie das  aufgeführte 

Tableau der vier Eigentumsformen haben demzufolge eher den Cha‐

rakter eines analytischen Werkzeuges. Sie sind geeignet, Phänomene 

des Bezugs  zu materiellen und  immateriellen Objekten  aufzuschlüs‐

seln, bedürfen  jedoch  im konkreten Fall  einer Präzisierung bzw. Er‐

weiterung. Die  vorgeschlagene Unterscheidung  in  Privat‐, Gemein‐, 

Staatseigentum und Eigentum  jedermanns schließt an die etablierten 

umweltökonomischen Debatten  (z. B.  bei Ostrom  1998; Hanna  u.  a. 

1996; Acheson u.  a.  1998)  an.  Sie  gibt damit  einen Hinweis  auf das 

Erkenntnisinteresse  dieser  Diskurse:  Einerseits  sollen  die  Spezifika 

5   Diesem Phänomen wird  z. B.  in der Unterscheidung von Umständen  de  jure 

und de facto Rechnung getragen. 

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Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum

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individueller und kollektiver Verfügungsrechte herausgestellt werden 

(d.  h.  die  Unterschiede  privater  und  öffentlicher  Güterbewirtschaf‐

tung), andererseits sollen auch die Differenzen staatlicher und nicht‐

staatlicher  Regulation  reflektiert  werden  (indirekte,  formale  Nut‐

zungsregulation gegenüber direkter Übereinkunft). 

2.4 Gütereigenschaften, Wertvorstellungen und Typen von Eigentum

Mit den bisherigen Ausführungen ist vor allem der soziale, sinnhafte 

Aspekt  der  Eigentumsbeziehung  in  den  Blick  genommen  worden. 

Diese  Fokussierung  könnte  leicht  dazu  verleiten  anzunehmen,  die 

objekthafte Seite des Eigentums spiele eine untergeordnete Rolle, oder 

anders: Eigentumsregimes  ließen sich umstandslos auf  jeden Objekt‐

typus anwenden. Gegen eine solche Annahme sprechen jedoch schon 

einfache  empirische  Beobachtungen.  In  der  Eigentumspraxis  kann 

z. B.  oft  beobachtet werden,  dass  bestimmte  Typen  von  Sachen mit 

typischen Eigentumsformen assoziiert sind. Kaum regulierbare Hoch‐

seegebiete etwa sind – in der Diktion der vier Idealtypen – Eigentum 

jedermanns. Kühlschränke  und  PKW  hingegen  sind meist  Privatei‐

gentum. Diese Verknüpfung scheint auf zwei Gründe zurückführbar 

zu sein. Einerseits scheint sie etwas mit den materiellen Eigenschaften 

des Gegenstands zu  tun zu haben  (bzw. mit den zur Verfügung ste‐

henden  technischen Möglichkeiten der Zugangsregulation), anderer‐

seits mit  der  normativen,  oft  gesellschaftstheoretisch  begründbaren 

Bevorzugung einer bestimmten Eigentumsform.  

  Zunächst  zur  Frage  danach,  welche  Eigenschaften  Objekte 

von  Eigentumsbeziehungen  haben  können.  Die  Schlüsselkategorien 

sind dabei Mobilität und Materialität und daraus folgend Exklusivität 

und Rivalität der Nutzung. Ein Gut  kann  z. B. materiell  und mobil 

sein  (wie etwa eine Packung Milch), es kann materiell und  immobil 

sein  (wie  ein  Stück  Land),  immateriell  und mobil  (z. B.  ein Musik‐

stück) usw. (vgl. Gill 2005: 1). Daraus folgend kann das Eigentum zu 

unterschiedlichen Graden exklusiv sein, d. h. es kann  in verschiede‐

nem Maße möglich sein, jemanden vom Gebrauch einer Sache auszu‐

schließen.  Es  ist  z. B. möglich,  eine  Person  von  der Nutzung  eines 

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Karsten Gäbler

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Grundstückes auszuschließen, aber es ist unter der gegebenen Werte‐

ordnung nicht möglich,  jemanden  legal vom Gebrauch der Atemluft 

zu exkludieren. Weiterhin kann auch das Maß der Nutzungsrivalität 

einer  Sache  variieren. Darunter wird  verstanden,  in welchem Maße 

der Konsum eines Nutzers/einer Nutzerin gleichzeitig den potenziel‐

len  Konsum  eines  anderen  Nutzers/einer  anderen  Nutzerin  ein‐

schränkt. Ein einmal verzehrter Apfel kann nicht mehr von Anderen 

genutzt  werden,  das  Signal  einer  Rundfunkanstalt  hingegen  kann 

gleichzeitig vielen Nutzern dienen  (vgl. Buck  1998:  4; Acheson u. a. 

1998: 79 ff.). 

  Welche Affinitäten von Eigenschaftsbündeln und Eigentums‐

formen  lassen  sich  nun  empirisch  beobachten?  Zwei  Beispiele  zur 

Illustration: Güter, die ein hohes Maß an Exklusivität aufweisen sowie 

der Rivalität der Nutzung unterliegen (etwa alltägliche Verbrauchsgü‐

ter), sind oft Gegenstand privater Eigentumsverhältnisse. Der Zugang 

zu nicht‐rivalen Gütern hingegen, bei denen keine starke Exklusivität 

vorliegt bzw. keine effektive Verfügungsmöglichkeit besteht (z. B. die 

Sonneneinstrahlung), ist nicht verfügungsrechtlich reguliert – sie sind 

Eigentum jedermanns bzw. ein globales Gemeingut. 

  Unabhängig von der eigenschaftsbedingten Verknüpfung von 

Eigentumsregimes  kann  es  aber  auch  gesellschaftlich  sehr  genaue 

Vorstellungen  davon  geben,  was  Gegenstand  von  Eigentumsbezie‐

hungen sein sollte und welche Akteure Träger von Eigentumsrechten 

sein können. So etwa  ist das Gemeineigentum oder das Staatseigen‐

tum an einer Sache Ausdruck der Überzeugung, dass die Sache nicht 

in  der  Verfügungsgewalt  Einzelner  oder  der  (unbegrenzten) Allge‐

meinheit  stehen  sollte.  Diese Wertvorstellungen  werden  meist  nur 

dann bewusst, wenn eine Transformation des Eigentumsregimes vor‐

genommen wird – und damit eine oft nicht gemeinsam geteilte Ver‐

änderung der Bewertung einer Sache erfolgt. Beispiele dafür sind et‐

wa  die  in  unterschiedlichen  ökonomischen  und  sozial‐politischen 

Lagen geäußerten Privatisierungs‐ bzw. Verstaatlichungsforderungen 

in Bezug auf bestimmte Güter.  

  Die skizzierte Affinität von Gütertypen und Eigentumsformen 

zeigt schon an der Oberfläche, dass die Gestaltung der Eigentumsbe‐

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Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum

77

ziehung keineswegs beliebig ist. Bestimmte Eigentumsformen werden 

gesellschaftlich präferiert, andere eher vermieden. Diese Präferenzen 

können  bis  in  die  verfassungsrechtlichen Grundlagen  verfolgt wer‐

den.  

2.5 Der indirekte verfassungsrechtliche Vorrang des Privat-eigentums

In der rechtlichen Grundarchitektur des demokratisch‐liberalen Staats 

ist  eine  Präferenz  des  Privateigentums  zu  beobachten  (vgl. 

Depenheuer  2002:  114). Wenn  der  Verfassungsgeber  das  Eigentum 

gewährleistet, so meint er damit Privateigentum. Privateigentum steht 

für  den  Verfassungsgeber  im  Gegensatz  zu  anderen  Eigentumsfor‐

men, die an einem öffentlichen Interesse orientiert sind. Deutlich wird 

dieser  Zusammenhang mit  Blick  auf  die  Einschränkung  der  Eigen‐

tumsgewährleistung:  „Eine  Enteignung  ist  nur  zum Wohle  der All‐

gemeinheit  zulässig.  […] Die Entschädigung  ist unter gerechter Ab‐

wägung der  Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu be‐

stimmen […]“ (Art. 14 (3) GG). Grundlage der Enteignungsoption des 

Staates  ist  die  so  genannte  „Sozialbindung“  des  Eigentums 

(Depenheuer 2002: 114). Diese  ist  im Gesetzestext  in der Formel „Ei‐

gentum verpflichtet“ (Art. 14 (2) GG) sowie dem Hinweis, dass Eigen‐

tum  dem Wohle  der Allgemeinheit  zu  dienen  habe,  untergebracht. 

Die Sozialbindung  ist auch Basis der  in Art. 15 GG ermöglichten So‐

zialisierungsoption des Staates: „Grund und Boden, Naturschätze und 

Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch 

ein Gesetz,  das Art  und Ausmaß  der  Entschädigung  regelt,  in Ge‐

meineigentum  oder  in  andere  Formen  der  Gemeinwirtschaft  über‐

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führt werden.“6 Der Staat hat demnach die Auflage, Eingriffe in das in 

Art. 14  (1) GG gewährte Eigentumsrecht zu begründen. Privateigen‐

tum hingegen ist ohne Begründungspflicht durch die Verfassung und 

die Gesetze  legitimiert  (vgl. Depenheuer  2002:  114). Diese  implizite 

Priorisierung des Privateigentums darf  in  ihrer Wirkung nicht unter‐

schätzt  werden.  Privateigentumsvorrang  affirmiert  die  freiheitser‐

möglichenden  sozialen Funktionen und  legt eine wesentlich auf Pri‐

vateigentum basierende wirtschaftliche und soziale Ordnung – mit all 

ihren Folgen – nahe. Die Hürde, die der Verfassungsgeber zum Ein‐

griff in das private Eigentum setzt, ist hoch. Der Staat muss im Einzel‐

fall zwischen  individuellem und kollektivem  Interesse abwägen. Be‐

sonders in Bezug auf ökologische Problemlagen könnte die Durchset‐

zung der Gemeinwohlorientierung jedoch an Gewicht gewinnen, und 

zwar dann, wenn der verfassungsrechtliche Auftrag zum „Schutz der 

natürlichen Lebensgrundlagen“ (Art. 20a GG) mit der Sozialpflichtig‐

keit des Eigentums in Beziehung gesetzt wird (vgl. Stober 1996: 212). 

Sozialpflichtigkeit des Eigentums bestünde dann auch in einem ‚öko‐

logisch sinnvollen’ Umgang mit Umweltgütern. 

2.6 Gestaltung der Eigentumsbeziehung

Gerade der letztgenannte Aspekt der Eingriffsmöglichkeit des Staates 

in  das  private  Eigentum  verweist  auf  eine  Lücke  in  der  bisherigen 

Darstellung: Wurden der  formale Rahmen des Eigentums sowie –  in 

eher  (sozial)theoretischer Perspektive –  seine Funktionen dargestellt, 

6   Wenn der Verfassungsgeber hier etwas diffus von Gemeineigentum spricht, so 

hat er damit zunächst einmal die Sicherung der Gemeinwohlfunktion des Ei‐

gentums und weniger eine konkrete Eigentumsform  im Blick  (vgl. Frotscher/ 

Kramer 2008: 70; Stober 1996: 213). Das bedeutet, die Form der Gemeinwirt‐

schaft bleibt in Art. 15 GG unbestimmt, es können damit sowohl (private) ge‐

nossenschaftliche Organisationsformen als auch die Überführung  in Staatsei‐

gentum gemeint sein  (vgl. Frotscher/Kramer 2008: 70). Diese Unbestimmtheit 

des Gemeinwirtschaftsbegriffs  scheint  vor  allem  ein  Resultat  der  bisherigen 

praktischen Bedeutungslosigkeit des Artikels  15 GG  zu  sein, der bislang nie 

zur  Anwendung  gekommen  und  damit  weiter  präzisiert  worden  ist  (vgl. 

ebd.: 68). 

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Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum

79

so blieb bislang weitestgehend  ausgeklammert, dass die Eigentums‐

beziehung in der Praxis ausgefüllt werden muss. Die Frage nach die‐

ser Konkretisierung  lässt  sich  in  zwei verschiedenen Hinsichten be‐

greifen. Einerseits kann man darunter verstehen, welche Optionen der 

Staat hat, den Bezug von Eigentümern/Eigentümerinnen und Sachen 

zu regulieren. Andererseits lässt sich aber auch fragen, welche Gestal‐

tungsmöglichkeiten der Eigentümer/die Eigentümerin  hat.  In Bezug 

auf die erste Fragerichtung sind drei Ansatzpunkte denkbar. 

  Die  erste  und  grundlegende Möglichkeit der Gestaltung des 

Eigentums ist die Definition des Objektbereichs, auf den sich (private) 

Eigentumsbeziehungen  erstrecken. Damit  ist  die  Frage  gemeint,  an 

welchen  Dingen  der Welt  rechtmäßig  Eigentum  erworben  werden 

kann.  Im Allgemeinen  bezieht  sich die deutsche Gesetzgebung  hin‐

sichtlich des Eigentums auf Sachen, d. h. es kann z. B. kein Eigentum 

an Personen erworben werden. Eine Ausnahme des Sachbezugs stel‐

len die staatseigenen „öffentlichen Sachen“ dar, bei denen ein anderer 

Sachenbegriff  als  derjenige  des  bürgerlichen  Rechts  zum  Tragen 

kommt  (vgl. Papier  1998:  2).7 Der Ausschluss  von Dingen  aus  dem 

Zugriffsbereich des Eigentums muss nicht bedeuten, dass der Gesetz‐

geber keinen Einfluss auf den Umgang mit diesen Dingen hätte – nur 

erfolgt dieser Einfluss eben nicht eigentumsförmig. 

  Als zweite Option besitzt der Gesetzgeber die Möglichkeit,  in 

bestimmten Fällen über die Art des Trägers von Eigentumsrechten an 

bestimmten Sachen  zu verfügen. Während  im Standardfall  eine Pri‐

vatperson Träger des Eigentumsrechts ist, kann unter den bereits ge‐

nannten  besonderen Bedingungen  (und  auf  gesetzlicher Grundlage) 

eine  Überführung  in  Formen  des  Gemeineigentums  vorgenommen 

werden. Neben  diesen  juristischen Mitteln  kann  der  Staat  natürlich 

7   Öffentliche  Sachen  müssen  etwa  keine  Körperlichkeit  (wie  die  Sachen  des 

bürgerlichen  Rechts)  aufweisen, was  es  erlaubt,  z. B.  die  Atmosphäre  oder 

Elektrizität als öffentliche Sachen zu klassifizieren (vgl. Papier 1998: 2). Mit der 

Klassifizierung  als  öffentliche  Sache  ist  auch  eine  „öffentliche Zweckbestim‐

mung“  impliziert. Öffentliche Güter wie Straßen, Wasserwege, der Luftraum 

oder Versorgungseinrichtungen haben  in diesem Sinne dem Gemeinwohl zu 

dienen (ebd.). 

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80

auch  als wirtschaftlicher Akteur  auftreten und Eigentumsrechte von 

Privateigentümern/Privateigentümerinnen  erwerben.  Dies  ist  etwa 

der Fall, wenn der Staat – zu den Bedingungen des Marktes – Eigen‐

tum  an Gütern  erwirbt. Mit  beiden Mitteln  verändert  der  Staat  die 

Eigentumsverhältnisse und bringt Güter in seinen Verfügungsbereich. 

  Die dritte Möglichkeit der Gestaltung des Eigentums besteht 

schließlich  in seiner Einschränkung durch Gesetze  (z. B.  im Umwelt‐ 

oder Denkmalschutz). Hier kann, auf den konkreten Kontext bezogen, 

eine Einschränkung der Verfügungsmacht  an  Sachen vorgenommen 

werden. 

  Auf der anderen Seite hat auch der Eigentümer/die Eigentü‐

merin einer Sache Möglichkeiten, das Eigentumsverhältnis zu gestal‐

ten. Legt man die Definition des Eigentums als Bündel von Rechten 

zugrunde, so kann er zunächst einmal von diesen Rechten Gebrauch 

machen.  Im  einfachsten Fall nutzt der Eigentümer/die Eigentümerin 

selbst die Sache. Er hat jedoch auch die Möglichkeit, das Rechtebündel 

„aufzuspalten“  (Engel  2002:  82). Das  bedeutet,  es werden  nur Teile 

der  im Eigentum enthaltenen Rechte übertragen, das Veräußerungs‐

recht  z. B.  bleibt  beim  Eigentümer/der  Eigentümerin  (vgl.  Schla‐

ger/Ostrom 1992). Ein klassisches Beispiel dafür  ist das Mietverhält‐

nis. Der Eigentümer/die Eigentümerin  eines Hauses kann dem Mie‐

ter/der Mieterin das Nutzungsrecht  für eine bestimmte Zeit vertrag‐

lich überlassen. Nicht  aber kann der Mieter/die Mieterin das Eigen‐

tum  an  dem  Haus  rechtswirksam  übertragen.  Zudem  können  be‐

stimmte  Einschränkungen  der Nutzung  vertraglich  vereinbart wer‐

den.  

  Neben  diesen  formal‐rechtlichen Gestaltungsoptionen  beste‐

hen  in der Eigentumspraxis natürlich auch vielfältige Formen nicht‐

juristisch kodifizierter Verfügungsrechte. Gewohnheitsrechtliche Nut‐

zungsregelungen  etwa  können  sehr  effektive  Handlungs‐

koordinationen darstellen, die oft nur dann reflektiert und als Quasi‐

Eigentum betrachtet werden, wenn es zu Interessenkonflikten kommt. 

Die  idealtypischen  Eigentumsformen  können  in  der  Praxis  zudem 

modifiziert werden,  indem  etwa Mischformen  von  (gemeinschaftli‐

chen)  öffentlichen  und  (individuellen)  privaten  Gütern  entstehen. 

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Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum

81

Nominell gemeinschaftlich und unter der Bedingung gleicher  forma‐

ler  Zugangsrechte  besessenes  Land  etwa  kann  in  der  Praxis  durch 

Gewohnheitsrechte quasi‐exklusiv benutzt werden, während anderer‐

seits  etwa  formal privatisierte Güter durch Unterlaufen der  exklusi‐

ven Verfügungsmacht zum Gemeingut werden (vgl. Lindner 2008: 7).8 

Vice versa kann die Transzendierung der klassischen Eigentumsfor‐

men  jedoch auch zu Exklusionsprozessen  führen. So  sollen Gemein‐

güter in der Regel gleiche Zugangsrechte zu einem Gut ermöglichen, 

in der Eigentumspraxis jedoch entstehen allzu oft große Asymmetrien 

(vgl. Brown 2007; Ostrom/Schlager 1992: 251 ff.). 

3. Eigentum und die Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse

Im  folgenden Abschnitt  findet nun  eine Fokussierung des Blickwin‐

kels auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse durch 

Eigentumsbeziehungen  statt. Dazu wird  zunächst  das  Konzept  der 

gesellschaftlichen Naturverhältnisse – als Analyseinstrument ökologi‐

scher Problemlagen –  skizziert. Anschließend wird erläutert,  in wel‐

cher Weise Eigentum und gesellschaftliche Naturverhältnisse prinzi‐

piell miteinander zusammenhängen, und schließlich ist zu klären, wie 

eine Regulation durch die Eigentumsordnung konkret aussehen kann. 

Dies wird am Beispiel der Forderung nach Einrichtung von Gemein‐

gütern illustriert. 

3.1 Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse

„Gesellschaftliche  Naturverhältnisse“  sind  –  vor  allen  empirischen 

Tatsachen – zunächst einmal als ein analytisches Konzept zu begrei‐

fen. Das  Konzept  hebt  eine  dialektische  Perspektive  hervor,  in  der 

Natur  und  Kultur  „konstitutiv  aufeinander  bezogen“  sind  (Be‐

cker/Jahn/Hummel 2006: 175). 

8   David Stark hat dies unter dem Stichwort „recombinant property“ in die sozi‐

alwissenschaftliche Debatte eingeführt (Stark 1996). 

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  Im Brennpunkt dieser Perspektive stehen Praktiken, die drei 

Hauptmomente  sind  das  Individuum, Gesellschaft  und Natur  (vgl. 

Becker 2006: 36). Es geht  folglich um gesellschaftlich eingebettete  in‐

dividuelle Praktiken, in denen Natur und Umwelt auf der materiellen 

sowie der symbolischen Ebene strukturiert werden. Zu diesen „zwi‐

schen Gesellschaft und Natur regulierend vermitteln[den]“ Praktiken 

gehören ganz  allgemein  etwa Arbeit, Produktion, Ernährung, Land‐

nutzung, Mobilität und Wohnen (Becker/Jahn 2003: 103). 

  Für die Frage nach der Regulation gesellschaftlicher Naturver‐

hältnisse ist dieser Fokus folgenreich. Sie stellt sich konsequenterwei‐

se nämlich nicht als eine Frage nach staatlicher oder supranationaler 

Umweltpolitik  –  wenngleich  diese  natürlich  ein  Bestandteil  gesell‐

schaftlicher Naturverhältnisse sein können –, sondern als Frage nach 

alltäglichen Praktiken sowie deren beabsichtigten und unbeabsichtig‐

ten Folgen. Die ökologische Krise wird  in dieser Perspektive als  ein 

Versagen dieser  alltäglichen Praktiken  interpretiert, das Konsequen‐

zen von der lokalen bis in die globale Ebene nach sich zieht (vgl. Be‐

cker/Jahn/Hummel 2006: 193). 

  Eine  Regulation  der  gesellschaftlichen  Naturverhältnisse 

nimmt  folglich an den genannten Praktiken  ihren Anfang. Der Dop‐

pelcharakter  des  Konzepts  der  gesellschaftlichen  Naturverhältnisse 

weist  dabei darauf  hin,  dass  die  alltäglichen Praktiken  sowohl  eine 

stofflich‐energetische Dimension  als  auch  die  kulturelle  Symbolisie‐

rung umfassen  (Becker/Jahn  2003:  101). Regulation gesellschaftlicher 

Naturverhältnisse beginnt demnach bereits bei der mehr oder minder 

strikt durchgehaltenen begrifflichen Unterscheidung zwischen Natur 

auf der einen und Kultur auf der anderen Seite.  

  In spätmodernen Gesellschaften sind zahlreiche dieser Unter‐

scheidungspraktiken  nun  in  hohem  Maße  institutionalisiert.  Dies 

kann  sich  in  verfestigten  kulturellen  Deutungsmustern  von  Natur 

zeigen oder in sozialen Regulationen des Naturbezugs – etwa in Form 

von Gesetzen oder moralischen Ordnungen. Als zentrale soziale Insti‐

tution  ist das Eigentum eine der Schlüsselformen der Regulation ge‐

sellschaftlicher Naturverhältnisse. 

Page 84: Streit um Materie?

Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum

83

3.2 Eigentum und gesellschaftliche Naturverhältnisse

Mit Blick auf die genannten grundlegenden Praktiken ist die eminente 

Rolle des Eigentums  für die Gestaltung  gesellschaftlicher Naturver‐

hältnisse  leicht  einsichtig. Produktion, Landnutzung  oder das Woh‐

nen – um nur drei zu nennen – sind allesamt Tätigkeiten, die auf ver‐

schiedenen Ebenen in hohem Maße eigentumsrechtlich gesteuert sind. 

Und es fällt schwer, sich überhaupt Tätigkeiten vorzustellen, die nicht 

in  irgendeiner Form etwas mit der Unterscheidung zwischen „mein“ 

und „nicht‐mein“ und den damit  implizierten verfügungsrechtlichen 

Bestimmungen zu tun haben. Becker/Jahn (2003: 104) sprechen daher 

zu Recht von Eigentumsverhältnissen als „Regulationsmuster[n]“ auf 

der Makroebene, analog z. B. zu anderen grundlegenden Kategorien 

wie Geschlechterverhältnissen. Auf die Frage, wie Eigentum und die 

Regulation  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse  miteinander  zusam‐

menhängen,  ließe sich also zunächst einmal  festhalten:  Indem  in der 

Eigentumsordnung die Bezugnahme zu Dingen  in der Welt geregelt 

wird, wird damit unter anderem auch der Gesellschaft‐Natur‐Bezug 

strukturiert.  

  Mit der Rede von der Regulation gesellschaftlicher Naturver‐

hältnisse  ist die Frage nach dem Subjekt der Regulation verbunden. 

Was bereits  in den Ausführungen  zur Gestaltbarkeit des Eigentums 

dargestellt wurde,  gilt  auch  für  diese  Frage:  Einerseits  gibt  es  eine 

individuelle Eigentumspraxis, andererseits, auf der Makroebene, die 

Rahmung  durch  den  Staat  und  die Gesetze. Die  Individuen  setzen 

sich materiell und symbolisch zu Natur in Beziehung, indem sie etwa 

ein Eigenheim  erwerben, die Verhaltensregeln  eines Naturschutzge‐

bietes  anerkennen  oder  die  Pacht  für  einen  Kleingarten  entrichten. 

Der Staat hingegen  strukturiert durch  seine Gesetzgebung das Han‐

deln der Akteure. Er differenziert z. B. in der Gesetzgebung zwischen 

‚wertvoller’  und  ‚nicht‐schützenswerter’ Natur,  indem  er  Standards 

für Umwelt‐ und Naturschutz bestimmt, er ermöglicht privates Eigen‐

tum an Land, entschädigt für Enteignungen im Zuge der Einrichtung 

eines Naturschutzgebietes usw. 

Page 85: Streit um Materie?

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84

  Einen besonders aufschlussreichen Fall der Regulation gesell‐

schaftlicher Naturverhältnisse qua Eigentum stellt die Forderung nach 

gemeinschaftlicher  Bewirtschaftung  bedeutsamer  Umweltgüter  dar 

(vgl. z. B. Barnes 2006: 65 ff.; Gresh 2006: 106 f.). In diesen Bemühun‐

gen zeigt sich geradezu paradigmatisch, mit welchen Schwierigkeiten 

der Versuch  der  Entwicklung  angemessener Regulationsformen  der 

gesellschaftlichen Naturverhältnisse verbunden ist. 

3.3 Die Wiederkehr der Gemeingüter

Will man die ökologische Krise  auf  eine griffige Formel bringen,  so 

ließe  sich behaupten dass hier erstmals Dinge als knapp erlebt wer‐

den,  die  zuvor  in  unbegrenztem Maße  verfügbar  erschienen.  Dies 

bezieht sich etwa auf saubere Luft, Trinkwasser, ozeanische Fischbe‐

stände,  eine  funktionierende  Ozonschicht  etc.  Das  Erleben  von 

Knappheit führt in der Regel dazu, den Zugang zu einem Gut zu kon‐

trollieren. Es ist leicht einsichtig, dass dies im Falle der üblicherweise 

als „globale Probleme“ angesehenen Umweltgüter nur  schwer mög‐

lich  ist. Sie haben deshalb – aus materieller bzw.  technischer Sicht – 

den Charakter von Gemeingütern9, da der Zugang zu ihnen technisch 

oft kaum zu regulieren  ist. Andererseits herrscht, möglicherweise als 

Folge der quasi erzwungenen Gemeingutstruktur, die Überzeugung, 

diese Güter sollten auch als globales Gemeingut anerkannt werden.10 

  Die Forderungen nach Anerkennung als globale Gemeingüter 

beinhalten dabei zwei Annahmen: Zum Ersten wird damit behauptet, 

dass  die  Propertisierung  Umweltprobleme  zu  lösen  imstande  ist. 

Zweitens  ist darin die  stärkere Behauptung  enthalten, die geeignete 

Eigentumsform dazu sei das Gemeineigentum. 

  Gegenüber  der  Propertisierungsthese wird  kaum  Einspruch 

erhoben. Es gehört zum Commonsense, dass die im Eigentum erzielte 

9   Im  Sinne  einer  allgemeinen Unterscheidung  zwischen  individuellen und ge‐

meinschaftlichen Gütern. 10   Hier  jedoch im engeren Sinne des Begriffes: Eigentum einer Gruppe (im Falle 

der globalen Gemeingüter  freilich alle Menschen umfassend), über das klare 

Nutzungsregelungen bestehen. 

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Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum

85

Verknüpfung eines Gutes mit dem  Interesse der Eigentümer/in oder 

des  Eigentümers  einem  sinnvollen  Einsatz  des  Gutes  dienlich  ist. 

Selbst wenn (wie prima facie im Privateigentum) Zweifel an der Hege 

eines Gutes entstehen können, hat der Staat die Möglichkeit, die Sozi‐

albindung  des  Eigentums  durchzusetzen.11  „Eigentum  verpflichtet“, 

diese Vorschrift  hat  schließlich  für  alle Eigentumsformen Geltung  – 

nur muss sie auch konkretisiert werden. 

  Im Hinblick auf die Forderung einer Gemeingutstruktur hin‐

gegen  herrscht  Uneinigkeit.  Oft  wird  sich  auf  Aristoteles’  (1990: 

1261b) Diktum bezogen, dass für dasjenige, „was sehr vielen gemein‐

sam  zugehört,  […]  am  wenigsten  Sorge  getragen  [wird]“,  um  Ge‐

meingüter  als  uneffizient  abzulehnen  (vgl.  auch  Ciriacy‐

Wantrup/Bishop 1975: 713 ff.; Lloyd 1968 [1837]: 18 ff.). 

  Der Grund dafür wird im sozialen Dilemma des Trittbrettfah‐

rerproblems gesehen. Wenn viele Nutzer/innen gemeinsam  auf  eine 

Ressource  zugreifen,  hat  niemand  einen Anreiz,  das  entsprechende 

Gut zu schonen. Durch den individuellen Charakter des Nutzens und 

die kollektive Natur des Schadens  sowie dadurch, dass die Akteure 

die Abnahme des Kollektivertrags  individuell nicht berücksichtigen, 

führt das rationale Handeln des Einzelnen zum irrationalen Handeln 

der  Gemeinschaft.  Oder  wie  der  Biologe  Garrett  Hardin  in  seiner 

berühmten Hirtenparabel  der  „Tragödie  der  Allmende“  formuliert: 

„Each man  is  locked  into a  system  that  compels him  to  increase his 

herd without limit – in a world that is limited. Ruin is the destination 

to which all men rush, each pursuing his own best interest in a society 

that believes in the freedom of the commons” (Hardin 1968: 1244).  

  Zur  Lösung  dieses  Problems  schlägt  Hardin  eine  Überfüh‐

rung wichtiger Umweltgüter  in Privateigentum oder Staatseigentum 

vor  (vgl.  Hardin  1968:  1245).  Historisch  ist  diese  Lösung  bekannt: 

Zwangsprivatisierungen  zur  Steigerung  der  Ertragsleistungen  der 

Landwirtschaft gab es bereits im 18. Jahrhundert z. B. in Preußen und 

Österreich  (vgl. Bücher  1902:  7),  einem  ähnlichen Prinzip  folgen die 

11   Wenn er sie denn – bislang  ist  ja nur vom bundesdeutschen Recht ausgegan‐

gen worden – rechtlich vorsieht. 

Page 87: Streit um Materie?

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86

„Enclosures“  im  England  des  17.  Jahrhunderts  (vgl.  Blomley  2007). 

Auch  aktuell  kann dies  beobachtet werden,  etwa  bei der Verstaatli‐

chung  von  Wäldern  oder  Fischgründen  (vgl.  etwa  Bohnet/Frey 

1996: 293). 

  Kritiker der theoretischen Annahmen Hardins und der darauf 

aufbauenden  umweltpolitischen  Maßnahmen  verweisen  jedoch  oft 

auf die  paradoxen  empirischen  Folgen  von Privatisierung  und Ver‐

staatlichung: Gerade diejenigen  Instrumente nämlich, die  zur Erhal‐

tung eines Umweltgutes führen sollen, bewirken im Großteil der em‐

pirisch  belegten  Fälle  eher  das Gegenteil. Die Verstaatlichung  zieht 

einen Niedergang  der Hege  des Guts  nach  sich  (vgl. Acheson  u. a. 

1998: 77, 86; Bohnet/Frey 1996: 293; Goldman 1998: 21 f.), und auch die 

Privatisierung garantiert keineswegs die Verhinderung einer Tragödie 

der Allmende (vgl. Trawick 2003: 978). 

  Begründen  lassen sich diese paradoxen Konsequenzen einer‐

seits  mit  einer  begrifflich‐konzeptionellen  Verwirrung  der 

Allmendetheorie, andererseits mit einer Kritik der handlungstheoreti‐

schen Prämissen dieses Denkens.  

  Begrifflich  verwechseln  die  Gemeingutkritiker  Gemeineigen‐

tum und Eigentum  jedermanns. Das heißt sie gehen  in  ihrer Modell‐

bildung  von  einem  in  der  sozialen Wirklichkeit  eher  selten  zu  be‐

obachtenden Fehlen von Aneignungsregeln aus  – während das  z. B. 

von Hardin  gewählte  Bild  der mittelalterlichen Allmende  geradezu 

prototypisch für die klare Regelung des Zugangs zu einem Gut inner‐

halb einer Gemeinschaft ist. 

  Zweitens  sind  die  handlungstheoretischen  Prämissen  des Mo‐

dells von der Eigentumspraxis häufig widerlegt worden. So  funktio‐

nieren  (tatsächliche)  Gemeingutbewirtschaftungen  oft  problemlos. 

Ostrom  (1998:  109  f.)  etwa  belegt  für  erfolgreich  kooperierende  Fi‐

schergemeinschaften, dass in kleinen, hauptsächlich auf direkten Kon‐

takten basierenden Sozialsystemen die Selbstregulation der Ressour‐

cennutzung  eher die Regel  als die Ausnahme  ist. Kleine, homogene 

Sozialverbände mögen dabei stärker ausgeprägte Kooperationsmuster 

aufweisen als große, abstrakte Gemeinschaften. Dieser Umstand muss 

jedoch nicht notwendigerweise bedeuten, dass allein die Größe einer 

Page 88: Streit um Materie?

Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum

87

Gemeinschaft für den Erfolg kooperativer Strategien ausschlaggebend 

ist.  

  Für  die  Frage  nach  der Regulation  gesellschaftlicher Natur‐

verhältnisse  durch  Eigentumsbeziehungen  sind  die  Ergebnisse  der 

hier nur grob skizzierten Gemeingutdebatte  folgenreich. Wie das bei 

Hardin problematisch zitierte Beispiel der mittelalterlichen Allmende 

nämlich zeigt, kann es  in Sozialsystemen wirkungsvolle verfügungs‐

rechtliche Regelungen  jenseits  formaler  rechtlicher Kodifizierung ge‐

ben (vgl. Siegrist/Sugarman 1999: 28 f.). Ähnlich den Mitgliedern der 

traditionellen Dorfgemeinschaft, die sich an nicht schriftlich fixierten, 

aber deshalb nicht minder bindenden Verhaltensnormen im Umgang 

mit  Ressourcen  orientieren  (etwa  an  ungeschriebenen  moralischen 

Normen),  ist eine wirksame Eigentumspraxis  jenseits  rechtlicher Re‐

gelung auch für aktuelle Probleme im Umgang mit Umweltgütern zu 

untersuchen. Die Steuerung von Eigentumsverhältnissen zum Zweck 

der  Regulation  problematisch  gewordener  Naturverhältnisse  kann 

sich  angesichts  dessen  nicht  ausschließlich  am  juristischen  Eigen‐

tumsverständnis bzw. an  Idealtypen von Eigentumsformen orientie‐

ren,  sondern muss  die  vielfältigen  in der  Praxis  etablierten  Formen 

von  Verfügungsrechten  –  gewohnheitsrechtlich  geregelte Mischfor‐

men  individuellen  und  kollektiven  Eigentums  etwa  –  zur Kenntnis 

nehmen und in die Bearbeitung des Einzelfalls integrieren.  

4. Zusammenfassung

Die  innerste  Leistungsfähigkeit  des  Eigentums  ist  die Koordination 

sozialer Beziehungen, und zwar sowohl in ermöglichender als auch in 

einschränkender Hinsicht. Eigentum kann  als  soziale  Institution  zur 

Stabilisierung von Gesellschaft beitragen und es ist zu vermuten, dass 

Eingriffe  in  die  allgemeine  Eigentumsordnung  gravierende  soziale 

Veränderungen nach  sich ziehen.  Im Eigentum  sind normative Vor‐

stellungen enthalten – und zwar nicht nur in dem allgemeinen Sinne, 

dass  es  als  ein  Begriff  der  Rechtssphäre  per  definitionem  einen 

Sollensanspruch  umfasst.  Vielmehr  ist  die  durch  die Gesetze  erfol‐

gende inhaltliche Ausgestaltung des Eigentums von bestimmten nor‐

Page 89: Streit um Materie?

Karsten Gäbler

88

mativen  Vorstellungen  über  gesellschaftliches  Zusammenleben  und 

den Naturbezug geprägt. 

  Die Kategorie des Eigentums in den Blickpunkt einer Analyse 

der gesellschaftlichen Naturverhältnisse zu  rücken, erlaubt also eine 

umfassende,  gesellschafts‐  bzw.  politiktheoretisch  rückgebundene 

Analyse von (problematischen) Mensch‐Natur‐Beziehungen. Mit einer 

eigentumstheoretischen Perspektive werden sowohl die Beziehungen 

zwischen  Individuum und Gesellschaft bzw. Bürger und Staat, aber 

auch  zwischen  formal‐rechtlich  kodifizierten Eigentumsbeziehungen 

einerseits  und  in  der  Praxis  etablierten Verfügungsrechten  anderer‐

seits zum Gegenstand gemacht. 

  Bereits an der Oberfläche zeigt sich dabei, dass ein einfacher 

Zusammenhang zwischen der Spezifizierung von Verfügungsrechten 

und  der  Bearbeitung  ökologischer  Problemlagen  nicht  gegeben  ist. 

Eigentumsordnungen können, mit anderen Worten, nicht  als  simple 

Stellschraube der Veränderung des Naturbezugs  aufgefasst werden. 

Im Hinblick  auf die  empirische Vielfalt verfügungsrechtlicher Rege‐

lungen  gilt  es  daher,  die  Interdependenzen  zwischen  individuellen 

naturbezogenen Praktiken und deren normativer – d. h. sowohl  for‐

mal‐rechtlicher  als  auch moralischer  – Rahmung weiter  zu untersu‐

chen. 

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Page 94: Streit um Materie?

Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz für die Wechsel-beziehungen von Umwelt, Politik und Gesellschaft

Henrike Rau 

1. Einleitung

Die  Konsequenzen  zunehmender  räumlicher Mobilität  für Mensch 

und Umwelt und die gesellschaftlichen Ursachen und Folgen ungleich 

verteilter Mobilitätschancen fanden bis in die 1990er Jahre kaum sozi‐

alwissenschaftliche  (und  auch  selten  verkehrspolitische)  Beachtung 

(vgl. Rammler 1999). In der Umweltsoziologie spielte Mobilität bisher 

ebenfalls eine untergeordnete Rolle und wurde stattdessen häufig als 

ingenieur‐ und wirtschaftswissenschaftliches Thema  angesehen  (vgl. 

Buhr u. a. 1999; Schöller 2007). In den letzten Jahren ist das sozialwis‐

senschaftliche Interesse an Verkehrs‐ und Mobilitätsfragen allerdings 

maßgeblich  gestiegen, wobei Zusammenhänge  zwischen Mobilitäts‐

angeboten, Zugänglichkeit und sozialer Inklusion/Exklusion besonde‐

re  Beachtung  gefunden  haben  (vgl.  Cass/Shove/Urry  2005;  Preston 

2009).  So  hat  es  besonders  in  der  englischsprachigen  Literatur Vor‐

schläge  für  einen  theoretischen  und methodologischen Kurswechsel 

in der Soziologie gegeben, der  eine Priorisierung von Mobilität und 

die  Ablösung  tradierter  sozialwissenschaftlicher  Paradigmen  durch 

ein  „neues  Mobilitätsparadigma“  propagiert  (vgl.  Cresswell  2006; 

Sheller/Urry  2006;  Urry  2000a  und  b,  2007).  Gleichzeitig  wurden 

Kernkonzepte  der  empirischen  Sozialforschung  wie  die  Zentralität 

des Nationalstaates  als Untersuchungseinheit  in  Frage  gestellt  (vgl. 

Appadurai 1996) und Themen wie  (umweltbedingte) Migration und 

Verkehrs‐ und Raumplanung zunehmend aufgegriffen.  

Page 95: Streit um Materie?

Henrike Rau

94

  Das gestiegene  Interesse an Mobilitätsfragen  in der Umwelt‐

soziologie hat verschiedene Gründe. Zum einen hat Mobilität in ihrer 

Rolle als sozial‐räumliche Praxis unmittelbare Auswirkungen auf die 

Umwelt und wird gleichzeitig von Umweltfaktoren beeinflusst bzw. 

eingeschränkt. Die Nutzung fossiler Brennstoffe (z. B. für die Herstel‐

lung und den Betrieb von Fahrzeugen und das Bereitstellen von Ver‐

kehrsinfrastruktur)  und  die  sich  daraus  ergebenden  Konsequenzen 

für Mensch und Umwelt verdeutlichen diesen Zusammenhang. Der 

Verkehrssektor ist weltweit eine der wichtigsten Quellen klimaschäd‐

licher Gase – Tendenz steigend (vgl. Brenck/Mitusch/Winter 2007).  

  Zum anderen ist das Verhältnis zwischen mobiler Gesellschaft 

und Umwelt zum Ziel zahlreicher Gestaltungs‐ und Regulierungsver‐

suche und damit auch zum Gegenstand sozialwissenschaftlichen Inte‐

resses geworden. In vielen Industrie‐ und Schwellenländern sind heu‐

te diverse Akteursgruppen mit der konzeptionellen Ausarbeitung und 

praktischen  Umsetzung  mobilitätsbezogener  Regulierungsansätze 

beschäftigt (z. B. politische Institutionen auf lokaler, regionaler, natio‐

naler und supranationaler Ebene, Vertreter der Wirtschaft, NGOs und 

Bürgerinitiativen). Die daraus  entstehenden politisch‐institutionellen 

Strukturen und Handlungsräume  reflektieren dabei  häufig die Ten‐

denz spätmoderner Demokratien zum mehrstufigen Regieren  (multi‐

level  governance). Allerdings  zeigen mobilitätspolitische Entscheidun‐

gen  in Europa, dass  sich politische Macht  noch  immer  auf  höheren 

Ebenen  (national  und  supranational)  konzentriert  und  die  Regulie‐

rung von Mobilitätsmustern häufig  fest  an die  etablierten  Institutio‐

nen  liberaler  Demokratien  gebunden  ist.  Partizipative  Ansätze,  die 

eine  Bürgerbeteiligung  „von  unten“  anstreben,  sind  in  technischen 

Bereichen wie der Verkehrsplanung nach wie vor selten. Das wird am 

Beispiel  verkehrs‐  und mobilitätsbezogener Umweltkonflikte  in  der 

Republik  Irland  deutlich,  die  durch  konstruktive  Bürgerbeteiligung 

bei der Planung und Umsetzung von Verkehrsinfrastrukturprojekten 

hätten  abgeschwächt  bzw.  verhindert  werden  können  (vgl.  Rau 

Page 96: Streit um Materie?

Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz

95

2008).1 Gleichzeitig hat  eine  geringe Bürgerbeteiligung  an Verkehrs‐ 

und Mobilitätsentscheidungen in Irland (und andernorts) oftmals zur 

Folge, dass gesellschaftlich brisante Themen wie die vielseitigen Ver‐

knüpfungen von Bürgerrechten und  räumlicher Mobilität, das Recht 

auf selbstgewählte räumliche Immobilität sowie Ansprüche auf „freie 

und nachhaltige Mobilität“  (Matzloff 2009: 9)  in der öffentlichen De‐

batte kaum Beachtung finden. Andererseits können partizipative Pro‐

zesse  in  der Verkehrsplanung  auch  neue  Risiken  erzeugen,  die  die 

Handlungsmöglichkeiten politisch schwächerer Akteure  (z. B. ehren‐

amtliche Vereine, Gemeinden) einschränken und die Gefahr verschie‐

dener  organisatorischer  und  finanzieller  Abhängigkeiten  erheblich 

erhöhen  (vgl. Rau/Hennessy  2009).2 Diese und  andere Themen  sind 

zweifellos  für  die  sozialwissenschaftliche  Nachhaltigkeitsforschung 

relevant. 

  Welche Möglichkeiten  bietet  die  theoriengeleitete  soziologi‐

sche Erforschung sozialer und ökologischer Aspekte räumlicher Mo‐

bilität,  globale Nachhaltigkeitsprobleme  besser  verstehen  und  gege‐

benenfalls auch beeinflussen zu können? Welche Vorteile und Risiken 

kann eine solche „Mobilitätswende“ in der Umweltsoziologie mit sich 

bringen?  Dieser  Beitrag  plädiert  für  eine  kritische  Auseinanderset‐

zung  mit  gegenwärtigen  Vorschlägen,  soziologische  Theorien  und 

Forschungsansätze zu „mobilisieren“. Die nachfolgenden Ausführun‐

gen konzentrieren  sich  auf das von dem britischen Soziologen  John 

1   So bietet in Irland eine Beteiligung an verkehrsbezogenen Planfeststellungsver‐

fahren  einzelnen  Bürgerinnen  und  Bürgern  und  nichtstaatlichen  (Umwelt‐) 

Organisationen  oftmals nur begrenzte Möglichkeiten, deren Ausgang  zu be‐

einflussen. Die Gründe dafür liegen u. a. in der starken Zentralregierung, der 

politischen und finanziellen Schwäche kommunaler Akteure sowie in der weit 

verbreiteten ablehnenden Haltung gegenüber stärkerer Bürgerbeteiligung. 2   Rau und Hennessys (2009) Vergleich zwischen der Republik Irland und Nord‐

irland  zeigt, dass  eine  verstärkte Beteiligung nichtstaatlicher Organisationen 

wie z. B. ehrenamtlicher Vereine an der Umsetzung verkehrspolitischer Strate‐

gien  sowohl Vorteile wie mehr Mitspracherecht  und  erhöhte  staatliche  Zu‐

wendungen  als  auch  erhebliche  personelle  und  finanzielle  Belastungen mit 

sich bringen kann. Die kritische, sachbezogene Haltung gemeinnütziger Verei‐

ne kann durch Kooption ebenfalls eingeschränkt werden. 

Page 97: Streit um Materie?

Henrike Rau

96

Urry  (2000a,  2007)  entwickelte  „neue Mobilitätsparadigma“,  im  Be‐

sonderen  dessen  Relevanz  für  die  umweltsoziologische Mobilitäts‐ 

und Verkehrsforschung und deren praxisbezogene Anwendung  zur 

Regulierung  nicht‐nachhaltiger Mobilitätsmuster  (z. B. Abhängigkeit 

vom motorisierten  Individualverkehr). Dabei stehen drei Kernfragen 

im Mittelpunkt: Welches Gesellschaftsbild  liegt dem Mobilitätspara‐

digma zugrunde, welche Akteure spielen darin eine Rolle und welche 

Möglichkeiten der Regulierung von Natur‐Gesellschaft‐Interaktionen 

sind darin verankert?  

  Mit Hilfe  theoretischer Überlegungen und ausgewählter em‐

pirischer Beispiele aus der Mobilitätsforschung sollen nachfolgend die 

scheinbar  „verselbständigte  Grenzenlosigkeit“  spätmoderner  sozial‐

räumlicher  Praktiken  und  deren  Auswirkungen  auf  Mensch  und 

Umwelt beleuchtet werden. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit das 

„neue  Mobilitätsparadigma“  eine  Neubewertung  und  innovative 

umweltsoziologische  Erforschung  von  Gesellschaft‐Umwelt‐

Interaktionen fördert. Der Beitrag konzentriert sich zunächst auf poli‐

tische  und  sozio‐kulturelle  Aspekte  räumlicher  Mobilität  in 

(spät)modernen  Gesellschaften  und  deren  Behandlung  im  Rahmen 

der  (Umwelt‐)Soziologie. Daran  schließt  sich  eine kritische Untersu‐

chung des von Urry entwickelten „neuen Mobilitätsparadigmas“ an, 

wobei  dessen  Kernaussagen  zur  Entwicklung  sozio‐technischer 

Mobilitätssysteme und deren Folgen für Mensch und Umwelt beson‐

dere Beachtung erfahren. Darauf aufbauend widmet sich der Artikel 

der  Frage, welche  noch  verbleibenden  bzw.  neu  enstandenen Mög‐

lichkeiten  der  Regulierung  von  Mobilität  und  Gesellschaft‐Natur‐

Wechselbeziehungen  existieren, wobei  die  politische  Einflussnahme 

durch  nationalstaatliche  Institutionen  sowie  nicht‐staatliche  und  zi‐

vilgesellschaftliche Akteure im Mittelpunkt steht.  

Page 98: Streit um Materie?

Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz

97

2. Mobilität in der (umwelt)soziologischen Forschung

2.1 Mobilität und Moderne: Zweckgemeinschaft oder Wahl-verwandtschaft?

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Soziologie mit grundlegenden 

Veränderungen  in der Zusammensetzung und Entwicklung spätmo‐

derner Gesellschaften befasst und häufig eine „Verflüssigung“ sozia‐

ler Strukturen auf globaler Ebene sowie die damit verbundene räum‐

liche  Mobilisierung  sozialer  Beziehungen  prognostiziert  (vgl.  z. B. 

Bauman 2000, 2006). Die schrittweise Auflösung traditioneller Formen 

des  sozialen Miteinanders  (wie  Kernfamilie,  nachbarschaftliche  Ge‐

meinschaft oder nationalstaatliches Gefüge), die zunehmende  Indivi‐

dualisierung  von  Lebensläufen  (vgl.  Leisering/Leibfried  1999; 

Scherger 2007) sowie die anthropogene Umweltzerstörung (vgl. Beck 

1986,  2007)  sind  für  viele Autorinnen  und Autoren  beispielhaft  für 

den rasanten gesellschaftlichen Wandel an der Schwelle zum 21. Jahr‐

hundert.  Gleichzeitig  werden  in  diesen  Transformationsprozessen 

auch die Ursachen und Auswirkungen  (un)freiwilliger Mobilität von 

Menschen, Kapital, Waren  und  Informationen  sichtbar. Zusammen‐

hänge zwischen physischer Mobilität, globaler Vernetzung und sozia‐

lem Wandel  sind  deshalb  in  den  letzten  Jahren  in  den Mittelpunkt 

soziologischer Forschung und Theorienbildung gerückt (vgl. Giddens 

1990; Urry 2000a und b, 2007; Cresswell 2006).  

  Die Modernisierung der Republik  Irland  in den  letzten  Jahr‐

zehnten  und der damit  verbundene Übergang  von  einem  landwirt‐

schaftlich geprägten Land hin zur „hypermobilen“, post‐industriellen 

Gesellschaft  soll  hier  stellvertretend  als  Beispiel  für  die  „Wahlver‐

wandtschaft von Mobilität und Moderne“ (vgl. Rammler 1999) ange‐

führt werden. Besonders der in den 1990er Jahren einsetzende rapide 

gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandel dieses westeuropäischen 

Inselstaates – der  so genannte Celtic Tiger – ging mit  einem  ebenso 

rasanten Mobilitätsanstieg  einher  (Tabelle  1;  vgl.  Edmondson  1998; 

Killen 2007). 

Page 99: Streit um Materie?

Henrike Rau

98

Tabelle  1:  Ausgewählte  Mobilitätsindikatoren  für  die  Republik  Irland, 

1997/2007  

  1997 2007 

Registrierte Kfz (privat)   1.134.429  1.882.901 

Neu  angemeldete  Kfz  (privat)  mit  Hubraum 

> 1500 ccm 

(% aller Neuanmeldungen) 

43.892 

(34,9 %) 

96.287 

(53,3 %) 

Durchschnittliche km/Jahr für private Kfz  18.572*  17.137 

km/Jahr für Lkw (in Mio.)  1.208  2.662 

Quelle: Central Statistics Office Ireland (CSO) 2007; Sustainable Ener‐

gy Ireland (SEI) 2006). * Angabe für 2001 

 

Dabei  ist die  in  Irland zu beobachtende Dominanz des motorisierten 

Individualverkehrs  (MIV)  keineswegs  ein  Ausnahmefall,  sondern 

spiegelt Mobilitätstrends in anderen Industrie‐ und Schwellenländern 

wider. Allerdings  sind  sowohl der Motorisierungsgrad  als  auch das 

damit verbundene „Konsumieren von Entfernung“ im internationalen 

Vergleich  ungewöhnlich  hoch  (Tabelle  2). Krawczyk  und  Ronchetti 

(2009) stellen fest, dass der durchschnittliche Kilometerstand pro Jahr 

für Pkw in der Republik Irland 70 % höher ist als in Deutschland und 

Frankreich, 50 % höher als  in Großbritannien und 30 % höher als  in 

den USA. Wobei  festzuhalten  ist, dass ein hoher Mobilisierungsgrad 

nicht  zwangsläufig  einen  hohen Kilometerstand  bedeutet,  denn  die 

Verbindung zwischen Autobesitz und Autonutzung ist häufig starken 

intra‐ und internationalen Schwankungen unterworfen (vgl. Wickham 

2006). Nichtsdestotrotz belegen diese  Indikatoren die wachsende Be‐

deutung  (individualisierter)  räumlicher Mobilität, deren  soziale und 

ökologische  Auswirkungen  jedoch  bisher  in  der  Soziologie  wenig 

Beachtung erfahren haben. 

Page 100: Streit um Materie?

Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz

99

Tabelle 2: Motorisierungsgrad ausgewählter EU‐Länder3 1970‐2006  

  Anzahl Kfz pro 1000 Einwohner

  1970 1980 1990 2000 2006 

EU27  –  –  345  427  466 

EU15  183  293  405  478  508 

EU12  –  –  140  243  307 

Dänemark  218  271  309  347  371 

Finnland  155  256  388  412  475 

Irland  132  215  228  348  418 

Österreich  160  297  388  511  507 

Slowakei  36  110  166  237  247 

Quelle: European Commission 2008a 

 

Soziologen bewerten die durch Globalisierungs‐ und Mobilisierungs‐

prozesse bedingten gesellschaftlichen Veränderungen oft  sehr unter‐

schiedlich.  Pessimistische  Perspektiven,  die  den  Zerfall  sozialer 

Grundstrukturen  prognostizieren,  stehen  hier  optimistischeren Aus‐

blicken  gegenüber,  die  in  der  zunehmenden  globalen  Vernetzung 

neue  Handlungsspielräume  und  Möglichkeiten  für  Veränderung 

vermuten. Abhandlungen, die sich mit dem rasanten Anstieg des mo‐

torisierten Individualverkehrs befassen, verdeutlichen diese Vielfalt in 

der Bewertung globaler Entwicklungen. Während einige Autoren die 

negativen Folgen der  (Auto‐)Mobilisierung moderner Gesellschaften 

wie die eingeschränkte Bewegungsfreiheit  für nicht motorisierte Per‐

sonen,  Unfallrisiken  und  Umweltzerstörung  kritisieren  (vgl. 

Whitelegg 1997; Böhm u. a. 2006), betonen andere den positiven Bei‐

trag gesteigerter Mobilität zur Bekämpfung von Armut und  sozialer 

Ausgrenzung  (vgl. Kenyon/Lyons/Rafferty  2001; Hine/Mitchell  2003; 

3   Die hier  betrachteten Länder  ähneln  sich hinsichtlich  ihrer  Fläche  bzw. Ein‐

wohnerzahl und Bevölkerungsdichte, zeichnen sich aber durch unterschiedli‐

che Entwicklungspfade und (verkehrs)politische Grundstrukturen aus. Die zu 

beobachtende Steigerung des Mobilitätsgrades zwischen 1970 und 2006 weist 

jedoch Parallelen auf. 

Page 101: Streit um Materie?

Henrike Rau

100

Cass/Shove/Urry 2005) und zur Gleichstellung von Frauen und Män‐

nern (vgl. Grieco/Pickup/Whipp 1989).  

2.2 Die Soziologie der Räumlichen Mobilität: Erste Versuche und kritische Stimmen

Obwohl räumliche Mobilität eine  immer größere Rolle  in der Gestal‐

tung  zwischenmenschlicher  und  sozial‐ökologischer  Beziehungen 

spielt, fand sie bisher in der Umweltsoziologie nur wenig Beachtung. 

Sie wurde  stattdessen  häufig  geografischen,  städteplanerischen  und 

ingenieurwissenschaftlichen  Forschungsfeldern  zugeordnet. Aus der 

Nachhaltigkeitsforschung stammende Beiträge zur postfossilen Mobi‐

lität konzentrierten sich bisher meist auf praktische und verkehrspoli‐

tische Veränderungen wie die Entwicklung multimodaler Mobilitäts‐

konzepte  in Städten, gingen aber nur bedingt auf  soziale and politi‐

sche Ursachen und Folgen erhöhter und zunehmend  individualisier‐

ter (Auto‐)Mobilität ein.  

  Dieses  „soziologische Desinteresse“  an Mobilitäts‐  und Ver‐

kehrsthemen hat vielfältige Gründe, wobei zumindest zwei miteinan‐

der  verknüpfte  Faktoren  herausstechen. Zum  einen  spielte  die wis‐

senschaftlich‐disziplinäre  Abgrenzung  der  Soziologie  (und  anderer 

Sozialwissenschaften)  von  den Naturwissenschaften  und  die  damit 

verbundene  Legitimierung  bestimmter  Forschungsfelder  eine  ent‐

scheidende Rolle. Eines der Kernprinzipien klassischer soziologischer 

Forschung, nämlich „Soziales aus Sozialem zu erklären“ (Durkheim), 

führte  in der Vergangenheit häufig zur Vernachlässigung physischer 

Ursachen und Folgen menschlichen Verhaltens  (vgl. Kraemer  2008). 

Dies trifft auch auf die Behandlung von Verkehrs‐ und Mobilitätsfra‐

gen zu (vgl. Rau 2009). Rammler (1999: 42) spricht von „verkehrssozi‐

ologischen  Spurenelementen“, die  seit den Anfängen der  Soziologie 

im  19.  Jahrhundert bis  in die  1990er  Jahre kaum  einer Systematisie‐

rung unterlagen. Stattdessen bietet die soziologische Literatur einige 

wichtige  Einzelbeiträge  oder  verkehrs‐  und  mobilitätsbezogene 

Randbemerkungen  innerhalb  breiter  angelegter Abhandlungen über 

die  Entwicklung moderner Gesellschaften wie  z. B. Robert  E.  Parks 

humanökologisch  orientierter  Aufsatz  „The  Mind  of  the  Hobo: 

Page 102: Streit um Materie?

Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz

101

Reflections  upon  the  Relation  between Mentality  and  Locomotion“ 

(1925/1967) oder Georg Simmels Aufsatz „Die Großstadt“ (1903b), der 

unter  anderem  Bezug  auf  die Auswirkungen  des  Stadtverkehrs  auf 

das Individuum nimmt. 

  Zum  anderen  hatte  die  disziplinäre  Ausdifferenzierung  in‐

nerhalb der Sozialwissenschaften eine thematische und methodologi‐

sche  Diversifizierung  zur  Folge.  Die  schrittweise  Abgrenzung  der 

Soziologie  von  anderen  sozialwissenschaftlichen  Disziplinen  führte 

u. a. zu einem Ausklammern zahlreicher physischer Phänomene aus 

der  etablierten  soziologischen  Forschung.  Im Zuge  dieser Ausdiffe‐

renzierung wurde die Erforschung  sozialer und kultureller Einfluss‐

größen  auf  gesellschaftliche  Mobilitäts‐  und  Raumnutzungsmuster 

häufig  Fächern wie der Humangeografie, Architektur und  Stadtpla‐

nung überlassen. Trotz nennenswerter Versuche, eine Soziologie des 

Raumes zu etablieren (vgl. Simmel 1903a; Lefèbvre 1974/1991; Sennet 

1977, 1990), gilt die Beschäftigung mit sozial‐räumlichen Phänomenen 

wie z. B. eine gerechte Verteilung von Verkehrsinfrastruktur und ihrer 

Risiken und die daran gekoppelten Muster von sozialer Inklusion und 

Exklusion immer noch als soziologisches Randthema (vgl. Rau 2009). 

Das  trifft  ebenso  auf  die  Verkehrssoziologie  zu,  die  bis  Ende  der 

1980er Jahre vielerorts noch den Status einer ‚Hilfswissenschaft’ hatte 

und trotz zahlreicher Entwicklungssprünge in den 1990er Jahren wei‐

terhin  eine  untergeordnete  Rolle  in  (politischen)  Verkehrsdebatten 

spielt. 

  Zweifellos  hat  das  gestiegene  öffentliche  Interesse  an  den 

Wechselwirkungen  zwischen  Gesellschaft  und  Umwelt  und  deren 

Folgen  für Politik und Wirtschaft zur derzeitigen Ausweitung sozio‐

logischer Forschung auf nicht‐traditionelle Themenfelder wie Mobili‐

tät,  Verkehr  und  Raumnutzung  beigetragen  (vgl.  Corcoran  2006; 

Corcoran/Gray/Peillon  2007,  2009).  Das  ist  einerseits  positiv,  weil 

raumorientierte  Arbeitsfelder  wie  die  Planung  von  Verkehrs‐  und 

Siedlungsstrukturen dadurch eine zusätzliche soziologische Dimensi‐

on  erhalten. Andererseits  ist zu bemerken, dass  sich viele  soziologi‐

sche Theorien und Methoden bisher als nicht oder nur bedingt geeig‐

net  für  die  Erforschung  „nicht‐traditioneller“  sozial‐ökologischer 

Page 103: Streit um Materie?

Henrike Rau

102

Phänomene herausgestellt haben. So kritisiert Kraemer (2008) die un‐

tergeordnete  Behandlung  sozialer  Fragestellungen  in  Umwelt‐  und 

Nachhaltigkeitsdebatten.  Die  wachsende  Anzahl  umweltsoziologi‐

scher  Ansätze  und  Studien  zum  Thema Mobilität  bietet  zahlreiche 

Möglichkeiten,  sowohl  theoretisch‐konzeptionelle als auch methodo‐

logische Entwicklungen in Richtung einer integrierten soziologischen 

Umweltforschung  zu  analysieren.  Das  „neue Mobilitätsparadigma“ 

(vgl. Urry 2000a und b, 2007) stellt einen solchen Versuch eines integ‐

rativen Ansatzes dar, der im nachfolgenden Abschnitt kritisch disku‐

tiert wird. 

3. Gemeinschaft ohne Grenzen? Mobilität als zentrales Merkmal spätmoderner Gesellschaften

3.1 Die Hauptmerkmale des „neuen Mobilitätsparadigmas“

In zahlreichen soziologischen Standardwerken der 1990er und 2000er 

Jahre wird die räumliche Mobilisierung bestimmter sozialer Gruppen 

(z. B. Bauern, Migranten, Soldaten) als zentrales Merkmal gesellschaft‐

licher Modernisierung angeführt (vgl. Giddens 1990). Diese Mobilisie‐

rung wird  dabei  häufig mit  rapiden  ökonomischen  und  politischen 

Veränderungen  in Verbindung  gebracht, wie  z. B.  die  zunehmende 

Bedeutung  urbaner Ballungsgebiete  als Macht‐ und Handelszentren 

und die durch verbesserte Verkehrsinfrastruktur herbeigeführte Mo‐

dernisierung der Kriegsführung im 19. und 20. Jahrhundert. Spätmo‐

dernen  Globalisierungsprozessen  wird  ebenfalls  eine  entwurzelnde 

Wirkung  zugesprochen,  wobei  gleichzeitig  die  Fähigkeit  einzelner 

Nationalstaaten, die Mobilität ihrer Bürgerschaft zu fördern bzw. ein‐

zuschränken,  hinterfragt wird. Die  Folgen  gesteigerter Mobilität  für 

Mensch  und Umwelt, wie  z. B.  die  durch  zunehmenden Auto‐  und 

Luftverkehr  verursachte  Übernutzung  fossiler  Brennstoffe  und  die 

dadurch  entstehenden  globalen  sozio‐politischen  Spannungen, wur‐

den dabei oftmals  einer breiter  angelegten Gesellschaftskritik unter‐

geordnet.  

Page 104: Streit um Materie?

Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz

103

  In  der  britischen  Soziologie  finden  sich  zahlreiche  positive 

(jedoch keinesfalls unkritische) Bewertungen von Globalisierungspro‐

zessen und deren Potenzial  für soziale und  räumliche Mobilisierung 

(vgl. Jain 2002). John Urrys (2000a und b) Ausführungen zur Entwick‐

lung  einer  „Soziologie  jenseits  von  Gesellschaft“  (sociology  beyond 

societies) verdienen hier besondere Beachtung. Im Kontext der zuneh‐

menden Globalisierung  sieht Urry die  schrittweise Unterwanderung 

des Nationalstaates und die zunehmende Bedeutung von Mobilität als 

zentrale Themen einer Soziologie für das 21. Jahrhundert: „[…] mobil‐

ities, as both metaphors and as process, are at  the heart of social  life 

and should thus be central to sociological analysis.“ (Urry 2000a: 49) 

  Urrys Aufruf,  traditionelle  soziologische Forschung, die  sich 

(fast)  ausschließlich  auf  verortete Gesellschafts‐ und Gemeinschafts‐

formen konzentriert hat, durch Mobilitätsanalysen „jenseits von Ge‐

sellschaft“ zu ersetzen, greift  somit das Verschwinden gesellschaftli‐

cher Fixpunkte im Zeitalter der Globalisierung und die damit einher‐

gehenden materiellen Folgen für Mensch und Umwelt auf. Gleichzei‐

tig betont er den  scheinbar unausweichlichen Einfluss von Mobilität 

auf verschiedene Kategorien sozialer Beziehungen. „[A]ll social enti‐

ties,  from a single household  to  large scale corporations, presuppose 

many  different  forms  of  actual  and  potential  movement”  (Urry 

2007: 6). Die Entwicklung und Anwendung eines „neuen Mobilitäts‐

paradigmas“ (new mobilities paradigm) zur systematischen, theorienge‐

leiteten  Erforschung  derartiger  Ströme  wird  für  Urry  damit  zur 

Hauptaufgabe einer sich erneuernden Soziologie des globalen Zeital‐

ters. Allerdings stellt sich die Frage,  inwieweit die Soziologie als Ge‐

sellschaftswissenschaft  derartige  Vorstellungen  von  Gesellschaft  als 

mobil und grenzenlos konzeptionell und methodologisch verarbeiten 

kann. Ist es überhaupt möglich, den zentralen Gegenstand der Sozio‐

logie  – die Erforschung mehr oder weniger verorteter gesellschaftli‐

cher Verhältnisse und deren Veränderungen – durch  eine Beschäfti‐

gung mit Mobilität zu ersetzen?  

  Um  die  tatsächlichen  bzw.  potenziellen  Bewegungen  von 

Menschen, Gütern  und  Ideen  in  einer  zunehmend  vernetzten Welt 

Page 105: Streit um Materie?

Henrike Rau

104

theoretisch verarbeiten zu können, bedient sich Urry zweier Kernkon‐

zepte: Ebenen (scapes) und Ströme (flows). 

 

People,  money,  capital,  information,  ideas  and  images  are 

seen  to  ‘flow’  along  various  ‘scapes’  which  are  organised 

through  complex  interlocking  networks  located  both within 

and  across  different  societies  (such  as  the monetary  scapes 

and  flows  between  London,  New  York  and  Tokyo).  (Urry 

2000a: 14) 

 

Diese  Begriffe  erinnern  an  den  kulturalistischen  Ansatz  von  Arjun 

Appadurai, der in seinem Buch „Modernity at Large“ (1996) globalen 

Strömen  (global  flows) und grenzübergereifenden ethnischen Räumen 

(ethnoscapes)  eine wichtige Rolle  in  der Globalisierungsdynamik  zu‐

schreibt. Die Besonderheit des von Urry entwickelten Mobilitätspara‐

digmas liegt  jedoch in der Einbeziehung nicht‐menschlicher Akteure: 

Für Urry  sind Menschen und Gegenstände Teile  ein  und desselben 

komplexen Systems. Die zahlreichen, sich ständig verändernden Ver‐

bindungen  zwischen menschlichen Akteuren  und  Technologien  be‐

wirkt die Hybridisierung sozio‐technischer Strukturen, die das kollek‐

tive Handeln  sozialer Akteure  beeinflusst  und  im Gegenzug  durch 

deren Handlungen rekonstituiert, verstärkt oder eingeschränkt wird: 

 

[…]  technologies  do  not  derive  directly  and  uniquely  from 

human  intentions  and  actions. They  are  intricately  intercon‐

nected with machines,  texts,  objects  and  other  technologies 

(Michael  1996).  […]  there  are  no  purified  social  structures  as 

such, only hybrids  (Latour 1993).  (Urry 2000a: 33, Hervorhe‐

bung im Original) 

 

Urry nimmt hier Bezug auf die von Bruno Latour entwickelte Akteur‐

Netzwerk‐Theorie  (ANT), welche  die  Entgrenzung  und Hybridisie‐

rung  von  Mensch  und  Maschine  als  Hauptmerkmale  sozio‐

technischer  Systeme  versteht  (vgl.  Latour  2005). Das  „neue Mobili‐

tätsparadigma“  thematisiert  damit  das  Zusammenwirken menschli‐

Page 106: Streit um Materie?

Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz

105

cher und nicht‐menschlicher Akteure  (so genannte „Aktanten“) und 

die  dadurch  entstehenden  strukturell‐systemischen  Grenzen  der 

menschlichen  Handlungsfreiheit.  Möglichkeiten  des  absichtlichen, 

zielgerichteten menschlichen Handelns, die durch zunehmende Hyb‐

ridisierung und Mobilisierung sowohl eingeschränkt als auch erwei‐

tert werden können,  erhalten dagegen weniger Aufmerksamkeit.  So 

findet  die  „Politisierung  von Mobilität“  durch  verschiedene  soziale 

Akteure mit  teilweise  gegensätzlichen  Interessen  im  „neuen Mobili‐

tätsparadigma“ kaum Beachtung, obwohl diese eine ebenso wichtige 

Rolle  in  der  Entwicklung  von  Mobilitätsnachteilen  und  ‐chancen 

spielt wie  deren materiell‐technologische  Rahmenbedingungen. Die 

effektive Nutzung von  Informations‐ und Kommunikationstechnolo‐

gien durch global operierende nicht‐staatliche Umweltorganisationen 

wie Greenpeace und die Reaktionen staatlicher Institutionen auf der‐

artige Mobilisierungsversuche  (z. B.  nachrichtendienstliche  „Lausch‐

angriffe“ auf Umweltaktivisten) verdeutlichen das komplexe Verhält‐

nis  zwischen  strukturellen  und  technologischen  Bedingungen  und 

intendiertem Verhalten. 

  Automobilität  gilt  für Urry  dabei  als  Paradebeispiel  solcher 

nicht‐linearer, komplexer Systeme, welche die (zumindest temporäre) 

Vereinigung von Mensch und Maschine (hybrid assemblage) erfordern. 

Urry verwendet deshalb den bereits von Slater (2001) geprägten und 

von Dant  (2004)  später modifizierten  Begriff  des  car‐driver,  um  den 

Hybridcharakter der Verbindung zwischen Auto und Fahrer zu beto‐

nen. Das häufig zu beobachtende  „Bewohnen“ von Kraftfahrzeugen 

durch  deren  Nutzer  ist  Ausdruck  dieser  Hybridisierung,  die  sich 

nachhaltig auf die  Identitätsbildung  in vielen modernen Gesellschaf‐

ten  auswirkt  (vgl.  Cresswell  2006).  Verkehrspsychologe  Bernhard 

Schlag verwendet Begriffe wie  „verlängertes  Ich“ und  „verlängertes 

Zuhause“, um Kritik am unverhältnismäßigen Einfluss des Kraftfahr‐

zeugs auf die Identität vieler Menschen in Deutschland (und andern‐

orts) zu üben (vgl. Uken 2008). Für Urry (2004: 28) verkörpert das Au‐

to den „eisernen Käfig“ der Moderne, der sich bewegt und gleichzei‐

tig häusliche Züge aufweist und der die Nutzung von Zeit und Raum 

durch den Menschen maßgeblich mitbestimmt. 

Page 107: Streit um Materie?

Henrike Rau

106

  An dieser Stelle gilt es zu klären, welche Folgen  für Umwelt 

und Gesellschaft Urry der  spätmodernen,  sich  global  ausbreitenden 

„Hypermobilität“  zuschreibt.  In  erster  Linie  erkennt  er  zahlreiche 

Möglichkeiten zur Neugestaltung gesellschaftlicher Prozesse. Die Vor‐

teile des Reisens  für den  interkulturellen Austausch und die globale 

Vernetzung  nationaler  Bewegungen  für  Frieden, Gerechtigkeit  oder 

Umweltschutz  sollen  hier nur  stellvertretend  genannt werden. Urry 

beschäftigt sich aber ebenso mit den sozialen und ökologischen Schat‐

tenseiten  gesteigerter  Mobilität.  Die  Herausbildung  einer  „Bewe‐

gungselite“  (kinetic  elite), deren wirtschaftliche und politische Macht 

sich  oftmals  auf  die  unfreiwillige Mobilisierung  bzw.  „Immobilisie‐

rung“ machtloser sozialer Gruppen stützt, steht bei Urry im Kontrast 

zu  den  neu  entstehenden Möglichkeiten  globalen  kollektiven Han‐

delns. 

 

Keinesfalls  geht  es  einer mobilitätstheoretischen Perspektive 

darum, eine mobile, grenzenlose Welt unkritisch zu zelebrie‐

ren  oder  gar die  zugrunde  liegenden Machtasymmetrien  zu 

ignorieren. Im Gegenteil: Ziel einer mobilitätsorientierten For‐

schung muss sein, die sozial ungleiche Beteiligung an der be‐

wegten  Gegenwart  sowie  das  Doppelspiel machtungleicher 

Entgrenzung  und  Grenzziehung  empirisch  zu  untersuchen. 

(Berndt/Boeckler 2007: 16) 

 

Urry  verweist  auch  auf  die  Umweltrisiken  gesteigerter  (Auto‐

)Mobilität und die damit verbundenen Reaktionen von Umweltbewe‐

gungen (vgl. Urry 2000a: 192 f., 2004). Besonders kritisch betrachtet er 

die Hegemonie und Änderungsresistenz bestimmter soziotechnischer 

Systeme, allen voran die Automobilität, durch die Flexibilität  in der 

Nutzung von Raum (und Zeit) buchstäblich erzwungen wird und die 

zahlreiche unerwünschte soziale und ökologische Folgen hervorbringt 

(vgl. Urry 2004). Urry  (2000a) benutzt zwei Kategorien – dwelling‐on‐

the‐road  und  dwelling‐within‐the‐car  –, um Veränderungen  in der Be‐

ziehung  des Mensch‐Auto‐Hybridsystems  (car‐driver)  zur  biophysi‐

schen Umwelt  zu  beschreiben. Während Autofahren  anfänglich  im‐

Page 108: Streit um Materie?

Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz

107

mer auch einen unmittelbar erfahrbaren Austausch mit der biophysi‐

schen und sozialen Umwelt mit sich brachte  (z. B. Sehen und Hören 

anderer  Verkehrsteilnehmer,  Benzingeruch  etc.),  verfolgen 

(spät)moderne Automobilsysteme das Ziel, den Menschen so gut und 

sicher wie möglich von der Außenwelt abzuschotten. Es kommt zur 

schrittweisen räumlichen Distanzierung zwischen (Bei‐)Fahrer, Straße 

und Umgebung – das Auto wird zum „eisernen Kokon“, der jeglichen 

Austausch mit  der Außenwelt  unterbindet. Alles  in  allem  ist Urrys 

Ansatz  für  die  sozial‐  und  verkehrspolitisch  orientierte  Sozialfor‐

schung gerade deshalb attraktiv, weil er eine kritische Einschätzung 

von Mobilität als Bedrohung und Chance liefert. 

3.2 Die Zukunft des „neuen Mobilitätsparadigmas“ in der so-ziologischen Forschung

Für  Urry  hat  die  systematische  soziologische  Untersuchung  von 

Mobilisierungstrends  in  (spät)modernen Gesellschaften höchste Prio‐

rität.  Sein  Hauptaugenmerk  richtet  sich  dabei  auf  die 

Herausfordungen  einer Mobilitätswende  (mobility  turn)  in den  Sozi‐

alwissenschaften (vgl. Hannam/Sheller/Urry 2006). Für ihn bringt eine 

Neuausrichtung auf Fragen der Mobilität grundlegende Veränderun‐

gen  in  den  Grundstrukturen  soziologischen  Denkens mit  sich.  Die 

„Mobilisierung“  sozialwissenschaftlicher  Theorien,  Konzepte  und 

Methoden  steht  dabei  für  ihn  im  Mittelpunkt  und  erfordert  neue 

Formen des transdisziplinären Arbeitens sowie die letztendliche Auf‐

lösung disziplinärer Grenzen:  

 

The mobility  turn  is  post‐disciplinary.  [...]  [It]  connects  the 

analysis of different forms of travel, transport and communi‐

cations with the multiple ways in which economic and social 

life is performed and organized through time and across vari‐

ous spaces […] most important social phenomena are only sa‐

tisfactorily analysed if they are so ‘mobilized’. (Urry 2007: 6) 

 

Dies kann unter anderem durch die Weiterentwicklung bereits beste‐

hender  soziologischer  Fachgebiete  erreicht  werden.  Eine  Beschäfti‐

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Henrike Rau

108

gung mit  Fragen der Mobilität  bedeutet  für Urry  eine  fortlaufende, 

sich  auf  bereits  bestehende  Stärken  konzentrierende  Spezialisierung 

der soziologischen Forschung: 

 

[…] [N]ot only people are mobile but so too are many ‚objects’ 

[…] sociology’s recent development of a ‚sociology of objects’ 

needs  to be  taken  further  […]  [because]  the diverse  flows of 

objects across societal borders and their intersections with the 

multiple  flows  of  people  are  hugely  significant.  (Urry 

2000a: 3) 

 

Das Hauptanliegen des Mobilitätsparadigmas – nämlich ein Brücken‐

konzept  zur  Erforschung  verschiedener  räumlicher  und  zeitlicher 

Aspekte des menschlichen Soziallebens bereitzustellen – wirft zahlrei‐

che konzeptionelle und methodologische Fragen auf. Bietet die Vor‐

stellung von Gesellschaft  als Mobilität  einen  tragfähigen Ansatz  für 

die  soziologische  Forschung  im  21.  Jahrhundert? Kann dadurch die 

Vielfalt  sozial‐ökologischer Veränderungen adäquat  erschlossen und 

damit eventuell eine Bedeutungssteigerung der Soziologie im Kontext 

heutiger  Nachhaltigkeitsdebatten  erreicht  werden?  Welche  Konse‐

quenzen ergeben sich aus der „Mobilisierung“ von Theorie und For‐

schungspraxis für die empirische Sozialforschung? 

  Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das von Urry entwi‐

ckelte  Mobilitätsparadigma  kulturalistische  Betrachtungen  mit  sys‐

tem‐  und  netzwerktheoretischen Ansätzen  verbindet  und damit die 

Synthese mobilitätsorientierter sozialwissenschaftlicher Theorien kon‐

struktiv  vorantreibt. Gleichzeitig  erfordern  die  dem Mobilitätspara‐

digma zugrunde liegenden gesellschaftstheoretischen Annahmen eine 

radikale  Abkehr  von  konventionellen  soziologischen  Ansätzen.  Be‐

sonders die Rolle des Nationalstaates als zentrale(r) Untersuchungs‐

gegenstand und  ‐einheit soziologischer Forschung wird dabei hinter‐

fragt. Für Urry können nationalstaatliche Institutionen nur noch eine 

sehr  begrenzte  Rolle  in  der  Regulierung  globaler Verkehrs‐, Güter‐ 

und Menschenströme und der damit verbundenen Neuordnung sozi‐

aler Beziehungen erfüllen und  sollten deshalb auch nicht  länger der 

Page 110: Streit um Materie?

Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz

109

Dreh‐ und Angelpunkt soziologischen Denkens sein. Dieser Anspruch 

ist nicht unproblematisch und  soll  im nun  folgenden Abschnitt  kri‐

tisch diskutiert werden.  

4. Die Regulierung von Mobilität: Lohnenswertes Ziel oder vergebliche Mühe?

4.1 Die politische Steuerung von Mobilität

Die Regulierung räumlicher Mobilität durch Vertreter staatlicher bzw. 

nicht‐staatlicher und zivilgesellschaftlicher  Institutionen und Organi‐

sationen  findet  sowohl auf  (supra)nationaler als  auch  auf  regionaler 

und  lokaler  Ebene  statt  und  produziert  somit  komplexe  sozial‐

politische Machtstrukturen (vgl. Flyvbjerg 1998). Dabei hat sich in den 

letzten Jahren in der Verkehrspolitik (wie auch in vielen anderen Be‐

reichen  der  Politik)  ein  schrittweiser Wandel  in  der  Staatsführung 

vollzogen, der häufig mit dem Vormarsch neoliberaler Wirtschaftspo‐

litik  und  der  Ideologie  des  „schlanken  Staates“  in  den  1980er  und 

1990er  Jahren  in Verbindung  gebracht wird  und  im  Englischen  als 

Übergang  von  government  zu  governance  beschrieben wird.  Im Zuge 

dieser Verschiebungen findet eine Umverteilung politischer Einfluss‐

möglichkeiten  auf  verschiedene  soziale Akteure  statt, die  zweifellos 

die (selbst verordnete) Schwächung staatlicher Institutionen zur Folge 

haben kann. Die Auswirkungen dieses Wechsels auf gesellschaftliche 

Mobilitätsmuster  sind vielschichtig und können hier nicht näher be‐

sprochen werden. Stattdessen konzentriert sich dieser Abschnitt nun 

auf  wahrgenommene  und  tatsächliche  Einschränkungen  national‐

staatlicher  Handlungsmöglichkeiten  in  der  Regulierung  globaler 

Menschen‐, Kapital‐ und Warenströme. 

  Im ersten Kapitel seines Buches „Sociology beyond Societies“ 

(2000a) widmet sich Urry verschiedenen Einwänden gegen sein post‐

gesellschaftliches Mobilitätsparadigma. Er bezieht sich unter anderem 

auf das von seinen Kritikern angeführte Argument, dass Staaten trotz 

fortschreitender Globalisierung immer noch eine entscheidende Rolle 

in der Regulierung sozialer Prozesse spielen. Für Urry stellen Mobili‐

Page 111: Streit um Materie?

Henrike Rau

110

täts‐  und  Vernetzungsprozesse  allerdings  einen  Hauptimpuls  für 

grundlegende  Veränderungen  in  der  Sozialstruktur  und 

Gouvernementalität  von  Gesellschaften  (social  governmentality)  dar, 

die  das  Regieren  auf  nationaler  Ebene  erheblich  erschweren.  Eine 

Neuorientierung  soziologischer  Forschung  in  Richtung  Mobilität 

würde Urry zufolge die Erforschung der Rolle des Staates  in der Re‐

gulierung von Menschen‐ und Stoffströmen anregen und damit einen 

wichtigen Beitrag zur Diskussion um die  (noch verbleibende) Macht 

nationalstaatlicher Institutionen leisten. 

  Die Auswirkungen gesteigerter  räumlicher Mobilität  auf die 

Funktionsfähigkeit  nationalstaatlicher  Institutionen  und  Strukturen, 

welche  oftmals  selbst  Produkte  der Moderne  darstellen,  sind  nicht 

immer  eindeutig. Die  dem Mobilitätsparadigma  zugrunde  liegende 

Kritik  am  etablierten  soziologischen modus  operandi, nämlich Gesell‐

schaft und Nationalstaat  als  (fast) deckungsgleich und  räumlich be‐

grenzt zu sehen, erscheint angesichts komplexer Globalisierungspro‐

zesse jedoch berechtigt. Der wachsende Einfluss regionaler und globa‐

ler Menschen‐, Geld‐ und Warenströme auf die Entwicklung von Ge‐

sellschaften  (z. B.  erzwungene  und  freiwillige Migration, weltweiter 

Handel mit Erdöl und anderen Rohstoffen, globale Ausbreitung von 

Finanzkrisen) lässt immer stärker Zweifel an der Angemessenheit des 

‚Paradigmas des Nationalstaates‛ sowohl in der Politik als auch in der 

sozialwissenschaftlichen  Forschung  aufkommen.  Allerdings  ist  das 

Ausmaß  einer  solchen  „Aushöhlung“  des Nationalstaates  nach wie 

vor heftig umstritten (vgl. Held/McGrew 2000; Turner 2007).  

  Urry prognostiziert einen rasanten Wandel in den Mitteln und 

Methoden der staatlichen Regulierung von Mobilität und bedient sich 

der  von  Bauman  (1987)  verwendeten  Metaphern  des  Wildhüters 

(gamekeeper) und des Gärtners (gardener), um diese Veränderungen zu 

beschreiben.  Interessanterweise spielen diese Metaphern unmittelbar 

auf die Beziehung von Mensch und Natur an: Während für den Wild‐

hüter(staat)  die Regulierung  von Mobilität  und  die  Erhaltung  einer 

bestimmten Bevölkerungszahl auf nationalstaatlichem Gebiet im Vor‐

dergrund  steht,  sieht der Gärtner(staat)  seine Rolle zusätzlich  in der 

Regulierung und Kontrolle des einzelnen Bürgers sowie  im Schaffen 

Page 112: Streit um Materie?

Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz

111

von Ordnung und in der Kultivierung gesellschaftlicher (und natürli‐

cher) Ressourcen. Urry  argumentiert, dass das mobile Zeitalter  eine 

Rückkehr  des  „Wildhüterstaates“  bewirkt,  der  Mobilität  reguliert, 

jedoch wenig Interesse an der inneren Ordnung der Gesellschaft und 

der Förderung bzw. Beschränkung und Reglementierung des Einzel‐

nen zeigt.  

  Urrys „neues Mobilitätsparadigma“ wirft zwei weitere wich‐

tige  Fragen  auf: Zum  einen,  ob  bzw. wie  sich Wechselbeziehungen 

zwischen  einer  immer  mobiler  werdenden  Gesellschaft  und  deren 

natürlicher Umwelt  überhaupt  „von  oben“  beeinflussen  lassen. Die 

zunehmende  Durchlässigkeit  nationalstaatlicher  Grenzen  hat  nach‐

weislich  weitreichende  Auswirkungen  auf  die  Regulierung  grenz‐

überschreitender Mobilität und somit auch auf die Wirksamkeit glo‐

baler umweltpolitischer Maßnahmen. Umwelt‐ und Mobilitätspolitik 

sind  somit  untrennbar miteinander  verknüpft, was  am  Beispiel  der 

wachsenden Bedrohung von Bevölkerung und Natur durch den  in‐

ternationalen  Handel  mit  Atommüll  deutlich  wird  (vgl.  Khoo/Rau 

2009). Allerdings gilt es zu hinterfragen, ob einzelne Staaten  tatsäch‐

lich  kaum  noch  in der Lage  sind, diese  Formen der  „Mobilisierung 

von  Risiken“  zu  verhindern.  So  lässt  sich  argumentieren,  dass  die 

vielerorts  gesetzlich  verankerte  Einschränkung  individueller  oder 

kollektiver Mobilität, wie  z. B. die  Inhaftierung von Straftätern oder 

die Errichtung von Sicherheitszonen zur Verhinderung von Protesten, 

den fortdauernden regulierenden Einfluss des Staates auf die Mobili‐

tät seiner Bürgerschaft signalisiert, diese  jedoch nur  in wirtschaftlich 

und politisch wichtigen Bereichen zur Erhaltung des status quo zum 

Einsatz  kommt. Die Regulierung mobilitätsbedingter Umweltrisiken 

erfordert oftmals eine Einschränkung etablierter wirtschaftlicher und 

politischer Aktivitäten und einen Angriff auf den status quo und stößt 

somit oft auf starke politische Widerstände.  

  Daran  anknüpfend  stellt  sich  die  Frage,  welche  nicht‐

staatlichen politischen Akteure Einfluss auf die Regulierung von Mo‐

bilität nehmen können und wie effektiv deren Interventionen tatsäch‐

lich sind. Aktuelle Debatten in der politischen Soziologie beschäftigen 

sich dabei mit der Frage,  inwieweit die durch die „neoliberale Wen‐

Page 113: Streit um Materie?

Henrike Rau

112

de“ der 1980er und 1990er Jahre geschwächten Nationalstaaten über‐

haupt  noch  fähig  sind, mächtigen,  global  operierenden wirtschaftli‐

chen  Interessengruppen Paroli zu bieten. Die globale Finanzkrise  im 

Jahre 2008 wurde von vielen als symptomatisch für den Kontrollver‐

lust staatlicher Einrichtungen bezüglich der Regulierung von Finanz‐

strömen angesehen. Diskussionen um den Klimawandel werfen ähn‐

liche  Probleme  auf,  da  sie  die Handlungsunfähigkeit  vieler  Staaten 

bezüglich globaler Umweltrisiken deutlich machen. Andererseits hat 

sich durch die Bildung  supranationaler politischer Entitäten wie der 

EU eine neue mobilitäts‐ und umweltpolitische Handlungsebene ent‐

wickelt, die dieses Defizit auszugleichen sucht. 

  Das  „neue Mobilitätsparadigma“  betont  häufig  den  begren‐

zenden Einfluss  sozialer und materieller Bedingungen  auf den Ver‐

lauf  menschlichen  Handelns.  Allerdings  stellt  Urry  fest,  dass  sich 

strukturelle Gegebenheiten und freies Handeln individueller Akteure 

– wann, wie und wohin sich eine Person bewegt – gegenseitig beein‐

flussen, ohne dass der eine oder andere Einflussfaktor klar überwiegt. 

 

This is not to suggest that […] human do not exert agency. But 

they only do so  in circumstances which are not of  their own 

making; and  it  is  those circumstances –  the enduring and  in‐

creasingly intimate relations of subjects and objects – that are 

of paramount significance. (Urry 2000b: 194) 

 

Er greift damit den von Giddens  (1990)  entworfenen  strukturations‐

theoretischen Ansatz auf, kritisiert jedoch, dass dieser die Komplexität 

iterativer Prozesse und deren mögliche destabilisierende Wirkung auf 

gesellschaftliche Strukturen nicht konkretisiert. Stattdessen sieht Urry 

in  den  (un)beabsichtigten Konsequenzen  von Mobilität  sowohl Me‐

chanismen zur Erhaltung bestehender sozialer und materieller Struk‐

turen als auch Möglichkeiten für deren Destabilisierung. Dieses Aner‐

kennen  struktureller  Einschränkungen  (structural  constraints)  von 

Mobilität  fördert gleichzeitig  ein kritisches Herangehen  an  ideologi‐

sche  Annahmen,  die  Mobilität  und  die  Grundwerte  liberal‐

demokratischer Gesellschaften wie Freiheit, Freizügigkeit und Gleich‐

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Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz

113

heit miteinander verknüpfen (Müller/Kiefer 2004). Für Urry verbinden 

sich  im menschlichen Mobilitätsverhalten  sowohl Möglichkeiten  als 

auch  Zwänge,  wobei  diese  strukturationstheoretische  Ausrichtung 

des „neuen Mobilitätsparadigmas“ nicht unumstritten ist. 

4.2 Mobilitätspolitik und die Resilienz nationalstaatlicher Strukturen: Argumente für eine „Politisierung“ des Mobi-litätsparadigmas

Zahlreiche  Fälle  unbeabsichtigter  und  intendierter  „grenzenloser“ 

Mobilität  lassen Urrys Kritik an der Dominanz des „Gesellschaft als 

Nationalstaat“‐Ansatzes  in  der  soziologischen  Forschung  zunächst 

plausibel erscheinen. Der wieder auflebende politische Wille zur Ent‐

wicklung transnationaler Verkehrswege innerhalb Europas, besonders 

im Bahnbereich  (vgl. European Commission 2008b),  illustriert diesen 

Trend,  der  sowohl  Mobilitätschancen  als  auch  Risiken  bringt.  Die 

durch den Wegfall innereuropäischer Grenzen entstandene Reisefrei‐

heit  für Bürger  aus EU‐Mitgliedsstaaten und umweltpolitische Kon‐

flikte um riskante europaweite Atommülltransporte  liefern hier zwei 

anschauliche Beispiele für die Vor‐ und Nachteile „grenzenloser“ Mo‐

bilität. Außerdem schränkt die EU auch  immer wieder die Mobilität 

„von außen“ ein, was am Importverbot für brasilianisches Rindfleisch 

2007  oder  an  der  kontroversen  EU‐Einwanderungspolitik  deutlich 

wird. Die Regulierung von Mobilität bleibt damit ein zentraler Pfeiler 

des supranationalen europäischen Projekts:  

 

Die Europäische Einigung übt somit einen neuen Modernisie‐

rungsdruck auf die beteiligten national verfaßten Gesellschaf‐

ten. Dieser Integrationsprozeß bleibt nicht ohne Raumbedarf, 

weil er die individuellen Raum‐Zeit‐Muster auseinanderzerrt. 

Die künftige Sicherung sozialer Teilhabe, gleichermaßen ver‐

brieftes Recht wie Verpflichtung,  schafft  ohne Zweifel mehr 

Verkehr. (Knie 1999: 37) 

 

Das  Zusammenspiel  sozialer,  politischer  und  ökologisch‐materieller 

Faktoren auf verschiedenen politischen Handlungsebenen macht die 

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Henrike Rau

114

Regulierung  räumlicher Mobilität zu einem hochbrisanten Thema  in 

heutigen  Globalisierungs‐  und  Nachhaltigkeitsdebatten  (vgl. 

Khoo/Rau 2009). Die Immobilisierung von Gütern und Personen und 

die  Regulierung  grenzübergreifender  Netzwerke  und  Stoffströme 

durch politische Interventionen wie Importzölle, Grenzkontrollen und 

Einwanderungsgesetze lässt dabei Zweifel an der angeblichen Hand‐

lungsunfähigkeit  staatlicher  Institutionen  aufkommen  (vgl.  Turner 

2007). Beiträge aus der  soziologischen Verkehrsforschung  liefern Be‐

weise,  dass  staatliche  Interventionen  wie  z. B.  die  Einführung  von 

Lkw‐Mautgebühren auf europäischen Transitstrecken wie dem Bren‐

ner‐Pass  in Österreich  immer noch eine  tragende Rolle  in der Förde‐

rung und Regulierung räumlicher Mobilität spielen.  

  Gerade  hier  offenbart  sich  also  eine wichtige  Schwachstelle 

des „neuen Mobilitätsparadigmas“, nämlich dessen geringe Aussage‐

kraft bezüglich der Entwicklung komplexer politischer Prozesse  zur 

Förderung, Kontrolle  bzw.  Einschränkung  von Mobilität. Die  syste‐

matische Erforschung der  im Rahmen von Verkehrs‐ und Mobilitäts‐

entscheidungen eingenommenen  (Macht‐)Positionen staatlicher  Insti‐

tutionen,  privatwirtschaftlicher  Lobbygruppen,  nicht‐staatlicher  Or‐

ganisationen und Bürgervertretungen  eröffnet  somit  ein zukünftiges 

Anwendungsgebiet  für das von Urry  entwickelte Mobilitätsparadig‐

ma,  erfordert  jedoch  dessen weitreichende  „Politisierung“. Welchen 

Einfluss hat das Zusammenspiel verkehrspolitischer und wirtschaftli‐

cher Prozesse auf die (Im‐)Mobilität verschiedener sozialer Gruppen? 

Kann die These, dass Wirtschaftswachstum und (Automobil‐)Verkehr 

untrennbar miteinander verzahnt sind und somit politische Prozesse 

nur einen sehr geringen Einfluss auf diese Verbindung ausüben kön‐

nen, mit Hilfe  des Mobilitätsparadigmas  hinterfragt  bzw.  entkräftet 

werden? Diese Fragen sind vor allem im Bereich der Nachhaltigkeits‐

forschung von enormer Bedeutung. 

  Fest steht, dass die Regulierung und Gestaltung von Alltags‐

mobilität  immer  noch  stark  von  der  Unterordnung  verkehrspoliti‐

scher  Ziele  unter wirtschaftliche  Ziele  geprägt  ist  (vgl.  Vigar  2002; 

Schöller 2007). Dabei spielen besonders diejenigen politischen Akteure 

eine aktive Rolle, die von der fortbestehenden Kopplung „Straßenbau 

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Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz

115

= Wirtschaftsaufschwung“ profitieren. Diese Verflechtung politischer 

und wirtschaftlicher Interessen lässt sich am Beispiel von Verkehrsinf‐

rastrukturinvestitionen in der Republik Irland verdeutlichen. Das von 

der  irischen  Regierung  2006  beschlossene  Investitionsprogramm 

„Transport 21“ stellt fast 35 Milliarden Euro für die Entwicklung von 

Verkehrsinfrastruktur  bereit.  Dabei  werden  öffentlichkeitswirksame 

Maßnahmen  wie  der  Ausbau  des  Autobahnnetzes  und  öffentlich‐

private Partnerschaften  für die Durchführung straßenbaulicher Maß‐

nahmen priorisiert (Tabelle 3; vgl. OECD 2002).  

 

Tabelle 3: „Transport 21“‐Investitionsprogramm für Verkehrsinfrastruktur‐

entwicklung in der Republik Irland 2006‐2015  

Sektor Ausgaben im Jahr 2008 (Mrd. Euro)  

Straßenbau  1,599 

Öffentlicher Verkehr  0,890 

Regionale Flughäfen  0,014 

Gesamtsumme 2008  2,504 

 

Gesamtsumme 2006‐2015  34,4 

Quelle:  www.transport21.ie/Publications/upload/File/T21_Annual_ 

Report_2008_eng.pdf, letzter Zugriff: 20. Juni 2009. 

 

Diese Zahlen verdeutlichen den politischen Charakter von Verkehrs‐

entwicklungsprozessen.  Motorisierter  Individualverkehr  in  der  Re‐

publik Irland (und vielen anderen Ländern) „passiert“ demnach nicht 

einfach,  wie  häufig  von  Verfechtern  des  „predict  and  provide“‐

Paradigmas behauptet wird,  sondern wird gezielt durch den  im Re‐

gelfall aus Steuergeldern  finanzierten Bau von Verkehrsinfrastruktur 

gefördert. Soziologische Ansätze, die die zentrale Rolle von Mobilität 

sowie deren politische Beeinflussung erkennen und beurteilen helfen, 

könnten  zweifellos  zum  besseren  Verständnis  verkehrspolitischer 

Prozesse beitragen und gleichzeitig den derzeit geringen Einfluss der 

Disziplin auf die Umwelt‐ und Nachhaltigkeitsdebatte positiv beein‐

flussen.  Eine  systematische  „Politisierung“  soziologischer  Verkehrs‐ 

Page 117: Streit um Materie?

Henrike Rau

116

und Mobilitätstheorien sowie die Entwicklung und Umsetzung prob‐

lemorientierter inter‐ bzw. transdisziplinärer Forschungsansätze wür‐

de dieses Anliegen fördern. Die konstruktive Erweiterung des „neuen 

Mobilitätsparadigmas“ mit  dem Ziel  der  Integration  politischer As‐

pekte  (z. B. Machtverhältnisse  auf  verschiedenen Handlungsebenen) 

sowie eine kritische Auseinandersetzung mit etablierten wissenschaft‐

lichen  und  politischen Ansätzen  zur  Regulierung  von Gesellschaft‐

Natur‐Wechselbeziehungen könnten dabei eine zentrale Rolle spielen. 

4.3 Gesellschaft-Natur-Interaktionen im Spiegel der Mobilität: Anregungen für die umweltsoziologische Mobilitätsfor-schung

Die  sozialwissenschaftliche  Verkehrs‐  und  Mobilitätsforschung  hat 

sich  in  den  letzten  Jahren  gegenüber  „traditionellen“  ingenieurs‐, 

wirtschafts‐ und naturwissenschaftlichen Disziplinen stärker behaup‐

ten  können.  So  hat  es  in  der  sozialwissenschaftlichen  Erforschung 

verkehrspolitischer  Entscheidungsprozesse  bedeutende  Fortschritte 

gegeben,  obwohl  deren  Einfluss  auf  aktuelle  verkehrspolitische De‐

batten oftmals immer noch gering ist (vgl. Vigar 2002; Schöller 2007). 

Andererseits  existieren  auch  weiterhin  zahlreiche  Erkenntnislücken 

(vgl. Knie  2007). Dies  trifft besonders  auf die Untersuchung mobili‐

tätsbedingter Mensch‐Natur‐Interaktionen und deren Konsequenzen 

für  die  nachhaltige  Entwicklung  zu. Dieser Abschnitt  liefert  einige 

Argumente  dafür,  dass  die  Erforschung  komplexer  Gesellschaft‐

Natur‐Interaktionen durch den  von Urry  propagierten Paradigmen‐

wechsel neu ausgerichtet werden könnte, was eine der wesentlichen 

Stärken seines „neuen Mobilitätsparadigmas“ ausmacht.  

  Eine  mobilitätsparadigmatische  Perspektive,  die  zum  einen 

soziale und ökologische Gesichtspunkte einbezieht und zum anderen 

die Begrenztheit nationalstaatlichen Denkens zur Behandlung globa‐

ler  Umverteilungs‐  und  Umweltprobleme  aufzeigt,  ermöglicht  es, 

Veränderungen in den Mobilitätsgewohnheiten und deren Folgen für 

Mensch  und Umwelt  zu  erfassen. Gleichzeitig  kann  etablierten  na‐

turwissenschaftlichen  Standpunkten  zu Mobilitäts‐  und Nachhaltig‐

keitsfragen eine wichtige sozialwissenschaftliche Perspektive zur Seite 

Page 118: Streit um Materie?

Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz

117

gestellt  werden.  Die  dem  Mobilitätsparadigma  zugrunde  liegende 

Ablehnung so genannter „Container‐Theorien“ (vgl. Beck 1997), wel‐

che von der Deckungsgleichheit von Territorialstaat und Gesellschaft 

ausgehen, macht  es  außerdem möglich,  das  Verhältnis  von  Gesell‐

schaft und Natur im Raum neu zu definieren.  

  Urry widmet  sich ausführlich der Frage der konzeptionellen 

Entgrenzung von Gesellschaft und Umwelt und vertieft hier die be‐

reits in früheren Publikationen (Macnaghten/Urry 1998) vorgebrachte 

Kritik  an  der  in  der  Soziologie  verbreiteten Unterteilung  in  gesell‐

schaftliche  und  natürliche  Prozesse:  „[…]  the  human  and  physical 

worlds are elaborately intertwined and cannot be analysed separately 

from  each  other,  as  society  and  as  nature,  or  humans  and  objects.“ 

(Urry 2000b: 194) 

  Urrys  Ausführungen  zum  Thema  Staatsbürgerschaft  und 

Umwelt  greifen  dieses  Thema  erneut  auf  (vgl. Urry  2007:  168‐172). 

Besonders die Debatte um den moralischen Status und die Rechte von 

Tieren verdeutlichen  für Urry die Grenzen  anthropozentrischer und 

utilitaristischer Ansätze, denen eine strikte Trennung von Gesellschaft 

und Natur sowie nationalstaatliches Denken zugrunde liegen.  

  Zweifellos  eröffnet  diese  kritische  Perspektive  zahlreiche 

Möglichkeiten,  die  Einbeziehung  nicht‐menschlicher Akteure  in  ge‐

sellschaftstheoretische Überlegungen voranzutreiben und das Mobili‐

tätsparadigma  für  die  umweltsoziologische  Forschung  nutzbar  zu 

machen.  Besonders  die  im Mobilitätsparadigma  verankerte  Grund‐

idee  hybrider  „Mensch‐Material‐Netzwerke“ macht  es möglich, Ele‐

mente der biophysischen Umwelt als wichtige Knotenpunkte hinzu‐

zufügen. Damit wäre es möglich, den Nutzen des von Urry entwickel‐

ten  Paradigmas  für  die  Erforschung  von  Gesellschaft‐Natur‐

Interaktionen maßgeblich  zu  steigern.  Allerdings  ist  hinzuzufügen, 

dass diese von Urry vorgeschlagene konzeptionelle Entgrenzung auch 

zahlreiche Probleme aufwirft, die von Vertretern der Umweltsoziolo‐

gie  immer wieder  kritisch diskutiert werden und die  besonders die 

Grenzen  und  Zuständigkeiten  soziologischer  Forschung  und  die 

Wahrnehmung von Handlungsoptionen berühren. Kraemer (2008: 51) 

argumentiert, dass 

Page 119: Streit um Materie?

Henrike Rau

118

 

[…]  ein wichtiger  Grund  für  dieses  Integrationsdefizit  [der 

Sozialwissenschaften  im  Kontext  der  Umweltforschung;  H. 

R.]  in der vorherrschenden Konzeptionalisierung von Gesell‐

schaft zu sehen ist, die entweder auf ein System von Kommu‐

nikation  (Luhmann),  auf  kommunikatives Handeln  (Haber‐

mas)  oder  auf  kulturelle  Bedeutungen  (Mead,  Schütz)  zu‐

rückgeführt wird. 

 

Becker (2006: 6) bewertet Äußerungen, dass sich „zwischen Natur und 

Gesellschaft nicht mehr unterschieden  lässt“, als  irreführend und ge‐

fährlich, da sie eine Abgrenzung des Bereichs, in dem Menschen ver‐

antwortlich handeln können, unmöglich machen. Die Unterscheidung 

zwischen  Natur  und  Gesellschaft  bietet  „unverzichtbare  Orientie‐

rungsleistung und Handlungsentlastung für soziale Akteure, weil sie 

ein Unterscheidungskriterium für Zuständigkeiten  liefern“ (Viehöver 

et al. 2004: 65, zitiert in Becker 2006: 6).  

  Für  Urry  stehen  die  komplexen  Verknüpfungen  von Men‐

schen  und  Objekten  im  Mittelpunkt,  mit  Hilfe  derer  traditionelle 

räumliche  (und  zeitliche)  Schranken  überwunden  werden  können. 

Die Umweltbilanz dieser komplexen Netzwerke  ist dabei von beson‐

derem  Interesse,  da  sie  die  Grenzen  dieser  Mensch‐Maschine‐

Hybridisierung aufzeigen kann. Verkehrssysteme machen dies deut‐

lich:  Zum  einen  ermöglichen  sie  die  Überwindung  der  durch  den 

menschlichen Körper  festgelegten Grenzen der Mobilität, zum ande‐

ren wirken sie restriktiv auf dessen Funktionsfähigkeit. Die  (nahezu) 

unbegrenzten  Möglichkeiten  des  mobilisierten  Individualverkehrs 

stehen im Kontrast zu dessen einschränkender Wirkung auf den Men‐

schen (z. B. Stau, Unfallgefahr, Übergewicht durch Bewegungsarmut, 

Dominanz des Autos  im öffentlichen Raum). Verkehrssoziologe Bru‐

no Matzloff  (2009: 9) beobachtet dabei einen schrittweisen Übergang 

in der urbanen Raum‐ und Verkehrsplanung von der  „Ära des Ob‐

jekts (Auto, Bus, Bahn, ...) zur Ära der Dienstleistung“, wobei letztere 

den Zugang zu städtischen Ressourcen priorisiert. Für ihn deutet sich 

eine Richtungsänderung in der Stadtentwicklung an, die „das Objekt 

Page 120: Streit um Materie?

Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz

119

vernachlässigt, um sich für Dienstleistungen innerhalb eines globalen 

Mobilitätssystems  zu  interessieren  [...]  [und]  sich  intelligenten  Ver‐

kehrsmodellen öffne[t]“ (ebd.). 

  Zusammenfassend  lässt  sich  sagen,  dass  eine  „Mobilitäts‐

wende“  zweifellos  neue  Impulse  für  die  Umweltsoziologie  liefern 

könnte. Das wird besonders deutlich, wenn man Urrys Mobilitätspa‐

radigma und die daran gekoppelte Erweiterung gesellschaftstheoreti‐

scher Aussagen  auf menschliche  und nicht‐menschliche Akteure  be‐

trachtet.  Außerdem  könnte  in  Zukunft  die  sozialwissenschaftliche 

Verkehrs‐ und Mobilitätsforschung mit Hilfe des Mobilitätsparadig‐

mas stärker interdisziplinär ausgerichtet werden, um deren Potenzial 

für die Umwelt‐ und Nachhaltigkeitsforschung zusätzlich zu erhöhen 

(vgl. Schöller/Canzler/Knie 2007).  

5. Fazit

Die  zunehmende  räumliche Mobilität von Menschen, Gegenständen 

und Informationen und die sich daraus ergebenden Folgen für Gesell‐

schaft, Politik und Wirtschaft  rücken derzeit mehr und mehr  in den 

Mittelpunkt  (umwelt)soziologischer  Globalisierungsforschung.  Das 

von  John Urry  entwickelte  „neue Mobilitätsparadigma“  stellt  dabei 

eine  innovative  theoretische  Syntheseleistung  dar,  die  den  sozialen 

Wandel  (spät)moderner Gesellschaften  in Zeiten  der Globalisierung 

fassbar  zu machen  sucht. Die daran  gekoppelte  intensive Beschäfti‐

gung mit Mobilitätsphänomenen wie Migration, Zugänglichkeit und 

soziale  Inklusion  und  nachhaltige  Verkehrs‐  und  Raumplanung  in 

ständig wachsenden „Megacities“ eröffnet gleichzeitig Möglichkeiten, 

Kritik  an  konventionellen  soziologischen  Vorstellungen  von Gesell‐

schaft als räumlich begrenzt und nationalstaatlich organisiert zu üben. 

  Den  Vorteilen  zunehmender  räumlicher  Mobilität  stehen 

zahlreiche  negative  soziale  und  ökologische  Folgen  gegenüber,  die 

jedoch  in bisherigen modernistisch‐ökonomistischen Mobilitätsdebat‐

ten  kaum  erwähnt wurden. Obwohl  verkehrsbedingte Umweltschä‐

den wie gesundheits‐ und klimaschädliche Emissionen, die Fragmen‐

tierung von Habitaten und die Versiegelung von Flächen in den letz‐

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Henrike Rau

120

ten Jahren mehr Aufmerksamkeit erlangt haben, bleibt die theorienge‐

leitete soziologische Erforschung sozialer und ökologischer Verkehrs‐

folgen  und  deren Wechselwirkungen  weiterhin marginalisiert  (vgl. 

Rammler 1999). Dies ist umso verwunderlicher, als räumliche Mobili‐

tät  zweifellos  ein  zentrales Mensch‐Natur‐Interaktionsfeld  darstellt, 

welches  gleichzeitig  dringende  Fragen  der  sozialen  Ordnung  und 

Gerechtigkeit und des  globalen  gesellschaftlichen Wandels  aufwirft. 

Jüngste  breit  diskutierte Versuche,  das Verhältnis  von Mensch  und 

(städtischer  bzw.  gebauter)  Umwelt  neu  zu  definieren  und  sozial 

nachhaltige und umweltfreundliche Alternativen  zur  „Hypermobili‐

tät“  (hypermobility)  aufzuzeigen,  signalisieren  das  wachsende  (um‐

welt)soziologische  Interesse an der Erforschung räumlicher Mobilität 

(vgl.  Marzloff  2009).  Die  Stärke  dieser  „neuen“  Mobilitätstheorien 

liegt dabei in deren Fähigkeit, materielle Grundbedingungen mensch‐

lichen Handelns wie die Gestaltung urbaner Räume und die Planung 

und  Bereitstellung  von  Verkehrsinfrastruktur  mit  soziologischen 

Kernthemen  wie  der  Schaffung  sozialer  Ordnung  und  der  (Um‐

)Strukturierung wirtschaftlicher und politischer Machtverhältnisse zu 

verknüpfen. 

  Die Attraktivität  des  von Urry  entwickelten  „neuen Mobili‐

tätsparadigmas“  für die Umweltsoziologie  liegt zweifellos  in dessen 

theoretischer Vielschichtigkeit. So bildet  eine Fusion  strukturations‐, 

netzwerk‐ und  systemtheoretischer Ansätze das  theoretische Grund‐

gerüst. Besonders die von Urry vorgenommene „Mobilisierung“ der 

von  Bruno  Latour  entwickelten  Akteur‐Netzwerk‐Theorie  eröffnet 

zahlreiche Möglichkeiten,  nicht‐menschliche Akteure wie  Verkehrs‐

mittel  und  mobile  Technologie  in  gesellschaftstheoretische  Überle‐

gungen einzubeziehen. Gleichzeitig rückt die von Latour und Urry als 

zentrales Merkmal  (spät)moderner Gesellschaften  verstandene Hyb‐

ridisierung soziotechnischer Systeme in den Vordergrund.  

  Andererseits bleiben  jedoch auch die konzeptionellen Schwä‐

chen  etablierter  soziologischer  Ansätze  am  „neuen  Mobilitätspara‐

digma“  haften. Die wohl  größte Herausforderung  ist  die  von Urry 

(und  anderen)  geübte Kritik  an  der  konzeptionellen  Trennung  von 

Gesellschaft  und Natur, welche  bis  heute  in  der Umweltsoziologie 

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Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz

121

kontrovers  diskutiert  wird  (vgl.  Becker  2006;  Kraemer  2008).  Zum 

anderen hat die Betonung zahlreicher struktureller Einschränkungen 

menschlicher Mobilität zu dem Vorwurf geführt, dass das Mobilitäts‐

paradigma  dem  Individuum  jegliche  Fähigkeiten  abspräche,  zielge‐

richtet und unabhängig zu handeln. Zweifellos verdeutlicht die Über‐

nutzung natürlicher Ressourcen  zur Schaffung komplexer Verkehrs‐

systeme  die  (mehr  oder minder  starke) Abhängigkeit menschlichen 

Mobilitätsverhaltens  von Umweltbedingungen. Das  bedeutet  jedoch 

nicht, dass  soziale Akteure keinerlei Einfluss auf diese Bedingungen 

haben. Die Nutzbarmachung  und  damit  verbundene Umwandlung 

bzw.  Zerstörung  natürlicher  Ressourcen  ist  immer  noch  eine  der 

wichtigsten menschlichen Kulturleistungen und  somit von  zentraler 

Relevanz für die (Kultur‐)Soziologie. Trotzdem gilt es, die Einschrän‐

kungen  menschlicher  Handlungsmöglichkeiten  durch  biophysische 

Gegebenheiten  gleichermaßen  anzuerkennen  und  soziologisch  zu 

erforschen. So wirken sich die mit dem weltweiten Ausbau von Au‐

tomobilitätssystemen  verbundenen  Umweltbelastungen  nicht  nur 

direkt  auf  die  potenzielle  Mobilität  zukünftiger  Generationen  aus, 

sondern beeinflussen ebenso die in Zukunft verfügbaren gesellschaft‐

lichen Handlungs‐ und Gestaltungsmöglichkeiten. Die heute für viele 

(wenn  auch bei Weitem nicht  alle)  zugänglichen Mobilitätsangebote 

und  damit  verbundenen  Freiheiten  könnten  so  auf  lange  Sicht  eine 

dramatische Einschränkung des Handlungs(spiel)raums menschlicher 

Gesellschaften mit sich bringen.  

  Die durch die „Mobilitätswende“  in der Soziologie vorange‐

triebene systematische Beschäftigung mit den sozialen Ursachen und 

Folgen  räumlicher  (Im‐)Mobilität hat einen wichtigen politikrelevan‐

ten Beitrag zum Verständnis globaler Wandlungsprozesse geleistet. In 

Zukunft  gilt  es,  die  Kernaussagen  des  Mobilitätsparadigmas  einer 

eingehenden  Prüfung  zu  unterziehen.  Welche  nicht‐menschlichen 

Akteure  sollten  in  soziologische  Gesellschaftsmodelle  einbezogen 

werden? Welche Konsequenzen hat die konzeptionelle Entgrenzung 

von Natur und Gesellschaft  für die sozialwissenschaftliche Nachhal‐

tigkeitsforschung? Und wie kann das mobilitätsbezogene Zusammen‐

spiel von Mensch und Umwelt soziologisch analysiert werden, ohne 

Page 123: Streit um Materie?

Henrike Rau

122

dabei  den  Status  der  Soziologie  als  selbständige  wissenschaftliche 

Disziplin  zu  schwächen? Diese  und weitere  Fragen werden mit  Si‐

cherheit  im Mittelpunkt zukünftiger  sozialwissenschaftlicher Mobili‐

tätsdebatten stehen. 

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Teil 2: Gesellschaftliche Naturverständnisse von Akteuren

 

Page 131: Streit um Materie?
Page 132: Streit um Materie?

Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich

Konflikte um die Natur von Überschwemmungen am Beispiel des Rheinhochwassers von 1882/83

Patrick Masius 

1. Einleitung

Der Umgang mit Naturkatastrophen wurde im ausgehenden 19. Jahr‐

hundert zu  einer Herausforderung  für den  jungen deutschen Natio‐

nalstaat. Das Hochwasser  am Rhein  im Winter  1882/83, das hier  als 

Beispiel  für die Hochwasserpolitik  im Deutschen Kaiserreich dienen 

soll, provozierte vielfältige Reaktionen. In der preußischen Rheinpro‐

vinz, am Mittelrhein und oberen Niederrhein, wurden Ende Novem‐

ber  1882  die  höchsten Wasserstände  des  19.  Jahrhunderts  erreicht. 

Ende Dezember und Anfang  Januar  folgte  ein  zweites Hochwasser, 

das wieder  für  Schäden  in Millionenhöhe  sorgte,  diesmal  aber  den 

Oberrhein  (Hessen,  Baden,  Elsass,  Lothringen  und  die  Bayrische 

Pfalz) am  schlimmsten  traf. Hunderttausende mussten während der 

Hochwasser  ihre Häuser und Wohnungen verlassen. Teilweise wur‐

den ganze Gemeinden evakuiert. Einzelne Gebäude wurden von den 

Fluten zerstört und Verluste von Menschenleben durch Ertrinken wa‐

ren zu beklagen. Die Organisation der Hilfe wurde von Behörden und 

Hilfsvereinen  geleistet. Warum  aber war  es  überhaupt  so weit  ge‐

kommen?  

  Wissenschaftler  und  Politiker  suchten  nach  Erklärungen  für 

das Desaster und Möglichkeiten, um  einen  solchen Notstand  in Zu‐

kunft zu verhindern. Unabhängig von der Betrachtung der tatsächlich 

ergriffenen kurzfristigen und  langfristigen Maßnahmen,  ist es beson‐

ders  aufschlussreich, die  Interpretationen und Diskussionen um die 

Ursachen  des Hochwassers  zu  verfolgen. Dadurch  eröffnet  sich  ein 

Page 133: Streit um Materie?

Patrick Masius

132

Blick auf die zeitgenössischen Auseinandersetzungen über Natur und 

Naturkatastrophen.  

  Unter  „Natur“  verstehe  ich  ein  universales Konzept,  das  in 

Opposition zu Kultur zu begreifen ist und mit verschiedenen Inhalten 

gefüllt sein kann (vgl. Douglas 1982: 209); und spezieller ein aufkläre‐

risches Motiv, das in kantischer Tradition im Gegensatz zum vernünf‐

tigen Handeln  des Menschen  steht  (vgl. Habermas  1981:  72  ff.).  In 

Anlehnung an Habermas wird die kausale Ordnung der Natur in Se‐

paration von der normativen Ordnung der Gesellschaft begriffen (vgl. 

ebd.:  80). Dabei  sind Umwelt  und Natur  durch  die Gleichzeitigkeit 

von  materieller  Realität  und  sozialer  Konstruktion  bestimmt  (vgl. 

Brüggemeier  2004:  65).  In der Naturkatastrophe werden Natur  (Na‐

turereignis)  und  Kultur  (verwundbare  Gesellschaft) miteinander  in 

Bezug gesetzt. Eine Naturkatastrophe  ist nämlich nichts  anderes  als 

eine „Sammel‐Bez. für alle extremen Naturereignisse, die nicht nur zu 

großen  Schäden  in  der Natur,  sondern  v. a.  an  vom Menschen  ge‐

schaffenen Bauwerken und Infrastruktur sowie zahlreichen Todesop‐

fern,  Verletzten  und  Obdachlosen  führen“  (Brockhaus  2005).  Die 

Wahrnehmung  von  und  der Umgang mit Naturgefahren  unterliegt 

dabei  sozialen  Mechanismen  und  ist  kein  naturgegebener  Prozess 

(vgl. Weichselgartner 2002). 

  Nach dem Rheinhochwasser 1882/83 wurden unterschiedliche 

Interpretationen der Überschwemmungskatastrophe verhandelt. Auf 

der einen Seite wurden extreme Wetterereignisse als Ursache heraus‐

gestellt; auf der anderen Seite wurde die Verantwortung in den nega‐

tiven Auswirkungen von Entwaldung und Flusskorrekturen gesehen 

(Brüggemeier 2004: 78).1 Nachfolgend werden diese Positionen nach‐

vollzogen und ihre jeweiligen politischen Implikationen vor dem Hin‐

tergrund  jüngerer  Studien  von  Peter  Weingart  (2008)  und  David 

Blackbourn  (2006)  erklärt. Gemäß der  oben  angedeuteten Trennung 

1   Brüggemeier überzeichnet die Bedeutung dieser Position  im 19.  Jahrhundert. 

Im Verlauf des Artikels wird sich zeigen, dass sie sich entgegen Brüggemeiers 

Annahme nicht durchgesetzt hat. 

Page 134: Streit um Materie?

Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich

133

von  Natur  und  Kultur  werden  die  Positionen  grundlegend  nach 

anthropogenen und nicht‐anthropogenen Ursachen gegliedert.  

2. Ursachendiskussionen in Politik und Wissenschaft

Direkt nachdem der Rhein wieder in geordneten Bahnen floss, wurde 

am 23.  Januar 1883 ein offizieller Antrag von Dr. Thilenius und Ge‐

nossen an den Reichstag gestellt. Er beinhaltete die Aufforderung, die 

„derzeitigen Stromverhältnisse des Rheines und der  ihm zuströmen‐

den Nebenflüsse, mit Einschluss des Oberlaufs derselben“ zu unter‐

suchen, sowie die Prüfung der Frage, „ob und wieweit die betreffen‐

den  Stromverhältnisse  auf die  in den  letzten  Jahren  sich häufenden 

und in jüngster Zeit so ungewöhnlich verderblichen Hochfluthen des 

Rheines von Einfluß gewesen  sind“  (RTA 1883: 467).2  In der Reichs‐

tagssitzung  vom  9. Mai wurde  der Antrag  nach  langer Diskussion 

mehrheitlich angenommen. Die Frage nach den Hochwasserursachen 

war also ein Politikum geworden. Beantwortet werden sollte sie von 

sachverständigen  Wasserbauingenieuren.  Neben  der  Untersuchung 

der  Stromverhältnisse wurde  nach  dem  Jahrhunderthochwasser  am 

Rhein auch eine Untersuchung der Waldverhältnisse und ihres mögli‐

chen Einflusses auf Überschwemmungsereignisse angeordnet. Nach‐

folgend  werden  die  Diskussionen  in Wissenschaft  und  Politik  zu‐

sammengefasst, die stattfanden, bevor die empirischen Untersuchun‐

gen erfolgt waren.  

2.1 Natürliche Ursache: Die außergewöhnlichen Niederschlä-ge von 1882

Nach dem Jahrhunderthochwasser  im Winter 1882/83 wurde ein ein‐

flussreicher Artikel von Max Honsell, einem Badenser Oberbaurat  in 

Karlsruhe, veröffentlicht. Honsell ordnete die außergewöhnliche Häu‐

fung  von Hochwasserereignissen  am Rhein  in  einen  Trend  ein,  der 

weder von wasserbaulichen noch von irgendwelchen kulturellen Fak‐

2   An  dieser  Stelle  gilt  anzumerken,  dass  es  eine Ausnahme war,  dass Über‐

schwemmungen Thema von Reichstagsverhandlungen wurden. 

Page 135: Streit um Materie?

Patrick Masius

134

toren beeinflusst gewesen  sei. Der  einende Faktor  seien die Nieder‐

schlagsverhältnisse  gewesen.  „Gegen  Ende  November  nahmen  die 

massenhaften  Regenfälle  immer  grösseren Umfang  an,  so  dass  von 

den meisten Stromgebieten Mitteleuropas über Hochwasser berichtet 

wurde“ (Honsell 1883: 3). Er beschrieb ausführlich die Niederschlags‐

verhältnisse des Jahres 1882. Als Folge dieser außergewöhnlich nassen 

Periode in ganz Mitteleuropa nannte er die „Überschwemmungskata‐

strophen“ in Tirol und Kärnten Mitte September und das Rheinhoch‐

wasser Ende des  Jahres. Gestützt wurde  sein Argument durch  jahr‐

zehntelange Niederschlagsmessungen  in Karlsruhe.  Ein  erstes  Fazit 

lautete:  

 

Die  außerordentlichen  Regenverhältnisse  der  1870er  Jahre, 

und  des  Jahres  1882  insbesondere, wie  sie  hier  beschrieben 

worden, und wie sie aus den graphischen Darstellungen noch 

deutlicher  ersichtlich, und die  ja  bekanntlich  auch mit  einer 

kosmischen Erscheinung  (Sonnenflecken)  in Verbindung  ge‐

bracht worden  sind,  dürften  denn  doch  die  außergewöhnli‐

chen Hochwassererscheinungen dieser Zeit genugsam  erklä‐

ren, und  fast möchte man sich der Mühe enthoben erachten, 

hier noch anderen Ursachen nachzuspüren. (ebd.: 16)  

 

Auch die Anlage von Sammelbecken hätte nichts an dem Hochwasser 

ändern können, weil ihre Kapazitäten lange vor dem November schon 

erschöpft gewesen wären (ebd.: 17 f.). Andere Ursachen, die zur Dis‐

kussion  standen,  hätten  lediglich  „begleitende  Ursachen“  sein  und 

keine große Wirkung haben können (ebd.: 16). 

 

Page 136: Streit um Materie?

Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich

135

 Abbildung 1: Graphik aus Max Honsells Schrift, die den Zusammen‐

hang zwischen Niederschlägen und Hochwasser darstellt. 

 

Im Reichstag führte Dr. Thilenius am 9. Mai 1883 anschaulich anhand 

von  hydrometrischen  Karten  und  Diagrammen  aus  Max  Honsells 

Schrift  (siehe  Abb.1)  aus,  dass  der  außergewöhnliche  Regen  das 

Hochwasser  verursacht  habe. Der Maxauer  Pegel, der  hier  Betrach‐

tung  findet,  liegt am Oberrhein und hat deshalb nur  für das zweite 

Hochwasser  im Dezember  und  Januar  direkte Aussagekraft. Unter‐

schlagen wird in dieser Korrelation von Niederschlag und Pegelstand 

das Hochwasser am Mittelrhein Ende November.  

  „Wer  einigermaßen  der  meteorologischen  Gestaltung  der 

Dinge gefolgt ist, der wird gefunden haben, dass sich in der Zeit über 

ganz Westeuropa ein breites, mächtiges Regengebiet ausgebreitet hat‐

te, welches von Nord nach Süd sich erstreckend das Rheingebiet ein‐

begriff“, resümiert Thilenius, und weiter: „meine Herren, wenn man 

nun den Regenhöhen etwas nachgeht, wie sie in dem erwähnten Wer‐

ke von Honsell verzeichnet sind, so  findet sich, dass  in der That die 

Hochfluthen am Rhein ganz genau parallel gehen mit den abnormen 

Regenfällen“  (RTV  1883:  2431). Er  folgerte daraus konsequent:  „Das 

steht fest, die letzte Flut ist nicht den Hydrothekten in die Schuhe zu 

schieben, die hat ganz entschieden der liebe Himmel selbst gemacht“ 

(ebd.). Andere Abgeordnete nehmen den von Thilenius gesponnenen 

Page 137: Streit um Materie?

Patrick Masius

136

Faden auf und führen ihn gemäß ihrer Fasson weiter. Ein Kölner Ab‐

geordneter  der  Zentrumspartei3,  Reichensperger,  rekapitulierte  die 

„fast malerische Weise“, in der Thilenius Wolkenbrüche und Föhn als 

Ursachen des Hochwassers herausgestellt hatte. Er zog allerdings aus 

den Ausführungen den Schluss, dass  jegliches Bemühen, Vorkehrun‐

gen zu  treffen,  in Anbetracht der ganz ungewöhnlichen, „in der Ge‐

schichte  kaum  jemals  dagewesenen“ Vorkommnisse  vergeblich  sein 

müssten und deshalb der Antrag von Dr. Thilenius und Genossen zur 

Untersuchung der Stromverhältnisse keinen Sinn  ergebe  (RTV  1883: 

2442). Auch der deutsch‐konservative Marcard aus Bielefeld erklärte, 

„dass die Ereignisse am Rhein auf ganz außerordentlichen und sehr 

selten wiederkehrenden elementaren Erscheinungen beruhen“. Seine 

Konsequenz lautete, dass die einzige Lösung, um den „massenhaften 

Regengüssen gegenüber das enge Thal des Stromes zu schützen“, eine 

Erweiterung  des  Hochwasserprofils  sei  (ebd.:  2434).  Dieser  Ansatz 

entsprach den Ideen von Johann Gottfried Tulla, dem Vater der Ober‐

rheinkorrektur  im 19.  Jahrhundert.4 Allerdings kann ein solcher Plan 

nur ausnahmsweise und lokal verwirklicht werden, weil menschliche 

Besiedlung sowie natürliche Hindernisse einer willkürlichen Erweite‐

rung des Flussbettes entgegenstehen (vgl. ebd.: 2435). 

  Im preußischen Abgeordnetenhaus wurden am 15. Januar die 

Hochwasserursachen  im  Rahmen  eines  Beschlusses  zur  Unterstüt‐

zung  der  Hochwassergeschädigten  schon  vor  Erscheinen  von Max 

Honsells  Schrift  diskutiert.  Auch  hier wurden  die  ungewöhnlichen 

3   Die Zentrumspartei verstand sich  in Opposition zu einer Koalition von Kon‐

servativen, Liberalen und Bismarck. 4   Johann Gottfried Tulla  (1770‐1828) war  ein Wasserbauingenieur, der Anfang 

des  19.  Jahrhunderts  die  Pläne  zur Korrektur  des Oberrheins  von  Basel  bis 

Worms entwarf. Im Zuge der Begradigungsarbeiten, deren Durchführung bis 

1870 andauerte, wurde der Oberrhein von 354 km auf 273 km verkürzt. Der 

Rhein  sollte  in einem  einzigen geraden Bett  fließen. Dies würde  sowohl den 

jährlichen  Überschwemmungen  der  Auen  entgegenwirken  wie  auch  die 

Schiffbarmachung erleichtern. Die Gewinner und Verlierer des Projekts finden 

sich  bei  Blackbourn  (2006:  96  ff.).  Tulla  ging  in  die Geschichte  ein  als  „der 

Mann, der den wilden Rhein zähmte“ (ebd.). 

Page 138: Streit um Materie?

Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich

137

Niederschläge des  Jahres 1882 als Ursache benannt, wenngleich man 

dies nicht wissenschaftlich fundieren konnte. In den Worten des nati‐

onalliberalen Dr. Hammacher aus Essen hieß es: „Ich für meinen Theil 

schreibe  die  wesentlichen  Ursachen  der  jetzigen  Wassersnoth  den 

ungewöhnlich  starken Niederschlägen  zu,  die  bereits  seit mehreren 

Jahren Centraleuropa heimgesucht haben“  (PAV 1883: 458). Ähnlich 

erklärte der Abgeordnete Bachem:  „Sie  [die Ursachen]  liegen  ja  zu‐

nächst  in  den  abnormen Witterungsverhältnissen  des  vergangenen 

Jahres,  in  den  unendlichen  Regengüssen,  und  in  dieser  Beziehung 

werden wir  die Regulierung  allerdings  dem  lieben Gott  überlassen 

müssen.“ Er  folgerte weiter, „hier kann der Staat nicht hineinreden“ 

(ebd.: 458).5 Auch der konservative und Bismarck verbundene Innen‐

minister Puttkamer unterstützte diese Auffassung: „Der Abgeordnete 

Hammacher  hat  vollkommen  richtig  hervorgehoben,  dass  die 

eigenthümliche klimatische und meteorologische Konstellation dieses 

Sommers  die  eigentliche  Ursache  der  Ueberschwemmung  gewesen 

ist. [...] dass da eine ungewöhnliche und im ganzen Jahrhundert uner‐

hörte  Hochfluth  entstand,  das  ist  begreiflich  und  unvermeidlich“ 

(ebd.: 459).  

  Es  ist  wohl wenig  erstaunlich,  dass  Regen  als  Ursache  für 

Überschwemmungen  genannt  wird.  In  Zusammenhang  mit  dem 

Hochwasser am Rhein ist dieser Punkt jedoch bemerkenswert, weil es 

auch gute Gründe dafür gab, die Ursache nicht  in den meteorologi‐

schen Bedingungen zu sehen, sondern in anthropogenen Eingriffen in 

die Natur. 

2.2 Menschliche Ursachen: Entwaldung und Flusskorrektu-ren in der Kritik

Zu den anthropogenen Ursachen, die in Wissenschaft und Politik ver‐

treten wurden, gehörten Entwaldung und Flusskorrekturen. Der rhei‐

nische  Abgeordnete  Bachem  von  der  Zentrumspartei  erklärte  am 

5   Seine Vorstellung  steht  fest  in  biblischer Tradition.  Siehe  z. B.  Ijob  5,10:  „Er 

[Gott] spendet Regen über die Erde hin und sendet Wasser auf die weiten Flu‐

ren“. 

Page 139: Streit um Materie?

Patrick Masius

138

15. Januar im preußischen Abgeordnetenhaus, dass zu den Ursachen – 

jenseits der Niederschläge – auch solche gehörten, die im Bereich poli‐

tischer Entscheidung stehen: „Es gibt aber andere Ursachen, welchen 

die  königliche  Staatsregierung  ihre  volle Aufmerksamkeit wird  zu‐

wenden müssen, und das ist insbesondere die viel und, wie ich glaube 

mit Recht  angefochtene Regulierung des Rheinstroms und dann die 

Abholzung in den Gebieten der Nebenflüsse des Rheins“ (PAV: 455). 

In einem kritischen Artikel zu Wissenschaft und Politik der Hochwas‐

servorbeugung, der höchstwahrscheinlich aus dem Umfeld des Was‐

serbauwesens  stammte6,  schrieb(en) der  (die)  anonyme(n) Verfasser: 

Zwar sei man außer Stande, „die Menge des vom Himmel niederfal‐

lenden Wassers abzuändern“ (Anonymus 1883), aber hilfreiche Maß‐

nahmen zur Vermeidung und Einschränkung von Hochwasserzerstö‐

rungen  seien  trotzdem möglich.  „Wir müssen deswegen unser Stre‐

ben darauf richten, zu bewirken, daß so große Wassermengen, die in 

kurzer Zeit herunter fallen, nicht in derselben kurzen Zeit zum Abfluß 

gelangen, sondern zurückhalten und ganz allmälig im Verlauf länge‐

rer Zeiträume an die Flüsse abgegeben werden“ (ebd.: 5).  

2.2.1 Entwaldung

Der  Anonymus  führte  anhand  von  internationalen  Beispielen  aus, 

dass  Bewaldung  den  oberirdischen Wasserabfluss  verhindere,  dass 

die  Trockenlegung  vieler  kleiner  Seen  die  Hochwassermengen  der 

Flüsse vergrößert habe und dass Eindeichungen das Hochwasserpro‐

fil verengen und den Spiegel des Hochwassers unterhalb heben wür‐

den. Die schweren Hochwasserereignisse  in Tirol im September 1882 

wurden als Beweis für die schädlichen Folgen der Entwaldung ange‐

führt.  

 

Auch  in Deutschland  sind  schon  zu  viele Wälder  niederge‐

schlagen  und  die  Erhaltung  der  übrig  gebliebenen  ist  nicht 

überall  genügend  gesichert.  In  einem  wohl  eingerichteten 

6   Die differenzierten Kenntnisse über Wasserbauingenieure und wasserbauliche 

Ausbildung können eigentlich nur intern erworben worden sein. 

Page 140: Streit um Materie?

Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich

139

Staate  sollte  durch  Gesetze  festgestellt werden, welche  Flä‐

chen  im  allgemeinen  Landesinteresse  behufs  Regelung  des 

Wasserabflusses dauernd bewaldet werden müssen, und die‐

se  Flächen  sollten  vom  Staate  erworben  und  bewirtschaftet 

werden [...]. (ebd.: 12 f.) 

 

Zur  Verhinderung  des  oberirdischen  Abflusses  sei  Bewaldung  das 

beste Mittel  (vgl. ebd.: 7). „Die Waldfrevel der Russen und Österrei‐

cher, die bei uns die Hochwasserverhältnisse verschlimmern“ müss‐

ten ebenso zur Kenntnis genommen werden, wie dass „die  Italiener 

uns die Vögel wegfangen und die Niederländer die Lachse“. Entspre‐

chende  Einfuhrverbote  von  russischem  und  österreichischem  Holz 

seien zu erlassen (vgl. ebd.: 17‐25).  

  Auch der preußische Baurat a. D. Diek hielt Entwaldung  für 

einen  relevanten  Faktor.  Im Einzelnen verfuhr  er historisch und  ar‐

gumentierte von  einem grundlegenden Wandel der Landschaft  aus‐

gehend.  Im Laufe der  Jahrhunderte hätten die Wald‐, Wiesen‐, Wei‐

den‐ und Wasserflächen im Rheingebiet abgenommen. Diese Flächen 

seien  aber notwendig, um das niederfallende Wasser  aufzunehmen. 

„Folge  hiervon  ist,  dass  dieselbe  eine Hochflut  erzeugende Nieder‐

schlagsmasse, welche  in den vorigen Jahrhunderten herabfiel,  in die‐

sem  Jahrhundert  herabfallend  dem Meere  in  kürzerer  Zeit  und  für 

eine Sekunde in größerer Menge zuströmt“ (Diek 1883: 5).  

  Darüber hinaus hätten die Abnahme dieser Flächen und die 

gleichzeitige Vermehrung von Ödland und Ackerflächen zu verstärk‐

ter  Bodenerosion  geführt.  Die  Verwitterungsprodukte  der  Erosion 

seien  in  stehenden Gewässern  und  Talniederungen  angeschwemmt 

worden. Dadurch  seien  zum  einen  natürliche Rückhaltebecken  ver‐

kleinert und zum anderen die Sohle des Rheins erhöht worden. Au‐

ßerdem hätten der Bau von Wege‐, Straßen‐, Eisenbahndämmen und 

Deichen  entlang  des  Flusses  sowie  Hafenanlagen,  Kaimauern  und 

Brücken  im Laufe der Jahrhunderte die Hochwasserprofile stark ein‐

geschränkt. Größere Überschwemmungen  seien die Folge  (vgl. ebd.: 

5‐8). Entsprechend dieser Diagnose  lauteten die  zu  treffenden Maß‐

nahmen: Es sollten Öd‐ und Ackerland, insofern diese Flächen häufi‐

Page 141: Streit um Materie?

Patrick Masius

140

gen Überschwemmungen ausgesetzt sind, „aufgeforstet oder beraset“ 

werden, weil dadurch eine Menge von Niederschlägen im Boden ge‐

speichert werden könne (ebd.: 9). 

  Die These der Entwaldung wurde  im preußischen Abgeord‐

netenhaus  im Hinblick  auf  das Rheinhochwasser  differenzierter  be‐

trachtet. Es wurde angeführt, dass in den vorherigen 30 Jahren „abge‐

sehen von der geschehenen ganz ansehnlichen Wiederbewaldung, die 

Abholzung gerade im Stromgebiet des Rheins nur in rationeller Weise 

stattgefunden“ habe (PAV 1883: 456). Innenminister Puttkamer beton‐

te in diesem Zusammenhang die Verdienste der Staats‐ und Kommu‐

nalverwaltung der Rheingegend, insbesondere der Eifelgegenden. „In 

unserem engeren Vaterlande“ – gemeint  ist Preußen –, erklärte Putt‐

kamer,  würde  man  Entwaldung  „nur  schwerlich  als  Quelle  des 

Nothstandes nachweisen können“ (ebd.: 459). Der Zentrumsabgeord‐

nete Reichensperger stimmte mit dieser Auffassung überein, glaubte 

aber, dass noch mehr für die Aufforstung getan werden könnte, und 

wies auf die 1875 von der Schweiz verabschiedeten Waldschutzgeset‐

ze als gutes Vorbild hin. Dort würde auch die Laubstreunutzung be‐

rücksichtigt werden,  die  bei  der  Entstehung  des  Rheinhochwassers 

durchaus eine Rolle gespielt habe (vgl. ebd.: 461 f.). Laut dem Abge‐

ordneten Berger  (Deutsche Fortschrittspartei) hatte nämlich die Ent‐

nahme von Streu im Gebiet der Bayrischen Pfalz (am Haardtgebirge) 

einen  unzulässigen  Umfang  erreicht.  Gerade  diese  Entnahme  von 

trockenem Laub aus den Wäldern sei von sachverständiger Seite als 

wichtig  für das Zurückhalten und Speichern des Wassers  festgestellt 

worden (vgl. ebd.: 456). 

  In  Fachkreisen  war  der  Zusammenhang  zwischen  Entwal‐

dung und Überschwemmungsereignissen  schon  seit den 1760er und 

1770er  Jahren  in Europa  im Gespräch, wobei die  französische École 

des Ponts et Chaussées eine Vorreiterrolle einnahm. Nach den schwe‐

ren Überschwemmungen der Garonne im Jahre 1875, die auf die Ent‐

waldung  der  Pyrenäenabhänge  zurückgeführt  wurden,  wurde  das 

Thema  zumindest  in der  Schweiz  von  einer  breiteren Öffentlichkeit 

ernst genommen. Es wurde  in den Debatten nach dem Hochwasser 

von 1876 als komplementäre Erklärung zu den unvollendeten Korrek‐

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Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich

141

turen verwendet (vgl. Müller 2004: 71‐74). „1876 hat sich das wissen‐

schaftliche  Paradigma  der  Abholzung  vollends  durchgesetzt.  Die 

Wasserbauer  waren  in  Erklärungsnotstand:  trotz  unzähliger  Ver‐

bauungen waren Überschwemmungen wohl  nicht  aus  der Welt  zu 

schaffen“  (ebd.:  107),  schreibt  der  Schweizer Umwelthistoriker Reto 

Müller zur Situation  in der Schweiz. Daraufhin wurden am 10.  Juni 

1876  eidgenössische  Forstgesetze  zum  Waldschutz  erlassen  (vgl. 

ebd.: 112). Diese wurden wie oben erwähnt bei den Diskussionen um 

die Rheinhochwasser in Deutschland positiv hervorgehoben.  

  In Deutschland  selbst war  Entwaldung  ein wichtiges Argu‐

ment.  1857  wurde  die  fortschreitende  Abholzung  als  Ursache  für 

Hochwasser  in  Franz  Müllers  Schrift  „Die  Gebirgsbäche  und  ihre 

Verheerungen“ prominent gemacht (Müller 1857). Aber die These war 

in  Bezug  auf  das Rheinhochwasser  1882/83  nicht  unumstritten. Mit 

Bezug auf das Abholzungsparadigma in der Schweiz haben die Histo‐

riker Pfister und Brändli herausgestellt, dass Entwaldung  tatsächlich 

keinen Einfluss auf die  schweren Überschwemmungen des 19.  Jahr‐

hunderts  gehabt  habe.  Das  außergewöhnliche  Niederschlagsregime 

habe aber entscheidend dazu beigetragen, dass Forstleute das Abhol‐

zungsproblem in Bezug auf Überschwemmungen prominent machen 

und  sogar  eine Waldschutzgesetzgebung  erwirken konnten. Die  ge‐

troffenen  Maßnahmen  konnten  schwere  Hochwasserkatastrophen 

wohl  nicht  verhindern,  wohl  aber  auf  lokaler  Ebene  Schäden  von 

Überschwemmungen, Lawinen, Steinschlägen und Erosion minimie‐

ren (vgl. Pfister/Brändli 1999). 

  Der  badische  Wasserbauingenieur  und  Rheinexperte  Max 

Honsell versuchte  einen möglichen Einfluss auf die Hochwasserent‐

wicklung am Rhein zu widerlegen. Er rekapitulierte die Waldverhält‐

nisse entlang des Flusses und kam zu dem Schluss, dass es in jüngerer 

Zeit  keine  einschneidenden Abholzungen  gegeben  habe.  „Schwarz‐

wald, Odenwald, das pfälzische Hardtgebirge, Spessart und Fichtel‐

gebirge  gehören  zu  den  best  bewaldeten  Gegenden  des  deutschen 

Mittelgebirges  [...].  Er  [der Wald]  untersteht  zum  größeren  Theile 

forstpolizeilicher  Beaufsichtigung“  (Honsell  1883:  17).  Gerade  der 

Main und der Neckar seien aber besonders hoch gestiegen, was also 

Page 143: Streit um Materie?

Patrick Masius

142

unmöglich auf  eine Entwaldung  ihrer Einzugsgebiete  zurückgeführt 

werden kann. Der Teil des Waldes, der in Privatbesitz übergegangen 

sei, wäre aufgrund seines geringen Umfangs zu vernachlässigen. Al‐

les Übrige würde rationell bewirtschaftet  (vgl. ebd.). Thilenius  folgte 

Honsell und erzählte, dass sogar der Waldboden durch die Wolken‐

brüche  übersättigt war  und  die  kleinsten  Rinnsale  sich  in  reißende 

Ströme verwandelt hatten. Diese Rinnsale  ergossen  sich zunächst  in 

die Nebenflüsse Main, Neckar, Lahn und Mosel und  trafen dann  im 

Rhein  zusammen.  Lediglich  die  fehlgeleitete  Laubstreunutzung  im 

bayrischen Hardtgebirge, wie sie auch von Berger  im Abgeordneten‐

haus  hervorgehoben  wurde,  fand  Thilenius  bedenklich  (vgl.  RTV 

1883: 2431).  

  Honsell berührte  in  seinen Ausführungen  ausschließlich gut 

bewaldete Mittelgebirge im Einzugsgebiet des Rheins und ließ „Prob‐

lemzonen“ wie die Eifel unberücksichtigt (Honsell 1883: 17).7 An der 

Wende  zum  19.  Jahrhundert  hatte  in Deutschland  eine  letzte  große 

Rodungswelle stattgefunden. In den preußischen Gebieten setzte auf‐

grund des  Edikts  zur Aufhebung  der Rodungsbeschränkungen  von 

1811 besonders  „am Waldrand  der Eifel,  im Bergischen Land und  am 

Rhein,  besonders  im  Kreis  Bonn“  eine  Rodungswelle  ein  (Hesmer, 

zitiert in: Mantel 1990: 68; Hervorhebung P. M.). In Preußen seien da‐

raufhin viele Landstriche und Gemeinden durch die Vernichtung der 

Wälder verwüstet worden  (vgl. Hagen  1894:  79). Der  Innenminister 

von Puttkamer sprach von einer Zunahme der Waldfläche in der Eifel 

in  den  letzten  30  bis  40  Jahren  und meinte,  Entwaldung  könne  bei 

diesem  Hochwasser  deshalb  keine  Rolle  gespielt  haben  (vgl.  PAV 

1883: 459). Dagegen sprechen die Daten, die der Forsthistoriker Man‐

tel  zusammengestellt  hat. Demgemäß war  sogar  nach  1883,  als  die 

Bewaldung  im gesamten Deutschen Reich erstmalig wieder zunahm, 

die Waldfläche  im Westen  des  Landes  immer  noch  rückläufig  (vgl. 

Mantel 1990: 70). Insbesondere in den Regierungsbezirken Düsseldorf 

(25 %), Köln (12 %), Münster (13 %) und Koblenz (9 %) – also den Be‐

7   Der  Einfluss  der  Eifel  auf  die Mosel  ist  vergleichbar mit  dem  Einfluss  des 

Odenwaldes auf den Neckar, der von Honsell unter anderem betont wird. 

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Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich

143

zirken,  die  von  den  Überschwemmungen  am Mittelrhein  betroffen 

waren – war eine Abnahme der Waldfläche zwischen 1878 und 1935 

zu verzeichnen (vgl. ebd.).  

  Honsell,  Thilenius  und  auch  der  preußische  Innenminister 

Puttkamer  hielten  Entwaldung  im  Falle  der  Rheinhochwasser  also 

nicht für relevant. Diese Position wurde auch 1885 von dem Karlsru‐

her Ministerialrat Schenkel vertreten. In seinem mündlichen Bericht in 

der auf Thilenius’ Antrag hin eingerichteten Untersuchungskommis‐

sion zu den Stromverhältnissen am Rhein versuchte er die Situation in 

Deutschland  von  der  in  den Alpen‐  und  Pyrenäenregionen  (Öster‐

reich, Schweiz, Frankreich) abzugrenzen, weil hier das „Abholzungs‐

paradigma“ wie oben beschrieben bereits etabliert war:  

 

Nach Ansicht des Referenten  [Schenkel]  ist einerseits an sich 

die Bedeutung der Bewaldung  für die Wasserzurückhaltung, 

namentlich  für  die  hier  in  Betracht  kommenden  extremen 

Verhältnisse  länger  dauernder,  stärkerer,  auf  große  Gebiete 

sich  erstreckender Niederschläge  nicht  zu  überschätzen,  an‐

dererseits sind die Waldverhältnisse sowohl was Umfang und 

Art der Bewaldung, als was die übliche Waldwirthschaft an‐

betrifft,  in den deutschen Einzugsgebieten des Rheines, und 

insbesondere in dem für die Retentionswirkung hauptsächlich 

in  Betracht  kommenden Mittelgebirge,  namentlich  auch  bei 

einer  Vergleichung  mit  den  Verhältnissen  des  österreichi‐

schen,  schweizerischen  und  südfranzösischen  Hochgebirgs‐

gebiets,  als  günstige  zu  bezeichnen,  so  dass  jedenfalls  nach 

dem  derzeitigen  Stande  der  gemachten  Beobachtungen  und 

Erfahrungen vom Standpunkte der vermehrten Sicherung ge‐

gen Rheinhochwasser Maßnahmen hinsichtlich der Vermeh‐

rung der Waldungen  [...]  in den deutschen Einzugsgebieten 

des Rheins nicht vorzuschlagen sind. (RUR 1885: 8 f.) 

Auch  in  der  Kommissionssitzung  drei  Jahre  später  trug 

Schenkel keine neuen Erkenntnisse vor. Nach wie vor wurde 

die  Bewaldungsproblematik  als  irrelevant  in  Bezug  auf  die 

Rheingebiete betrachtet und die positive Entwicklung  in Be‐

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Patrick Masius

144

zug  auf  die Waldwirtschaft  in  Deutschland  hervorgehoben 

(vgl. RUR 1888: 7 f.). 

 

Kurioserweise  wurde  in  einem  von  der  Regierung  edierten  Über‐

blickswerk zum Großherzogtum Baden aus dem Jahr 1885 ausdrück‐

lich erklärt, dass eine geschlossene Bewaldung das beste Mittel zum 

Schutz gegen die  „Verheerungen  zeitweiser Hochwasser“  am Rhein 

sei und dass manche Höhenzüge nicht genügend bewaldet seien (Ba‐

den  1885:  418). Die Diskussion  um  die  Frage  des  Zusammenhangs 

zwischen Entwaldung und Hochwassergefahr kann letztlich nur lokal 

und empirisch entschieden werden. Es zeigt sich  jedoch unabhängig 

davon, dass bestimmte Interessen mit der Entscheidung einhergehen. 

So  kann  das  Interesse  an  vermehrter  Bewaldung  gut mit Hilfe  des 

Schutzwaldarguments  durchgesetzt  werden  (vgl.  Pfister/Brändli 

1999), während andererseits meteorologische Extrema hervorgehoben 

werden, um die bestehende Waldpolitik in ein günstiges Licht zu set‐

zen. Bemerkenswert ist weiterhin, dass das „Abholzungsparadigma“, 

wie es sich in Frankreich und der Schweiz ohne festen wissenschaftli‐

chen Rückhalt entwickelt hatte  (vgl. ebd.), als gegeben angenommen 

wurde  und  man  sich  dagegen  abgrenzte.  Nach  dem  Motto,  in 

Deutschland sei der Wald  in Ordnung, wurde nationales Gedanken‐

gut an der Abholzungsfrage aufgehängt. Die „Waldfrevel der Russen 

und Österreicher“ aber seien es gewesen, die die Hochwassergefahr in 

Deutschland verschärften (Anonymus 1883: 18). Die Konkurrenz zwi‐

schen  den  drei  großen  europäischen Monarchien  schwingt  hier  gut 

hörbar mit.  Es werden  also  auch  handfeste  politische  Interessen  in 

diesem scheinbar rein wissenschaftlichen Problem sichtbar. 

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Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich

145

2.2.2 Flusskorrekturen

„Das haben mit ihren Steinen die Hydrothekten gethan“  

(RTV 1883: 2432)8 

 

Flusskorrekturen und andere wasserbauliche Maßnahmen standen im 

19. Jahrhundert insbesondere am Rhein in der Kritik. In Preußen seien 

mangelhafte Schutzdämme  (besonders am Niederrhein) und die An‐

lage von Buhnen und Kribbenwerken, die  zur Versandung von Re‐

servoirs  führten, verantwortlich  für  einen  beschleunigten Wasserab‐

fluss  und  eine Verschärfung  der Hochwassergefahr  (PAV  1883:  462 

f.).9 Hauptsächlich konzentrierte sich die Diskussion aber auf die von 

Tulla geplante Oberrheinbegradigung, die in den 1870er Jahren ihren 

Abschluss fand.  

  Im  Reichstag  erklärte  Dr.  Thilenius,  die  Hydrotechnik  sei 

„nicht ganz von Sünden freizusprechen“ (RTV 1883: 2432). Durch die 

Einengung  des  Strombettes  habe  sich  die  Schnelligkeit  des  Stromes 

vermehrt und damit die Gefahr der Überschwemmung gesteigert. Da 

die Rheinregulierung von den politischen Verhältnissen maßgeblich 

beeinflusst worden war,  sollte die Problematik  eher  strukturell ver‐

standen werden.  So  „war  eben  nicht  ein  einheitlicher  Plan  für  das 

ganze  Rheingebiet  aufgestellt, wie man  es  doch  hätte  voraussetzen 

müssen“ (ebd.). Thilenius vergaß an dieser Stelle, dass das Projekt der 

Oberrheinbegradigung erst durch die zentralisierten politischen Ver‐

hältnisse  unter  der  napoleonischen Herrschaft Anfang  des  19.  Jahr‐

hunderts möglich geworden war. Blackbourn konstatiert: „Hydrology 

and  diplomacy were  inseparable  elements  of  Rhine  rectification.  It 

was  the  French  revolutionary  and Napoleonic  armies  that  radically 

simplified  the map  of Germany  and  created  the  political  space  for 

Tulla’s ideas to receive their first hearing” (Blackbourn 2006: 91). Nach 

8   Laut Dr. Thilenius  in  seiner Reichstagsrede  spiegelt dieser Satz die Meinung 

der Bevölkerung wider. 9   Außerdem werde  laut Biesenbach die Notwendigkeit missachtet, die Rhein‐

sohle durch Ausbaggern zu vertiefen. 

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Patrick Masius

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1815 wurde das Problem mehrerer Anrainerstaaten mit unterschiedli‐

chen Interessen am Rhein allerdings valent. Preußen, Hessen, Baden, 

die Bayrische Kurpfalz und Elsass‐Lothringen hatten keine geeigneten 

übergreifenden Verwaltungsstrukturen und deshalb Schwierigkeiten, 

in länderübergreifenden Fragen zu entscheiden. 

  Anhand  der  Oberrheinkorrektur  in  Baden  verdeutlichte 

Thilenius  die Notwendigkeit  einer Wasserbaupolitik,  die  über  Län‐

dergrenzen hinweg wirksam sei: „Das schlimmste aber an der ganzen 

Sache war  bis  auf  den  heutigen  Tag, dass  jeder Rheinstaat  für  sich 

allein  arbeitete“,  und  spezieller:  „[H]at  aber  Baden  [...]  gefragt was 

Hessen  und  Bayern  nachher  damit  [mit  dem  Wasser]  anfangen?“ 

(RTV  1883:  2432).  Die  Problematik  wurde  von  dem  Abgeordneten 

Dr. Marquardsen  (nationalliberal) weiter  ausgeführt. Demnach wur‐

den  in Baden durch die Oberrheinkorrektur  10.000  ha  gutes Acker‐

land gewonnen. Der Flusslauf wurde dabei um 86 km verkürzt, was 

zu einer Beschleunigung der Fließgeschwindigkeit geführt habe (vgl. 

ebd.:  2435). Wie  stark  sich  die  Geschwindigkeit  erhöht  hatte,  legte 

Dr. Thilenius  am  Beispiel  eines  Flößers  dar,  der  für  eine  bestimmte 

Strecke  rheinabwärts  anstelle  von  zwölf  Stunden  nach  der Regulie‐

rung nur noch  fünf brauche  (vgl. ebd.: 2432). Die „Folgen haben na‐

turgemäß die unterhalb  liegenden Uferstaaten mit  ihren Ländereien 

zum Theil zu tragen gehabt“ (ebd.: 2435). Noch etwas deutlicher for‐

mulierte der hessische Abgeordnete Schröder: „Der Natur der Dinge, 

der geographischen Lage und dem Gefälle des Rheins entsprechend, 

musste diese Korrektion aber wesentliche, wenn auch unabsichtlich, 

bestimmte und zwar schlimme Folgen  für die unterliegenden Rhein‐

gebiete  haben“  (RTV  1883:  2438).  Der  Elsässer  Abgeordnete  Grad 

brachte das rücksichtslose Verhalten gegenüber den Nachbarländern 

auf die Formel „Apres nous le deluge“ (ebd.: 2445). Nur der Badenser 

Gerwig  –  ehemaliges Mitglied der Wasserbaudirektion  – verteidigte 

die Oberrheinkorrektur. Das  eigentliche Problem  sei nicht der Badi‐

sche Rhein, sondern der Mittelrhein, weil dieser noch nicht korrigiert 

sei. „Also nur  fortkorrigirt! Wir können das Wasser dort oben nicht 

bei uns behalten“, polemisierte er (ebd.: 2444). Damit stand er im Ein‐

klang mit Tullas Position zu den Folgen der Rheinbegradigung. Tulla 

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Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich

147

war sich darüber klar gewesen, dass die Begradigung des Oberrheins 

eine  Erhöhung  der Wassermenge  in  den  unteren  Flussabschnitten 

nach sich ziehen würde. Dementsprechend riet er, „in den untern Ge‐

genden [...] müssen den Quer‐Profilen diejenigen Abmessungen oder 

Dimensionen gegeben werden, welche die größere Wassermenge er‐

fordert, wenn diese nicht schädlicher als die ehemalige Wassermenge 

werden  soll“  (Tulla,  zitiert  in: Schua/Schua  1981:  142). Was  aber  er‐

folgte, war das Gegenteil: Um den Rheingau schiffbar zu machen und 

eine tiefe Fahrrinne zu erhalten, wurde das Profil eingeschränkt (RTV 

1881, zitiert in: Brüggemeier/Toyka‐Seid 1995: 98).  

  In der Schweiz war der Ruf nach Vollendung von Flusskor‐

rekturen – ein analoges Argument zu Gerwigs – in der zweiten Hälfte 

des  19.  Jahrhunderts  das  gängige  Thema  (vgl.  Müller  2004:  71  f., 

107 f.). Diese Forderung nach  technischem Fortschritt  tauchte  in der 

wissenschaftlichen Debatte in Deutschland nur in Bezug auf die klei‐

neren  nicht  korrigierten  Flüsse  auf. Die Oberläufe  der  preußischen 

Nebenflüsse seien  in einem „trostlosen“ Zustand und maßgeblich an 

den  Hochwassern  beteiligt,  erklärte  Thilenius  in  Anlehnung  an 

Honsell. Auch die Zeitungen berichteten, wie viel Schaden durch die 

unkorrigierten „Gebirgsströme“ verursacht wurde (Anonymus 1882). 

Am Rhein spielte die Forderung nach mehr Flusskorrekturen nur eine 

marginale Rolle. Die Kritik an der Oberrheinkorrektur herrschte vor. 

Um  ihren negativen Folgen  entgegenzuwirken,  riet der Baurat  a. D. 

Diek  zu  verschiedenen Maßnahmen  zum  Sammeln  des Wassers  in 

Becken und Gräben. Die Wasserspiegel natürlicher Rückhaltebecken 

wie Seen oder Moore müssten durch die Hebung  ihrer Ablasswehre 

erhöht werden. Ungenutzte  Talflächen  sollten  ferner  zu  Sammelbe‐

cken  umgestaltet  werden  (vgl.  Diek  1883:  8‐11).  Alle  Maßnahmen 

müssten  versuchen,  die  negativen Auswirkungen  der menschlichen 

Aktivitäten der  letzten  Jahrhunderte zurückzudrängen, und beträfen 

allgemein die Schaffung eines „naturgemäßen“ Wasserabflusses (ebd.: 

12).  In diesem Ruf nach „naturgemäßen“ Maßnahmen  schwingt das 

Aufkeimen der  technikkritischen Naturschutzbewegung  in Deutsch‐

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Patrick Masius

148

land mit.10  Der  Autor  des  ersten  „modernen“ Naturschutztraktates 

Ernst Rudorff  (vgl. Küster 2006: 497  f.). beschrieb die Eingriffe einer 

„abstracten Theorie“ gegen die Natur: Die Landschaft wird „glatt ge‐

schoren“  und  in  ein  regelmäßig  „geviertheiltes“  Landkartenschema 

umgearbeitet. „Die Bäche, die die Unart haben, im gewundenen Lauf 

sich dahinzuschlängeln, müssen sich bequemen, in Gräben geradeaus 

zu fließen“ (Rudorff 1880: 271). Rudorff erklärte, die Begradigung der 

Bäche  sei nicht nur  eine  ästhetische Barbarei,  sondern würde durch 

den veränderten Wasserabfluss  auch  reale Nachteile  – gemeint  sind 

hier Hochwasserschäden – mit sich bringen (vgl. ebd.).  

  Honsell setzte sich als Wasserbauingenieur und Rheinspezia‐

list eingehend – und schon aus eigenem Interesse – mit der Frage aus‐

einander, ob die bestehenden Wasserbaumaßnahmen überdacht wer‐

den  müssten.  In  seiner  Polemik  erschienen  die  Kritiker  der  Ober‐

rheinkorrektur als  irrational und  rückwärtsgewandt. Die „Anhänger 

des modernen Wasserbaus“  forderten die Beseitigung der  Flusskor‐

rekturen und  Stromregulierungswerke und  hätten  sich die  jüngsten 

Überschwemmungen  zu politischen Zwecken  zu Nutze gemacht,  so 

Honsell. Besonders  in der Tagespresse würde  Stimmungsmache  be‐

trieben  (vgl. Honsell  1883). Gegen die Kritik, dass  Flusskorrekturen 

das Hochwasserrisiko am Rhein erhöht haben, wird eingewandt, dass 

es gerade die Nebenflüsse des Rheins waren, die zu dem Hochwasser 

geführt  hätten,  und  gerade  diese wären  überhaupt  nicht  korrigiert 

worden. Er erläutert das ungünstige Zusammentreffen der Hochwas‐

serwellen  aus  den Nebenflüssen. An Main, Nahe, Mosel  und  Lahn 

war es zu außergewöhnlichen Hochwassern gekommen. Ihre Flutwel‐

len führten Ende November zum höchsten Stand des Rheins zwischen 

Koblenz und der Ruhr, ohne dass es am Oberrhein zu bedeutenden 

Hochwassern gekommen war. Ende Dezember waren es dagegen die 

Nebenflüsse  am Oberrhein,  die  zu  den Überflutungen  führten  (vgl. 

ebd.:  3  f.). Darüber hinaus hätten die größten Hochwasserereignisse 

10   Die Naturschutzbewegung entstand hier  in Form von Heimatbewegungen  in 

den 1880er und 1890er Jahren (vgl. Lekan 2008: 171 ff.). 

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Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich

149

an verschiedenen Flussabschnitten des Rheins stattgefunden, was nur 

durch die unterschiedliche Niederschlagskonzentration erklärbar sei.  

  Die  Problematik  der Nebenflüsse wurde  auch  im  Reichstag 

aufgenommen. Die Korrekturen an den Nebenflüssen würden allein 

zugunsten der Schifffahrt durchgeführt und nicht nach ihrer Wirkung 

auf  die  Stromverhältnisse  des Hauptflusses  betrachtet werden  (vgl. 

RTV  1883:  2432).  Schröder  rekapitulierte  in  Bezug  auf Hessen  und 

Rheinbayern:  „Meine  Herren,  die  beiden  Flüsse  Neckar  und Main 

waren  diesmal  in  ihrer  gleichzeitigen  großen Höhe mit  dem  Rhein 

eine  der  Ursachen  der  entsetzlichen  Kalamität“  (ebd.:  2439).  Auch 

Thilenius glaubte, es „war immer das einzige Ziel, bei niederem Was‐

serstand die gehörige Fahrtiefe für die Schifffahrt zu erhalten“  (ebd.: 

2432). Dass Schifffahrtsinteressen gegenüber den Interessen der Ufer‐

bewohner  und  der  Landwirtschaft  überrepräsentiert  seien,  äußerte 

Thilenius  schon  1881  im  Reichstag  (RTV  1881,  zitiert  in: 

Brüggemeier/Toyka‐Seid  1995:  98).  Obgleich  seine  Belege  hierfür 

schwach sind, herrschte im Reichstag große Einigkeit in diesem Punkt 

(vgl. RTV 1883: 2436‐2441).11 Reichensperger stellte beispielsweise fest: 

„Es wird also hier Aufgabe der Staatsregierung sein, dafür zu sorgen, 

dass  nicht  bloß das  erstgedachte  Interesse  [Schifffahrt] wahrgenom‐

men,  dass  vielmehr  nach  allen  Richtungen  hin  Vorkehr  getroffen 

wird, um dasjenige zu verhüten, worüber bis  jetzt schwere Klage ge‐

führt worden ist“ (RTV 1883: 461 f.). Dagegen wirkt der Einwand des 

Oberbaurates Baensch, „daß die Techniker das volle Bestreben haben, 

nach allen Richtungen hin den Interessen des Landes gerecht zu wer‐

den“, nur wie ein Pflichtbekenntnis (ebd.: 2437).12  

  Wenn es auch nach den bayrisch‐badischen Korrektionen, die 

am Oberrhein größtenteils schon Mitte des Jahrhunderts fertiggestellt 

worden  waren,  zu  stärkeren  Hochwassern  ab  Mannheim  rheinab‐

wärts gekommen war, so seien diese nicht erheblich gewesen, meinte 

11   Thilenius bezieht sich auf eine einzige Rheinschifffahrtsakte von 1866,  in der 

weder  Landwirtschaft  noch  Interessen  der  Uferbewohner  Berücksichtigung 

finden. 12   Baensch war seinerzeit als Oberbaurat im Ministerium für Öffentliche Arbeiten 

tätig. 

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Patrick Masius

150

Honsell. Der Unterschied habe nie so viel betragen, dass er nicht auch 

aus dem Verhalten der Seitenflüsse erklärt werden könnte. Korrektu‐

ren zu Gunsten der Schifffahrt seien für die Erklärung der Hochwas‐

serereignisse kaum relevant: „Regulierungswerke, die nur den Zweck 

haben,  bei  niedrigen Wasserständen  die  für  die  Schifffahrt  nöthige 

Fahrtiefe zu erhalten, haben  in den seltensten Fällen einen  fühlbaren 

Einfluss auf die höheren Wasserstände“ (Honsell 1883: 19). Bei Mann‐

heim  und Mainz  hätten  darüber  hinaus  neue  Kaianlagen  zu  einer 

Verengung des Abflussprofils und dadurch  zu  einem  lokal höheren 

Anstieg geführt (vgl. ebd.: 11).  

3. Natur oder Mensch: ein politischer Konflikt

Die  Auseinandersetzung  nach  den  Hochwasserereignissen  konzen‐

triert sich auf die Frage, ob anthropogene Einflüsse ausschlaggebend 

für die Ereignisse waren  oder  ob  sich die Überschwemmungen  aus 

den  extremen  meteorologischen  Gegebenheiten  natürlich  erklären 

lassen.  Jeweilige  Positionen  beinhalten  politische  Implikationen 

(i. w. S.), die nachfolgend herausgestellt werden. Als Verteidiger des 

Wasserbaus war Max Honsell voll und  ganz damit  beschäftigt, den 

wissenschaftlichen Gegnern  zu  beweisen,  dass  die  Flusskorrekturen 

keinen Einfluss auf das Hochwasser gehabt hätten (vgl. ebd.: 10‐26).13 

David Blackbourn, ein amerikanischer Umwelthistoriker, der mit sei‐

nem Buch „The Conquest of Nature. Water, Landscape and  the Ma‐

king of Modern Germany“ einen umwelthistorischen Meilenstein ge‐

setzt hat, betont den Punkt, dass Max Honsell  selbst  an der Vollen‐

dung der Oberrheinkorrektur maßgeblich beteiligt gewesen war und 

sich  als Erbe Tullas  sah. Tulla  sei  von  jeder Verantwortung  für die 

Hochwasser  von  1882/83  freigesprochen  worden,  stattdessen  seien 

13   Es darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass das Projekt von Tulla 

hauptsächlich der Landgewinnung und dem Hochwasserschutz am Oberrhein 

dienen  sollte. Tatsächlich  brachte das Projekt  hier mehr Land und mehr  Si‐

cherheit vor Hochwasser und hatte  zur Folge, dass  sich die  Siedlungsdichte 

erhöhte. Darüber hinaus gingen Malariaerkrankungen in der Gegend drastisch 

zurück (Blackbourn 2006: 96‐97). 

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Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich

151

„freak  meteorological  conditions“  als  Ursache  ausgemacht  worden 

(Blackbourn 2006: 109). Die Kritik an den Oberrheinkorrekturen war 

von Anfang an präsent, von politischer wie auch von wissenschaftli‐

cher Seite. Im Jahre 1828 waren „Bemerkungen über die Rectification 

des Oberrheins und Schilderung der furchtbaren Folgen, welche die‐

ses Unternehmen für die Bewohner des Mittel‐ und Unterrheins nach 

sich ziehen wird“ erschienen (André 1828). Zudem kritisierten der in 

Mannheim  ansässige  Niederländer  Freiherr  von  Wijck  sowie  der 

preußische  Wasserbauingenieur  Johann  Eytelwein  (1764‐1848)  das 

Mammutprojekt zur Oberrheinbegradigung  (Blackbourn 2006: 109).14 

Auch die unteren Rheinanliegerstaaten und besonders Preußen ver‐

handelten jahrelang mit Baden, Bayern und Frankreich über das Vor‐

haben. Letztlich war das Projekt  in etwas abgeschwächter Form (i. e. 

Beschränkung  der  Anzahl  der  Durchstiche)  durchgeführt  worden 

(Honsell 1883: 21). „The critics did not win the argument at that time“, 

reflektiert  Blackbourn  die  Oberrheinbegradigung  (Blackbourn  2006: 

109). Bedenkt man, dass die Ansprüche der kritischen Position gegen‐

über der Flussbegradigung am Rhein heute wissenschaftliche und  in 

limitiertem  Umfang  auch  politische  Anerkennung  findet15,  fragt  es 

sich, warum  sie  sich  damals  nicht  durchsetzen  konnten.  Eine Ant‐

wortmöglichkeit  sehe  ich  in  dem  Interessenzusammenschluss  von 

Politik und Wissenschaft. 

14   Johann Eytelwein brachte Erfahrungen aus erster Hand von der Verkürzung 

der Oder mit. Außerdem sei die Korrektur der Kinzig 1814 ein Lehrbeispiel da‐

für gewesen, dass auf Flussbegradigung schwere Überschwemmungen folgen 

können. Zwei Jahre später, 1816, wurde Kehl aufgrund der neuen Verhältnisse 

an der Kinzig überschwemmt. 15   Flussbaumaßnahmen am Rhein wurden und werden zurückgenommen, Alt‐

arme wieder  angebunden und Retentionsflächen  geschaffen  (vgl. Cioc  2002: 

Kap.7; Engels 2003). Diese Maßnahmen sind aber in ihrem Umfang stark limi‐

tiert. Im Hochwasserschutzplan von 1998 wurden nur etwa 5 % der ursprüng‐

lichen Talaue zur Renaturierung vorgesehen. Große Teile der ehemaligen Au‐

en sind heute Kulturland und Wohngebiet und damit nicht renaturierbar. Den 

Zustand des Rheines von vor 1815 herzustellen, bevor das Projekt Tulla den 

Rhein gestaltete, würde deshalb große technische, ökonomische und nicht zu‐

letzt politische Anstrengungen verlangen (vgl. Cioc 2004). 

Page 153: Streit um Materie?

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152

  Die  Ausführungen  von  Thilenius  zur  Ursachenfrage  im 

Reichstag basierten auf dem bereits zitierten Artikel von Max Honsell. 

Honsell wird von Thilenius als „einer der anerkanntesten modernen 

Hydrotechniker“ vorgestellt, und  seinen Artikel hat Thilenius  selbst 

im Reichstag verteilen lassen. Für Thilenius sind diese Ausführungen 

nicht nur zuträglich, um seinen Antrag zur Untersuchung der Strom‐

verhältnisse  des  Rheins  durchzusetzen,  sondern  vielmehr,  um  sein 

persönliches  ‚Steckenpferd’,  nämlich  die  Einrichtung  eines  Systems 

von meteorologischen Stationen, zu forcieren. Auf diesen Sachverhalt 

wurde auch  in der Reichstagsdebatte angespielt. Reichensperger äu‐

ßerte sich dahingehend: „Der Antragsteller hat auch noch die meteo‐

rologischen Anstalten  –  das  ist  so  ein  Lieblingskind  von  ihm  –  bei 

dieser Gelegenheit empfehlen wollen“  (RTV 1883: 2444). Ohne Über‐

treibung kann man behaupten, dass Max Honsells Schrift auf der poli‐

tischen Bühne von herausragendem Einfluss war. Niemand hätte  im 

Reichstag ernsthaft eine Ansicht vertreten können, die Honsells Nie‐

derschlagsanalyse widersprochen hätte, da es sich hierbei um die ein‐

zig „harten Fakten“ handelte, die zur Verfügung standen.  

  Trotzdem gab es weiterhin kontroverse Meinungen über die 

Auswirkungen der Flusskorrekturen am Oberrhein. Die Abgeordne‐

ten Marquardsen und Schröder argumentierten beide, dass die Ober‐

rheinkorrektur  sich  negativ  auf  den  unteren  Flussabschnitt  ausge‐

wirkt hätte. Der Badenser Gerwig  sieht dagegen den Fehler bei den 

Hessen, die dem Rhein am Binger Loch keinen ausreichenden Abfluss 

verschafften. Es sei nicht die Schuld der Badener, dass der Rhein dort 

versande und sich das Flussbett erhöhe. Blackbourns These, dass es in 

den 1880er Jahren „common sense“ gewesen sei, jegliche Negativwir‐

kungen  früherer  Wasserbauprojekte  abzustreiten  (vgl.  Blackbourn 

2006:  109),  ist  folglich  eine unzulässige Vereinfachung der  tatsächli‐

chen  Situation. Politische und wissenschaftliche Debatten  sowie das 

Medienecho waren in diesem Punkt durchaus kontrovers. Allerdings 

waren die politische Führung im engeren Sinne sowie führende Was‐

serbauingenieure  darauf  bedacht,  jede Kritik  als  unwissenschaftlich 

und unbegründet erscheinen zu lassen. In wissenschaftlichen Kreisen 

wurde  eine Kritik  an  den Wasserbauprojekten  entweder  von  unab‐

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Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich

153

hängigen Privatiers  (z. B. Touchon 1876), ausgedienten Bauingenieu‐

ren (Diek 1883) oder aber anonym (Anonymus 1883) geäußert.  

  Letzteres  ist  ein  klares Anzeichen  dafür, wie  viel Druck  in 

wissenschaftlichen Kreisen  auf  der  Thematik  lag;  und  dieser Druck 

rührte nicht zuletzt von der politischen Obrigkeit her. Dies  ist umso 

erstaunlicher, weil Tulla selbst die Negativwirkungen vorausgesehen 

hatte – jedenfalls unter der Prämisse, dass im Mittellauf kein geeigne‐

ter Abfluss  geschaffen würde  (und  dies war  nicht  geschehen)  (vgl. 

Tulla, zitiert in: Schua/Schua 1981: 137 ff.). Es war aber nicht so, dass 

die Regierung die wissenschaftliche Kritik vollkommen ignorierte. So 

bekam Lucius, der zuständige Minister für Landwirtschaft, Domänen 

und Forsten, von Kaiser Wilhelm  I. den Auftrag,  ihm  eine Stellung‐

nahme  zu  eben  dem  kritischen  Artikel,  der  anonym  veröffentlicht 

worden war, zukommen zu lassen (vgl. Lucius: Brief vom 1. Mai 1883, 

unpaginiert).  

  Der Minister Lucius war in seinem Bericht darauf bedacht, die 

Organisation des Wasserbauwesens in Preußen und Deutschland und 

die entsprechende Ausbildung zu verteidigen sowie die Anregungen 

zur Ursachenbehebung zu besprechen. Lucius’ Position  in Bezug auf 

Anregungen  zur  Waldpolitik  und  praktischen  Hochwasserschutz‐

maßnahmen war, dass die  staatliche Macht  begrenzt  sei,  nicht  alles 

durchführbar  wäre  und  dass  alles  Mögliche  ohnehin  schon  getan 

werde.  Der  staatliche  Ankauf  von  privaten Waldgebieten  und  die 

Verhandlung  internationaler  Verträge  zum Waldschutz,  meinte  er, 

könnten mit  den  zur Verfügung  stehenden  finanziellen  Ressourcen 

und Machtmitteln wohl kaum realisiert werden. Die Staatsverwaltung 

werde vielmehr  „auf dem betretenen Wege“  fortschreiten und  „den 

beklagten Uebelständen durch Aufforstung von Oedländereien, Ver‐

hinderung der Waldverwüstungen und Hinwirkung auf eine geregel‐

te Communal‐Forstverwaltung, sowie durch die Anlage von Wasser‐

reservoirs, Vermehrung und Verbesserung der Wiesen  innerhalb der 

fiskalischen Ländereien, mit allen  ihr zu Gebiete  stehenden Mitteln“ 

entgegentreten (vgl. ebd.). Damit suggerierte er dem alten Kaiser, „die 

beste aller möglichen Hochwasserpolitiken“  intakt vor sich zu sehen 

(ebd.).  

Page 155: Streit um Materie?

Patrick Masius

154

  Schließlich  argumentierte  Lucius  in Anlehnung  an Honsell, 

dass die extremen Niederschläge Ursache des Hochwassers gewesen 

seien, und erklärte, „ein Zusammentreffen so ungünstiger Umstände 

[wie am Rhein] macht alle Vorkehrungen zur Verhütung von Ueber‐

schwemmungen wirkungslos“  (ebd.)16. Mit  den  außergewöhnlichen 

Niederschlägen entkräftete er alle anderen Argumente. Als Kommen‐

tar zur Einordnung des Anonymus stellte Lucius nach, dass sein Be‐

mühen wertvoll gewesen wäre, wenn er sich nicht in ungerechtfertig‐

ten Angriffen gegen  staatliche  Institutionen und Behörden ergangen 

hätte. Es scheine ihm demnach eher um persönliche Interessen als um 

die Sache gegangen zu sein (vgl. ebd.). Der Vorwurf, interessegeleitet 

zu argumentieren, wie ihn auch Honsell gegenüber den Flussbegradi‐

gungsgegnern  anbrachte,  ist wohl  kaum  haltbar, weil  ja Lucius  (als 

Verteidiger staatlicher Institutionen) und Honsell (als Verteidiger sei‐

nes Wasserbauprojektes) genauso vor dem Hintergrund ihrer Interes‐

sen diskutieren. Dem Kaiser präsentierte Lucius diese Positionen aber 

als die  „objektiven“  (und diese  „Objektivität“ geht hier mit  „Staats‐

konformität“ automatisch einher).  

  Es wird in der Analyse deutlich, dass Politik schon im Kaiser‐

reich maßgeblich auf Resultate von Wissenschaftlern angewiesen war. 

Folgt man dem Soziologen Peter Weingart, dann hält Wissenschaft für 

Politik  zwei  Leitungen  bereit:  erstens  instrumentelles Wissen  zur  Lö‐

sung konkreter Probleme und zweitens Legitimation für politische Ent‐

scheidungen  (vgl. Weingart  2008:  27  f., Hervorhebung  P. M.).  „Der 

Druck, politische Entscheidungen unter Rückgriff auf wissenschaftli‐

ches Wissen  zu  legitimieren, wächst  in  dem Maße,  in  dem wissen‐

schaftliches Wissen Autorität  als Problemlösungsinstanz  zugeschrie‐

ben  wird“  (ebd.:  29).  In  den  Debatten  nach  dem  Hochwasser  von 

1882/83 schien vor allem die Legitimation ehemaliger politischer Ent‐

scheidungen wichtig  zu  sein  (pro  Flusskorrektionen). Obgleich  das 

Deutsche Kaiserreich  eine  konstitutionelle Monarchie war, hatte die 

16   Hier deckt  sich Lucius’ Aussage beinahe mit dem  „Volksglauben“, dem der 

Anonymus attestiert, Hochwasser als ebenso unabwendbar wie Erdbeben zu 

betrachten (Anonymus 1883: 4). 

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Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich

155

soziale  Autorität  von  Wissenschaftlern  diejenige  der  persönlichen 

Autorität  charismatischer  Personen  zumindest  in  gewissen  Fragen 

überholt. Ein Konkurrenzkampf um die  richtigen wissenschaftlichen 

Berater und das neueste Wissen zwischen verschiedenen Parteien, wie 

Weingart  ihn  für unsere heutige Zeit  attestiert, hatte  sich  aber noch 

nicht  ausgebildet. Dass die  enge Verflechtung von Politik und Wis‐

senschaft am Beispiel der Hochwasserproblematik schon  im 19. Jahr‐

hundert so deutlich wird,  ist kein Zufall. Denn es  ist gerade der Be‐

reich  der Gefahrenabwehr  und Risikoprävention,  in  dem  sich  diese 

Zusammenarbeit maßgeblich  entwickelte. Weingart  erklärt  am  Bei‐

spiel  des  Sicherheitsproblems  des  Dampfkessels,  wie  Ende  des 

19. Jahrhunderts wissenschaftliche Expertise und technischer Sachver‐

stand für den Staat unabdingbar wurden (vgl. ebd.: 151‐158).  

  Die Autorität der Herrschenden konnte zwar nicht mehr ganz 

ohne die Stütze wissenschaftlicher Erkenntnis auskommen,  sie hatte 

es  aber  immer noch  in der Hand  zu bestimmen, welches die  einzig 

wahre Wissenschaft  war.  Andererseits  waren  die  Diskussionen  zu 

scheinbar rein wissenschaftlichen Fragen wie der Abholzungsproble‐

matik von politischen Elementen durchdrungen. So spielten hier Na‐

tionalismus, die Schweizer Waldschutzgesetze sowie die Konkurrenz 

mit den beiden Monarchien in Österreich und Russland eine gewich‐

tige  Rolle. Darüber  hinaus  zeigte  sich  in  der Verbreitung  von Max 

Honsells Analyse der Hochwasser im Reichstag, wie der Abgeordnete 

Thilenius eine wissenschaftliche Studie zu seinen politischen Zwecken 

nutzbar machen konnte.17 Sein politisches Interesse bestand vornehm‐

lich  darin,  für  eine  Verbreitung meteorologischer Messstationen  in 

Deutschland zu sorgen. Wenn nun die Niederschläge als verantwort‐

lich  für Hochwasser  angesehen wurden,  hatte  er  damit  ein  starkes 

Argument  für  sein  Unterfangen.18  Der  Erfolg  gab  ihm  Recht.  In 

Karlsruhe wurde ein „Centralbüro für Hydrologie und Meteorologie“ 

17   Leider fehlen Einsichten in persönliche Korrespondenzen zwischen Max Hon‐

sell und Thilenius bis dato. 18   Der Glaube an Wettervorhersagen im modernen Sinne war damals noch nicht 

verbreitet. 

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Patrick Masius

156

eingerichtet, das fortan auch für die Untersuchung der Stromverhält‐

nisse  des  Rheins  mit  verantwortlich  war.  Honsell  seinerseits  hatte 

zum Abschluss  seines Artikels  eine wissenschaftliche Untersuchung 

der Stromverhältnisse gefordert, wie sie dann von Dr. Thilenius poli‐

tisch erwirkt wurde.  Insgesamt sind  in den Hochwasserdebatten die 

ersten Verflechtungen zwischen Wissenschaft und Politik erkennbar, 

die Weingart heute als die typischen Ingredienzen der Wissensgesell‐

schaft definiert (vgl. Weingart 2008: 32).19 

  Die von Honsell und Thilenius erwirkte Untersuchung wurde 

schließlich von 1885 bis 1891 von einer Kommission durchgeführt, der 

auch die  oben  genannten Reichskommissare  Schröder  und Marcard 

angehörten. Die Ergebnisse der Kommission wurden 1891 durch das 

neu etablierte Centralbüro für Meteorologie und Hydrographie unter 

dem Titel „Ergebnisse der Untersuchung der Hochwasserverhältnisse 

im Deutschen Rheingebiet. Auf Veranlassung der Reichskommission 

zur Untersuchung der Stromverhältnisse des Rheins und seiner wich‐

tigsten Nebenflüsse und auf Grund der von den Wasserbaubehörden 

der  Rheingebietsstaaten  gelieferten  Aufzeichnungen“  veröffentlicht 

(CMH 1891). Es wurden in dieser Studie ausschließlich Messdaten zu 

Pegelständen,  Hochwasserwellen  und  Niederschlägen  angegeben. 

Das Vorwort verfasste Max Honsell (vgl. CMH 1891: 2‐7). Es zeigt sich 

in diesem Umgang der Versuch von  Staat und Wissenschaft, Natur 

durch Zahlen zu rationalisieren, verständlich zu machen und zu kon‐

trollieren (vgl. Borst 1981: 549). So wie einst die Kirche Gottes Hand in 

der Naturkatastrophe sah und mit Hilfe der Bibel auslegte,  interpre‐

tierte die Regierung nun Natur mittels wissenschaftlicher Messwerte. 

Die Obrigkeit legitimierte sich durch Expertenwissen.  

Entscheidender an dieser Stelle wirkte allerdings der Punkt, dass die 

verantwortlichen Wissenschaftler  und  Politiker  die Richtigkeit  ihres 

Vorgehens durch eine selbst angelegte Studie bestätigen konnten. Was 

19   Natürlich wäre  es  absurd  zu  sagen,  dass  das  deutsche  Kaiserreich  unserer 

heutigen Wissensgesellschaft vergleichbar wäre. Es scheint mir aber durchaus 

gerechtfertigt,  die  engen Kopplungen  zwischen Wissenschaft  und  Politik  in 

der Analyse Weingarts widergespiegelt zu finden. 

Page 158: Streit um Materie?

Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich

157

sich konkret in dem Tandem von Honsell und Thilenius zeigte, kann 

auch strukturell bestimmt werden. So stellte der Zentrumsabgeordne‐

te von Schalscha, der schon 1881 auf die Probleme von Entwaldung 

und Flusskorrekturen aufmerksam gemacht hatte  (vgl. RTV 1881, zi‐

tiert  in: Brüggemeier/Toyka‐Seid 1995: 99), auf der Reichstagssitzung 

vom 9. Mai 1883 eben die Aufstellung der Sachverständigenkommis‐

sion grundsätzlich in Frage:  

 

Sie  verlangen,  dass  ‚eine  Sachverständigenkommission  zu‐

sammenberufen werden solle’. Wer sollen diese Sachverstän‐

digen  sein?  Doch  nicht  diejenigen,  die  bisher  die  ganze 

Stromkorrektur  in der Hand gehabt haben? Und wenn diese 

zusammentreten im Auftrage des Reichs als Reichskommissi‐

on, glauben Sie, dass diese Sachverständigen auf einmal sagen 

werden, das, was wir bisher gethan haben,  ist alles verkehrt, 

alles  Thorheit,  das müssen  wir  beseitigen?  [...]  Eine  solche 

Kommission hat keinen anderen Zweck, als dass gesagt wird: 

was wir  bis  jetzt  geschaffen  haben,  ist  ganz  vorzüglich  [...]. 

(RTV 1883: 2440)  

 

Alternativ  schlug  von  Schalscha  vor,  lokales  Erfahrungswissen  von 

Fischern, Schiffern und anderen zu mobilisieren, und erinnert damit 

erstaunlich  an  Studien  jüngeren Datums, die  lokale Partizipation  in 

Fragen des Risikomanagements  fordern  (vgl. z. B. Hewitt 1983, 1997, 

2007). Hier zeigt sich unter anderem, wie stark die Wissenschaftspra‐

xis von Politik durchdrungen ist. 

4. Schlussbetrachtung

In der Betrachtung der Diskussionen um die extremen Überschwem‐

mungen am Rhein Ende des 19. Jahrhunderts finden sich aufschluss‐

reiche Ergebnisse über den Umgang mit Natur. Die damaligen Erklä‐

rungen der Katastrophe lassen sich in zwei grundsätzliche Kategorien 

einteilen. Zum  einen wurden die Überschwemmungen  in  Folge der 

extremen Wetterbedingungen  als Werk  der  Natur  betrachtet.  Zum 

Page 159: Streit um Materie?

Patrick Masius

158

anderen wurden die extraordinären Hochwasser als Folge menschli‐

cher Aktivitäten in Form von Entwaldung und Flussbegradigung ge‐

sehen.  

  Letztere Position enthielt eine implizite Kritik des Wasserbaus 

und der Waldwirtschaft. Es waren  abgesehen von  lokal  betroffenen 

Abgeordneten  vornehmlich Abgeordnete der  regierungskritisch  ein‐

gestellten  Zentrumspartei,  die  menschliche  Verantwortung  in  der 

Katastrophe entdeckten. Die kritischen Stimmen aus dem Bereich der 

Wissenschaft  verfolgten  unterschiedliche  Interessen. Hervorzuheben 

sind  in diesem Zusammenhang die Verfechtung eines harmonischen 

Naturbildes,  in das der Mensch nicht mehr störend eingreifen sollte, 

sowie die Umstrukturierung der  ingenieurstechnischen  Institutionen 

im Hinblick auf den Wasserbau. 

  Auf der anderen Seite standen Politiker, die die damals aktu‐

elle  Waldwirtschaft  und  Wasserbaupolitik  verteidigten.  Durch  die 

Rückführung  der  Überschwemmungen  auf  die  extremen  Nieder‐

schläge waren sie jeder Verantwortung enthoben. Weiterhin verfolgte 

der Abgeordnete Dr. Thilenius mit seiner Darstellung der Hochwasser 

als  Naturereignis,  das  durch  außergewöhnliche  Niederschläge  be‐

dingt  war,  die  Einrichtung meteorologischer  Stationen  in  Deutsch‐

land. Sein Interesse an diesen Stationen rekurrierte unter anderem auf 

medizinisch‐klimatische Zusammenhänge, die er aufzuzeigen gedach‐

te.  In wissenschaftlicher Hinsicht wurde dieses Szenario durch Max 

Honsell,  einen  Badenser  Wasserbauingenieur  und  Rheinexperten, 

getragen. Dieser hatte ein  Interesse daran,  jede aufkommende Kritik 

am Wasserbau am Rhein als unwissenschaftlich zu entlarven, damit 

nicht das Prunkstück der Wasserbaukunst, nämlich die Oberrheinre‐

gulierung, in Verruf kam. 

  Mit  beiden  Positionen  verbanden  sich  also  Interessen  ganz 

unterschiedlicher Natur.  Innerhalb  der  institutionellen Verarbeitung 

des Hochwassers setzte sich die Position durch, die die extremen Nie‐

derschläge als Ursache ausmachte. Die unmittelbare Einrichtung des 

Centralbüros  für Meteorologie und Hydrographie  in Karlsruhe war 

eine  greifbare  Folge  davon.  Auch wirtschaftliche  Interessen mögen 

von Belang gewesen sein  (Handel und Schifffahrt, Landgewinnung). 

Page 160: Streit um Materie?

Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich

159

Während die Nützlichkeit von Wetterstationen, die damals durchaus 

umstritten war, uns heute einleuchtet, scheint die Wissenschaft, was 

die Verursachung der Hochwasser angeht, seit den 1970er Jahren ver‐

stärkt  auf  Seiten  der Kritiker  zu  stehen. Das  bedeutet,  die Wissen‐

schaftlichkeit der Niederschlagsthese war zwar mangelhaft, sie brach‐

te aber trotzdem einen Prozess in Gang, der für die Wettervorhersage 

in der Zukunft dienlich war. Ähnlich wie im Falle der Schweizer Ab‐

holzungsproblematik  (vgl. Pfister/Brändli 1999) zeigt sich, dass sinn‐

volle Entscheidungen  häufig  auf wissenschaftlich wackligen  Funda‐

menten  stehen. Die Durchsetzbarkeit bestimmter Erklärungen hängt 

folglich weniger von  ihrer wissenschaftlichen Beschaffenheit als von 

politischen Grundhaltungen und praktischen Interessen ab. 

  Darüber hinaus wurde deutlich, wie stark Debatten, die  rein 

wissenschaftliche  Problemfelder  betrafen,  von  politischen  Ansprü‐

chen durchzogen waren. Im Zeitalter des sich konsolidierenden Nati‐

onalstaates wurden  an  scheinbar  so unbedeutenden  Fragen wie der 

Abholzungsproblematik  internationale Konkurrenzen herauskristalli‐

siert  und  nationale  Identität  bestärkt.  In  Preußen war  der Wald  in 

Ordnung, musste der Wald  in Ordnung sein – so das Credo des  In‐

nenministers.  Und  es waren  die Österreicher  und  Russen,  die  den 

Wald  rücksichtslos  abholzten  und  damit  die  Hochwassergefahr  in 

Deutschland verschärften. Von den  Schweizern hingegen wäre man 

durchaus bereit gewesen, Lehren  im Hinblick auf neue Waldschutz‐

gesetze zu ziehen, aber wie Nachforschungen ergaben, war das ja gar 

nicht nötig. Das war ein Problem der Gebirgsländer, und, wie Pfister 

und Brändli herausgearbeitet haben, auch dort nur ein konstruiertes. 

5. Literaturverzeichnis

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Page 161: Streit um Materie?

Patrick Masius

160

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Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich

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Page 165: Streit um Materie?

 

 

Page 166: Streit um Materie?

Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte

Ergebnisse einer empirischen Studie

Birgit Peuker 

1. Einleitung

Die  Ökologiebewegung  gilt,  einer  weit  verbreiteten  Sichtweise  fol‐

gend,  als Trägerin  eines neuen Naturverständnisses. Sie  sehe  in der 

Natur,  so  heißt  es,  einen  Eigenwert  und  nicht, wie  es  die moderne 

naturwissenschaftliche  Sicht  impliziere,  eine  ausbeutbare Ressource. 

Sensibilität gegenüber der Umwelt wurde bzw. wird  als notwendig 

erachtet, um eine Lösung für die Umweltproblematik zu finden. Dass 

sich  diese  Sichtweise  auch  gesellschaftspolitisch  durchgesetzt  hat, 

zeigt  insbesondere  der  Nachhaltigkeitsdiskurs,  der  durch  den 

Brundtlandbericht von 1987 angestoßen und  in den  lokalen Agenda‐

Prozessen fortgeführt wurde. Die hier verfolgte These ist, dass bei der 

in den 70er Jahren entstandenen Ökologiebewegung nicht das Natur‐

verständnis entscheidend ist, sondern das Verständnis von dem Ver‐

hältnis zwischen Natur und Gesellschaft. Die Ökologiebewegung zielt 

zumindest  in  ihrer Hauptströmung  nicht  nur  auf  den Naturschutz, 

sondern  auf  eine Transformation gesellschaftlicher  Institutionen wie 

auf den Umbau der Industriegesellschaft und die Beseitigung sozialer 

Ungleichheiten  im  globalen  wie  lokalen Maßstab  (vgl.  als  Beispiel 

BUND/Brot für die Welt/EED 2008).  

  Ausgangspunkt der  folgenden Erörterungen  ist, dass Natur‐

verständnisse nicht losgelöst von Vorstellungen über die Gesellschaft 

betrachtet werden können. Naturverständnis und Naturbegriff – bei‐

de Begriffe werden  im Folgenden synonym verwendet – müssen um 

die  Perspektive  der  Gesellschaft  erweitert werden.  Dabei wird  der 

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Birgit Peuker

166

Frage nachgegangen, welche unterschiedlichen Auffassungen es über 

das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft bei unterschiedlichen 

sozialen Akteuren gibt und durch welche Besonderheiten sich diesbe‐

züglich Akteure aus der Umweltbewegung auszeichnen. Diese Frage 

soll  am  Beispiel  der  Auseinandersetzung  um  die  Anwendung  der 

Gentechnik  in  der  Landwirtschaft  (auch  „Agro‐Gentechnik“  oder 

„Grüne Gentechnik“ genannt) erörtert werden. Bei dieser Auseinan‐

dersetzung  handelt  es  sich  um  einen  Technikkonflikt,  also  um  eine 

Kontroverse über die potentiellen Risiken, aber auch den potentiellen 

Nutzen einer Technikinnovation.1  

  In der hier vorgestellten empirischen Untersuchung zur Aus‐

einandersetzung um die Agrar‐Gentechnik wurden Positionspapiere 

von  Organisationen  aus  den  Bereichen  Umwelt‐  und  Verbraucher‐

schutz, der Landwirtschaft,  Industrie und der Regierung  analysiert. 

Bei der Auswertung wurde nicht a priori zwischen Befürwortern und 

Gegnern unterschieden, sondern befürwortende, kritische und gegne‐

rische Positionierungen über die Argumente pro und  contra Agrar‐

Gentechnik  identifiziert und auf unterschiedliche Vorstellungen über 

das Verhältnis  zwischen Natur und Gesellschaft zurückgeführt. An‐

hand der konkreten Auseinandersetzung  lässt sich zeigen,  in welche 

gesellschaftlichen Praktiken diese Vorstellungen  eingebettet  sind. Es 

wird demnach weniger davon ausgegangen, dass Vorstellungen über 

das  Verhältnis  zwischen  Natur  und  Gesellschaft  unterschiedlichen 

Weltbildern (vgl. Gill 2003) oder unterschiedlichen kulturellen Milieus 

(vgl.  Douglas/Wildavsky  1982;  Daele/Pühler/Sükopp  1996;  Grove‐

White u. a. 1997) entspringen, sondern vielmehr, dass diese Vorstel‐

lungen in konkreten Praxisvollzügen gehärtet werden, da sie in ihnen 

eine ordnende Funktion besitzen. Dieser Gedanke ist angeleitet durch 

die Akteur‐Netzwerk‐Theorie,  einen Ansatz  aus  der Wissenschafts‐ 

1   Ein anderes prominentes Beispiel für einen Technikkonflikt ist die Kontroverse 

um  die  Kerntechnik,  die  ebenfalls  sozialwissenschaftlich  untersucht wurde. 

Diese Studien sind zumeist in den Forschungen zu den Neuen Sozialen Bewe‐

gungen  angesiedelt;  vgl.  u. a.  Brand/Eder/Poferl  1997;  Har‐

ré/Brockmeier/Mühlhäusler 1998; Hajer 2005. Speziell zur Gentechnik vgl. u. a. 

Daele/Pühler/Sükopp 1996; Aretz 1999; Gill 2003. 

Page 168: Streit um Materie?

Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte

167

und Technikforschung. Nach diesem Ansatz besitzen Begriffe prakti‐

sche  Funktionen,  da  sie  kollektives Handeln  ermöglichen  und  hier‐

durch Auswirkungen auf die materielle Ordnung der Dinge haben.2  

  Ziel der Ausführungen  ist  es,  zu verdeutlichen, dass Natur‐

verständnisse mit einer bestimmten Konzeption von Gesellschaft ver‐

bunden sind und dass es neben Befürwortern und Gegnern der Ag‐

rar‐Gentechnik auch differenziertere Positionen gibt. So wird die Am‐

biguität in der Positionierung sozialer Akteure gerade darin deutlich, 

dass mit der Agrar‐Gentechnik weniger ökologische als soziale bzw. 

politische  Fragen  verbunden  sind,  die  sich  ebenso  einer  einfachen 

dichotomen Betrachtung entziehen. Aufgabe der Sozialwissenschaften 

ist  es,  eine differenziertere  Sichtweise  auf die Debatte  einzunehmen 

und nicht etwa Steuerungswissen für nur eine mögliche Form gesell‐

schaftlicher Naturverhältnisse bereitzustellen. Das praktische Ziel  ist 

es, einen Überblick über die Debatte zu  schaffen, um es damit auch 

anderen sozialen Akteuren zu ermöglichen, sich reflektiert zu positio‐

nieren.  

2. Sichtweisen auf das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte

Das Naturbild  der  Ökologiebewegung wendet  sich  gegen  ein  Ver‐

ständnis von Natur, das diese als passive und ausbeutbare Ressource 

begreift, und damit gegen das moderne Weltbild, das auf einer Tren‐

nung von Natur und Gesellschaft  aufbaut. Ähnlich  lautet die Kritik 

der Umweltsoziologie, nach der gerade die Trennung zwischen Natur 

und Gesellschaft zu den gesellschaftlichen Praktiken geführt habe, die 

die Umweltproblematik erst hervorriefen  (vgl. Wehling 1989; Latour 

1998;  Görg  1999).  Die  Trennung  zwischen  Natur  und  Gesellschaft 

2   Siehe  einführend  zur  Akteur‐Netzwerk‐Theorie  die  Aufsätze  in  Belli‐

ger/Krieger 2006. 

Page 169: Streit um Materie?

Birgit Peuker

168

wird dabei mit  einer Reihe  anderer Dichotomien, die  als Grundzug 

westlichen Denkens entlarvt werden, scharf kritisiert.3  

  Im Folgenden wird zunächst gezeigt, dass sich die Naturver‐

ständnisse derjenigen, die sich zur Agrar‐Gentechnik eher befürwor‐

tend oder kritisch positionieren, nicht  fundamental voneinander un‐

terscheiden.  In  einem  ersten  Schritt wird  aufgezeigt, dass  sich nicht 

nur  kritische  Positionen  auf  ökologische  Folgen  beziehen,  sondern 

auch  befürwortende  Positionen. Daran  anschließend wird  in  einem 

zweiten Schritt nachgewiesen, dass beide Positionen von einer Aktivi‐

tät  der  Natur  ausgehen.  Der  Unterschied,  so  das  in  einem  dritten 

Schritt begründete Argument,  liegt bei beiden nicht  im Naturbegriff, 

sondern  in  der  Sichtweise  auf  das  Verhältnis  zwischen Natur  und 

Gesellschaft. Dies zeigt sich insbesondere in den Vorstellungen darü‐

ber, wie  sich die Eigenaktivität der Natur  kontrollieren  lässt. Dabei 

wird deutlich, dass  hier  nicht  nur die Aktivität der Natur,  sondern 

auch der Gesellschaft zur Debatte steht. Beide Sphären werden bereits 

als ein Beziehungsgeflecht angesehen, das besonderen Regulierungs‐ 

bzw. Kontrollmechanismen unterworfen werden  soll. Die Trennung 

von Natur und Gesellschaft erscheint somit als eine diskursive Strate‐

gie, um die  eigene Auffassung über das Verhältnis  zwischen Natur 

und Gesellschaft als allgemeingültige hinzustellen. 

2.1 Ökologische Folgen

Technikkonflikte werden meist  als Auseinandersetzungen  zwischen 

Befürwortern  und Gegnern  von  Technikinnovationen  aufgefasst.  In 

der  sozialwissenschaftlichen  Literatur,  die  sich  der  Untersuchung, 

Analyse und Interpretation von Risikokontroversen um Technikinno‐

vationen widmen, besteht die Tendenz, die Unterscheidung zwischen 

Befürwortern und Gegnern als eine Dichotomie aufzufassen und mit 

3   Die Kritik an den modernen Trennungen, die auf die cartesianische Trennung 

zwischen Materie  und Geist  zurückgeführt werden,  ist  ebenso  bei weiteren 

konstruktivistischen Ansätzen vorzufinden, zum Beispiel aus dem Bereich der 

Wissenschafts‐  und  Technikforschung  und  der  feministischen  Theorie,  aber 

auch bei einigen Strömungen der konservativen Kulturkritik. Vgl. dazu auch 

den Beitrag von Mölders und Gottschlich in diesem Band. 

Page 170: Streit um Materie?

Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte

169

einer Bewertung zu verbinden. So werden zum einen die Befürworter 

einer Technologie meist mit (wissenschaftlich‐technischer) Fortschritt‐

lichkeit  und Rationalität  in Verbindung  gebracht, Kritiker  hingegen 

mit Fortschrittsfeindlichkeit und  Irrationalität  (vgl. Daele 1991: 14  f.; 

Eder  1992; Wildavsky  1993; Daele  1993). Auch wenn,  zum  anderen, 

die  Bewertung  umgedreht wird, wie  dies  bei  einigen  sozialwissen‐

schaftlichen Analysen der Fall ist, bleibt die Dichotomie bestehen. Die 

Gegnerschaft gegen  eine Technikinnovation gilt dann  als  fortschritt‐

lich,  da  umweltsensibel,  die  uneingeschränkte  Förderung  hingegen 

als borniert und noch in alten Weltbildern verhaftet (vgl. Wynne 1996; 

Grove‐White u. a. 1997).  In dieser  letzten Sichtweise wird die  (tech‐

nikkritische) Ökologiebewegung  zu  einem  notwendigen  Lerninstru‐

ment der modernen Gesellschaft.4  

  Diesen, wenn  auch  unterschiedlichen  Bewertungen  liegt  ein 

gemeinsamer Gedanke zugrunde, nach dem Befürworter ökologische 

Folgen ignorieren, während Kritiker sie in das Blickfeld der Aufmerk‐

samkeit rücken. Im Folgenden soll zunächst gezeigt werden, dass die 

Einteilung  in Befürworter und Gegner das Resultat  einer Positionie‐

rung  ist,  die  ebenso Mittelpositionen  ermöglicht.  In  einem  zweiten 

Schritt wird gezeigt, dass  selbst diejenigen, die  sich  als Befürworter 

positionieren, ebenso ökologische und gesundheitliche Folgen thema‐

tisieren, und zwar weit mehr als diejenigen auf der Kritikerseite. 

  Grundlage der  folgenden Argumentation bildet  eine  empiri‐

sche Untersuchung, bei der Positionspapiere von Organisationen aus 

4   Vgl. hierzu Eder 1998; Eder 2000: 234 ff. Allgemein wurde in der Umweltsozio‐

logie die Initiierung gesellschaftlicher Lernprozesse als Vorbedingung  für die 

Lösung der Umweltproblematik angesehen; vgl. hierzu Eder 1990; Wiesenthal 

1994; Görg 2003; Groß 2003. Praktisch nutzbar gemacht wird eine solche For‐

derung  in Mediations‐ und partizipativen Technikfolgenabschätzungsverfah‐

ren;  vgl.  als  Beispiel  für  die  Agrar‐Gentechnik  Daele/Pühler/Sükopp  1996; 

Grove‐White u. a. 1997. 

Page 171: Streit um Materie?

Birgit Peuker

170

unterschiedlichen Praxisbereichen analysiert wurden.5 Hierbei wurde 

sich  insbesondere  auf  die  Argumente  für  und  wider  die  Agrar‐

Gentechnik  (Pro‐Contra‐Argumente)  konzentriert, die  in  den  Positi‐

onspapieren  auftauchten. Als Pro‐Argument wurde  jedes Argument 

gewertet, das die Struktur „Die Agrar‐Gentechnik nützt X“ besitzt; als 

Contra‐Argument  dementsprechend  „Die Agrar‐Gentechnik  schadet 

X“. Tabelle 1 zeigt  für die  jeweilige Organisation die Verteilung der 

Argumente, die einen entsprechenden Sachverhalt behaupten. Dabei 

wurde weiterhin  zwischen den  inversen Argumenten unterschieden 

(„Die Agrar‐Gentechnik nützt nicht X“, was auf eine  Infragestellung 

eines  im  Diskurs  behaupteten  Nutzens  verweist,  und  „Die  Agrar‐

Gentechnik schadet nicht X“, was eine Entgegnung auf eine Risikobe‐

hauptung darstellt). 

  Die Tabelle 1 verdeutlicht, dass es neben der expliziten Positi‐

onierung der Organisationen  im Diskurs  als Gentechnikbefürworter 

und Gentechnikkritiker6 ebenso eine implizite Positionierung gibt, die 

sich  in  der  Struktur  der  Mobilisierung  von  Risiko‐  und 

Nutzensargumenten niederschlägt. Weiterhin  ist  aus der Tabelle  er‐

sichtlich,  dass  es  neben  den  offensichtlichen  Befürwortern,  die  nur 

Nutzens‐, aber keine Risikoargumente anführen, und den offensichtli‐

chen Gegnern, die nur Risiko‐, aber keine Nutzensargumente anfüh‐

5   Für die Auswahl wurden die Organisationen, die  sich  im deutschsprachigen 

Diskurs zur Agrar‐Gentechnik positionieren, über deren  Internetpräsentation 

gesichtet  und  danach  kategorisiert,  in welchem  Interesse  sie  sprachen  (zum 

Beispiel im Interesse der Natur, der Verbraucher oder der Unternehmen). Für 

jede  Interessengruppe wurde die zentralste Organisation ausgewählt und die 

Argumentationsstruktur  nach  einem Analyseschema  untersucht,  das metho‐

disch  eine  durch  die  Akteur‐Netzwerk‐Theorie  fundierte  Netzwerkanalyse 

von Texten ermöglichte. Vgl. zu einer Darstellung der Methode Peuker 2008. 

Die Analyse wurde  im Rahmen eines Promotionsprojektes durchgeführt, das 

finanziell von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) unterstützt wur‐

de. 6   Nicht  alle Organisationen positionieren  sich  explizit  entlang der Unterschei‐

dung in Befürworter und Gegner, sondern beanspruchen, den Diskurs rationa‐

lisieren bzw. zur Aufklärung beitragen zu wollen. 

Page 172: Streit um Materie?

Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte

171

ren,  ebenso  differenziertere  Positionen  gibt,  die  sowohl  Risiko‐  als 

auch Nutzensargumente mobilisieren. 

 

Tabelle 1: Verteilung der Pro‐Contra‐Argumente. 

   Risiko  Nutzen 

   Risikokein 

RisikoNutzen

kein 

Nutzen 

Bundesministerium für Forschung und Bildung 

(BMBF)     18   

Deutsche Landwirtschafts‐Gesellschaft e.V. (DLG)      7   

Landesregierung Bayern    2  29   

Monsanto Agrar Deutschland (Monsanto)    7  35  1 

Max‐Planck‐Gesellschaft (MPG)    1  19   

aid infodienst – Verbraucherschutz, Ernährung, 

Landwirtschaft e.V. (aid) 19    9  4 

Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkun‐

de e.V. (BLL) 5  9  51  1 

Deutsche Industrievereinigung Biotechnologie 

(DIB) 2  2  35   

Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernäh‐

rung und Landwirtschaft (BMVEL) 12  2  5  1 

Deutscher Bauernverband e.V. (DBV)  2  1  15   

Verbraucher Initiative e.V.  3  4  15   

Bioland Verband für organisch‐biologischen 

Landbau e.V. 19      3 

Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW)  21      2 

Bundeskoordination Internationalismus (BUKO)  18      8 

Bund für Umwelt und Naturschutz e.V. (BUND)  39    2  18 

Evangelischer Entwicklungsdienst (EED)  23      11 

Greenpeace e.V.  13      2 

Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv)  10      10 

Misereor  12      4 

Forschungsinstitut für biologischen Landbau 

(FibL) 2       

Page 173: Streit um Materie?

Birgit Peuker

172

 

  Der obere Block umfasst die Befürworter, der untere Block die 

Kritiker, im mittleren Block sind die Positionen zusammengefasst, die 

zwischen  diesen  beiden  Polen  eine  differenziertere  Sichtweise  ein‐

nehmen. Angegeben ist die Anzahl unterschiedlicher Argumente, die 

von  der  entsprechenden  Organisation  in  ihren  Positionspapie‐

ren/ihrem  Positionspapier  angeführt wurden  und  sich  der  entspre‐

chenden Dimension zuordnen  ließen. Mehrfachnennungen desselben 

Argumentes wurden dabei ausgeschlossen. 

  Die Argumente wurden weiterhin  nach  der  Thematisierung 

von  Folgen  hinsichtlich der  ökologischen,  gesundheitlichen  und  so‐

zio‐ökonomischen Auswirkungen der Agrar‐Gentechnik kategorisiert 

und ihr Auftreten in den verschiedenen Positionspapieren beobachtet. 

Dabei  stellte  sich heraus, dass  auch die Organisationen, die  sich  im 

diskursiven Feld auf der Seite der Befürworter positionieren, Folgen 

im  ökologischen  Bereich  thematisieren  (Tabelle  2). Der Unterschied 

besteht  allein  darin,  dass  Befürworter  die  ökologischen  Folgen  als 

Nutzen begreifen, die Kritiker hingegen als Risiko.7 

Angegeben  ist die Anzahl unterschiedlicher Argumente, die 

von  der  entsprechenden  Organisation  in  ihren  Positionspapie‐

ren/ihrem  Positionspapier  angeführt wurden  und  sich  der  entspre‐

chenden Dimension zuordnen  ließen. Mehrfachnennungen desselben 

Argumentes wurden dabei ausgeschlossen. 

 

 

7   Dabei  beziehen  sich  befürwortende  und  kritische  Positionen  auf  dieselben 

Gegenstände, wie  zum  Beispiel  auf  die  Bodenqualität  (Ökologie), Allergien 

(Gesundheit) und die Absatzmärkte (Ökonomie). Der Unterschied besteht dar‐

in, dass die Befürworter einen positiven, die Kritiker einen negativen Zusam‐

menhang  behaupten. Konkret  sagen  also  zum  Beispiel  die  Befürworter,  die 

Agrar‐Gentechnik sei von Vorteil für die Bodenqualität, die Kritiker hingegen, 

dass die Agrar‐Gentechnik von Nachteil für die Bodenqualität sei. 

Page 174: Streit um Materie?

Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte

173

Tabelle 2: Verteilung der Pro‐Contra‐Argumente über die Dimensionen Ökologie, Gesundheit 

und Ökonomie.  

  Ökologie Gesellschaft Ökonomie 

Bund  für  Lebensmittelrecht  und  Lebensmit‐

telkunde e.V. (BLL)  15  16  19 

Bundesministerium  für  Forschung  und  Bil‐

dung (BMBF)  2  5  2 

Deutsche  Industrievereinigung  Biotechnolo‐

gie (DIB)  8  5  11 

Deutsche  Landwirtschafts‐Gesellschaft  e.V. 

(DLG)    1   

Landesregierung Bayern  7  5  11 

Monsanto Agrar Deutschland (Monsanto)  10  12  12 

Max‐Planck‐Gesellschaft (MPG)  4  4  5 

aid  infodienst  –  Verbraucherschutz,  Ernäh‐

rung, Landwirtschaft e.V.(aid)  5  10  11 

Bundesministerium  für  Verbraucherschutz, 

Ernährung und Landwirtschaft (BMVEL)  4  5  10 

Deutscher Bauernverband e.V. (DBV)  4  2  5 

Verbraucher Initiative e.V.  5  10  3 

Bioland  Verband  für  organisch‐biologischen 

Landbau e.V.  1  3  12 

Bund  Ökologische  Lebensmittelwirtschaft 

(BÖLW)  5    12 

Bundeskoordination  Internationalismus 

(BUKO)  1  1  9 

Bund  für  Umwelt  und  Naturschutz  e.V. 

(BUND)  7  5  27 

Evangelischer Entwicklungsdienst (EED)  5  1  11 

Forschungsinstitut  für biologischen Landbau 

(FiBL)      2 

Greenpeace e.V.  5    5 

Misereor      8 

Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv)  1  9  4 

 

 

Page 175: Streit um Materie?

Birgit Peuker

174

Darüber hinaus ist aus der Tabelle 2 erkennbar, dass die Befürworter 

weit  stärker  in Bezug  auf ökologische Folgen  argumentieren  als die 

Kritiker,  die  eher  die  sozio‐ökonomischen  Folgen  betonen.  Ein  Bei‐

spiel dafür, dass auch ein expliziter Gentechnikbefürworter den Um‐

weltschutz  thematisiert,  liefert  folgendes Zitat des Agrochemieunter‐

nehmen Monsanto,  das weltweit  den  größten  Teil  des Marktes  für 

transgene Saaten kontrolliert8:  

 

Der Umweltschutz steht weit oben auf der Prioritätenliste. Zu 

den  drängendsten  globalen  Umweltproblemen  gehören  die 

Anreicherung  von  Kohlendioxid  in  der  Erdatmosphäre,  die 

wachsenden  Müllberge  sowie  die  Zerstörung  von  Lebens‐

raum und Artenvielfalt. In gentechnisch veränderten Pflanzen 

produziertes  Bioplastik  könnte mithelfen,  die  Umweltbelas‐

tung  zu  reduzieren,  die  heute  noch  durch  die  Produktion 

konventioneller Kunststoffe verursacht wird. (Monsanto u. a. 

2000: 86) 

 

Erklärungsbedürftig wäre demnach, warum Befürworter ökologische 

Aspekte  in  ihre  Argumentation  einbeziehen.  Dies  ließe  sich  damit 

begründen,  dass  die  Diffusion  ökologischen  Gedankengutes  in  die 

Gesellschaft erfolgreich gewesen ist (vgl. Brand/Eder/Poferl 1997), was 

sich  insbesondere  am Nachhaltigkeitsdiskurs  zeigt. Technikentwick‐

lung wird  in  den Dienst  des Umweltschutzes  gestellt  und  Technik 

nicht nur als Mitverursacher der Umweltproblematik angesehen. Er‐

klärungsbedürftig  ist  aber  auch,  warum  Kritiker,  die  zumeist  der 

Umweltbewegung  zugerechnet  werden,  weniger  ihre  Stimme  im 

Umweltinteresse erheben als  im  Interesse der Gesellschaft. Dies  lässt 

sich, wie  im Folgenden, dadurch begründen, dass über die Themati‐

sierung der Natur gesellschaftliche Interessen kommuniziert werden. 

8   Die Broschüre „Kompendium Gentechnologie und Lebensmittel“, aus der hier 

zitiert wird,  hat Monsanto  zusammen mit  zwei  anderen  Agrochemieunter‐

nehmen, Aventis  und Novartis,  sowie mit  dem  Bund  für  Lebensmittelrecht 

und Lebensmittelkunde (BLL) herausgegeben. 

Page 176: Streit um Materie?

Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte

175

2.2 Aktive Natur

In  einigen  sozialwissenschaftlichen  Analysen  wird  behauptet,  dass 

Befürworter von Technikinnovationen  eher von  einem passiven Na‐

turverständnis  ausgehen  (vgl.  Eder  1998;  Latour  2001).  Befürworter 

einer  Technologie werden  auf  der  Seite  der Modernisierer  verortet, 

die  sozialen  Fortschritt mit wissenschaftlich‐technischem  Fortschritt 

gleichsetzen. Ihre Rationalität  ist die Rationalität der Wissenschaften. 

Im westlichen Denken, das zu der Entstehung der neuzeitlichen Wis‐

senschaften  im 17.  Jahrhundert und  letztendlich auch der modernen 

Wissenschaften  im 19.  Jahrhundert  führte, wird Natur als  träge und 

passiv konzeptualisiert.9 

  In  der  Debatte  um  die  Agrar‐Gentechnik  besitzt  die Natur 

jedoch  für beide Seiten, die kritische ebenso wie die befürwortende, 

Aktivität.10 Dies  zeigt  sich  in der Agrar‐Gentechnik‐Debatte  am Bei‐

spiel der Auskreuzung.11 So wird bei kritischen Positionen wiederholt 

auf die Auskreuzung verwiesen, um die Unkontrollierbarkeit der Ag‐

rar‐Gentechnik und die Nichtrückholbarkeit gentechnisch veränderter 

Organismen (GVO) herauszustellen. Dies verdeutlicht folgendes Zitat 

aus der Broschüre „Gen‐Mais  in Deutschland“, die von Greenpeace, 

dem BÖLW und der ABL herausgegeben wurde:  

„Pflanzen  beachten  keine  Grundstücksgrenzen,  ihre  Pollen  werden 

von Wind und  Insekten verbreitet. Sind Gen‐Pflanzen  einmal  in die 

9   Dies lässt sich auf das mechanistische Weltbild zurückführen (vgl. u. a. Shapin 

1998) und verbindet sich dann bei kritischen Positionen mit einer Kritik an der 

Trennung von Natur und Gesellschaft. 10   Aktivität wird hier  im Sinne einer  ‚Agency der Dinge’ nach dem erweiterten 

Symmetrieprinzip der Akteur‐Netzwerk‐Theorie verstanden und  im Rahmen 

dieses Aufsatzes als Zuschreibung sozialer Akteure behandelt. 11   Die Auskreuzung hat dabei nur symbolischen Wert, um auf das Eigenpotential 

der Agrar‐Gentechnik zu verweisen.  In der Argumentation bei Befürwortern 

wie bei Kritikern von weit größerer Bedeutung  sind die Risiken der Vermi‐

schung entlang der Warenkette, bei Lagerung, Transport und Weiterverarbei‐

tung. Aus diesem Grund gehen beide Seiten auch von einer Grundverunreini‐

gung bei großflächigem Anbau aus. 

Page 177: Streit um Materie?

Birgit Peuker

176

Umwelt  entlassen,  können  sie  nicht  mehr  zurückgeholt  werden.“ 

(Greenpeace/BÖLW/ABL o. J.: 7) 

Ähnlich sehen dies auch die Befürworter: 

 

Wenn man  z. B.  an die  ,Staubwolke’ von Pollen über  einem 

blühenden Roggenfeld denkt, so wird schnell klar, dass Gen‐

austausch zwischen Millionen von Pflanzen ein wichtiger Teil 

lebender Systeme ist. Natur ist dynamisch und auch die Gene‐

tik  ist  nicht  stabil,  sondern  evolutionär. Vor diesem Hinter‐

grund  ist der gigantisch große Gentransfer  im  Sommer  eine 

wichtige  Überlebensstrategie  aller  lebenden  Organismen. 

(Monsanto u. a. 2000: 114) 

 

Die Auskreuzung, unabhängig davon, ob es  sich dabei um gentech‐

nisch veränderte Organismen handelt oder nicht, verdeutlicht damit 

sowohl bei befürwortenden als auch bei kritischen Positionen die Ak‐

tivität der Natur.  

  Allgemein kann  festgestellt werden, dass sich die Sichtweise 

auf die Natur geändert hat, was auch zu neuen Praktiken, nicht nur 

im Naturschutz, sondern auch  in der Technikentwicklung  führt. Der 

mechanistische Naturbegriff  ist  zumindest  in  einigen  Technikberei‐

chen überwunden. Der Natur wird nun Eigenpotential und Kreativi‐

tät zugestanden, selbst technische Prinzipien zu generieren (vgl. Stei‐

ner  1998; Weber  2003). Beispielhaft hierfür  ist die Bionik, bei der  in 

der Natur vorkommende Prinzipien in Technikinnovationen übersetzt 

werden. In der Gentechnik ist dieser Gedanke in dem Begriff der ge‐

netischen  Ressourcen  enthalten,  die,  als  genetische  Vielfalt  in Gen‐

banken  aufgehoben,  als  Grundlage  für  die  Pflanzenzüchtung,  aber 

auch der Pharmaforschung dienen. Allgemein besteht das Verhältnis 

von Technik zu Natur – als Sichtweise und als Praktik, da Sichtweisen 

in Praktiken verankert sind und eine Koevolution unterlaufen – hier 

nicht mehr in einer Nachahmung der Natur durch die Technik, noch 

wird  Technik  als  schöpferische  Leistung  des Menschen  verstanden 

(vgl. Böhme 1992; Weber 2003: 26 ff.), sondern Natur selbst wird zur 

Produzentin von Technik. 

Page 178: Streit um Materie?

Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte

177

2.3 Aktivität und Kontrolle

Die  Positionen  von  Befürwortern  und  Kritikern  beziehen  sich  glei‐

chermaßen sowohl auf den Umweltschutz als auch auf die Aktivität 

der Natur. Der Unterschied  zwischen  der  Position  der  Befürworter 

und der Position der Kritiker liegt nicht in der Zuschreibung von Ak‐

tivität an die Natur, sondern darin, inwiefern es für möglich gehalten 

wird, diese Aktivität zu kontrollieren.12 Dies wird an den unterschied‐

lichen Auffassungen über das Verhältnis zwischen Natur und Gesell‐

schaft deutlich.  

  Befürworter beziehen sich auf eine Gesamtgesellschaft, nicht 

selten  im globalen Maßstab, Kritiker hingegen auf  lokale bzw. regio‐

nale Beziehungsgeflechte. Hier sind soziale und natürliche Elemente 

miteinander  verquickt  und  in  der  alltäglichen  Praxis  miteinander 

verwoben. Zur Gesellschaft, die eher als regionale Gemeinschaft bzw. 

Kollektiv  (vgl. Latour 2005) gesehen wird, gehören nicht nur soziale 

Akteure, sondern auch die  in den praktischen Vollzügen frei verfüg‐

baren nicht‐sozialen physischen Entitäten, die auch als natürlich be‐

schrieben werden. Damit ist gemeint, dass in praktischen Handlungs‐

vollzügen die diskursiven Grenzen zwischen Natur und Gesellschaft 

und  die  rechtlichen  Abgrenzungen  des  Eigentums  verschwimmen. 

Als Modell hierfür gilt zumeist die noch kleinbäuerliche Lebensweise 

in den Ländern des Südens13:  

 

[...] den meisten  südlichen Kulturen  entspricht das Konzept 

des  geistigen  Eigentums  nicht,  das  hinter  dem  Patentschutz 

steht.  Für  viele  enthält  es  einen Widerspruch  zu  ihrer  ethi‐

schen  Auffassung,  alle  Elemente  der  Natur  als  Gemein‐

12   Unter Kontrolle ist in diesem Zusammenhang gemeint, dass ein Arrangement 

in diskursiver, sozialer und technischer Hinsicht errichtet wurde, welches die 

Aktivität der beteiligten Entitäten so ausrichtet, dass sie den intendierten Zie‐

len der Subjekte bzw. der Netzwerkerbauer nicht zuwiderläuft. Kontrolle wird 

hier demnach als Zuschreibung verstanden. 13   Aber  auch  in  den  westlichen  Industrieländern  gibt  es  noch  in  bäuerlichen 

Kulturen Reste der Vorstellung, dass für denjenige, der auf und von dem Land 

lebt, es keine Natur gibt. Vgl. Heindl/Groeneveld 2006: 127 ff. 

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Birgit Peuker

178

schaftsgüter anzusehen, auf die niemand einen  individuellen 

Besitzanspruch erheben kann. (Misereor o.J.) 

 

Für Kritiker erscheint die Verstärkung der Kontrollgewalt durch die 

Agrar‐Gentechnik als eine Enteignung: Sie verweisen auf die Patentie‐

rung bzw. die Etablierung von geistigen Eigentumsrechten auf geneti‐

sche Ressourcen, die Einführung von Nachbaugebühren und die Zer‐

störung kleinbäuerlicher Lebensweisen sowie die Behinderung ökolo‐

gischer  und  gentechnikfreier  Landwirtschaft.  Aus  ihrer  Sichtweise 

handelt es sich demnach um Privatisierung und damit um eine Ent‐

eignung öffentlicher Güter. 

  Bei befürwortenden Positionen stellt sich die Frage nach dem 

Verhältnis  zwischen Natur und Gesellschaft  eher  in Bezug  auf  eine 

globale Gesamtgesellschaft. Vom Blickpunkt eines globalen Manage‐

ments  aus  sollen  nicht  nur  die  Unsicherheiten  der Natur,  sondern 

auch der Gesellschaft und  insbesondere die Verbraucher kontrolliert 

werden. Dies wird  in einer Broschüre, „Gentechnik  im Lebensmittel‐

bereich“,  des  Bundes  für  Lebensmittelrecht  und  Lebensmittelkunde 

(BLL) deutlich: 

 

Wer  ist  in der  Industrie bereit,  in der Lebensmittelindustrie, 

wer  in  der  Politik  ist  bereit,  sich  vor  einen Verbraucher  zu 

stellen und vor  ihm von einem Restrisiko zu reden? Welcher 

Politiker  ist denn bereit, sich hinzustellen und zu sagen: Wir 

lassen diese Substanz zu, aber es besteht ein minimales Restri‐

siko, dass Sie an Krebs erkranken. Es wird sich kein Politiker 

finden, der diese Aussage macht. Deshalb ist es auch nicht so 

einfach, hier Patentrezepte zu fordern, wie man im Risikoma‐

nagement  damit  umgeht. Unsere Gesellschaft  ist  dazu  noch 

nicht  bereit, weil  sie  bezüglich  dieses  Risikos  bei  normalen 

Lebensmitteln nicht erzogen worden ist. (BLL 2002: 77) 

 

Nicht nur die Natur,  sondern  auch die Gesellschaft  sollen demnach 

„erzogen“  werden,  um  eine  Technikanwendung  zu  gewährleisten. 

Um Natur und Gesellschaft zu disziplinieren, werden nicht nur tech‐

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Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte

179

nische, sondern vor allem rechtliche Mittel angeführt.14 Bei den recht‐

lichen Mitteln sind insbesondere Schwellenwerte zentral. Da bei groß‐

flächigem Anbau von einer nicht zu vermeidenden Grundverunreini‐

gung durch gentechnisch veränderte Organismen ausgegangen wird 

– worin sich sowohl kritische als auch befürwortende Positionen einig 

sind  –, werden Vermischungen  von  nicht‐gentechnisch  veränderten 

Organismen mit gentechnisch veränderten Organismen erst ab einem 

bestimmten Prozentsatz kennzeichnungspflichtig. Abgesehen davon, 

dass ein Großteil gentechnisch veränderter Organismen ohnehin nicht 

der Kennzeichnungspflicht unterliegt, wird durch die Kennzeichnung 

anhand  eines  Schwellenwertes  die  Unterscheidung  zwischen  gen‐

technisch verändert und gentechnikfrei trotz anteilmäßiger Verunrei‐

nigung möglich.15 Mittels der  Schwellenwerte werden  gesellschaftli‐

che Praktiken zur Trennung der Warenströme und zur Kontrolle der 

Kennzeichnungspraxis  etabliert,  um  den  Vermischungsgrad  mög‐

lichst gering zu halten. Sie dienen aber auch dazu, potentiell negative 

Auswirkungen, wenn sie schon nicht zu vermeiden sind, zu  ignorie‐

ren. Von der  befürwortenden Position  aus wird der Natur und der 

14   Als  technisches Mittel wird die  so genannte Chloroplastentransformation er‐

wähnt, bei der die gentechnische Veränderung  an den Chloroplasten vorge‐

nommen wird, womit  sie  nicht mehr  durch  den  Pollen  übertragen werden 

kann.  Ein  weiteres  Verfahren  ist  die  Genetic  Use  Restriction  Technology 

(GURT),  auch  Terminatortechnologie  genannt,  da  durch  sie  die  Keimfähig‐

keitder  Samen  verhindert wird.  Beide  Techniken werden  kommerziell  noch 

nicht verwertet. 15   So  sind  nach  der  EU‐Kennzeichnungsregelung  vom  18. April  2004 mit  der 

Nahrungs‐ und Futtermittelverordnung  (EU‐Verordnung Nr. 1829/2003) und 

der  Verordnung  zur  Rückverfolgbarkeit  und  zur  Kennzeichnung  (EU‐

Verordnung Nr.  1830/2003) Lebens‐ und Futtermittel, die Zutaten  enthalten, 

die mittels GVO  hergestellt werden,  von  der Kennzeichnungspflicht  ausge‐

nommen. Dies betrifft auch tierische Produkte wie Fleisch und Eier von Tieren, 

die mit GVO gefüttert wurden. 

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Birgit Peuker

180

Gesellschaft Aktivität zugestanden, aber nur  insofern sie kontrollier‐

bar ist.16  

  Diese unterschiedlichen Sichtweisen auf die Kontrollmöglich‐

keiten von Technik sind mit unterschiedlichen Risikodefinitionen ver‐

bunden. Für die  folgenden Ausführungen genügt es, Risiko als eine 

Schadauswirkung aufzufassen.17 Für befürwortende Positionen signa‐

lisieren Risiken, dass die Kontrolle der Aktivität der Natur durch die 

Technik gestört ist. Sie ziehen daraus den Schluss, dass die Kontrolle 

weiter verstärkt werden müsse. Für kritische Positionen sind Risiken 

hingegen  ein  Zeichen  dafür,  dass  die  Kontrolle  durch  die  Technik 

erfolgreich  ist.  Jedoch wird der Bereich dessen, was durch die Tech‐

nik, in diesem Fall die Gentechnik, kontrolliert werden soll, ausgewei‐

tet. Nicht nur die Aktivität der Natur, sondern auch die Aktivität der 

sozialen Umwelt sollen kontrolliert werden.  In der  technikbefürwor‐

tenden Sichtweise  liegen damit die Risiken  in der Funktionstüchtig‐

keit der Technik, vergleichbar mit einem schlecht gebauten Haus, das 

in  sich  zusammenfallen  kann.  In  der  technikkritischen  Perspektive 

liegen die Risiken  eher  in der Funktionstüchtigkeit der Technik, die 

als  Instrument  einiger  gesellschaftlicher  Akteure  gegen  alternative 

gesellschaftliche  Interessen  gewandt werden  kann.  In  beiden  Fällen 

wird  jedoch die Technik  in Bezug  zur Gesellschaft gesehen:  In dem 

einen Fall bringt die Kontrolle der Technik gesellschaftlichen Nutzen, 

in dem anderen  ist die Technik ein  Instrument  für die Kontrolle der 

sozialen Umwelt. Es geht damit nicht nur um unterschiedliche Bilder 

von Natur, sondern unterschiedliche Konzeptionen über das Verhält‐

nis zwischen Natur und Gesellschaft. Der Unterschied liegt darin, ob 

sich  eher  auf der  lokalen oder  eher  auf der globalen Ebene  auf das 

Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft bezogen wird. 

16   Vgl. zu einer ähnlichen Einschätzung hinsichtlich der Verteilung von Passivität 

und  Aktivität  im  Hinblick  auf  die  Kontrollgewalt  Law  2002,  insbesondere 

121 ff. 17 Die Definition des Begriffs Risiko variiert sowohl in der sozialwissenschaftlichen 

Literatur als auch  im gesellschaftlichen Diskurs. Die versicherungstechnische 

Variante definiert Risiko als Produkt von Eintrittswahrscheinlichkeit und Hö‐

he des Schadens; vgl. Krohn/Krücken 1993; Banse 1996. 

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Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte

181

  Jedoch lässt die Position der Technikkritiker eine Differenzie‐

rung zu. So ist auch in Bezug auf die Agrar‐Gentechnik eine Linie von 

Kritikern  auszumachen, die  die Anwendung  der Gentechnik  in der 

Landwirtschaft  insgesamt  ablehnen  und  dementsprechend  eher  als 

Gentechnikgegner  denn  als  Gentechnikkritiker  bezeichnet  werden 

müssten.  Es  gibt  aber  auch  eine  Linie  von  Kritikern,  die  nicht  die 

Technik  an  sich,  sondern die Richtung der Technikentwicklung der 

Agrar‐Gentechnik kritisieren, die ihrer Meinung nach weder umwelt‐ 

noch  sozialverträglich  sei. Dies  geht mit  der  Forderung  einher,  die 

öffentliche Forschung zu fördern und die Technikentwicklung nicht in 

privater Hand zu belassen. 

  In dem Konflikt um die Agrar‐Gentechnik geht  es demnach 

sowohl  um  die  Herstellung  und  den  Schutz  öffentlicher  Güter  als 

auch  um  das  Recht  auf  Selbstbestimmung.  Zu  einem  ähnlichen 

Schluss kommen auch andere Autoren, die Technikkonflikte als eine 

neue Form sozialer Konflikte beschreiben, bei denen es nicht mehr um 

die Verteilung,  sondern um die Herstellung  öffentlicher Güter gehe 

(vgl. Beck 1986; Lau 1989; Eder 1997).18 Ebenso haben empirische Stu‐

dien nachgewiesen, dass die fehlende Technikakzeptanz in der Bevöl‐

kerung weniger auf ein Unbehagen gegenüber der Technik selbst zu‐

rückzuführen sei als auf mangelndes Mitspracherecht und mangelnde 

demokratische  Kontrolle  (vgl.  Dolata  1996:  196  ff.;  Albrecht  2000: 

147 f.; Martinsen 2000: 66). 

3. Schlussbemerkung

In der Debatte um die Agrar‐Gentechnik werden zumeist die Befür‐

worter als Sprecher der Interessen der Ökonomie angesehen, die Kri‐

tiker hingegen als Sprecher im Interesse der Natur. Diese Verbindung, 

so haben die vorangegangenen Erörterungen gezeigt, beinhalten eine 

Vereinfachung der  jeweiligen Argumentationen, die  jedes Mal miss‐

18   Auf  die  Schwierigkeiten  bei Herstellung  und  Schutz  öffentlicher Güter  ver‐

weist das so genannte Allmendeproblem (engl. ‚tradegy of the commons’) oder 

auch Trittbrettfahrerproblem; vgl. Hardin 1968. 

Page 183: Streit um Materie?

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182

achtet, dass das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft themati‐

siert wird. Die Kritiker beziehen sich nicht nur einseitig auf eine Na‐

tur, sondern sprechen auch im Interesse der Gesellschaft. Ebenso füh‐

ren  Befürworter  neben  ökonomischen  auch  ökologische Argumente 

an. 

  Die Vereinseitigung der Sprecherposition der Kritiker  ist  so‐

wohl für Befürworter als auch Kritiker funktional. Für die Befürwor‐

ter wird  es  so möglich, die Argumentation der Kritiker  allein unter 

den  ökologischen  Gesichtspunkten  betrachten  zu  können.  Die  hier 

aufgeführten  Argumente  beziehen  sich  auf  die  Natur,  den  Gegen‐

stand  der  Naturwissenschaften.  Ihnen  kann  dementsprechend  mit 

wissenschaftlichen  Argumenten  begegnet  werden.  Die  Diskussion 

kann sich dann zum Beispiel darauf beziehen, wie weit die Auskreu‐

zung  reicht  und welche Kulturpflanzen  betroffen  sind  etc. Dies  er‐

laubt  es,  die  ökonomischen  und  gesellschaftspolitischen Argumente 

der Kritiker zu ignorieren und deren Position nicht als politische Posi‐

tion, die nach politischer Partizipation drängt, wahrzunehmen. Eben‐

so können auf Seiten der Kritiker die Möglichkeiten eines technischen 

Naturschutzes  ignoriert werden,  um  die Argumentation  der  Befür‐

worter  allein  auf  die  zugrunde  liegenden  ökonomischen  Interessen 

zurückzuführen  und  damit  deren  wissenschaftliche  Argumente  als 

durch Interessen verzerrt darzustellen. 

  Damit wird Natur einseitig nur unter wissenschaftlichen As‐

pekten gesehen und  ihre oben beschriebene Funktion als öffentliches 

und damit  politisch  umstrittenes Gut  nicht  berücksichtigt. Der wis‐

senschaftliche Naturbegriff  tendiert  aber  dazu, Unterschiede  in  den 

Naturverhältnissen zu  ignorieren und sie unter einer globalen Sicht‐

weise zu vereinheitlichen.19 Dadurch wird jedoch nicht nur die Natur 

vereinheitlicht, sondern auch die Gesellschaft, da nur einer möglichen 

Perspektive auf das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft der 

Vorzug gegeben wird. 

19   Zu  einer Kritik  an  einem vereinheitlichenden Naturbegriff, der  sich  auf den 

universalisierenden Diskurs in den Wissenschaften stützt, siehe die Beiträge in 

Jasanoff/Long Martello 2004. 

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Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte

183

Ziel des Artikels war es, zu zeigen, dass es eine Pluralität von Positio‐

nen in der Agrar‐Gentechnik‐Debatte gibt. Zwar lassen sich die unter‐

schiedlichen Lager von Befürwortern und Gegnern  identifizieren, sie 

stellen  aber  nur  Bezugspunkte  flexibler  Positionierungen  dar,  die 

durch Akteure mit unterschiedlichen Vorstellungen über das Verhält‐

nis zwischen Natur und Gesellschaft hervorgebracht werden. Neben 

ihrer pauschalen Kennzeichnung  als Gegenüberstellung der  Interes‐

sen von Ökologie und Ökonomie sind differenziertere Argumentatio‐

nen zu erkennen, wie zum Beispiel die gentechnikkritische Position, 

die auf  eine  sozial‐ und umweltverträgliche Technikgestaltung zielt. 

Diese Ambiguitäten werden nur sichtbar, wenn nicht von festen Iden‐

titäten ausgegangen wird, die zum Beispiel auf kulturell vordefinierte 

Praxisfelder zurückgeführt werden, sondern nur wenn die Positionie‐

rung sozialer Akteure untersucht wird, die Partei ergreift für eine be‐

stimmte gesellschaftliche Praxis. Identitäten sind hergestellt und kön‐

nen gewechselt werden. Dies könnte auch für andere Ökologiediskur‐

se oder gesellschaftliche Diskurse im Allgemeinen gelten. 

  Die Sozialwissenschaften dürfen nicht unreflektiert in solchen 

Debattenfeldern  Partei  ergreifen.  Ihre Aufgabe  ist  es  vielmehr,  das 

Debattenfeld  zu kartieren, unterschiedliche Sichtweisen darzustellen 

und es damit nicht nur sich selbst zu ermöglichen, reflektiert Position 

zu beziehen,  sondern vor allem auch  ihren Rezipienten. Eine  solche 

Positionierung würde die Pluralität von Positionen  anerkennen und 

die eigene Position nicht pauschal als die universell gültige und rich‐

tige  setzen. Darüber könnte auch die Rolle der Sozialwissenschaften 

in  interdisziplinären  Zusammenhängen  definiert  werden,  nämlich 

indem sie die Positionierung anderer Disziplinen zugleich  relativiert 

und verdeutlicht. 

4. Literaturverzeichnis

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Page 190: Streit um Materie?

Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung gesellschaftlicher Naturverhältnisse

Über die Bedeutung von Natur-, Ökonomie- und Politikverständnissen für nachhaltige Entwicklung

Daniela Gottschlich und Tanja Mölders  

1. Einleitung

In der sozial‐ökologischen Krise zeigt sich, dass die sicher geglaubte 

Grenze zwischen ‚Natur’ und Gesellschaft zunehmend verschwimmt. 

Es sind die gesellschaftlichen Naturverhältnisse, d. h. die vielfältigen 

materiellen  und  kulturellen  Beziehungen  zwischen  Menschen  und 

‚Natur’1, die in die Krise geraten sind und sich z. B. in Form von Kli‐

mawandel,  Lebens‐  und  Futtermittelskandalen  äußern  (vgl. 

Jahn/Wehling  1998;  Becker/Jahn  2006;  sowie  den  Beitrag  von 

C. Janowicz  in diesem Band).  In der Sozialen Ökologie wird die  seit 

den 1970er Jahren diskutierte ökologische Krise deshalb nicht als eine 

Krise  der  ‚Natur  da  draußen’,  sondern  „mehrdimensional  als  eine 

Krise des Politischen, der Geschlechterverhältnisse und der Wissen‐

schaft  verstanden“  (Becker  2006:  53).  Konstitutiv  für  das  sozial‐

ökologische Krisenverständnis  ist zudem der Bedeutungszusammen‐

hang von Krise und Kritik, weshalb  jedes Krisenkonzept mit  einem 

Konzept von Kritik verbunden bleiben  sollte  (vgl. Becker/Jahn 1989: 

6). Diese  Problemorientierung  der  Sozialen Ökologie wird  von  uns 

1   In Anlehnung an Kropp  (2002: 23, Fußnote 8)  setzen wir  ‚Natur’  in  einfache 

Anführungszeichen und markieren damit den diskursiven Charakter des Beg‐

riffes,  dessen  alltagsweltliche  sowie  wissenschaftsimmanente  Gewissheiten 

wir hinterfragen. Mit  ‚Natur’  sind  stets unterschiedliche und vielfältige  ‚Na‐

turwesen’,  ‚Naturdinge’,  ‚nicht menschliche Wesen’  etc.  gemeint.  In  zusam‐

mengesetzten Begriffen verzichten wir der Lesbarkeit halber auf diese Anfüh‐

rungszeichen. 

Page 191: Streit um Materie?

Daniela Gottschlich und Tanja Mölders

190

geteilt und bildet den Ausgangspunkt unseres Forschungsvorhabens 

„PoNa – Politiken der Naturgestaltung“, aus dem heraus dieser Bei‐

trag entstanden ist (vgl. Infokasten). 

 

Die Nachwuchsgruppe „PoNa – Politiken der Naturgestaltung. Länd‐

liche Entwicklung und Agro‐Gentechnik zwischen Kritik und Vision“ 

wird vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung 

(BMBF)  im  Förderschwerpunkt  Sozial‐ökologische  Forschung  (SÖF) 

gefördert und ist an der Leuphana Universität Lüneburg angesiedelt. 

PoNa  analysiert  die  wechselseitigen  Beziehungen  zwischen  Politik 

und ‚Natur’. Ziel ist es, einen theoretisch und empirisch begründeten 

Beitrag  zur  Diskussion  um  nachhaltige  Entwicklung  zu  leisten,  in 

dem  ‚Natur’  stärker  als  bisher  als  mithergestelltes  Resultat  sozio‐

ökonomischer  Entwicklungen  angelegt  ist.  Ausgehend  von  einem 

solchen Nachhaltigkeitsverständnis werden Empfehlungen zur inhalt‐

lichen,  strukturellen  und  prozeduralen Gestaltung  gesellschaftlicher 

Naturverhältnisse  abgeleitet.  Am  Beispiel  der  beiden  Politikfelder 

Ländliche  Entwicklung  und  Agro‐Gentechnik werden  zunächst  die 

der  politischen  Gestaltung  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse  zu‐

grunde  liegenden  Rationalitäten  in Natur‐, Ökonomie‐  und  Politik‐

verständnissen  analysiert.  Die  dabei  identifizierten  Potenziale  und 

Grenzen für Politiken nachhaltiger Naturgestaltung werden in einem 

iterativen  Prozess  mit  bereits  existierenden  theoretischen  Ansätzen 

(wie  dem  Konzept  der  (Re)Produktivität)  ins  Verhältnis  gesetzt. 

Durch  den  Ländervergleich  Deutschland‐Polen  wird  sowohl  das 

Spektrum der Analyse als auch das möglicher Handlungsempfehlun‐

gen erweitert,  indem unterschiedliche politische, wirtschaftliche, kul‐

turelle  und  naturräumliche  Bedingungen  untersucht  werden. 

Miteinbezogen werden u. a. Fragen danach, wie sich die Transforma‐

tionsprozesse des politischen und ökonomischen Systems  auf Politi‐

ken der Naturgestaltung, Nachhaltigkeitsstrategien und auf Akteure 

in den Politikfeldern  auswirken. Die  theoretischen und  empirischen 

Ergebnisse  von  PoNa  sollen  verschiedenen  wissenschaftlichen  und 

anwendungsorientierten Verwertungen zugeführt werden  (vgl. dazu 

auch www.sozial‐oekologische‐forschung.org/de/1427.php). 

Page 192: Streit um Materie?

Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung

191

Ziel des  vorliegenden Beitrages  ist  es, die  theoretischen Überlegun‐

gen, die dem Forschungsvorhaben zugrunde liegen, vorzustellen und 

damit  die  Frage  nach  der Krise  des  Politischen  als  Frage  nach  den 

Möglichkeiten  und Grenzen der  Steuerung  gesellschaftlicher Natur‐

verhältnisse in Richtung Nachhaltigkeit zu konkretisieren. 

  Im  Forschungsprojekt  PoNa  gehen wir  davon  aus,  dass  die 

vorfindbaren Strategien zur politischen Steuerung vielfach selbst Teil 

der  in  die Krise  geratenen  gesellschaftlichen Naturverhältnisse  sind 

und dass  sich  auch  in  solchen Politikansätzen, die  ihrem  Selbstver‐

ständnis  nach  nachhaltige  Strategien  verfolgen,  Denk‐  und  Hand‐

lungsmuster  identifizieren  lassen, die  sozial‐ökologische Krisen per‐

petuieren. Vor dem Hintergrund dieser kritischen Orientierung setzen 

wir  uns  mit  verschiedenen  Ansätzen  politischer  Steuerung  in  den 

beiden  Politikfeldern  Ländliche  Entwicklung  und  Agro‐Gentechnik 

auseinander (vgl. zum Politikfeld Agro‐Gentechnik auch den Beitrag 

von B. Peuker in diesem Band). 

  Eine für das Forschungsvorhaben zentrale Annahme, die Re‐

sultat unserer bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit 

dem Diskurs um nachhaltige Entwicklung  ist  (vgl. u.  a. Gottschlich 

2003; Gottschlich/Mölders 2006; Mölders 2009), lautet, dass eine nach‐

haltige Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse der Reflexion 

und –  in vielen Fällen – der Reformulierung von Natur‐, Ökonomie‐ 

und Politikverständnissen, die den unterschiedlichen Ansätzen politi‐

scher  Steuerung  zugrunde  liegen,  bedarf  (vgl.  für  die  betrachteten 

Politikfelder auch Feindt u. a. 2008a). Diesen Gedanken werden wir 

im Folgenden ausführen, indem wir die Bedeutung von Natur‐, Öko‐

nomie‐ und Politikverständnissen  als  zentrale Kategorien der Steue‐

rung  gesellschaftlicher Naturverhältnisse  herausarbeiten. Dazu wer‐

den wir in einem ersten Schritt Nachhaltigkeit als Transformationsziel 

konkretisieren und unser Verständnis von nachhaltiger Entwicklung 

und (politischer) Steuerung explizieren. In einem zweiten Schritt legen 

wir den Fokus auf Natur‐, Ökonomie‐ und Politikverständnisse. Dabei 

stellen  wir  jeweils  dar,  welche  Natur‐,  Ökonomie‐  und  Politikver‐

ständnisse  im Nachhaltigkeitsdiskurs vertreten sind,  formulieren vor 

dem Hintergrund  unseres Nachhaltigkeitsverständnisses Kritik  und 

Page 193: Streit um Materie?

Daniela Gottschlich und Tanja Mölders

192

leiten  dann  über  zu weiterführenden  theoretischen Konzepten. Um 

unsere  theoretischen  Ausführungen  zu  exemplifizieren,  stellen  wir 

jeweils abwechselnd Bezüge zu den  im Forschungsprojekt PoNa be‐

trachteten  Politikfeldern  Ländliche  Entwicklung  und  Agro‐

Gentechnik her. Im dritten und letzten Schritt fragen wir danach, wel‐

che Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung gesellschaftlicher Na‐

turverhältnisse  hinsichtlich  unterschiedlicher  und  in  Teilen  wider‐

sprüchlicher, d.  h.  nicht  integrationsfähiger Natur‐, Ökonomie‐ und 

Politikverständnisse erkennbar werden. 

2. Nachhaltigkeit als Transformationsziel politischer Steuerung

Gesellschaftliche Naturverhältnisse  verändern  sich  –  sie  unterliegen 

Transformationsprozessen.  Diese  Transformation  kann  erstens 

unintendiert erfolgen, und zwar sowohl als Resultat von Naturprozes‐

sen ohne anthropogene Ursachen (z. B. Vulkanausbrüche) als auch als 

Ergebnis  gesellschaftlicher  Prozesse, mit  denen  primär  andere  Ent‐

wicklungen verfolgt wurden und werden (bspw. ist der Klimawandel 

ein  unintendiertes  Resultat  fortschreitender  Industrialisierung).2 

Zweitens – und auf diese Form der Transformation konzentrieren wir 

uns  im Folgenden – können Veränderungen das  intendierte Ergebnis 

von Steuerung sein. 

  Wir verwenden den Begriff der Steuerung, um der Gestaltbar‐

keit gesellschaftlicher Naturverhältnisse Ausdruck zu verleihen, ohne 

dabei einem Steuerungsoptimismus anheimzufallen. Unter Steuerung 

–  genauer:  politischer  Steuerung  –  verstehen wir  die  zielgerichtete 

und zweckorientierte, d. h. absichtsvolle Gestaltung gesellschaftlicher 

Bedingungen und Zustände. Doch politische Steuerung hat nicht nur 

ihre Grenzen, auf die wir zu sprechen kommen werden, sie ist zudem 

auch  immer  „intentionale Machtausübung“  (Göhler/Höppner/De  La 

2   Der Begriff der „unintendierten Nebenfolgen“ als Resultat von gesellschaftli‐

chen Modernisierungsprozessen wurde von Ulrich Beck (1986) in seinem Buch 

„Risikogesellschaft“ in die umweltpolitische Debatte eingeführt. 

Page 194: Streit um Materie?

Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung

193

Rosa  2009:  13). Ausgehend von der Frage nach der demokratischen 

Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse werden die Verfahren 

und Formen der Steuerung selbst zum Gegenstand der Analyse: Wer 

hat welche Möglichkeiten,  sich wie  einzubringen? Wer definiert die 

Krisen und Probleme, die es zu gestalten gilt? Wo werden Reflexions‐ 

und  Kommunikationsräume  geschaffen  (vgl.  dazu  auch  Brand 

2005: 157)? 

  Nachhaltigkeit zum Transformationsziel zu erklären, bedeutet 

zwar,  einer  normativen Orientierung  zu  folgen,  doch  das  Konzept 

nachhaltige Entwicklung stellt ein „kontrovers strukturiertes Diskurs‐

feld“ (Brand/Fürst 2002: 92) dar,  innerhalb dessen verschiedene Strö‐

mungen  um  die Deutung  von Nachhaltigkeit  konkurrieren. Wenn‐

gleich dabei sowohl das doppelte Gerechtigkeitspostulat für die heute 

lebenden wie  für die  zukünftigen Generationen  als  auch die Forde‐

rung nach dem Erhalt der Reproduktions‐ und Entwicklungsfähigkeit 

von  ‚Natur’ und Gesellschaft weitgehend geteilte Grundorientierun‐

gen darstellen, sind die dafür einzuschlagenden Wege und Maßnah‐

men  ebenso  unterschiedlich  wie  umstritten.  Entsprechend  muss 

Nachhaltigkeit  jeweils  gemäß der  eigenen Zugänge und Vorstellun‐

gen konkretisiert werden. 

  Das Verständnis von nachhaltiger Entwicklung, das dem For‐

schungsprojekt  PoNa  als  normative  Orientierung  zugrunde  liegt, 

schließt an Arbeiten an, die im Kontext des Vorsorgenden Wirtschaf‐

tens3  entstanden  sind  (vgl. Biesecker u.  a.  2000;  Forschungsverbund 

3   Das Konzept des Vorsorgenden Wirtschaftens hat  sich  seit 1992  im deutsch‐

sprachigen europäischen Raum herausgebildet. Zu seinen Kernelementen ge‐

hören die Forderung nach bewusster Gestaltung der Einheit von Reprodukti‐

vität  und  Produktivität  sowie  das Ansetzen  an  lokalen  Lebensbedingungen 

und Alltagserfahrungen. Vorsorgendes Wirtschaften  ist keine  abstrakte  Idee, 

sondern heute schon Wirklichkeit. Das gleichnamige Netzwerk hat eine Viel‐

zahl von Praxisbeispielen untersucht, die vor allem auf lokaler bzw. regionaler 

Ebene  zu  finden  sind  –  sei  es  als nachhaltige Land‐ und Forstwirtschaft,  als 

Haus der Eigenarbeit, als Bank mit auf den Lebenserhalt gerichteten Kriterien 

der Kreditvergabe  oder  als  kooperative Nutzgartenwirtschaft. Vorsorgendes 

Wirtschaften  ist  ein Weg  zu  einer nachhaltigen Ökonomie, der  im Hier und 

Heute  ansetzt,  sich  im Gehen  festigt und weiter herausbildet und  in diesem 

Page 195: Streit um Materie?

Daniela Gottschlich und Tanja Mölders

194

„Blockierter  Wandel?“  2007).  Für  die  angestrebte  Integration  von 

Ökonomie, Ökologie und Sozialem bedeutet dies, diese Dimensionen 

aufeinander  bezogen  neu  zu  denken  und  sie  in  ihren  spezifischen 

Qualitäten neu zu bestimmen: Das Ökonomieverständnis eines nachhal‐

tigen Wirtschaftens schließt bspw. die durch die Marktökonomie nicht 

bewerteten Sorgearbeiten und ökologischen Leistungen von ‚Natur’ ein. 

Die ökologischen Leistungen bilden nicht allein die Grundlage wirt‐

schaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung, sondern zugleich  ihr 

Ziel. Aus  einer  sozialen Perspektive geht  es u. a. um die Entwicklung 

umfassender  partizipativer  Beziehungsmuster  zur  Verwirklichung 

intra‐ und intergenerationaler Gerechtigkeit (vgl. Forschungsverbund 

„Blockierter Wandel?“ 2007: 85). 

  Diese  Forderungen  erscheinen  uns  umso  dringlicher,  da  in 

der bisherigen politischen Praxis die Beziehungen zwischen ökologi‐

schen,  ökonomischen  und  sozialen  Aspekten  nach  wie  vor  häufig 

ausgeblendet bleiben, indem sich Projekte und Maßnahmen lediglich 

sektoral auf eine Zieldimension konzentrieren. Auch  in solchen Poli‐

tikfeldern, die sich  ihrem Selbstverständnis nach an  Ideen nachhalti‐

ger  Entwicklung  orientieren  (z. B.  Umweltpolitik),  bleibt  eine  (Neu 

)Bestimmung  dessen,  was  unter  ökologischen,  ökonomischen  und 

sozialen Qualitäten  jeweils zu verstehen  ist und wie diese sich aufei‐

nander beziehen  sollten, größtenteils aus. Wie die  jeweiligen Krisen, 

d. h. die jeweiligen zu bearbeitenden Probleme, wahrgenommen, ana‐

lysiert  und  bearbeitet werden,  trägt  unseres  Erachtens  deshalb  teil‐

weise zur Stabilisierung, Reproduktion und Verschärfung dieser Kri‐

sen  bei. Einen Ausweg  aus dieser  „Krise der Krisenwahrnehmung“ 

(Gottschlich/Mölders 2006) sehen wir darin, das „Ganze“ in den Blick 

zu nehmen und bisher  ausgeblendete Bereiche  einzubeziehen  sowie 

neue und tatsächlich nachhaltige Verbindungen zwischen in der Regel 

getrennten Sphären zu gestalten – etwa zwischen Konsum und Pro‐

duktion,  zwischen  Schützen und Nutzen,  zwischen Produktion und 

Reproduktion (vgl. ebd.). 

Prozess  die  kapitalistische  Ökonomie  hinter  sich  lässt  (vgl.  Biese‐

cker/Gottschlich 2007: 248 f.). 

Page 196: Streit um Materie?

Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung

195

3. Natur-, Ökonomie- und Politikverständnisse im Nachhaltigkeitsdiskurs

3.1 Naturverständnisse

Die Analyse gesellschaftlicher Naturverhältnisse  ist direkt verbunden 

mit der Thematisierung von Naturverständnissen (vgl. Görg 1999: 15). 

Durch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Naturverständ‐

nissen,  wie  sie  bspw.  durch  die  Umweltsoziologie  geleistet  wurde 

(vgl.  z. B.  Brand  1998;  Kropp  2002;  Brand/Kropp  2004; Groß  2006), 

wurden Vorschläge für die Analyse und Systematisierung von Erklä‐

rungsansätzen  für die Beziehung  zwischen  ‚Natur’ und Gesellschaft 

erarbeitet. So unterscheidet Kropp (2002) naturalistische und soziozent‐

rische Ansätze von vermittlungstheoretischen Positionen. Die ersten bei‐

den Ansätze  folgen einer dichotomen Konzeption, d. h.  ‚Natur’ und 

Gesellschaft werden  als  getrennt  voneinander  betrachtet und dieses 

Verhältnis wird jeweils zugunsten eines der beiden Pole aufgelöst. Die 

Konsequenz sind Verzerrungen in die eine oder andere Richtung. Mit 

dem  Ansatz  der  vermittlungstheoretischen  Positionen,  zu  denen 

Kropp  (ebd.: 164  ff.) auch das Konzept der gesellschaftlichen Natur‐

verhältnisse zählt, wird versucht, naturalistische wie  soziozentrische 

Reduktionismen  zu  vermeiden,  indem  die  Frage  nach  ‚Natur’  zu‐

gleich als Frage nach einem Vermittlungsverhältnis zwischen  ‚Natur’ 

und Gesellschaft formuliert wird. 

  Weder der  naturalistische  Imperativ, der  versucht, Kriterien 

und Maßstäbe des Handelns in der ‚Natur’ abzulesen, ohne sie abwä‐

genden und demokratisch  legitimierten Entscheidungsfindungen un‐

terziehen zu wollen, noch dezidiert sozialkonstruktivistische Positio‐

nen, die  bisweilen die Zusammenarbeit mit naturwissenschaftlichen 

Expert/inn/en  blockieren  und  der  politischen Mobilisierung  oftmals 

die Möglichkeit der Begründung nehmen (ebd.: 119, 139), erscheinen 

für politische  Interventionen geeignet. Mit vermittlungstheoretischen 

Positionen wird die gemeinsame Betrachtung von ‚Natur’ und Gesell‐

schaft auf der theoretischen Ebene explizit mit Prozessen der Politisie‐

rung verknüpft, um einen Beitrag zu leisten zur „Verantwortung und 

Gestaltungskompetenz ‚for our common future’“ (ebd.: 147). 

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  Gleichwohl  vermag  eine  Annäherung  über  wissenschaftliche 

Erklärungsversuche noch keine hinreichende Antwort darauf zu ge‐

ben, wie  bzw. welche  ‚Natur’  politisch  hergestellt wird  und welche 

Möglichkeiten  und Grenzen der  Steuerung  gesellschaftlicher Natur‐

verhältnisse in Richtung Nachhaltigkeit sichtbar werden. 

  Tatsächlich  zeigt  sich mit  Blick  auf  die  politische  Praxis  in 

Prozessen  zur  Implementierung  von Nachhaltigkeit,  dass  die  Frage 

nach ‚Natur’ in Form der Thematisierung ökologischer Aspekte einer‐

seits zwar den  (deutschen) Nachhaltigkeitsdiskurs zentral prägt, an‐

dererseits jedoch kaum eine theoretische Reflexion darüber stattfindet, 

was mit dieser  ‚Natur’  im Unterschied oder  in Vermittlung mit Ge‐

sellschaft jeweils gemeint ist. Analytisch lassen sich in der politischen 

Praxis  im Wesentlichen  zwei Verständnisse  von  ‚Natur’  unterschei‐

den: Das eine Verständnis von  ‚Natur’ ist durch ökologische, das an‐

dere durch ökonomische Prämissen geprägt. 

  Das  Verständnis  von  einer  ökologischen  ‚Natur’  ist  dabei  so‐

wohl  von  der  naturwissenschaftlichen  als  auch  von  der  politischen 

Ökologie beeinflusst (vgl. Weber 2007). In einer – nicht immer trenn‐

scharf  nachvollzogenen  – Argumentation wird  in  diesen Diskursen 

vor dem Hintergrund naturwissenschaftlich‐quantitativer  sowie phi‐

losophisch‐qualitativer  Begründungen  das  Schützenswerte  definiert. 

Es ist nicht zuletzt diese Vermengung von Ebenen, die dazu beiträgt, 

dass  sich  solche  Positionen  beharrlich  halten,  die  ‚Natur’  als Richt‐

schnur zukünftiger Entwicklungen ausweisen und einem naturalisti‐

schen Imperativ folgen, indem sie davon ausgehen, dass sich aus der 

Beschreibung von  ‚Natur’ bestimmen  lässt, welche gesellschaftlichen 

Arten des Umgangs mit  ‚Natur’ (un)angemessen sind. Aufgrund der 

mangelnden Reflexion des  eigenen normativen Gehalts, wie  sie den 

Naturwissenschaften  insbesondere  von  Seiten  feministischer Natur‐

wissenschaftskritiker/innen  vorgeworfen  wird  (vgl.  z. B.  Or‐

land/Scheich 1995), bleibt die damit verbundene Problematik – insbe‐

sondere naturalistische Fehlschlüsse, die das Sollen aus dem Sein ab‐

zuleiten suchen – jedoch weitestgehend unbearbeitet. Ausgehend von 

einem  ökologischen  Verständnis  von  ‚Natur’  werden  vielfach  Um‐

gangsweisen mit  ‚Natur’ gefordert, die auf als schützenswert katego‐

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Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung

197

risierte Naturzustände  zielen. Dass  gesellschaftliche Wertvorstellun‐

gen  jedoch  immer  bedeutsam  für  die  Bestimmung  schützenswerter 

‚Natur’ sind, zeigt sich bspw. bei den Diskussionen um die Entwick‐

lung von Natur‐ und Kulturlandschaften  in  ländlichen Räumen. Zu‐

nächst stellt sich die Frage, inwiefern sich in den Ländern des indus‐

trialisierten Nordens überhaupt von Naturlandschaften im Sinne von 

unberührter, wilder  ‚Natur’  sprechen  lässt. Darüber  hinaus werden 

naturwissenschaftlich  hergeleitete  Argumente  wie  Ursprünglichkeit 

und Seltenheit mit ästhetischen und  teleologischen Argumenten ver‐

mischt und nicht offengelegt (vgl. Trepl 1998; Weber 2001). 

  Jungkeit u. a.  (2002: 491) konstatieren  in  ihrer Studie zur Be‐

deutung  ökologischer  Wissenschaften  im  Nachhaltigkeitsdiskurs, 

dass die Bedeutung der Ökologie abnimmt, „sei es, weil ihr die soziale 

und die ökonomische Dimension  als gleichwertige  zur Seite gestellt 

werden[,] oder  sei es, weil die Ökologie  sich von  innen heraus öko‐

nomisiert“. Das  Verständnis  einer  Ökonomisierung  von  (ökologischer) 

‚Natur’  ist  vor  allem  auf  das Naturkapital4  konzentriert.  ‚Natur’  er‐

scheint als Ressource, die es erstens (z. B. im Bereich der Artenvielfalt) 

zugänglich zu machen und zweitens so zu erhalten gilt, dass sie auch 

zukünftigen Nutzungen zur Verfügung steht. Dieses auf Verwertung 

und Verwertbarkeit ausgerichtete Verständnis von  ‚Natur’ nimmt  im 

Zuge von Konzeptualisierungs‐ und Implementierungsversuchen von 

nachhaltiger Entwicklung eine zunehmend dominante Rolle ein (vgl. 

4   Biesecker/Hofmeister  (2001,  2009)  setzen  sich  kritisch  mit  dem  Begriff  des 

Naturkapitals  im  Nachhaltigkeitsdiskurs  auseinander.  Sie  arbeiten  heraus, 

dass,  trotz  unterschiedlicher  Verständnisse  und  inhaltlicher  Erweiterungen 

dieses  Begriffs  durch Vertreter  der Ökologischen Ökonomie  (vgl.  z. B. Daly 

1996; Costanza  u. a.  2001)  bis  hin  zu Vertretern  starker Nachhaltigkeit  (vgl. 

Ott/Döring 2008), das Verständnis  eines ökonomischen Kapitalbegriffs beste‐

hen bleibt. Die Trennung zwischen einerseits ‚Natur’ und andererseits Gesell‐

schaft wird nicht überwunden, weil davon ausgegangen wird, dass es eine von 

Gesellschaft unterscheidbare ‚Natur’ gibt, die durch Maßnahmen des Schutzes 

oder der Nutzung nachhaltig gestaltet werden kann. Außer Acht bleibt dabei 

jenes kultivierte Naturkapital, das nicht als wertvolles Naturkapital,  sondern 

in Form von NaturKulturkatastrophen wirksam wird (vgl. Biesecker/Hofmeister 

2009: 176 f.). 

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kritisch dazu Brunnengräber 2002; Leff 2002; Ribeiro 2002). Hinsicht‐

lich einer nachhaltigen Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnis‐

se  erscheint  eine  solche Ökonomisierung von  (ökologischer)  ‚Natur’ 

problematisch,  weil  sie  einer  „engen  ökonomischen  Rationalität“ 

(Biesecker/Kesting  2003:  196)  folgt,  die  auf  einer  Kosten‐Nutzen‐

Rationalität  beruht, die durch Trennungen, Abwertungen  und Aus‐

grenzungen gekennzeichnet  ist. Dabei geht  in diese Kosten‐Nutzen‐

Rechnung nur ein, was in Geld bewertet wird. 

  So, wie das Verständnis  einer  ökologischen  ‚Natur’  auf den 

Schutz von  ‚Natur’  gerichtet  ist, wird mit der Ökonomisierung von 

(ökologischer)  ‚Natur’ die Nutzung von  ‚Natur’  adressiert. Es  ist  ein 

Verdienst  von  Nachhaltigkeitspolitik,  diese  Schutz‐Nutzen‐

Dichotomie als problematisch  erkannt zu haben und Versuche  ihrer 

Überwindung zu unternehmen. Über die Entwicklung von  Integrati‐

onsstrategien  (wie  sie  bspw.  in  Biosphärenreservaten  verfolgt wird; 

vgl. dazu den Beitrag von J. Flemming in diesem Band) wird versucht, 

den Schutz und die Nutzung von  ‚Natur’ miteinander zu verbinden. 

Eine Verbindung, die oftmals obligatorisch  ist, weil der Schutz bzw. 

der Erhalt bestimmter Naturzustände an die Durchführung bestimm‐

ter Nutzungen gebunden  ist  (z. B. beim Erhalt von Kulturlandschaf‐

ten).  Tatsächlich  erweisen  sich  solche  Integrationsversuche  häufig 

jedoch als nicht konsequent, weil die Zusammenführung von Schüt‐

zen  und Nutzen  auf  der  einen  Seite  allzu  oft mit  Trennungen  und 

Ausgrenzungen auf der anderen Seite verbunden  ist. Bspw. werden 

durch  das  Instrument  des  Vertragsnaturschutzes  Nutzungen  unter 

Schutz gestellt, ohne dass die daran beteiligten Landnutzer/innen an 

der Dynamik  jener ökonomischen Prozesse  teilhätten, zu denen  ihre 

Tätigkeiten  gehören  (z. B.  die  Produktion  von  Fleisch  und Wolle). 

Indem Landnutzung entweder als ökonomisch rentabel oder als ökolo‐

gisch  erscheint,  bleibt  die  Dichotomie  zwischen  der  Nutzung  und 

dem  Schutz  von  ‚Natur’  bestehen  (vgl.  Hofmeister/Mölders  2007; 

Mölders 2009): Es wird nicht bewusst gemacht, dass eine Gesellschaft 

‚Natur’  immer  (mit)herstellt und daher  immer auf die Qualität dieses 

gesellschaftlichen  Naturprodukts  achten  muss  (vgl. 

Biesecker/Hofmeister  2009:  175). Dass oftmals Naturzustände herge‐

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Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung

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stellt werden, die nicht als schützenswert gelten, zeigt sich  insbeson‐

dere  dann,  wenn  die  gesellschaftlich  hergestellte  ‚Natur’  Naturzu‐

stände  oder  ‐prozesse produziert, die gesellschaftlich  als  bedrohlich 

oder katastrophal erscheinen – z. B. wenn durch die Ausbringung von 

gentechnisch  manipuliertem  Mais,  der  seine  Versuchsfelder  durch 

Auskreuzung  „verlässt“,  das  Prinzip  der  Rückholbarkeit  und  das 

Prinzip der Vorsorge verletzt werden. 

  Dieser Blick auf ‚Natur’ verdeutlicht nicht nur die Verbindung 

von  ‚Natur’  und  Gesellschaft  als  einen  unaufhebbaren  Zusammen‐

hang auf der materiellen Ebene  (Veränderungen von  ‚Natur’ auf der 

stofflichen Ebene) und der erkenntnistheoretischen Ebene (Interpreta‐

tionen von ‚Natur’ als schützenswert oder bedrohlich), sondern macht 

zugleich deutlich, dass  ‚Natur’  selbsttätig  ist. Wie diese  „Aktanten“ 

(Latour  1995)  oder  „Cyborgs“  (Haraway  1995)  in  die  Politiken  der 

Naturgestaltung einzubeziehen sind, ist weitestgehend unbeantwortet 

(vgl. zum Akteursstatus von  ‚Natur’ auch den Beitrag von B. Peuker 

in diesem Band). 

  Im Verständnis von PoNa kann die Frage nach  ‚Natur’ des‐

halb  nicht  losgelöst  werden  von  der  Frage  danach,  welche  Wirt‐

schaftsweisen  welche  ‚Natur’  hervorbringen.  ‚Natur’  nachhaltig  zu 

gestalten, macht es erforderlich, die Dichotomie von einerseits Schutz 

und andererseits Nutzung zu überwinden und  im Sinne eines erhal‐

tenden  Gestaltens  (vgl.  Biesecker/Elsner  2004;  Gottschlich/Mölders 

2006) zusammenzuführen: Prozesse des Eingreifens und Veränderns 

und Prozesse des Pflegens und Bewahrens werden eins. Ein  solches 

Verständnis, das die Einheit von Naturprodukt (natura naturata) und 

Naturproduktivität  (natura  naturans)  betont, macht Reflexions‐ und 

Aushandlungsprozesse  darüber  notwendig, welche  ‚Natur’ warum, 

von wem und mit welchen Konsequenzen für gesellschaftliche Natur‐

verhältnisse  gestaltet  wird.  Daraus  werden  zwangsläufig  Verände‐

rungen  im Wirtschaftsprozess  resultieren, denn:  „Das Ökonomische 

wird in einer nachhaltigen Gesellschaft nicht mehr das sein (können), 

was es noch ist“ (Biesecker/Hofmeister 2006: 169). Im Forschungspro‐

jekt PoNa fragen wir deshalb – ausgehend von der Frage nach ‚Natur’ 

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200

– nach den  in Nachhaltigkeitspolitiken  eingeschriebenen Ökonomie‐

verständnissen. 

3.2 Ökonomieverständnisse

In der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Naturverständnis‐

sen ist deutlich geworden, dass die Frage nach den Möglichkeiten und 

Grenzen  der  Steuerung  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse  immer 

auch  verbunden  ist  mit  den  Fragen  danach,  wie  ‚Natur’  in Wirt‐

schaftsprozesse eingebunden  ist und welche Verständnisse von  ‚Na‐

tur’ durch unterschiedliche ökonomische Rationalitäten erzeugt wer‐

den. 

  Mit der Orientierung an Nachhaltigkeit als Postulat intra‐ und 

intergenerationeller Gerechtigkeit werden die Krisen und Mängel der 

herrschenden  Art  zu  wirtschaften  offensichtlich:  Ernährungssicher‐

heit, um nur ein zentrales Bedürfnis herauszugreifen, das durch öko‐

nomische  Tätigkeit  befriedigt  werden  sollte,  ist  für  Millionen  von 

Menschen  nicht  gewährleistet  –  und  dies  nicht  nur  in  Ländern  des 

globalisierten  Südens,  sondern  auch  in  „reichen“  Industrieländern5 

(vgl. Bread  for  the World  Institute  2009). Naturzerstörung  als Folge 

der weltweit wachsenden  industriellen Ökonomie,  die  ‚Natur’  vor‐

rangig nur als Ressource und Senke  identifiziert,  schränkt nicht nur 

die Handlungsoptionen heutiger und zukünftiger Generationen, son‐

dern  auch  die  Lebendigkeit  von  ‚Natur’  ein.  Somit  vermindern  die 

sozial‐ökologischen Krisen die Produktivität von  ‚Natur’ ebenso wie 

die  Produktivität  von Gesellschaft. Dabei wird  nicht  bewusst  nach‐

vollzogen, dass Eingriffe  in  ‚Natur’ auch  solche Naturprodukte her‐

vorbringen können, die  –  z. B.  als gentechnisch veränderte Organis‐

men – selbst ursächlich für sozial‐ökologische Krisen sind. 

  Vor  dem  Hintergrund  dieser  Krisen  bestimmen  die  Ausei‐

nandersetzungen  mit  den  Zielen  und Methoden  der  herrschenden 

5   Laut  dem  aktuellen  Bericht  des  US‐Landwirtschaftsministeriums  (vgl. 

Nord/Andrews/Carlson 2008) sind 36 Millionen Amerikaner/innen von „food 

insecurity“ betroffen. Zu Hunger und Armut in Deutschland vgl. die Armuts‐ 

und Reichtumsberichte der Bundesregierung (2001, 2005, 2008). 

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Ökonomie sowie der sie tragenden Wissenschaften, insbesondere der 

durch  Neoklassik  und  Neoliberalismus  geprägten  Ökonomik,  den 

Diskurs um nachhaltige Entwicklung und die Suche nach alternativen 

Ansätzen  seit  Jahren  (vgl.  z. B.  Sachs  1993;  Luks  2001; 

Biesecker/Kesting  2003;  Paech  2005;  Lang/Busch‐Lüty/Kopfmüller 

2007). 

  Im Forschungsprojekt PoNa schließen wir an diese Auseinan‐

dersetzungen an und bauen neben Arbeiten der Internationalen Politi‐

schen Ökonomie (vgl. z. B. Strange 1986, 1994, 1997; Altvater/Mahnkopf 

1999; Scherrer 2000; Altvater 2005) vor allem auf den Ergebnissen der 

Forschung zur Ökologischen Ökonomie (vgl. z. B. Hampicke 1992; Daly 

1996; Luks 2000, 2007; Costanza u. a. 2001; Held/Nutzinger 2001) so‐

wie den mittlerweile umfangreich vorliegenden feministischen Arbeiten 

zu alternativen Ökonomien auf  (vgl. z. B. Biesecker u. a. 2000; Mertens 

2001;  Elson  2002;  Baier/Bennholdt‐Thomsen/Holzer  2005; 

Biesecker/Hofmeister  2006;  Gottschlich/Mölders  2008;  Gottschlich 

2008). 

  Ausgehend von  einer Analyse dieser  im Nachhaltigkeitsdis‐

kurs  diskutierten Ansätze  ist  unser Anliegen  im  Forschungsprojekt 

PoNa erstens eine Dechiffrierung der herrschenden Ökonomieverständnisse 

in  den  Politikfeldern  Ländliche  Entwicklung  und Agro‐Gentechnik, 

um zweitens Transformationswissen6  für die Gestaltung gesellschaftlicher 

Naturverständnisse in Richtung Nachhaltigkeit abzuleiten: 

 

(1)  Indem wir die Ökonomieverständnisse, wie sie  in den relevanten 

Dokumenten und Maßnahmen der untersuchten Politikfelder sichtbar 

werden,  explizit  machen,  machen  wir  sie  einer  kritischen  Analyse 

zugänglich. Dabei  fragen wir  insbesondere  nach den  zentralen Prä‐

6   Transformationswissen  beschreibt  –  in Abgrenzung  zu den beiden  anderen  in 

der  Nachhaltigkeitsforschung  unterschiedenen  Wissensformen  Systemwissen 

(Faktenwissen über die kausalen Zusammenhänge in natürlichen und sozialen 

Systemen) und Zielwissen (im gesellschaftlichen Dialog ausgehandelte norma‐

tive Zielvorgaben) – auf einer operativen Ebene Strategien, wie die im Zielwis‐

sen formulierten Zielvorgaben auf der Grundlage der gegenwärtig vorfindba‐

ren Bedingungen realisiert werden können (vgl. Pohl/Hirsch Hadorn 2006: 36). 

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missen: Orientiert  sich das ökonomische Verständnis am Menschen‐

bild des Homo oeconomicus (vgl. Biesecker/Kesting 2003; Habermann 

2008)? Wird Wachstum als Indikator für wirtschaftlichen Erfolg ange‐

legt (vgl. Forum Umwelt & Entwicklung 1997; Luks 2001)? Wird Öko‐

nomie  ausschließlich  auf Marktprozesse  begrenzt  und  rein monetär 

definiert  (vgl. Biesecker u.  a.  2000)? Welche Fortschritts‐ und Effizi‐

enzvorstellungen  werden  mit  ökonomischem  Handeln  verbunden 

(vgl. Hofmeister 1999; Biesecker/Gottschlich 2005a)? Ist mit Arbeit nur 

Erwerbsarbeit  gemeint  oder wird  „das Ganze der Arbeit“  samt der 

unbezahlten  Sorgearbeiten,  ehrenamtlicher  Arbeit  und  Eigenarbeit 

erfasst  (vgl. Gorz  1980,  1983;  Lucas/von Winterfeld  1998;  Biesecker 

2001; Wichterich 2003; Notz 2004; Biesecker/Gottschlich 2005b)? Wel‐

che  Vorstellungen  von  Inhalt  und Verteilung  gesellschaftlicher  (be‐

zahlter und unbezahlter) Arbeit  lassen sich  finden  (vgl. Hirsch 1990; 

Massarrat 2004; Bildungswerk ver.di 2004)? 

  Diese  unsere  Forschung  strukturierenden  Fragen  spiegeln 

sowohl die grundlegende Bedeutung der versorgungswirtschaftlichen 

Bereiche für jedes Wirtschaftssystem als auch die Kritik an der Eindi‐

mensionalität des herrschenden Ökonomie‐ und Wohlfahrtsverständ‐

nisses wider. Wir  gehen mit  dem Konzept  des Vorsorgenden Wirt‐

schaftens davon aus, dass Wirtschaften immer vielfältig und mehrdi‐

mensional  ist: Noch vor der monetären hat  es  eine  soziale und  eine 

physisch‐stoffliche Dimension (vgl. Biesecker u. a. 2000). 

  Wie schwierig es ist, diese Dimensionen des Wirtschaftens in 

die  Steuerung  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse  einzubeziehen, 

zeigen  z. B.  die  Diskussionen  um  „Lebensqualität“  in  ländlichen 

Räumen: Während die Debatten einerseits um Fragen nach der Brut‐

towertschöpfung und Möglichkeiten der Steigerung des Wirtschafts‐

wachstums  „benachteiligter  Räume“  kreisen,  wird  andererseits  zu‐

nehmend betont, dass mit dem Leben auf dem Land Qualitäten ver‐

bunden  sind, die  sich gerade nicht monetär  ausdrücken. Doch auch 

hier  erweist  sich  die  enge  ökonomische  Rationalität  als  äußerst  be‐

harrlich  für  die  Steuerung  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse:  Die 

Anerkennung  von  vielfältigen,  nicht‐warenförmigen  Leistungen  aus 

der Landwirtschaft durch das Konzept der Multifunktionalität  (vgl. 

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Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung

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OECD 2001; Wüstemann/Mann/Müller 2008) ist direkt verbunden mit 

der  Frage  nach Möglichkeiten  einer  Kommodifizierung,  d.  h.  einer 

monetären Inwertsetzung dieser Leistungen. 

 

(2) Um inhaltliche, prozedurale und strukturelle Voraussetzungen für 

Politiken nachhaltiger Naturgestaltung  formulieren zu können,  folgt 

auf die Aufarbeitung der Ökonomieverständnisse die Ableitung von 

Transformationswissen in Form einer inhaltlichen Bestimmung neuer 

Bezogenheiten zwischen Sphären, die allzu oft getrennt gedacht und 

behandelt werden. 

  Für  eine  solche Neubestimmung  erweist  sich  die  Kategorie 

der  (Re)Produktivität, wie  sie Biesecker und Hofmeister  im Kontext 

der  sozial‐ökologischen Nachhaltigkeitsforschung  entwickelt  haben, 

als weiterführend  (vgl. Biesecker/Hofmeister 2001, 2003, 2006): Diese 

Neubestimmung gründet auf der Kritik  an der Trennung von „Pro‐

duktion“ und „Reproduktion“, die als Ausdruck von Herrschaftsver‐

hältnissen  in  der  bürgerlich‐kapitalistischen,  patriarchalen  Gesell‐

schaft  identifiziert wird. Denn nicht Gleichwertiges wird hier vonei‐

nander  getrennt,  sondern  es wird  eine Hierarchie  erzeugt  zwischen 

dem so genannten Produktiven als dem Wertvollen und Öffentlichen 

und dem so genannten Reproduktiven als dem Wertlosen und Priva‐

ten  (vgl. Biesecker/Hofmeister 2006: 10). Die Denk‐ und Handlungs‐

muster, die solcherart Dichotomisierung und Hierarchisierung  legiti‐

mieren,  lassen sich  insbesondere mit Blick auf den Diskurs um „Ar‐

beit“ sowie den Diskurs um „Natur“ nachvollziehen (vgl. ebd.: 12 ff.). 

Erwerbsarbeit gilt gemeinhin als  richtige und  eigentliche, mithin als 

produktive Arbeit, während Sorge‐, Pflege‐ und Hausarbeit den Be‐

reich der  im privaten verrichteten „reproduktiven“ Arbeiten darstel‐

len.  ‚Natur’ wird  als Ressource produktiv  in Wert gesetzt, während 

die  „reproduktiven“ Leistungen der  lebendigen  ‚Natur’  abgespalten 

werden.  Dabei  sind  sowohl  die  soziale  wie  auch  die  natürliche 

Reproduktivität obligate Voraussetzungen  funktionierender Produk‐

tivität. Diese  Produktivität  des  „Reproduktiven“  zum Ausdruck  zu 

bringen, ist das Anliegen der Kategorie (Re)Produktivität. Dazu wird 

eine Sichtweise auf Arbeit und ‚Natur’ entwickelt, die nicht mehr zwi‐

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schen produktiv und reproduktiv unterscheidet, sondern „das Ganze 

der Arbeit“ ebenso  in den Blick zu nehmen vermag wie die „Natur‐

produktivität“. Eine solche Perspektive erfordert eine „Neuerfindung 

des Ökonomischen“ (ebd.) in dem Sinne, dass die neoklassischen Vor‐

stellungen von Wachstum, Fortschritt und Effizienz überwunden und 

vom Gedanken  eines Vorsorgenden Wirtschaftens  abgelöst werden, 

wie  er  für  das Nachhaltigkeitsverständnis  von  PoNa  konstitutiv  ist 

(vgl. Biesecker u. a. 2000). 

  Zum vorläufigen Befund unserer Beobachtungen  im Politik‐

feld  Agro‐Gentechnik  gehört,  dass  der  Protest  von  Organisationen 

und Netzwerken wie „Save our seeds“7, „Via Campesina“8 oder dem 

Europäischen Netzwerk „Gentechnikfreie Regionen“9 gegen die bio‐

technische  Industrialisierung  der  Landwirtschaft  verbunden  ist mit 

der  Infragestellung  der  Kommerzialisierung  aller  Lebensbereiche 

(Stichwort: Patentierungsfragen10), die im Falle des sog. „Terminator‐

Gens“11 sogar die Reproduktionsfähigkeit von  ‚Natur’ Kapitalinteres‐

sen unterordnet  (vgl. Masood 1998; Hartmann 2002). Die Forderung 

der Anti‐Agro‐Gentechnik‐Bewegung,  sich  am Prinzip der Vorsorge 

auszurichten und auf die Ausbringung gentechnisch veränderter Or‐

7   http://www.saveourseeds.org (letzter Zugriff: 06.12.2009) 8   http://www.viacampesina.org/main_en/ (letzter Zugriff: 06.12.2009) 9   http://www.wien.gv.at/umwelt/natuerlich/europaeisches‐netzwerk.html  (letz‐

ter Zugriff: 06.12.2009) 10   Nach wie vor bietet zum einen die Gentechnik für die Industrie eine hervorra‐

gende Möglichkeit, über Eigentumsrechte und Monopolisierung Kontrolle auf 

den  Saatgutmarkt  auszuüben. Zum  anderen  zeigt  sich  im neuen Trend, der 

(wieder) hin zu konventionellen Züchtungen geht, dass Konzerne die Vorteile 

von Patenten auf Saatgut und Pflanzen nun auch ohne Gentechnik nutzen wol‐

len. Aktivist/inn/en u. a. von „Save our seeds“ warnen daher davor, dass mit 

der Ausweitung der Patentansprüche auf konventionelles Saatgut Landwirte, 

auch in Europa, zukünftig einem völlig neuen Saatgutmonopol gegenüberste‐

hen werden. 11   Terminator‐Pflanzen wird mit Hilfe der Gentechnik ein Mechanismus  einge‐

baut, der Gene  im Erbgut an‐ oder abschalten kann. Von den verschiedenen 

Formen der „Genetic Use Restriction Technologies“ wird die Variante, die die 

Vermehrungsfähigkeit der Pflanze „abschaltet“, am schärfsten kritisiert. Kriti‐

ker/innen bezeichnen dies als biologischen Patentschutz. 

Page 206: Streit um Materie?

Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung

205

ganismen zu verzichten, um Schäden  sowohl  für die konventionelle 

als auch für die ökologische Landwirtschaft zu verhindern, weist Pa‐

rallelen  zu  Vorstellungen  einer  „moral  economy“  (Mies  1994),  des 

Vorsorgenden Wirtschaftens (Biesecker u. a. 2000)  im Sinne einer be‐

wussten Gestaltung der Einheit von Reproduktivität und Produktivi‐

tät  auf, die  im Laufe des  Forschungsprozesses weiter  ausgeleuchtet 

werden sollen. 

3.3 Politikverständnisse

Mit  dem  Konzept  nachhaltige  Entwicklung  werden  die  etablierten 

Problemanalysen, Zielsetzungen und Bearbeitungsverfahren des sozi‐

al‐ökologischen Wandels  ins  Zentrum  der  Kritik  gerückt  (vgl.  Voß 

2008: 232):  In Anerkennung der zunehmenden Verflechtung globaler 

ökologischer und sozial‐ökonomischer Krisenphänomene wird erstens 

argumentiert, dass die verknüpften Problemlagen statt sektoraler Poli‐

tikstrategien  integrative  Problemlösungen  erforderten,  um  systema‐

tisch ökologische, soziale, ökonomische und politische Entwicklungs‐

aspekte  berücksichtigen  zu  können  (vgl.  Brand  1997;  Brand/Fürst 

2002).  Zweitens  sei  eine  Politik  nachhaltiger  Entwicklung,  um  dem 

Postulat  der  intra‐  und  intergenerativen  Gerechtigkeit  nachzukom‐

men, sowohl global als auch  langfristig anzulegen. Grenzüberschrei‐

tende Krisen und Probleme seien nicht länger – wenn sie es denn  je‐

mals waren – durch den Nationalstaat zu bewältigen, dessen alleinige 

Steuerungsfähigkeit  in  zentralen  Bereichen  schwinde.  Entsprechend 

sei  drittens  die Umsetzung  nachhaltiger  Entwicklung  auf  eine  kom‐

plexere  Form  des  Regierens  angewiesen,  die  sowohl  der  Relevanz 

politischer Mehrebenensysteme  als auch der  steigenden Anzahl von 

Akteuren  Rechnung  trage  (Global  Governance)  (vgl.  Mess‐

ner/Nuscheler 2003). Schließlich nimmt die Suche nach neuen Steue‐

rungsformen, nach neuen Politikansätzen ihren Ausgangspunkt auch 

in der Kritik  an politischer  Steuerung  als hierarchischem Verhältnis 

(vgl. Göhler/Höppner/De La Rosa 2009): Nachdrücklich wird  in den 

zentralen politischen Dokumenten des Nachhaltigkeitsdiskurses – im 

Brundtland‐Bericht (Hauff 1987) und  in der Agenda 21 (BMU o. J.) – 

ein kooperativer und partizipativer Ansatz gefordert. 

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Daniela Gottschlich und Tanja Mölders

206

  Diese Neuausrichtungen politischer Steuerung sind nicht un‐

umstritten  und  in  verschiedener  Hinsicht  problematisiert  worden: 

Insbesondere die Forderung nach einer integrativen Problemanalyse und ‐

bearbeitung hat eine Reihe von Fragen und Kritiken ausgelöst. So zeigt 

sich, dass die in der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft eingeleiteten 

Reformprozesse  größtenteils  hinter  den  Anspruch  einer  Integration 

von ökologischen,  sozialen, ökonomischen und politischen Belangen 

zurückfallen. Zu beobachten sind bspw. a) Hierarchisierungsprozesse: 

Mitte der 1990er  Jahre wurden umweltpolitische Fragen  in den Vor‐

dergrund gerückt, die  zunächst  im Kontext von Ökosystemmanage‐

ment  standen,  später dann  zunehmend  in den Diskurs um ökologi‐

sche Modernisierung12 einmündeten; b) die weitestgehende Ausblen‐

dung  von  feministischen  Erkenntnissen  aus  Forschung  und  Praxis 

(vgl. Weller  1999);  c)  der  Versuch,  Integration  primär  als Optimie‐

rungsaufgabe von verschiedenen Nachhaltigkeitszielen zu konzeptua‐

lisieren, ohne deren Ziele selbst zum Gegenstand einer kritischen Re‐

flexion zu machen, um somit die Möglichkeiten und damit auch die 

Grenzen  der  Integration  (etwa  bei  Nichtkompatibilität  von 

Rationalitäten,  Werten  etc.)  auszuloten  (vgl.  Gottschlich/Mölders 

2006); d) ein  starker Steuerungsoptimismus, der einerseits der Kom‐

plexität und der nur begrenzten Vorhersagbarkeit von nicht‐linearen 

Entwicklungsdynamiken kaum gerecht wird (vgl. Voß 2008: 236) und 

der andererseits den Staat als neutrale Instanz versteht und nicht als 

institutionell verdichtetes Kräfteverhältnis,  in dem dominante nicht‐

nachhaltige Kräfte eher repräsentiert sind als schwächere nachhaltige 

Interessen (vgl. Hirsch 2007). 

  Der zweite Kritikkomplex betrifft die Frage nach Macht‐ und 

Herrschaftsverhältnissen, die  im Nachhaltigkeitsdiskurs durch die  Fo‐

kussierung  auf kooperative, dialogische Politikformen  zu wenig Be‐

rücksichtigung fänden (vgl. Eblinghaus/Stickler 1996). Die hier postu‐

lierte Interessengleichheit, die sich auch  in der emphatischen Varian‐

12   Zur Kritik an Nachhaltigkeit als ökologische Modernisierung vgl. ausführlich 

Görg/Brand (2001). 

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Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung

207

te13 der Global Governance  ‐Debatte wiederfindet, differenziere nicht 

(genügend)  zwischen  den  extrem  ungleichen  sozio‐ökonomischen 

Bedingungen  der  Akteure  und  übersehe,  dass  sozial‐ökologische 

Probleme gerade nicht gleichermaßen „die“ Menschheit beträfen (vgl. 

Ziai 2006; Wissen/Brand 2007). Brand und Wissen (2007: 8 f.) fordern 

daher  statt  „abstraktem  Normativismus“  „ein  materialistisches,  an 

Menschenrechten  ausgerichtetes  Verständnis  der  Gestaltung  gesell‐

schaftlicher Naturverhältnisse“. Gleichzeitig wird von anderen Auto‐

ren wie Brand und Fürst  (2002: 84  ff.) die  institutionelle Pfadabhän‐

gigkeit14 einer Politik der Nachhaltigkeit  thematisiert. Veränderungs‐

potenziale seien im Kontext der konkreten institutionellen Strukturen 

zu analysieren und nicht nur vor dem Hintergrund allgemeiner polit‐

ökonomischer  oder  systemtheoretischer  Betrachtungen.  Angesichts 

der  derzeitigen  organisatorischen  Gegebenheiten  sei  es  eine  offene 

13   Das Wort emphatisch setzt sich zusammen aus phasis (Phase, Erscheinung von 

Gestirnen) und der  griechischen Vorsilbe  em‐, die  „in“ bedeutet.  In Erschei‐

nung tritt jemand, dessen Auftreten nicht übersehen werden soll, der sich Ge‐

hör verschafft, indem er mit Nachdruck etwas zur Sprache bringt. Seiner Aus‐

sage  liegt  ein  Engagement  zugrunde.  Als  emphatische  Global  Governance‐

Variante wird  jene bezeichnet, die Global Governance als politisches Leitbild 

versteht, das Orientierung in Zeiten politischer Unübersichtlichkeit verspricht 

und weit  reichende  Problemlösungskonzepte  für  globale  sozial‐ökologische 

Krisen  und  kosmopolitische  Demokratieformen  verspricht  (vgl.  Brand  u. a. 

2000: 22). 14   Pfadabhängigkeit  ist die Anwendung eines alltäglichen Begriffs, des Pfades,  in 

den Wirtschafts‐ und Politikwissenschaften, um Prozesse zu beschreiben, de‐

ren  zeitlicher Verlauf  strukturell  einem Pfad  ähnelt, der Anfänge und Kreu‐

zungen  bereithält,  an  denen mehrere Alternativen  oder Wege  zur Auswahl 

stehen. Ist eine Auswahl erfolgt, ein Pfad eingeschlagen, wird ein Umschwen‐

ken auf eine der am Kreuzungspunkt noch mühelos erreichbaren Alternativen 

zunehmend aufwendiger, wenn auch nicht unmöglich. Pfadabhängige Prozes‐

se sind nicht selbstkorrigierend, sondern im Gegenteil durchaus dazu prädes‐

tiniert, Fehler zu verfestigen, wenn es nicht eine dezidiert politische Entschei‐

dung gibt, einen anderen Weg  einzuschlagen.  Institutionen  sind Gegenstand 

des  politischen Handelns  und  bilden  zugleich  dessen  Rahmen. Die  Pfadab‐

hängigkeit von Institutionen führt somit zur Pfadabhängigkeit der Politik ins‐

gesamt. 

Page 209: Streit um Materie?

Daniela Gottschlich und Tanja Mölders

208

Frage, wie  der  geforderten Querschnitts‐  und  Langfristorientierung 

politischen Handelns sowie den globalen Gerechtigkeitsaspekten hin‐

reichend Geltung verschafft werden könne. Insbesondere das Prinzip 

der  Langfristigkeit  sei  nur  mangelhaft  institutionell  verankert  und 

stehe  dem  kurzfristigen  Rhythmus  von Wahlperioden  und  Unter‐

nehmensbilanzen  (inklusive  einer  Shareholder‐Value‐Orientierung), 

entgegen. 

  Diese knappe Kritik zeigt, dass die Suche nach neuen Politik‐

formen  selbst  den  gesellschaftlichen  Verhältnissen  verhaftet  bleibt 

und  im  politischen  System  befangen  ist.  Im  Folgenden  stellen wir 

zwei Ansätze vor, die diese Fallstricke zu umgehen  suchen und die 

daher Anknüpfungspunkte für PoNa bieten: (a) Reflexive Governance 

(vgl. Voß/Kemp 2006; Voß 2008; Feindt 2008: 48 ff.) und (b) „radikaler 

Reformismus“ (vgl. Hirsch 1990, 2007; Esser/Görg/Hirsch 1994; Brand 

u. a. 2000). 

 

(a) Ausgehend von den Phänomenen der Komplexität, der Unsicher‐

heit, der Ambivalenz der mit Nachhaltigkeit verbundenen Zielvorstel‐

lungen  sowie  der  ungleich  verteilten  Einflussmöglichkeiten  –  und 

damit der Bewusstmachung und Akzeptanz von Steuerungsgrenzen –

,  ist von Voß und  anderen  im Rahmen der  sozial‐ökologischen For‐

schung  für  ein  „reflexives  Steuerungsverständnis“  plädiert worden 

(Voß 2008; vgl. auch Voß/Bauknecht 2004; Voß/Kemp 2006). Reflexive 

Governance  setzt  bei  den  verschiedenen  Steuerungsakteuren,  ihren 

Zielen,  ihrem Wissen  und  ihren  unterschiedlichen Machtressourcen 

an, ohne dass  es darum geht,  einen Konsens herzustellen. Vielmehr 

sollen  im  Verlauf  von  Verfahren  wie  etwa  der  Methode 

„Sustainability Foresight“15 (Voß/Truffer/Konrad 2006) für die Gestal‐

tung  von  Innovationsprozessen  die  unterschiedlichen  Perspektiven 

15   Die Methode umfasst drei Phasen: 1. die Entwicklung explorativer Szenarien, 

in denen Optionen zukünftiger Entwicklung sowie wesentliche Einflussfakto‐

ren benannt werden; 2. die Erhebung von Nachhaltigkeitskriterien, die Stake‐

holder  zur  Bewertung  der  Szenarien  anlegen,  samt  der  damit  verbundenen 

Identifikation von Konflikten, Problemen und Chancen; 3 die Erarbeitung von 

Gestaltungsstrategien für sog. „Innovationsfelder“ (Voß 2008: 240 ff.). 

Page 210: Streit um Materie?

Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung

209

aufeinander bezogen werden, um „die Vielfalt des Wissens, der Werte 

und Strategien konstruktiv zu nutzen“ (Voß 2008: 244). Diese Koordi‐

nierung von Zielorientierungen, Erwartungen und Strategien, die  im 

Prozess der  Strategiebildung  in der Absicht  geleistet wird, dass die 

Akteure ihre Erwartungen über die Teilnahme am Prozess wechselsei‐

tig anpassen, entspricht eher einem reflexiven Such‐ und Lernprozess 

als politischer Steuerung. 

  Die Bedeutung eines  reflexiven Vorgehens, das darauf ange‐

legt  ist, gemeinsame Problemverständnisse und Lösungsmöglichkei‐

ten  zu  erarbeiten, wurde  in  verschiedenen  sozial‐ökologischen  For‐

schungsprojekten  herausgestellt  (vgl.  z. B.  Forschungsverbund  „Blo‐

ckierter Wandel“ 2007: 139 ff.; Feindt u. a. 2008b). Feindt u. a. (2008b) 

adressieren mit  ihrem Brückenkonzept der „reflexiven Agrarpolitik“ 

ein Themenfeld, das  für die Arbeiten von PoNa relevant  ist. Ob und 

inwieweit  die  hier  vorgeschlagene  Identifikation  „agrarpolitischer 

Verständigungsaufgaben“, die ausgehend von komplexen Kontrover‐

sen die Erarbeitung  von  systemischen Alternativen  zum Ziel  haben 

(Feindt  2008:  58  ff.), politikwirksam  sein wird,  lässt  sich  schwer be‐

antworten. Allerdings könnte die Debatte um ein „neues Paradigma 

für den  ländlichen Raum“  (OECD  2006), das  alle Regierungsebenen 

sowie  die  verschiedenen  lokalen  Stakeholder  anspricht,  Anschluss‐

möglichkeiten  für  einen  solchen  verständigungsorientieren  Ansatz 

darstellen. 

 

(b) Der staatskritische Ansatz des „radikalen Reformismus“ zielt auf die 

Überwindung struktureller Macht‐ und Herrschaftsverhältnisse (etwa 

von  Formen  der  Arbeitsteilung,  Produktionsbeziehungen, 

Rationalitäten der Unterdrückung in Natur‐ und Geschlechterverhält‐

nissen). Wenngleich eine auf den Staat bezogene Politik nicht unwich‐

tig sei, um erkämpfte soziale Rechte zu erhalten und Einfluss auf die 

strukturellen  Rahmenbedingungen  zu  nehmen,  so  sei  sie  nicht  der 

Hauptansatzpunkt emanzipatorischen Handelns. Re‐Politisierung der 

Gesellschaft und die Herstellung dauerhafter, selbst organisierter, von 

den  herrschenden  politischen  und  ökonomischen  Apparaten  unab‐

hängiger politischer Zusammenhänge werden als Teil eines Prozesses 

Page 211: Streit um Materie?

Daniela Gottschlich und Tanja Mölders

210

zur Veränderung von Verhaltens‐ und Bewusstseinsformen gesehen. 

Um neue gesellschaftliche Orientierungen und Praktiken durchzuset‐

zen  und  Erfahrungs‐,  Lern‐  und  Aufklärungsprozesse  in  Gang  zu 

setzen, bedürfe es (neuer) sozialer Bewegungen (vgl. Hirsch 2007 so‐

wie auch Esser/Görg/Hirsch 1994; Brand u. a. 2000; Hirsch 2005). 

  In  engem Zusammenhang mit  dem Konzept  des  „radikalen 

Reformismus“ steht die Untersuchung von Protest und Protestbewe‐

gungen, der wir uns  im Projekt PoNa am Beispiel der Konflikte um 

den  Einsatz  von Agro‐Gentechnik  z. B.  auf  der  lokalen  Ebene wid‐

men. Dabei wird insbesondere die Verzahnung von Politik und Öko‐

nomie  sichtbar,  denn  durch  die  und  in  der  Protestbewegung wird 

Raum  geschaffen, um über Ziele und Methoden der Produktion  zu 

reflektieren. Ausgangspunkt sind die Bedürfnisse und Wünsche von 

Menschen,  die  sowohl  als  Produzent/inn/en  als  auch  als  Konsu‐

ment/inn/en entscheiden wollen, was auf ihre Teller und in ihre Tanks 

kommt. Herrschende staatliche Steuerung gerät im Bereich von Agro‐

Gentechnik massiv unter Legitimierungsdruck. Konkrete Fragen wie 

„Wer  hat  Nutzen  von  dieser  Technologie?“  verweisen  auf  Fragen 

nach  der  demokratischen  Kontrolle  darüber,  was  und  für  welche 

Zwecke großindustriell produziert wird (vgl. Hirsch 1990), sowie auf 

Fragen nach dem Allgemeinwohl, das nicht a priori als bekannt vo‐

rausgesetzt werden kann, sondern selbst als Gegenstand (und als Er‐

gebnis)  sozialer  Auseinandersetzungen  und  Kompromissbildungen 

sichtbar wird. 

4. Schlussfolgerungen

Sozial‐ökologische  Transformation  in  Richtung Nachhaltigkeit  birgt 

vielfache  Schwierigkeiten:  Die  Komplexität  der  Problemlagen,  die 

Unsicherheit  in  Bezug  auf  die  Wissensbestände  sowie  die  durch 

Machtungleichgewichte  verschärften  Verteilungskonflikte  sind  nur 

einige Beispiele. Welche Strategien jeweils gewählt werden, um einen 

sozial‐ökologischen Transformationsprozess in Richtung nachhaltiger 

Entwicklung  einzuleiten, hängt  entscheidend von den  zugrunde  lie‐

genden theoretischen Ausgangspunkten ab. Wir stimmen deshalb mit 

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Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung

211

Brand und Fürst (2002: 61 f.) überein, dass „die gesellschaftstheoreti‐

schen und normativen Implikationen der jeweiligen Analysen institu‐

tioneller  Reform‐  oder  Transformationsstrategien  bewusst  zu  ma‐

chen“ sind. 

Unser Ausgangspunkt ist die Bedeutung von – zum Teil unterschied‐

lichen bzw. widersprüchlichen  – Natur‐, Ökonomie‐ und Politikver‐

ständnissen  in  Prozessen  politischer  Steuerung  für  nachhaltige  Ent‐

wicklung. Entsprechend haben wir danach gefragt, welche Verständ‐

nisse von ‚Natur’, Ökonomie und Politik im und für den Nachhaltig‐

keitsdiskurs  relevant  sind.  In  jeweils  kursorischen  Analysen  haben 

wir herausgearbeitet, dass Ansätze  existieren, die die krisenverursa‐

chenden Verständnisse von z. B. ‚Natur’ als Ressource, Ökonomie als 

Profitmaximierung  oder  Politik  als  ausschließlich  staatliches  Top‐

down‐Modell zu überwinden suchen, indem sie etwa auf die Grenzen 

der Substituierbarkeit von ‚Natur’ verweisen, ‚Natur’ in die ökonomi‐

sche Theorie hineinholen oder partizipative Steuerungsansätze stark‐

machen. 

  Gleichwohl lassen sich auch bei vielen solcher im Kontext des 

Nachhaltigkeitsdiskurses entstandener Ansätze eine Reihe von (Integ‐

rations‐)Problemen  identifizieren:  (a) Zielkonflikte zwischen ökologi‐

schen, ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Aspekten 

können nicht über  Integrationsappelle überwunden werden,  solange 

die mit  ihnen  verbundenen  unterschiedlichen  Interessen,  Verständ‐

nisse und Rationalitäten nicht hinterfragt werden.  So  kollidiert  eine 

Rationalität der Bedachtsamkeit einer (re)produktiven Ökonomie, die 

sich u. a. an den Prinzipien der Vorsorge und der Ernährungssicher‐

heit  orientiert,  mit  einer  Rationalität  von  transnational  agierenden 

Agro‐Konzernen, die auf eine Monopolisierung des weltweiten Saat‐

guts  zielt  und  Nichtwissen  mit  Unbedenklichkeit  gleichsetzt  (vgl. 

Moldenhauer  2009).  (b) Vielmehr  kann  die Art  und Weise, wie  die 

jeweiligen Krisen wahrgenommen,  analysiert  und  bewertet werden, 

selbst zur Stabilisierung, Reproduktion und Verschärfung dieser Kri‐

sen  beitragen,  wenn  etwa  die  (neoklassische)  Forderung  „Wachse 

oder weiche“ zur Maxime einer Agrarpolitik wird, die zugleich öko‐

logische  und  soziale  Belange  berücksichtigen  soll  (vgl. 

Page 213: Streit um Materie?

Daniela Gottschlich und Tanja Mölders

212

Baier/Bennholdt‐Thomsen/Holzer  2005).  Schließlich  überdecken  die 

auf  Konsens  und  Optimierung  angelegten  Politiken  bisweilen  die 

herrschaftsförmigen  (Verwertungs‐)Interessen  und  verlagern  den 

Konflikt wie  im Falle der politischen Überbrückungsformel von der 

angestrebten Koexistenz gentechnisch veränderter und konventionel‐

ler  sowie ökologischer Landwirtschaft  auf die  individuelle Ebene  in 

ländlichen Räumen (vgl. Wagner 2007). 

  Unsere Analyse hat gezeigt, dass Natur‐, Ökonomie‐ und Po‐

litikverständnisse nicht nebeneinander bzw. unabhängig voneinander 

existieren,  sondern  aufeinander verweisen:  ‚Natur’  als gesellschaftli‐

ches Produkt zu begreifen, bedeutet, nach der Herstellung dieses Na‐

turprodukts im Wirtschaftsprozess zu fragen und klarzumachen, dass 

unterschiedliche  Ökonomieverständnisse  unterschiedliche  ‚Naturen’ 

hervorbringen.  Die  Steuerung  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse 

schließt  eine Reflexion  dieses Herstellungsprozesses  ein:  Indem  der 

westliche Lebens‐ und Konsumstil einschließlich seiner energetischen 

und stofflichen Grundlagen kritisch reflektiert wird, lassen sich Ziele 

und  Methoden  der  Produktion  als  politische  Gestaltungsaufgabe 

identifizieren.  Diese  Steuerung  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse 

obliegt nicht allein dem Staat. Vielmehr gilt es, den Blick auf ein diffe‐

renziertes Akteursfeld zu richten, in dem u. a. auch eine gesellschaft‐

lich hergestellte ‚Natur’ tätig ist. 

  Schließlich konnten wir sowohl im Bereich Naturverständnis‐

se als auch in den Bereichen Ökonomie‐ und Politikverständnisse An‐

sätze  identifizieren, die diese Verquickungen berücksichtigen:  Indem 

‚Natur’ als mit hergestelltes Resultat sozio‐ökonomischer Entwicklun‐

gen anerkannt wird, wird das erhaltende Gestalten zum Ziel der Steu‐

erung gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Entlang der Kategorie der 

(Re)Produktivität  lässt  sich  ein  solches  Nachhaltigkeitsverständnis 

theoretisch fundieren (vgl. Biesecker/Hofmeister 2006) und empirisch 

erproben  (vgl. Mölders  2008,  2009).  Darüber werden  nicht  nur  die 

Verbindungen zwischen  ‚Natur’ und Wirtschaften  sichtbar gemacht, 

sondern  zugleich  die  Frage  nach  den  „politics  of  nature“  (Krauß 

2001: 31) gestellt, die  in Anschluss  an den  „radikalen Reformismus“ 

und  reflexiv  angelegte  Steuerungskonzepte  zugespitzt werden  kön‐

Page 214: Streit um Materie?

Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung

213

nen: Welche Machtkonzepte  sind  in  den Wechselbeziehungen  zwi‐

schen ‚Natur’ und Gesellschaft angelegt? Welche (politischen) Prozes‐

se  und  Strukturen  bedingen welche  Formen  der  Gestaltung  gesell‐

schaftlicher Naturverhältnisse? 

  Anschließend an diese vor allem  theoretisch motivierte Aus‐

einandersetzung mit Möglichkeiten und Grenzen der  Steuerung  ge‐

sellschaftlicher Naturverhältnisse wird sich im Laufe des Forschungs‐

projektes PoNa zeigen, welche Potenziale und Grenzen  für Politiken 

nachhaltiger  Naturgestaltung  in  den  Politikfeldern  Ländliche  Ent‐

wicklung  und  Agro‐Gentechnik  tatsächlich  bestehen.  Es  wird  sich 

zeigen, wo und von wem solche Ansätze praktiziert werden, die sich 

als nachhaltig qualifizieren lassen, und wie und durch wen ein solches 

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Page 228: Streit um Materie?

Streit um Materie?

Eine kultur- und konfliktsoziologische Analyse von Auseinandersetzungen in Landwirtschaft und Naturschutz im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin

Jana Flemming  

1. Einleitung

Dieser Beitrag versucht, im Naturschutz auftretende Konfliktfelder im 

Spannungsfeld von politisiertem Naturverhältnis und  soziologischer 

Analyse zu bearbeiten. Aus konflikt‐ sowie kultursoziologischer Per‐

spektive werden soziale Konflikte um  ‚Natur’ analysiert. Als Fallbei‐

spiel  für die empirische Untersuchung dient das Biosphärenreservat 

Schorfheide‐Chorin. Die kulturellen Rahmungen involvierter Akteure 

aus Landwirtschaft und Naturschutz werden mittels qualitativer  In‐

terviews  rekonstruiert.  Es wird  dargestellt, wie  Landwirte  und Na‐

turwächter/innen  Konflikte  bezüglich  des  Biosphärenreservates 

wahrnehmen und was sie unter  ‚Natur’ in unterschiedlichen Kontex‐

ten  verstehen.  Die  Ursachen  von  Konflikten  werden  erörtert,  aber 

auch nach  ihren Funktionen wird gefragt. Weitergehend wird unter‐

sucht,  inwiefern  die  Naturverständnisse  der  beteiligten  Akteure  in 

Zusammenhang mit den Konfliktbearbeitungsmustern stehen.  

  Der Modus  der Konfliktregulation  gibt Aufschluss  über  die 

Regulier‐ und Gestaltbarkeit der Beziehungen zwischen den Akteuren 

selbst sowie zu  ihrer natürlichen Umwelt. Damit schließt sich an die 

soziologische Analyse eine politische Kritik an der Gestaltung gesell‐

schaftlicher Naturverhältnisse  an, die über die üblichen Lösungsan‐

sätze in der Akzeptanzforschung des Naturschutzes hinausgehen soll. 

Problematisiert wird das utilitaristische Naturverständnis, das sich im 

Biosphärenreservatskonzept wiederfindet und auch  in den Aussagen 

der interviewten Akteure eine schwerwiegende Bedeutung einnimmt. 

Page 229: Streit um Materie?

Jana Flemming

228

In Anlehnung an das auf die kritische Theorie Theodor W. Adornos 

zurückgehende  Konzept  der  gesellschaftlichen  Naturverhältnisse 

(Görg  1999,  2003;  Jahn/Wehling  1998)  geht  es darum,  aus  kritischer 

Perspektive  zu  hinterfragen, wie  die  eingeforderte Zusammenarbeit 

im  Naturschutz  konkret  durchgeführt  wird  und  in  welcher  Form 

grundsätzliche  Umgestaltungen  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse 

angedacht werden können. 

  Konflikte  im Naturschutz  sind  immer  eingebunden  in  eine 

umfassende Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Die hier 

diskutierte empirische Untersuchung beschränkt sich auf die symbo‐

lisch‐kulturellen Aspekte der Gestaltung gesellschaftlicher Naturver‐

hältnisse und hat damit  einen konstruktivistischen Zugang. Um  auf 

eine  umfassende  Umgestaltung  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse 

im Sinne des Konzeptes hinzuwirken, sollte über den Rahmen einer 

analytisch  auf die  sozialen Beziehungen der Akteure  sowie  auf  ihre 

kulturellen  Rahmungen  begrenzten  Betrachtung  noch  hinausgegan‐

gen werden. Dies betrifft gesamtgesellschaftliche Regulationsprozesse 

sowie die Berücksichtigung einer Widerständigkeit der Natur, die als 

‚Nichtidentität’ konzeptionalisiert wird. 

  Die  konfliktsoziologische  Betrachtung  schwächt  die  Bedeu‐

tung  oftmals  hervorgehobener materieller Aspekte  in Auseinander‐

setzungen ab und weist auf weitere bedeutende Mechanismen hin, die 

in Konflikten eine Rolle spielen. Zudem macht sie, der an Georg Sim‐

mel anknüpfenden funktionalistischen Tradition folgend, darauf auf‐

merksam, dass Konflikte in dieser Hinsicht nicht per se als negativ zu 

bewerten sind, sondern durchaus positive Effekte, z. B. für den Erhalt 

des sozialen Systems, haben (Coser 1972; Simmel 1972).  

  Doch in Konflikten um Natur geht es um mehr, als den Streit 

zwischen  sozialen  Akteuren.  Etwas,  das  weitläufig  als  ‚Natur’  be‐

zeichnet wird, wird in diesen Konflikten verhandelt, bearbeitet, wirkt 

aber auch auf diese Auseinandersetzungen ein. In vermittlungstheore‐

tischen Ansätzen wie  z. B. der Akteur‐Netzwerk‐Theorie wird diese 

‚außersoziale’ Komponente  auch  innerhalb  sozialer Beziehungen  als 

ein eigenständiger und wirkmächtiger Faktor betrachtet. In dem Kon‐

zept  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse  wird  damit  einhergehend 

Page 230: Streit um Materie?

Streit um Materie?

229

eine grundlegende Umgestaltung des Verhältnisses zwischen Gesell‐

schaft und Natur eingefordert (Görg 2003: 141).  

  Solche  theoretischen  Überlegungen  zu  den  wechselseitigen 

Beziehungen  von Natur  und Gesellschaft  sowie  der Notwendigkeit 

einer Änderung dieses Verhältnisses lassen sich auch im Konzept der 

Biosphärenreservate  wiederfinden.  Bei  diesem  praxisorientierten 

Konzept handelt es sich um eine Kategorie so genannter Großschutz‐

gebiete, die durch das  ‚Man and Biosphere’‐Programm der UNESCO 

ins Leben gerufen wurde, das  inzwischen weltweit Anwendung ge‐

funden  hat.  In  Biosphärenreservaten  wird  angestrebt,  Schutz  und 

Nutzung der Natur zu vereinbaren und damit die Naturfrage und die 

soziale Frage integriert zu bearbeiten (vgl. AGBR 1995). Diese Aufga‐

benstellung  macht  eine  Zusammenarbeit  zwischen  Vertreterinnen 

und Vertretern des Naturschutzes und den  im Gebiet  lebenden und 

wirtschaftenden Menschen  erforderlich. Der  Landwirtschaft  kommt 

hierbei  eine  besondere  Bedeutung  hinsichtlich  des  Schutzes  von 

Biodiversität und Kulturlandschaft zu  (vgl. Knauer 1993: 52; Bachin‐

ger 2002). 

  Biosphärenreservate können als exemplarische Versuchsfelder 

einer sozial‐ökologischen Transformation betrachtet werden. In Groß‐

schutzgebieten  wie  dem  hier  untersuchten  Biosphärenreservat 

Schorfheide‐Chorin  sind  ökologische  Belange  rechtlich  besser  ge‐

schützt  und  haben  zudem  eine  höhere  diskursive  Berechtigung  als 

außerhalb der Grenzen des Schutzgebietes. Umweltprobleme können 

so  nachdrücklicher  angegangen  werden.  Großschutzgebiete  dienen 

häufig als Präzedenzfälle zur Analyse von Konflikten im Naturschutz. 

Aufgrund  der  höheren  Relevanz  naturschutzfachlicher  Aspekte  in 

solchen Gebieten kumulieren häufig Auseinandersetzungen zwischen 

verschiedenen  Gruppen mit  Anspruch  auf  Landnutzung.  Oft  wird 

dies  auf  konträre  materielle  Interessen  der  Parteien  zurückgeführt 

und  damit  als  symptomatischer  Konflikt  zwischen  Ökonomie  und 

Ökologie dargestellt  (vgl. Kropp 2002). Diese Argumentation,  so die 

These, lässt sich durch eine kultur‐ und konfliktsoziologische Betrach‐

tung abschwächen. Diese Untersuchung berücksichtigt daher weniger 

Page 231: Streit um Materie?

Jana Flemming

230

materielle  Ungleichheiten,  sondern  legt  ihren  Fokus  auf  Naturver‐

ständnisse und soziale Beziehungsmuster.  

1.1 Hypothesen

Ein Ziel dieses Beitrages  ist es, aufzuzeigen, dass Konflikte zwischen 

Landwirtschaft und Naturschutz, die  sich vermeintlich  lediglich aus 

dem beiderseitigen Anspruch  auf Flächennutzungen  ergeben, durch 

weitere  Faktoren  bedingt  sind. Um  die  These  zuzuspitzen: Akteure 

benutzen materielle Interessen als Grund für Konflikthandlungen und 

verbergen  damit  andere  – weitestgehend  unbewusste  – Motive wie 

z. B.  den  Erhalt  der  Position  im  sozialen  System  (vgl. Giesen  1993; 

Gould 2003). Die materiell definierten Anlässe sind damit oberflächli‐

cher Ausdruck, um die Bedingungen der Beziehungen zwischen den 

Akteuren neu zu verhandeln (vgl. Gould 2003: 54). 

  Die  Hervorhebung  materieller  Interessen  in  Konflikten  um 

Natur basiert zudem – so eine weitere These – auf unterschiedlichen 

kulturellen Bewertungssystemen: den Verständnissen der beteiligten 

Akteure von ‚Natur’ (vgl. Gill 2003; Kropp 2002). Streit entsteht auch, 

weil  implizite Werte,  die  sich  auf  verschiedene Naturverständnisse 

beziehen,  den  Argumentationen  zugrunde  liegen  (vgl.  Bechmann 

1998:  74).  Wissen  die  verschiedenen  Interessengruppen  nicht,  von 

welchen  grundsätzlichen  Prämissen  in  Bezug  auf  die Natur  die  je‐

weils andere Gruppe ausgeht, kann dies den Aufbau von Kommuni‐

kations‐ und Kooperationsbarrieren  forcieren  (vgl. Stoll 1999: 130  ff.; 

SRU 2002: 46). 

1.2 Übersicht

Um  die  Fallstudie  zu  kontextualisieren,  werden  im  Folgenden  zu‐

nächst  bisherige  Konfliktdynamiken  im  Biosphärenreservat 

Schorfheide‐Chorin  rekonstruiert.  Nachdem  das  Untersuchungsde‐

sign der Studie dargelegt worden ist, wird im ersten Analyseteil nach 

den sozialen Funktionen von Konflikten gefragt. Theoretische Grund‐

lagen  für diesen Teil  bieten die Arbeiten  von Georg  Simmel  (1972), 

Lewis A. Coser  (1972)  und Roger Gould  (2003).  Simmel  und Coser 

Page 232: Streit um Materie?

Streit um Materie?

231

analysierten die Rolle von Konflikten  im sozialen Leben. Simmel sah 

ein Nebeneinander von assoziativen und dissoziativen Prozessen als 

notwendig  für den Bestand  sozialer  Systeme  an. Auch Lewis Coser 

sah – aufbauend auf den Erörterungen Simmels – in Konflikten nicht 

nur disruptive und auflösende Prozesse, sondern bezeichnete sie un‐

ter bestimmten Bedingungen als  funktional  für soziale Systeme1  (Gie‐

sen 1993: 90 f.). Weiterhin wurde Roger Gould (2003) für die Analyse 

herangezogen, der in seiner Arbeit „Collision of Wills“ die Bedeutung 

von Ehre und Anerkennung in Konflikten betont. 

  Im Anschluss werden  die Naturverständnisse  der  befragten 

Personen untersucht. Dabei wird die gruppenspezifische und situati‐

ve Gebundenheit  von Naturverständnissen  herausgestellt.  Für diese 

Analyse stellt die Typologie zu Naturvorstellungen von Bernhard Gill 

(2003) den Hauptbezugspunkt dar.  

  Im  letzten  Abschnitt  der  empirischen  Untersuchung  wird 

dargestellt,  welche  Mechanismen  zur  Konfliktregelung  und  

‐dämpfung  zwischen den Akteuren  beitragen  und welche Rolle  ein 

strategischer Umgang mit Naturverständnissen darin spielt. 

  In den sich an die soziologische Analyse anschließenden Fol‐

gerungen  für den Naturschutz wird bewusst nicht der Anspruch er‐

hoben,  einen  Kriterienkatalog mit  Lösungsvorschlägen  zu  erstellen. 

Dem  theoretischen Hintergrund des Konzepts der gesellschaftlichen 

Naturverhältnisse  folgend,  werden  zunächst  eine  metatheoretische 

Kritik  am  gegenwärtig  hegemonialen  –  sich  auch  im 

Biosphärenreservatskonzept sowie in den Äußerungen der untersuch‐

ten  Akteure  wiederfindenden  –  Naturverständnis  formuliert  und 

normative Forderungen für eine Neugestaltung gesellschaftlicher Na‐

turverhältnisse gestellt. Dabei wird auch diskutiert, inwiefern Konflik‐

te  nicht  nur  als  zu  vermeidendes  disruptives  Element  im  Natur‐

schutzmanagement anzusehen sind, sondern ein wichtiger Bestandteil 

einer  umfassenden  Gestaltung  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse 

sind. 

1   Kritisch zur ungeklärten Bedeutung von „Funktion“ und „Dysfunktion“ und 

die Abgrenzung dieser Begriffe: Nollmann (1997: 47 f.) 

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Jana Flemming

232

2. Zur Konfliktdynamik im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin

Die Entstehung der Großschutzgebiete  in den neuen Bundesländern 

geht auf die politische Sondersituation „im zeitlichen Niemandsland 

zwischen DDR  und  Bundesrepublik“  (Meyer  2007:  18)  zurück. Die 

Wendezeit brachte Bewegung in die Strukturen der gesellschaftlichen 

Machtverteilung, sodass die bislang unterdrückte Opposition sich nun 

aktiv  in das Regierungsgeschehen  einbringen  konnte.  In der  letzten 

Sitzung des DDR‐Ministerrats konnten noch vierzehn Gebiete unter 

Schutz gestellt und dann mit dem Einigungsvertrag  in bundesdeut‐

sches Recht überführt werden  (Bader 2005: 8  f.; Meyer 2007: 18). Die 

Großschutzgebiete wurden  zu  einem  großen  Teil  in  großräumigen, 

wenig  zerschnittenen,  landschaftsökologisch  sehr  wertvollen,  dünn 

besiedelten  und  gleichzeitig  sozioökonomisch  strukturschwachen 

Regionen ausgewiesen (Bader 2005: 8 f.), darunter auch das Biosphä‐

renreservat Schorfheide‐Chorin.  

  In anderen Untersuchungen, die sich bereits mit den sozialen 

Verhältnissen  im  Biosphärenreservat  Schorfheide‐Chorin  auseinan‐

dergesetzt haben, wird hervorgehoben, dass dort bisher kaum öffent‐

liche Konflikte aufgetreten sind. Dies wird angesichts der wesentlich 

konflikt¬beladeneren  Situation  in  anderen  deutschen Großschutzge‐

bieten als „bemerkenswert“ angesehen (Hofinger 2000: 127; vgl. Kühn 

1998: 140).  

  Nach  der Ausweisung  des  Biosphärenreservates wurde  das 

Schutzgebiet von der Bevölkerung in seiner Tragweite zunächst kaum 

wahrgenommen. Doch ganz ohne Konflikte konnte sich auch das Bio‐

sphärenreservat  Schorfheide‐Chorin  nicht  etablieren.  Besonders  das 

Betretungsverbot von Kernzonen versetzte viele Einwohner/innen  in 

Aufruhr, denn schließlich waren erst vor kurzer Zeit die  für die Öf‐

fentlichkeit  teilweise  gesperrten  Staatsjagdgebiete  der  DDR‐

Prominenz aufgehoben worden. Es bildete  sich  eine Bürgerinitiative 

von Einwohnerinnen und Einwohnern verschiedener Dörfer, die die 

Wälder nicht mehr betreten durften, obwohl sich diese direkt vor ih‐

ren Fenstern befanden. Dennoch wurde, zur Reduktion der durch die 

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Streit um Materie?

233

Staatsjagden künstlich überhöhten Wildbestände, weiterhin dort ge‐

jagt (Meyer 2007: 19 f.). 

  Weitere  Proteste  richteten  sich  gegen  die Verhinderung  der 

Entwicklung der  Infrastruktur,  z. B.  die  Sperrung  von Autobahnab‐

fahrten. Diese Verbote sind  jedoch nicht auf die Verwaltung des Bio‐

sphärenreservates zurückzuführen, sondern wurden auf anderen po‐

litischen Ebenen entschieden. Dennoch wurden die zahlreichen neuen 

Verbote der Nachwendezeit  von den Anwohnenden  häufig  auf das 

Handeln der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Biosphärenreser‐

vates projiziert. Auch aus den  Interviews geht hervor, dass ein Ver‐

botsdiskurs im Biosphärenreservat herrscht, in dem die Reglementie‐

rungen der Behörde pauschal kritisiert werden und der  sich  an  tat‐

sächlichen Einschränkungen häufig gar nicht orientiert. Durch diese 

generelle Skepsis wurde auch die Naturwacht2 kritisch beäugt und in 

den ersten Jahren teilweise als „grüne Stasi“ diffamiert.  

  Nach einer Studie von Hofinger (2000: 124) wandelte sich die 

negative Einstellung der Bevölkerung ab Mitte der neunziger Jahre in 

weitgehende Akzeptanz des Biosphärenreservates und schließlich bei 

einem  Großteil  der  Bevölkerung  in  Gleichgültigkeit  (ebd.).  Aus‐

schlaggebend dafür sind die schrumpfenden personellen und finanzi‐

ellen  Ressourcen  aufgrund  zurückgehender  Fördermittel.  Die  Au‐

ßenwirkung des Biosphärenreservates ging zurück und die gestiegene 

Erwartungshaltung  in der Bevölkerung  an die  finanzielle Unterstüt‐

zung  bei  Naturschutzmaßnahmen  wurde  enttäuscht  (Meyer  2007: 

26 f.). 

3. Untersuchungsdesign

Die empirische Untersuchung wurde anhand qualitativer Leitfadenin‐

terviews mit  je  fünf  Landwirten  und Naturwächtern/‐wächterinnen 

aus dem Biosphärenreservat durchgeführt. In der qualitativen Sozial‐

2   Die Naturwacht  ist  im Biosphärenreservat  für den Schutz und die Pflege der 

Naturausstattung sowie Aufgaben  in den Bereichen Umweltbildung und Öf‐

fentlichkeitsarbeit zuständig (AGBR 1995: 53). 

Page 235: Streit um Materie?

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234

forschung wird  an  die  forschende  Person  häufig  der Anspruch  ge‐

stellt,  möglichst  unvoreingenommen  in  das  Untersuchungsfeld  zu 

gehen.  Aufgrund  des  bestehenden  theoretischen  und  praktischen 

Vorwissens  in Bezug  auf die Thematik wurde dieser Anspruch nur 

teilweise erfüllt und, dem gegenüberstehend, deduktiv abgeleitete Ex‐

ante‐Hypothesen formuliert.  

  So  sind  auch  für  die  Konstruktion  des  Leitfadens,  trotz 

größtmöglicher  Offenheit,  Kenntnisse  des  Untersuchungsbereichs 

Voraussetzung.  Die  Fragen  beziehen  sich  schließlich  auf  Themen‐

komplexe,  die  vorher  als  relevant  ermittelt  wurden  (Marotzki 

2003: 114). Der Leitfaden wurde  in drei Blöcke  zu den Themen Bio‐

graphie,  Wahrnehmung  der  Akteursgruppen/Konflikte,  Naturver‐

ständnis/Umweltschutz  unterteilt.  Zur  vollständigen  Beantwortung 

einer Frage können ad hoc Nachfragen gestellt werden. Diese ermög‐

lichen es auch, vom Interviewten angestoßene, unerwartete Themen‐

bereiche weiterzuverfolgen und so dem Prinzip der Offenheit ansatz‐

weise  gerecht  zu  werden  (Lamnek  1995:  69;  Hopf  2003:  351;  Glä‐

ser/Laudel 2004: 39 f.).  

Für die Datenauswertung wurden, aufgrund unterschiedlicher Unter‐

suchungsebenen,  verschiedene Verfahren  kombiniert.  Zum  Teil  fin‐

den sich in den Interviews sachbezogene Inhalte, die sich gut zusam‐

menfassen  lassen  und  daher  nach  dem  Verfahren  der  qualitativen 

Inhaltsanalyse  auswertbar  sind.  Einige  Inhalte  sind  jedoch  nur  im 

Kontext des  Interviews verständlich,  sodass  eine Zusammenfassung 

den Inhalt verfälschen würde und eine Auswertung mit Codes ange‐

brachter erscheint.  

  Die  qualitative  Inhaltsanalyse  ist  zudem  geeigneter  für  die 

Beschreibung der sozialen Beziehungen zwischen den und  innerhalb 

der untersuchten Gruppen. Das Codieren kann hingegen  für die Re‐

konstruktion subjektiver Deutungsmuster von ‚Natur’, aber auch sub‐

jektiven Beurteilungen der Interviewten gegenüber den untersuchten 

Gruppen besser verwendet werden (vgl. Gläser/Laudel 2004: 44; Flick 

et al. 2000: 21).  

Page 236: Streit um Materie?

Streit um Materie?

235

4. Konfliktsoziologische Analyse: Die Brisanz unspektakulärer Konflikte

Die  in den  Interviews  thematisierten Konflikte, die alle mit Ansprü‐

chen auf die Nutzung von Flächen verbunden sind, verlieren bei ge‐

nauerer Betrachtung weit reichende Teile  ihrer materiellen Basis. Als 

Anlass wird in den Konflikten zwar häufig ein materieller Wert defi‐

niert, doch dahinter verbergen sich Uneinigkeiten über die Dominanz 

in  den  Beziehungen  zwischen  Landwirten  und  Naturwächtern/‐

wächterinnen. Die Anlässe sind nur oberflächlicher Ausdruck dafür, 

die Bedingungen der Beziehung zwischen den Akteuren neu verhan‐

deln  zu wollen  (vgl. Gould  2003:  54). Deshalb muss  berücksichtigt 

werden, dass die allgemeinen Interessen der Landwirte nicht nur auf 

materielle Interessen wie Ertragssteigerung und Gewinnmaximierung 

hinauslaufen. Auch die  Interessen der Naturwächter/innen bestehen 

nicht allein darin, Erfolge im Naturschutz zu erzielen.  

Mindestens ebenso bedeutsam wie diese ökonomisch‐materiellen Fak‐

toren, die sich  im Fall der Landwirtschaft häufig um Landbesitz und 

Ertrag drehen, sind immaterielle Faktoren, z. B. Ehre oder das Bestre‐

ben, eine dominante Position im sozialen System zu behalten oder zu 

erreichen. Für die Landwirte ist es schwierig, damit umzugehen, dass 

plötzlich die Naturwächter/innen in dem Bereich über Machtpotenzial 

verfügen, wo sie sich selbst in kulturell angestammter Entscheidungs‐

gewalt sehen.  

  Roger Gould konzeptionalisiert Ehre als eine Form von  Inte‐

resse (Gould 2003: 6). Ist eine Person wegen einer Beleidigung verär‐

gert, fühlt sie sich „entehrt“ (ebd.). Ihre Reputation oder ihr persönli‐

cher Stolz wurde durch fehlenden Respekt verletzt. Ehre ist als genau‐

so wichtig anzusehen wie die (etwas konkreteren) Ressourcen Reich‐

tum,  physikalische  Stärke,  formale  und  informale Autorität,  soziale 

Beziehungen, technisches Wissen usw. Der Hauptunterschied besteht 

darin, dass Ehre eine vollständig symbolische Ressource darstellt. Der 

Besitz von Ehre besteht in der Wahrnehmung derselben durch Ande‐

re, respektive bedeutet Ehre, zu glauben, von anderen geehrt zu wer‐

den (ebd.: 7).  

Page 237: Streit um Materie?

Jana Flemming

236

  In Form solch einer kulturellen Repräsentation ist Ehre fähig, 

Feindseligkeiten beim Gegenüber hervorzurufen  (ebd.: 7, 56). So ge‐

schehen  z. B.  in  der Auseinandersetzung  zwischen  einem  Landwirt 

und  einem  Naturwächter  um  den  Verstoß  gegen  die 

Düngeverordnung, durch dessen Konsequenzen der Landwirt  seine 

Reputation  verletzt  sah. Das  Problem,  dass  der  Landwirt  unerlaub‐

terweise  Getreideschlempe  (ein  landwirtschaftliches  Abfallprodukt, 

dass als Dünger verwendet werden kann) ausbringt,  ist hier weniger 

wichtig als das prozedurale Problem, wer über was  entscheidet. Al‐

lein dieses Prinzip der Entscheidungsverfügung rechtfertigte zunächst 

die Aufgebrachtheit des Naturwächters, da er nicht einbezogen wur‐

de, obwohl die Handlung  seinen Befugnisbereich betraf, und  später 

auch die des Landwirtes, der über die Möglichkeit einer Anzeige nicht 

informiert wurde (vgl. Giesen 1993: 106 f.). 

  Konflikte dieser Art können auch als „Rangordnungskonflik‐

te“  (ebd.: 104)  interpretiert werden. Sie können eine Gelegenheit  für 

einen Konflikt darstellen, um auf der  Interaktionsebene einen unter‐

schwelligen Kampf um die Überlegenheit in der Beziehung auszudrü‐

cken  (Gould  2003:  82). Auch wenn das Wegschneiden  von Bäumen 

oder das Ausbringen von Schlempe nach außen als relativ unspekta‐

kuläre und materiell wenig gewichtige Handlungen erscheinen, ist es 

in  den Augen  der  beteiligten  Parteien  entscheidend, wer  in  diesen 

Auseinandersetzungen  die  Oberhand  gewinnt.  Aus  Angst  vor  zu‐

künftigen  weiteren  Einschränkungen  werden  Konflikte  seitens  der 

Landwirte erst recht geschürt, damit ihre Position im sozialen System 

erhalten bleibt (vgl. ebd.). 

  Verschiedene  Faktoren  tragen  andererseits  dazu  bei,  eine 

grundlegende  Spaltung  zwischen  den  Parteien  zu  verhindern.  So 

überkreuzen sich z. B. mehrere Konfliktlinien  im Biosphärenreservat. 

Durch die vielschichtigen Verbindungen der Individuen in der Grup‐

pe sind sie an verschiedenen Gruppenkonflikten beteiligt  (vgl. Coser 

1972:  180). Die Naturwächter/innen müssen  sich  z. B.  nicht  nur mit 

den Landwirten auseinandersetzen, sondern haben oft auch von den 

Einstellungen der Biosphärenreservatsverwaltung abweichende Mei‐

nungen.  Die  „Präsenz  der  verschiedenen  Facetten  des  multiplen 

Page 238: Streit um Materie?

Streit um Materie?

237

Selbst auf entgegengesetzten Seiten des Konflikts“ verhindert so eine 

„eindeutige und konfliktverschärfende Zuordnung  zu klar geschnit‐

tenen Konfliktfronten“  (Giegel  1998:  16). Einige Naturwächter/innen 

haben die Rolle der Vermittlung zwischen Landnutzenden und Ver‐

waltung  übernommen.  Sie  versuchen,  eine  realistische  Behandlung 

der infrage gestellten Forderungen zu ermöglichen.  

  Durch diese vermittelnde Rolle befinden sich die Naturwäch‐

ter/innen aber auch in einer tendenziell unsicheren Position, in der sie 

von  beiden  Parteien  –  in  diesem  Fall  Naturschutzbehörden  und 

Landwirten – abhängig sind. Gleichwohl fühlen sich die Landwirte in 

die  Entscheidungsprozesse  unzureichend  einbezogen,  sodass  von 

einer Abwesenheit von Konflikten – einem Konsens – zwischen den 

beteiligten Gruppen nicht gesprochen werden kann. Dazu trägt auch 

der hierarchische Aufbau der Biosphärenreservatsverwaltung bei, der 

diese sensiblen Beziehungsmuster nicht berücksichtigt. 

5. Kultursoziologische Analyse: Gruppenspezifische und ambivalente Naturverständnisse

Zur Analyse der Naturverständnisse wurde  eine  von Bernhard Gill 

(2003)  übernommene  Typologie  herangezogen:  die  Unterscheidung 

von utilitaritäts‐, alteritäts‐ und  identitätsorientierten Naturverständ‐

nissen. 

  Das identitätsorientierte Naturverständnis leitet sich von vormo‐

dernen Weltbildern  ab,  die  von  einer  alles  durchwaltenden  Schöp‐

fungsordnung ausgehen. Die Natur stellt einen moralischen Kosmos 

dar,  in der  jedes Wesen seinen festen Platz und einen vorgeschriebe‐

nen Wirkungskreis hat. Die Wirkungen der Ordnung sind harmonisch 

aufeinander  abgestimmt  und  verbürgen  damit  die  existenzielle  Si‐

cherheit der Menschen,  solange der Mensch die Erde  gemäß dieser 

Ordnung mitgestaltet und sie nicht verletzt (Gill 2003: 52, 56 ff.). 

 

 

 

 

Page 239: Streit um Materie?

Jana Flemming

238

Tabelle 1: Naturverständnisse nach Gill  

Naturverständnis:  Identitätsorientiert  Utilitaritätsorientiert  Alteritätsorientiert  

Prinzip:  „Natur als soziale 

Ordnung und 

gemeinsame Her‐

kunft“ 

„Natur als nützliche 

Ressource und als 

Bedrohung“ 

„Natur als Überra‐

schung, Abenteuer 

und Sehnsucht“ 

Form der Wert‐

schätzung von 

Natur: 

Natur als Ordnung 

der Dinge: mora‐

lisch gute Natur, 

Natur als Idealbild 

der eigenen We‐

sensart 

Natur als Materialla‐

ger: soweit sie für 

menschliche Zwecke 

nützlich ist 

Außeralltägliche 

Natur: Ästhetisie‐

rung der Natur, 

mit der nicht all‐

täglich verkehrt 

wird 

Schadenskonzept:  Verlust der morali‐

schen Integrität 

Tod, Krankheit und 

ökonomischer Ver‐

lust 

Geistlosigkeit, 

Uniformität und 

Langeweile 

Grundmotiv:  Ordnung in der 

Natur  

Befreiung von der 

Natur  

Befreiung der 

Natur 

Quelle: Gill (2003: 54) 

 

Auf Basis des utilitaritätsorientierten Naturverständnisses hat Natur kei‐

nen besonderen Sinn oder Wert. Sie ist ein bloßes Sammelsurium teils 

nützlicher  und  teils  schädlicher  Abläufe.  Diese  Abläufe  sollte  der 

Mensch zwecks Nutzensteigerung zähmen, beherrschen und verbes‐

sern. Die permanente Obsession im utilitaritätsorientierten Denken ist 

der  Tod.  Die  Evolution  ist  ein  Kampf  ums  Dasein.  Statt  in  einer 

prästabilisierten  Ordnung  aufgehoben  zu  sein,  sind  die Menschen 

permanent  von wilder,  feindlicher Natur  umstellt. Daher muss  die 

Welt  unablässig  technologisch  kultiviert  und  kontrolliert  werden 

(ebd.: 14, 53, 73 f.).  

  Das alteritätsorientierte Denken hingegen fühlt sich vom Frem‐

den  angezogen,  gerade weil  es  alltagsenthoben  und  ‚anders’  ist.  Es 

richtet  sich  gegen  die  positivistische  Festlegung  und Kontrolle  von 

Subjekt und Objekt. Die Obsession ist hier die Ungewissheit. Gesucht 

werden Erlebnisse und Erfahrungen, in denen die Natur zweck‐ und 

moralfrei sinnlich wahrgenommen werden kann (ebd.: 54, 74 f.). 

Page 240: Streit um Materie?

Streit um Materie?

239

  Im Gegensatz  dazu  steht  das  identitätsorientierte Naturver‐

ständnis dem Fremden  tendenziell misstrauisch gegenüber, denn  es 

bringt Unordnung in den Alltag (ebd.). So spiegelt sich im Erhalt von 

Kulturlandschaft  häufig  das  identitätsorientierte  Naturverständnis 

wider, während der Schutz von Wildnis eher mit einer Alteritätsorien‐

tierung einhergeht. 

  Besonders  im  utilitaritätsorientierten  Naturverständnis  ist 

wilde,  unkultivierte Natur  negativ  konnotiert. Aus  der  Perspektive 

des alteritätsorientierten Naturverständnisses kann Wildnis hingegen 

zu ‚Ergriffenheit’ führen. Die Natur ist von sich aus weder böse noch 

schädlich, sondern wird im Gegenteil durch die alles durchdringende 

Industrie und Ökonomie an ihrer Entfaltung gehindert (ebd.). 

 

Das Ergebnis der empirischen Untersuchung erscheint zunächst we‐

nig  überraschend:  Die  befragten  Landwirte  sind  eher  utilitaritäts‐

orientiert,  die Naturwächter/innen  eher  alterertitäts‐  und  identitäts‐

orientiert. Gleichzeitig variieren jedoch die Naturverständnisse inner‐

halb  der  jeweiligen Akteursgruppen  und  können  situativ wechseln. 

Die Berufszugehörigkeit legt den Akteuren ein bestimmtes Naturver‐

ständnis nahe, das sich an ein weiteres  individuelles bzw. durch an‐

dere Faktoren bestimmtes Naturverständnis koppelt.  

  So sind bei den Landwirten und auch bei einigen Naturwäch‐

tern/‐wächterinnen Mischtypen  zwischen dem  hegemonialen utilita‐

ristischen  und  dem  entweder  alteritäts‐  oder  identitätsorientierten 

Naturverständnis  zu  erkennen. Die Landwirte  bewerten Natur  eher 

alteritätsorientiert,  wenn  zunächst  kein  Bezug  zur  landwirtschaftli‐

chen Nutzung  hergestellt wird.  So  befürworten  sie  z. B.  den  Total‐

schutz  in den Kernzonen des Biosphärenreservates, können aber die 

Nicht‐Nutzung  von  landwirtschaftlichen  Stilllegungsflächen  viel 

schwerer akzeptieren. Die Logik des Nutzens erhält emotionale Bezü‐

ge: Es „tut weh“, so ein  interviewter Landwirt, wenn er auf den Flä‐

chen nichts ernten kann. 

  Die  „Ambivalenz  des  modernen  Naturverhältnisses“  (Eder 

1992) spiegelt sich nicht nur zwischen den Gruppen wider oder kann 

situativ wechseln,  sondern  besteht  auch  im  Individuum  selbst  fort. 

Page 241: Streit um Materie?

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240

Die  individuell verschiedenen Mischtypen von Naturverständnissen 

können  auch  zu  inneren  Konflikten  führen.  Dies  wird  bei  einem 

Landwirt sehr deutlich, der seine Hin‐ und Hergerissenheit zwischen 

utilitaritäts‐ und alteritätsorientiertem Naturverständnis zeigt,  indem 

er eine ‚Irrationalität’ seinerseits aufführt: Er baut teuren Klee an, der 

weder  gut wächst noch  genug  Inhaltsstoffe  für die Kühe  bereithält. 

Dennoch erfreut er ihn, da er gut riecht und eventuell der Artenviel‐

falt zugute kommt. 

 

Das  ist  ja eigentlich das Entscheidende, dass die Kühe gutes 

Futter  haben  und  viel Milch  geben.  […]  Ich, dummerweise, 

säe immer [...] irgendwelche Kleearten mit rein, die keinen Er‐

trag haben. [...] Aber ich freue mich auch drüber, dass ich da 

mal einen Hornschotenklee zu stehen habe. Ist aber eigentlich 

völlig sinnlos. [...] Und ob da vielleicht auch mal ein anderes 

Insekt ranfliegt, kann  ja auch sein. [...] das Heu oder das Fut‐

ter, alles riecht besser, wenn du so über die Wiese gehst.  [...] 

Ja, man macht so’n Quatsch manchmal auch – aus Spaß. Denn 

säe  ich da ein paar hundert Kilo so’n sehr teures Saatgut mit 

rein. 

 

Sein eigenes Verhalten verwirrt und veranlasst  ihn, sich als verrückt 

darzustellen. Auch hier definiert der hegemoniale utilitaristische Dis‐

kurs, was mit  ‚Verstand’  gemeint  ist. Rationale Betriebsführung  auf 

der einen Seite sowie sein Bedürfnis, ‚Natur’ zu genießen, auf der an‐

deren Seite machen es ihm nicht möglich, eine klare Position für wirt‐

schaftliche  Interessen  gegenüber  den  Naturwächtern/‐wächterinnen 

zu vertreten und damit konflikthafte Handlungen an den Tag zu  le‐

gen.  

  Letztlich  bleibt  der  Bezugspunkt  für  die  Landwirte  die mit 

Nutzenbezügen aufgeladene Landwirtschaft. Andere Naturverständ‐

nisse,  die  häufig  hinter  dem  dominanten  utilitären  Typ  verborgen 

bleiben, gelangen weitaus seltener an die Öffentlichkeit.  

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Streit um Materie?

241

6. Konfliktregulierung: Strategisches Vorschieben von Naturverständnissen

Die geringe Präsenz von manifesten oder eskalierenden Konflikten im 

Biosphärenreservat  hat möglicherweise  ihre Ursache  in  der  vermit‐

telnden Rolle der Naturwächter/innen. Hier verschränkt sich die Kon‐

fliktbewältigung mit der Rolle von Naturverständnissen. Die öffentli‐

che Diskreditierung  in den Anfangsjahren des Biosphärenreservates 

war  für  die Naturwächter/innen  ein  prägendes  Erlebnis.  Sie wollen 

vermeiden, negativ – als „die Grünen“ – wahrgenommen zu werden. 

Nach wie vor kämpfen sie beständig um ihre Anerkennung und Legi‐

timation als Naturwacht in der Öffentlichkeit. 

Im Umgang mit den Landwirten haben die Naturwächter/innen spe‐

zifische Strategien entwickelt, um die oben dargestellten Konflikte zu 

schlichten. 

 Hilfreich  ist dabei der ähnliche kulturelle Hintergrund, den ein gro‐

ßer Teil der Naturwächter/innen mit den Landwirten  teilt. Viele von 

ihnen kommen ebenfalls aus der Region und waren zu einem  frühe‐

ren Zeitpunkt selbst  in der Landwirtschaft  tätig. Eine wichtige Rolle 

spielt auch das hohe Maß an Vertrauen und Verständnis, dass sie den 

Landwirten entgegenbringen.  

  In die Konfliktlösungsstrategien spielen auch die verschiede‐

nen Naturverständnisse der Akteure hinein. So geraten die  traditio‐

nellen Beziehungsstrukturen in Konflikt mit den Naturverständnissen 

der Naturwächter/innen.  In  ihrer beruflichen Rolle vertreten  sie  ihre 

typisch gruppenspezifischen Naturverständnisse und  argumentieren 

alteritäts‐ bzw. identitätsorientiert. Einigen gelingt es jedoch, die oben 

beschriebene Ambivalenz,  die mit  den Naturverständnissen  einher‐

gehen kann, zu umgehen und so zur Schlichtung von Konflikten zwi‐

schen  den  Landwirten  beizutragen.  Sie winden  sich  aus  dem  (ver‐

meintlichen) Dilemma der Unvereinbarkeit der  jeweiligen Naturver‐

ständnisse,  indem  sie  ihre  alteritäts‐  und  identitätsorientierten Vor‐

stellungen,  oft  aus  taktischen Gründen,  für  sich  behalten.  In Ausei‐

nandersetzungen  beziehen  sie  sich  auf  utilitaritätsorientierte Werte, 

die  im  Bewusstsein  der  Bevölkerung  fest  verankert  sind  (vgl.  Gill 

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Jana Flemming

242

2003: 207), und  führen auf dieser Grundlage häufig die Verhandlun‐

gen mit den Landwirten. Sie greifen  jeweils den Aspekt  ihres Natur‐

verständnisses  heraus,  der mit  dem Gegenüber  kompatibel  ist. Das 

muss  nicht  immer  das  utilitaritätsorientierte Naturverständnis  sein, 

wobei dieses die Argumentationen der Befragten  in  einem hegemo‐

nialen  Sinn überlagert. Besonders deutlich wird dies  bei  einem Na‐

turwächter, der sich bewusst auf die Strategie des Verdeckens eigener 

Denkweisen einlässt: 

 

Aber ich denke, weil die Menschen da auch oft drüber disku‐

tieren  und  sagen, was  soll das  hier,  immer die Grünen, die 

wollen auch  jeden Ast retten. Ich denke, dass man schon mit 

Verstand damit umgehen sollte. (HMw: 10/44‐46) 

 

Der hegemoniale utilitaristische Diskurs definiert, was mit ‚Verstand’ 

gemeint ist. Auf Basis dieses Diskurses wird ein Ergebniskonsens her‐

gestellt, bei dem die Beteiligten nicht die jeweilige Argumentationsba‐

sis wechselseitig übernehmen,  sondern  aus unterschiedlichen Grün‐

den  zustimmen  (vgl.  Giegel  1992:  9)  bzw.  sich  bestimmte  Begrün‐

dungsmuster situativ aneignen.  

7. Kritik moderner Naturverhältnisse

In der empirischen Analyse kristallisierte sich heraus, dass die unter‐

suchten  Akteure  zum  Zweck  der  Konfliktschlichtung  und  

‐vermeidung  in der Regel  – und  sei  es  auch  ‚nur’  aus  strategischen 

Gründen – in Auseinandersetzungen auf der Grundlage des hegemo‐

nialen  utilitaristischen  Naturverständnisses  argumentieren.  Diese 

Diskurslinie wird im Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnis‐

se aufgegriffen  (Görg 2003).  In Anknüpfung an die Kritische Theorie 

thematisiert  das  Konzept  die  sozialen  und  ökologischen  Folgewir‐

kungen unter dem Gesichtspunkt struktureller gesellschaftspolitischer 

Machtverhältnisse.  In  der Nachfolge  von  Theodor W. Adorno wird 

der  utilitaristische  Zugriff  auf Natur mit  dem  Begriff  der Naturbe‐

herrschung  umschrieben.  Im  Kontext  dieses  Problemverständnisses 

Page 244: Streit um Materie?

Streit um Materie?

243

einer kritischen Gesellschaftstheorie erscheint es angebracht, das he‐

gemoniale utilitaristische Naturverhältnis3 bei der Suche nach Hand‐

lungsmöglichkeiten  im Naturschutz  aufzugreifen  und  zu  hinterfra‐

gen. 

  Das  Konzept  der  gesellschaftlichen  Naturverhältnisse  stellt 

den Zusammenhang konkreter, naturwissenschaftlich beschreibbarer 

Probleme  und  kulturell‐symbolischer Aspekte  der  gesellschaftlichen 

Naturverständnisse  in  den Mittelpunkt.  Die  Dialektik  von Materie 

und Gesellschaft wird mit Konflikten um die soziale Geltung des do‐

minanten  utilitaristischen  bzw.  naturwissenschaftlich‐technischen 

Naturverhältnisses verbunden. Die  trotz der naturwissenschaftlichen 

Vorherrschaft  weiterhin  bestehenden  pluralen  Naturverhältnisse 

werden  als  jeweils  spezifisch  umkämpfte  Felder  aufgefasst  (Schar‐

ping/Görg 1994: 190). Dies bedeutet für eine Gesellschaftstheorie, die 

Dominanz des zentralen Musters der Naturbeherrschung  in der Ge‐

sellschaft  sowohl  kritisch  zu  rekonstruieren  als  auch  die 

Umkämpftheit  der  verschiedenen  Naturverhältnisse  zu  begreifen 

(ebd.: 192).  

  Natur wurde erst in der Neuzeit auf eine frei verfügbare, au‐

ßergesellschaftliche  Ressource  reduziert,  die  für  die  Erfüllung 

menschlicher bzw. industrieller Bedürfnisse relevant ist (Kropp 2002: 

38).  Sie  wird  als Materie,  verfügbar  für  den  menschlichen  Gestal‐

tungswillen,  angesehen  (Bechmann  1998:  7). Mit  dem  Erfolg  dieses 

Naturverständnisses  geraten  die  Interaktionsdynamik  von  naturab‐

hängiger Gesellschaft und vergesellschafteter Natur, von wechselsei‐

tigen Verknüpfungen und Vermischungen sowohl der Wirkungs‐ als 

auch der Deutungsbeziehungen  aus dem Blick. Gleichzeitig werden 

alternative Naturverständnisse kaum berücksichtigt. 

3   Die  Begriffe Naturverhältnis  und Naturverständnis  sind  voneinander  abzu‐

grenzen.  Das Naturverständnis  bzw.  der Naturbegriff  ist  auf  rein  geistiger 

Ebene angesiedelt. Es bestimmt den direkten Umgang mit der Natur – das Na‐

turverhältnis (Raffelsiefer 1999: 86). Diese Unterscheidung zwischen Naturver‐

ständnis und Naturverhältnis  ist  insofern notwendig, als dass sich Naturbeg‐

riffe  durch  die  Transformation  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse  ändern 

(Görg 1999a: 15). 

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244

Im Hinblick  auf die Naturverhältnisse beinhalten diese Denkmuster 

die Erwartung einer  immer weiter wachsenden Beherrschbarkeit der 

Natur und einer abnehmenden Relevanz der „Naturfrage“  im Laufe 

gesellschaftlicher Modernisierung.  Diese  Erwartung  ist  im  Kontext 

der  „ökologischen  Krise“,  angefangen  mit  der  Ökologiebewegung, 

herausgefordert  und  transformiert  worden  (Görg  2003:  143):  Alte 

Denkmuster spielten wieder stärker in den Vordergrund (Eder 1992). 

Nicht‐rationale  Elemente  in Diskursen werden  in  der Öffentlichkeit 

mit zunehmend weniger Erfolg denunziert und wieder diskursfähig 

(Eder 2007: 12). 

  Doch  führt  die  zunehmende  Bedeutung  der  symbolisch‐

normativen  Seite  der  ökologischen  Krise  keineswegs  zu  einer  voll‐

ständigen  Abkehr  von  der  Idee  der  Naturbeherrschung.  Einiges 

spricht dafür, dass die Erfahrung des Scheiterns  in der ökologischen 

Krise  in  eine  erneuerte,  eine  „reflektierte“  Form  der  Naturbeherr‐

schung übergeht  (Görg 2003: 144). Der Versuch besteht  lediglich da‐

rin, die Nebenfolgen der bestehenden Naturverhältnisse  in den Griff 

zu  bekommen.  Institutionell wird, u.  a.  auch durch die Einrichtung 

von Biosphärenreservaten, versucht, die Nebenfolgen der gesellschaft‐

lichen Naturverhältnisse politisch zu regulieren. Die Regulation dieser 

Nebenfolgen wird jedoch durch die Fortdauer fordistischer Naturver‐

hältnisse überlagert, sodass neben den Änderungen weiterhin Konti‐

nuitäten  in  den  gesellschaftlichen  Naturverhältnissen  bestehen.  So 

werden die gesellschaftlichen Naturverhältnisse  in den Ländern des 

Nordens unter dem Leitbegriff der Nachhaltigen Entwicklung meist 

auf die ökologische Modernisierung  ihrer eigenen Gesellschaften  re‐

duziert. Damit wird weiter  am  instrumentellen Naturbegriff  festge‐

halten. In der Praxis führt dies zu einem pragmatischen Management 

ökologischer  Probleme,  das  sich  auch  im  Biosphärenreservat 

Schorfheide‐Chorin  beobachten  lässt. Globale  Zusammenhänge  und 

soziale Ungleichheiten bleiben weitestgehend ausgeblendet (vgl. Görg 

2003: 10). Die (in dem vorliegenden Fall latent gehaltenen) Naturkon‐

flikte  unterliegen  einem  Problemlösungsdiskurs,  der  die  gegebenen 

Strukturen  instrumenteller  und  kapitalistischer  Naturnutzung  un‐

hinterfragt  voraussetzt.  Im  Biosphärenreservat  angewandte Mecha‐

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Streit um Materie?

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nismen wie der Vertragsnaturschutz basieren auf ökonomischen Aus‐

tauschprinzipien; um eine  tatsächliche  Informierung und Mitsprache 

handelt  es  sich  dabei  nicht.  Allerdings  versuchen  die  Naturwäch‐

ter/innen, wie  oben  dargelegt,  häufig  den  Landwirten  diese  Rechte 

einzuräumen.  Es  geht  lediglich  um  ein  rationales Management  der 

gesellschaftlichen Naturverhältnisse (vgl. ebd.: 234).  

  Daraus  lassen  sich  normative  Forderungen  für  eine Neuge‐

staltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse  ableiten. Maßstab  sollte 

sein, Natur nicht mehr unter beliebige menschliche Zwecksetzungen 

zu  subsumieren,  sondern die Nicht‐Identität4 der Natur unreduziert 

zu  erfahren  und  damit  alternative Naturverhältnisse  zu  stärken.  Es 

geht um einen permanenten Lernprozess, der über ein rein organisa‐

tionales Lernen im engeren Sinne hinausgeht und stattdessen die Ver‐

änderbarkeit  der  Strukturprinzipien  gesellschaftlicher  Entwicklung 

aufzeigt (vgl. Görg 2003: 144). 

  Um der  im Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse 

problematisierten  Naturbeherrschung  entgegenzuwirken,  bedarf  es 

eines umfassenderen Verständnisses  gesellschaftlicher Emanzipation 

und Selbstbestimmung (ebd.). Die Fähigkeit des Menschen zur freien 

Selbstbestimmung  sollte  es  ermöglichen,  die  oft  implizit  zugrunde 

liegenden Naturverständnisse  nach Maßgabe  je  eigener Reflexionen 

zu beurteilen und zwischen  ihnen begründet auszuwählen. Im Sinne 

eines kritischen Zugangs zur Gestaltung gesellschaftlicher Naturver‐

hältnisse  stellt  sich  die  Frage  nach  einer  Emanzipationsvorstellung, 

die  einerseits  an  der  Fähigkeit  zur  gesellschaftlichen  Selbstverände‐

rung festhält und andererseits für die Probleme der ökologischen Kri‐

se,  insbesondere  die  bestehenden  Abhängigkeiten  im  Rahmen  der 

Naturverhältnisse,  angemessen  ist. Die Urteilskraft  sollte  auf  eine  – 

4   Der Begriff der Nicht‐Identität wird bei Adorno für die im Erkenntnisprozess 

und  seinen  begrifflichen  Konstruktionen  enthaltenen  nicht‐identischen Mo‐

mente  verwendet: Das  im  Erkenntnisprozess  vom  Bewusstsein  konstruierte 

Objekt ist in seiner Existenz gleichzeitig Voraussetzung des Erkenntnisprozes‐

ses.  Jede Existenz  geht  auf  etwas  – das Nicht‐Identische  –  zurück, das  kon‐

struiert wird, dessen Existenz also  immer  schon unterstellt wird  (Görg 1999: 

129). 

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246

wie  auch  in Biosphärenreservaten  vorgesehen  –  praktisch  gestaltete 

Natur angewendet werden (vgl. Görg 1999a: 27). 

8. Überlegungen zur Ausgestaltung des Naturschutzes

Vor  dem Hintergrund  dieser  gesellschaftskritischen  Perspektive  er‐

scheint es wenig angebracht, konkrete Handlungsanleitungen im Sin‐

ne des klassischen Naturschutzmanagements zu geben. Ein praxisori‐

entierter Lösungsvorschlag könnte bedeuten, dass sich beide Parteien 

zunächst  in  reflexiven  Auseinandersetzungen  ihrer  verschiedenen 

Naturverständnisse  gewahr werden. Begleitet werden  sollten  solche 

Prozesse von institutionellen Umgestaltungen, die den Menschen vor 

Ort die Möglichkeit geben,  ihre Naturverhältnisse selbstbestimmt zu 

gestalten. 

  Die folgenden Ausführungen sind daher zu verstehen als ein 

Anstoß  und  Ausblick  für  weitere  Überlegungen  hinsichtlich  einer 

umfassenden  Einbettung  der  Naturschutzproblematik  in  gesell‐

schaftspolitische Zusammenhänge  sowie  der  emanzipatorischen  Po‐

tenziale  einer Umgestaltung  gesellschaftlicher Naturverhältnisse.  Es 

soll deutlich gemacht werden, dass das auch zwischen den Akteuren 

im  Biosphärenreservat  Schorfheide‐Chorin  hegemoniale  utilitaristi‐

sche  Naturverständnis  nur  in  Verbindung  mit  der  institutionellen 

Rahmung  der  Gestaltung  gesellschaftlicher  Naturverhältnisse,  den 

strukturell  angelegten  Machthierarchien  sowie  den  formellen  und 

informellen Formen der Konfliktregelung zu verstehen  ist. Dies sind 

Prozesse, die  in der empirischen Untersuchung nicht vollständig be‐

rücksichtigt wurden, die aber auf  theoretischer Ebene hier noch ein‐

bezogen werden sollen. 

  Die politische Regulierung gesellschaftlicher Naturverhältnis‐

se ist ein konflikthafter, komplexer und voraussetzungsvoller Prozess. 

Eine solche Regulierung ist immer auch in die allgemeine Regulation 

gesellschaftlicher Verhältnisse  eingeschlossen. Dies  resultiert daraus, 

dass die Gestaltung der Naturverhältnisse unmittelbar mit der histo‐

risch‐konkreten Regulation gesellschaftlicher Verhältnisse verbunden 

ist  (Görg 2003: 143). Gerade die  etablierte administrative und politi‐

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Streit um Materie?

247

sche Krisenbearbeitung ist selbst Teil des Krisenzusammenhangs (Be‐

cker/Jahn 1989: 31 ff.). Die Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhält‐

nisse kann demzufolge nicht  auf  eine  explizite Umweltpolitik  redu‐

ziert  werden.  Neben  politischen  Steuerungsversuchen  sind  die 

unintendierten Nebenwirkungen anderer Prozesse sowie die struktu‐

rellen Zwänge gesellschaftlicher Regulation zu berücksichtigen (Görg 

2003: 143). 

  Bei der Diagnose eines Problems der Naturverhältnisse müs‐

sen daher auch die Regeln der Bedeutungszuweisungen berücksich‐

tigt  werden:  „Wer  hat  was  mit  welcher  institutionellen  Deutungs‐

macht  und  welchen  Interessen  im  Rücken  als  Problem  oder  Krise 

thematisiert und was wird damit  bezweckt?“  (Görg  1999a:  11) Ver‐

schiedene Naturvorstellungen spiegeln sich auch in Machtverhältnis‐

sen wider, die wiederum  ihren Teil zu Konflikten zwischen den ver‐

schiedenen Wissensformen beitragen (Görg 2003: 247). Dabei kann die 

Definitionsmacht  bestimmter  Gruppen  zur  Zerstörung  lokaler  For‐

men von Naturverhältnissen führen (ebd.: 256). 

  Naturschutz  benötigen  letztlich  nur Naturzerstörende,  denn 

die Erhaltung der Natur  ist zur Verwertung derselben bis zu einem 

gewissen  Grad  notwendig.  Daher  werden  im  Biosphärenreservats‐

konzept  auch  Ziele  wie  die  Erhaltung  der  natürlichen  Ressourcen 

oder der genetischen Vielfalt gesetzt. Es ist zu hinterfragen, inwiefern 

Biosphärenreservate Beispiele  für eine  solche  ‚Inselerhaltungspolitik’ 

sind. Der Machtbereich politischer Entscheidungen  ist  in aller Regel 

kleiner  als  der Wirkungsbereich.  So  führt  der  Schutz  der Natur  an 

einer Stelle nicht selten zu ihrer umso hemmungsloseren Nutzung an 

anderer Stelle (Kropp 2002: 311). Auch wenn in Biosphärenreservaten 

konzeptionell vorgesehen  ist, Produktions‐ und Verwertungsmodelle 

zu  ändern,  und der Anspruch  formuliert wird, Biosphärenreservate 

als Modelle  für andere Regionen zu betrachten,  so  ist doch nicht zu 

erkennen, dass  grundlegende  institutionelle Veränderungen  tatsäch‐

lich  vollzogen  werden.  Zu  problematisieren  sind  wissenschaftliche 

Deutungshoheiten, die Top‐Down‐Implementierung von Institutionen 

sowie  bürokratische  Entscheidungsstrukturen. Dies  steht  im Wider‐

spruch  zu  dem  im  Biosphärenreservatskonzept  formulierten  An‐

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248

spruch der Teilhabe der vor Ort  lebenden Menschen an der Bearbei‐

tung  der  ‚Naturfrage’.  Die  bevollmächtigten  Institutionen  sind  auf 

staatlicher bzw.  föderaler Ebene  angesiedelt. Selbst der Naturschutz 

ist  hierarchisch  organisiert  und  erlaubt  den  Naturwächtern/ 

‐wächterinnen, die die  tatsächlichen diskursiven Auseinandersetzun‐

gen mit der  lokalen Bevölkerung  führen und diese  auch  nur  in  be‐

grenztem Rahmen  durch  spezifisches  Expert/innen/wissen  dominie‐

ren, nicht, verbindliche Vereinbarungen zu treffen. 

  Weiter ist die Frage nach der Notwendigkeit einer Schlichtung 

von Konflikten zu stellen. Das Fallbeispiel hat gezeigt, dass die Abwe‐

senheit manifester Konflikte nicht bedeuten muss, dass Naturschutz‐

maßnahmen  tatsächlich  im  Sinne  der Naturschützenden  umgesetzt 

werden. Vielmehr ist hier die Frage zu stellen, ob Konflikte nicht – im 

Anschluss  an  die  konfliktsoziologische  Tradition  Georg  Simmels 

(1972) und Lewis A. Cosers  (1972) – positive Funktionen haben kön‐

nen.  Gesellschaftliche  Auseinandersetzungen  sind  wichtig,  um  die 

meist  nur  implizite Bedeutung  von Naturverständnissen  in  öffentli‐

chen Diskursen reflexiv betrachten und bewerten zu können und da‐

mit  zu  einer  emanzipatorischen  Bearbeitung  von  Naturkonflikten 

beizutragen. Daher ist in Frage zu stellen, ob die Strategie einiger Na‐

turwächter/innen, die  eigenen Ansichten  zurückzustellen,  langfristig 

die richtige ist. Naturkonflikte sind Konfrontationen unterschiedlicher 

und  nicht  ineinander  übersetzbarer Rationalitäten, die  sich  auf  ver‐

schiedene soziale Kontexte, kulturelle Diskurse, technische Bedingun‐

gen  und  normative  Einbindungen  zurückführen  lassen.  Eine  argu‐

mentative Position, die aus einer bestimmten Perspektive heraus rati‐

onal ist, kann für die andere nicht anschlussfähig sein (z. B. Bio‐ und 

konventionelle Landwirte, die  jeweils überzeugt argumentieren, dass 

ihre Anbauweise die lukrativere sei). Ein gelingender politischer Um‐

gang mit komplexen Alternativen setzt die Kompetenz zur reflexiven 

und kooperativen Konzeptionalisierung von Verständigungsmöglich‐

keiten voraus  (Kropp 2002: 306). Reflexivität hieße generell,  sich die 

teils unbewussten Grundlagen und Implikationen der eigenen Stand‐

punkte und der durch sie privilegierten Lösungsmodelle bewusst zu 

machen, diesen Prozess bei allen Beteiligten zu  fördern und zur Er‐

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Streit um Materie?

249

möglichung  interperspektivischer  Verständigungsprozesse  gemein‐

same  Bewertungs‐  und  Beurteilungskriterien  in  einem  geteilten  Be‐

zugsrahmen konkret zu entwickeln (ebd.).  

Bruno Latour (2001) weist darüber hinaus darauf hin, dass Verfahren, 

Steuerungsmechanismen und Entscheidungsprozesse kritisch hinter‐

fragt und kontinuierlich neu ausgehandelt werden müssen. Dies soll 

nicht  zu  einem  umfassenderen  Rationalitätsbegriff  führen,  sondern 

eine Bereitschaft zur Selbstkritik und zum vorsichtigen Umgang mit 

den Folgen menschlichen Handelns fördern (Pelfini 2006: 154). Refle‐

xivität besteht damit nicht nur aus dem Bewusstsein, dass eine absolu‐

te Beherrschung der Natur unmöglich  ist. Es handelt sich um ein ra‐

dikales politisches Projekt der Infragestellung bisher erkannter Bezie‐

hungen zwischen Natur und Gesellschaft (ebd.: 160).  

  Das Problem der Gestaltung der Naturverhältnisse  verweist 

daher auf die Möglichkeiten und Grenzen einer demokratischen Ge‐

staltung sozialer Verhältnisse überhaupt: Wie kann nicht nur die tat‐

sächliche politische Teilhabe an Naturschutzprozessen, sondern auch 

die  Erfahrung  der  Nicht‐Identität  der  Natur,  ihre Materialität  und 

Widerständigkeit  bei  dieser  Gestaltung  berücksichtigt werden  (vgl. 

Görg  2003:  144)?  Ein  weiterzuverfolgender  Ausblick  wäre  daher, 

Latours  Vorschlag  einer  Auflösung  des  Gesellschafts‐Natur‐

Dualismus  aufzunehmen  und  nach  der Möglichkeit  einer  Einbezie‐

hung  ‚nicht‐menschlicher’  Aktanten  in  gesellschaftliche  Entschei‐

dungsprozesse  zu  fragen.  Es  sollte  nicht  nur  darum  gehen  zu  de‐

konstruieren, welche Bedeutungen hinter den materiellen  Interessen 

verborgen  sind und welche gesellschaftlichen Machtverhältnisse da‐

mit verbunden sind, sondern auch aufgezeigt werden, dass  ‚Materie’ 

in den Streit involviert ist. 

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Teil 3: Ein Plädoyer zum Schluss

 

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Kein totes Pferd reiten!

Vier Plädoyers zur Erforschung von Mensch-Natur-Verhältnissen

Christine Katz 

1. Wozu Wissenschaftstheorie?

In mir als Biologin, die nach einem mehrjährigen Ausflug in die Tech‐

nikfolgenabschätzung  und  wissenschaftliche  Politikberatung  seit 

nunmehr 12 Jahren die eigenen „Herkunftsgebiete“ wie z. B. die Öko‐

logie  oder die Umweltwissenschaften  in Bezug  auf  ihre normativen 

Implikationen  kritisch  in  den  Blick  nimmt,  personifiziert  sich  die 

schwierige  Herausforderung,  Verbindungslinien  und  Vermittlungs‐

zusammenhänge zwischen natur‐ und sozialwissenschaftlichen Prob‐

lemanalysen  von  Natur‐Gesellschafts‐Kontexten  und  ihrer  wissen‐

schaftlichen Bearbeitung herzustellen.  

  Ein derartiges Zwischenraum‐Dasein  sieht  sich  oftmals dem 

Vorwurf des Dilettantismus  ausgesetzt. Dieser  richtet  sich nicht nur 

auf einzelne Personen,  sondern auch auf  interdisziplinäre Forschun‐

gen  oder  eben  auf  zwischen  Fachkulturen  angesiedelte Programme. 

Ohne an dieser Stelle in eine Rechtfertigungsargumentation zu verfal‐

len: Eine Position des Dazwischen kann disziplinäre Erkenntnis we‐

der ersetzen noch optimieren.  Jemand, der sich  thematisch zwischen 

Fachkulturen aufhält, weiß mehr über Zusammenhänge und Bezüge 

denn über disziplinäre Feinheiten und Erkenntnistiefen. Es geht hier 

nicht um  ein Entweder‐oder,  sondern  eher um  ein Sowohl‐als‐auch, 

um eine andere Perspektive auf das gleiche Phänomen. Beispielsweise 

kann der Klimawandel und dessen Folgen für Ökosysteme aus einer 

rein  naturwissenschaftlichen  Sicht  über  CO2‐Anstiegskurven  analy‐

siert  oder  als  Phänomen  hochindustrialisierter  Gesellschaften  und 

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Christine Katz

258

deren  Abhängigkeit  von  fossilen  Rohstoffen  sozialwissenschaftlich 

untersucht werden. Um  herauszufinden, wie,  unter welchen  Bedin‐

gungen und mit welchen gesellschaftlichen Bedeutungen die Klima‐

veränderungen soziokulturell verwoben sind, und im Hinblick auf die 

dabei eine Rolle spielenden Herstellungsprozesse ist  jedoch eine For‐

schungsperspektive  notwendig,  die  auf  die  interagierenden  Bezie‐

hungsmuster und Regulationskontexte fokussiert, d. h. stärker aus der 

Perspektive der Relationen und Verbindungslinien heraus die Prob‐

leme beschreibt und analysiert denn aus dem Blickwinkel  jeweils ei‐

ner, der Natur‐  oder Gesellschaftsseite  (vgl. Rink/Wächter  2004; Be‐

cker/Jahn 2006).  

  Der folgende Beitrag versteht sich als Essay über einige Unge‐

reimtheiten, Dilemmata und Fallstricke bei der Erforschung von Na‐

tur‐Gesellschafts‐Beziehungen. Er bietet keine die vorhandenen wis‐

senschaftstheoretischen Kenntnisse umfassend reflektierende Analyse 

der  Ansätze  zur  Theoretisierung  und  der  forschungsmethodischen 

Erarbeitung  von  Mensch‐Natur‐Verhältnissen,  sondern  ist  eher  als 

eine blitzlichtartige, an einigen Stellen vielleicht (oder besser: hoffent‐

lich?) irritierende Spurensuche anzusehen. 

  Am Anfang steht ein „scharfer“ Ritt durch ein paar essentielle 

„Parcours“ der Wissenschaftstheorie. Dabei wird ein Blick auf solche 

Konzepte geworfen, die Natur‐ und Gesellschaftsaspekte als vermit‐

telt verstehen und miteinander verbinden. Im Anschluss daran sollen 

vier verschiedene, aber aufeinander verweisende Plädoyers dazu anre‐

gen,  sich auf der Basis wissenschaftstheoretischer Überlegungen mit 

interdisziplinären  oder  fachkulturübergreifenden  und  transdiszipli‐

nären  Forschungen  und  Programmatiken  zu  Natur‐Kultur‐

Beziehungen kritisch auseinanderzusetzen.  

2. „A Horse Is Not a Metaphor“

Seit  ich mich mit Wissenschaftstheorie und  ihrer „Anwendung“  auf 

Gesellschafts‐Natur‐Kontexte  befasse,  ist  mein  Bewusstsein  für  die 

Komplexität der Thematik und mein Unvermögen, mich auf das We‐

sentliche zu konzentrieren, gewachsen. Denn was nun genau das We‐

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Kein totes Pferd reiten!

259

sentliche  ist,  entgleitet  einem  in  dem  Maße,  in  dem  das  eigene 

Involviertsein zu‐ und die Distanz zum Gegenstand der Betrachtung 

abnimmt. Und damit  sind wir bereits  in der Mitte dessen gelandet, 

was eines der Felder der Wissenschaftstheorie ausmacht und uns auch 

bei der Untersuchung  sozial‐ökologischer Zusammenhänge  beschäf‐

tigt: das Verhältnis zwischen Betrachtendem und Betrachtetem sowie 

zwischen Vorstellung und Realität. 

  A Horse  Is Not  a Metaphor war der wenig  leichtgängige Titel 

eines prämierten Kurzfilmes auf der Berlinale 2009. Die Botschaft des 

Films war, dass ein Pferd erst mal  für nichts steht, keine Bedeutung 

überträgt und kein wirklich gutes Bild abgibt für die komplexen Din‐

ge  und  Geschehnisse  in  der  Welt.  Ein  Pferd  an  sich  stellt  keine 

brauchbare Metapher dar, aber die Perspektive des Reiters/der Reite‐

rin  sehr wohl. Das wiederum hat mich  für unser Thema hier  inspi‐

riert: Reiten  ist  ein Ereignis, bei dem Natur und Kultur  sich  treffen, 

reiben,  verschmelzen,  auf  vielfältige  Art  und  Weise  interagieren, 

wechselwirken und bei dem doch eine gehörige Portion dessen, was 

bei  wissenschaftstheoretischen  Reflexionen  von  Gesellschaft‐Natur‐

Verhältnissen  interessant  ist,  relevant wird. Denn wie  lässt  sich die 

Wirklichkeit  des  Reitens  als  Verhältnis  zwischen  Pferd  und  Reiter 

angemessen erklären oder beschreiben? 

  Handelt es  sich beim Reiten um eine „dingliche“,  reale Kör‐

pererfahrung meines Körpers oder des Pferdes? Bewege ich mich oder 

nur das Pferd? Wer  steuert oder kontrolliert wen und was? Welche 

Bedeutung  fällt der Umgebung und den Reitbedingungen zu?  Ist es 

egal für ein Verständnis dessen, was das Reiten ausmacht, ob es in der 

Halle oder im Gelände stattfindet? Ist es für „gutes“ Reiten wichtig zu 

wissen, woher das Pferd kommt und welchen  sozialen Hintergrund 

ich als Reiterin vorzuweisen habe? Werden Pferd und ich beim Reiten 

zum Hybrid oder ist unser Verhältnis eher dialektisch, weil wir von‐ 

und miteinander  lernend  interagieren? Bin  ich auch dann noch  eine 

Reiterin, wenn mich das Pferd abgeworfen hat? 

  Worum geht es also beim Natur‐Kultur‐Treffpunkt „Reiten“ – 

wissenschaftstheoretisch  gefragt?  Es  geht  um  die  Konstitution  des 

Gegenstands  „Reiten“  als  Prozess  und  Ausdruck  von Wechselwir‐

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Christine Katz

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kungen, seine Erfassbarkeit sowie um die Bestimmung und Interakti‐

on seiner Elemente. Es geht darum, wer oder was die Wirklichkeit des 

Reitens  steuert oder  reguliert, um die Bedeutung von Bedingungen, 

Situationen, Hintergründen und Einflussfaktoren. Weiter geht es um 

Fragen nach der Art des Wissens und der Erfahrung, die dabei zum 

Tragen kommt, um ein Wissen, das nur in Bezug aufeinander, im ge‐

lebten Miteinander und Austausch entsteht. 

  Mein  vielleicht  etwas  gewagter  Versuch,  über  das  Bild  des 

Reitens einen wissenschaftstheoretisch ausgerichteten Einblick  in die 

Struktur,  Inhalte  und  Bedingungs‐/Bedeutungszusammenhänge  von 

Natur‐Kultur‐Ereignissen zu geben, sollte verdeutlichen, dass es sich 

dabei  immer um Verhältnisbestimmungen handelt – wie stets, wenn 

Natur  (verstanden  als  das  Materiell‐Physische)  und  Gesellschaftli‐

ches/Kulturelles  (gemeint  als  das  Symbolisch‐Diskursiv‐Geistige) 

sinnvoll  zusammengedacht  wird,  um  eine  Wirklichkeit  erklärende 

Wirkung  entfalten  zu  können.  Dahinter  stehen  die  allumfassenden 

Lebensfragen nach der Relation von Materie und Geist – Ist das Sein 

primär materiell oder primär geistig? Gibt  es Geist nur dann, wenn 

eine materielle Grundlage vorhanden ist, oder existiert Materie nur als 

eine Vorstellung des Geistes? –, von Realität und sozialer Repräsenta‐

tion und, nicht zuletzt, nach dem Sinn. Sie beschäftigen seit  Jahrtau‐

senden Philosophinnen und Philosophen und  in unserer Zeit zusätz‐

lich Neurobiologinnen  und Neurobiologen, Physiker/innen  und Ge‐

sellschaftswissenschaftler/innen.  

  Übergeordnet dienen solcherart philosophische Erörterungen 

dazu, sich in der Welt zurechtzufinden, indem man 

Erkenntnisse über die  substanziellen und geistigen Dinge  in 

und um einen herum generiert,  

die Reichweite und Gültigkeit dieser Erkenntnisse einschätzt, 

über  das Gewordensein  und  das  zukünftige Werden  dieser 

Dinge Aussagen treffen kann (Historizität und Prognose), 

die eigene Rolle/Position z. B. bezüglich Abhängigkeiten oder 

Beeinflussungsmöglichkeiten  erkennen  und  gestalten  kann 

und sich darüber zu orientieren, positionieren bzw. Sinnhaf‐

tigkeit herzustellen vermag. 

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Kein totes Pferd reiten!

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3. Brücken und ihre Tücken: Integrationsansätze

Wissenschaftstheorie  setzt  sich  also  generell mit  den Voraussetzun‐

gen, Methoden, den zentralen Begriffen und Zielen von Wissenschaft 

auseinander, beschäftigt sich mit der Struktur und Entwicklung wis‐

senschaftlicher Kenntnisse und  ihrer Geltungsansprüche. Dies  ist be‐

reits für paradigmatisierte Wissenschaftsdisziplinen (vgl. Kuhn 1981) 

herausforderungsreich  und  ambitioniert.  Beispielsweise wurden  bei 

einer  Umfrage  der  British  Ecological  Society  von  1988  (zit.  in 

Valsangiacomo  1998)  nach  den  innerhalb  der  ökologischen Wissen‐

schaften  verwendeten  ökologischen  Schlüsselkonzepten  bereits  200 

Ansätze  genannt  –  in Abhängigkeit  dabei  zugrunde  gelegter  unter‐

schiedlicher Natur‐ und Wissensvorstellungen. Umso komplexer und 

schwieriger wird  es, wenn  es  sich um die wissenschaftstheoretische 

Fundierung problemorientierter Forschungen handelt,  in denen ver‐

sucht wird, verschiedene Disziplinen oder  sogar Fachkulturen unter 

einem gemeinsamen „Dach“ zu bündeln, wie im Fall der interdiszip‐

linären  Umweltforschung,  der  Humanökologie  oder  der  Sozialen 

Ökologie. 

  Dieser neue Typ  an Wissensproduktion  (auch  „mode  2“ ge‐

nannt; vgl. Gibbons u. a. 1994)  ist zum einen das Ergebnis der Kritik 

an  der  fortschreitenden  Spezialisierung  und  Partikularisierung  der 

Einzelwissenschaften,  an  der  dahinter  stehenden  Rationalität  des 

technischen  Verfügbarmachens  und  an  ihrer  zunehmenden 

Ökonomisierung anstelle von konsequenter Problemorientierung (vgl. 

Gräfrath u.  a.  1991;  Janich  1992; Mittelstraß  1998). Zum  anderen  ist 

dieser neue Typ der  als  zu  einseitig naturwissenschaftlich‐technisch 

angelegten und dafür kritisierten Umweltforschung der 1980er  Jahre 

geschuldet, der das Erforschen und Lösen komplexer Zusammenhän‐

ge  nicht  zugetraut  wird,  weil  sie  das  Gesellschaftliche,  Kulturelle, 

Ökonomische  und  Symbolische  von  Umweltproblemen  entweder 

ausklammert  oder  den materialen Regulations‐  und  Stoffaustausch‐

prozessen unverbunden an die Seite stellt  (vgl. Hayoz‐Kaufmann/Di 

Guilio 1996; Balzer/Wächter 2002; Matschonat/Gerber 2003). Wesentli‐

che Merkmale dieses Forschungstyps sind Transdisziplinarität, Prob‐

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lem‐  und  Akteursorientierung,  organisatorische  Heterogenität  und 

gesellschaftliche  Verantwortlichkeit  (vgl.  Nowotny  u.  a.  2001;  Jahn 

2003, Becker/Jahn 2006; Hunecke 2006). 

  Einige sehen mit dem „mode 2“‐Typus grundlegende Verän‐

derungen auf die traditionellen Disziplinen‐ und Organisationsstruk‐

tur des Wissenschaftsbetriebs zukommen und prognostizieren damit 

einhergehende  epistemologische  Umwälzungen  (vgl.  Gibbons  u. a. 

1994). Diese These ist allerdings umstritten (vgl. z. B. Weingart 1999). 

Für  Mittelstraß  (2003)  stellt  Transdisziplinarität  eher  ein  leitendes 

Forschungsprinzip  dar,  das  komplexe  und  disziplinär  nicht 

einordenbare  Frage‐  und  Problemstellungen  sowie  Lösungsansätze 

und Handlungsstrategien  entwickeln will. Wissenschaftliche Aufga‐

benfelder und Forschungsgegenstände können damit abgesteckt und 

definiert werden, verfestigen sich jedoch nicht in einem Theorie‐ oder 

Methodengebäude.  Nicht  vergessen  werden  sollte  allerdings,  dass 

Transdisziplinarität  nicht  per  se  kritisch  oder  innovativ  ist  und  die 

hegemoniale Wissensproduktion ebenso  stützen wie  in Frage  stellen 

kann (vgl. Hark 2003). Bisher erscheinen die mit dieser wissenschaftli‐

chen Praxis  einhergehenden  organisatorischen und politischen Kon‐

sequenzen (beispielsweise die unscharfe Grenzziehung zwischen poli‐

tischen  und  wissenschaftlichen  Zuständigkeiten)  zu  wenig  durch‐

dacht  bzw.  problematisch  in wissenschaftsferne Diskurse  eingebun‐

den.  

  Nicht nur die konventionelle Umweltforschung wurde als zu 

„gesellschaftsblind“ erachtet. Andersherum hielt man  in den Sozial‐, 

Gesellschafts‐  und Kulturwissenschaften Natur  lange  nicht  für  eine 

angemessene  sozialwissenschaftliche  Untersuchungskategorie.  Ent‐

sprechend wurde die ökologische Krise als originär natur‐ und um‐

weltwissenschaftliches  Forschungsfeld  angesehen  und  geriet  in  der 

Regel  damit  auch  nicht  in  den  sozialwissenschaftlichen  Fokus  (vgl. 

Brand/Kropp 2004: Rink u. a. 2004). 

  Mittlerweile existiert eine Reihe von Ansätzen zur Integration 

der natur‐, sozial‐ und kulturwissenschaftlichen Perspektive,  initiiert 

von unterschiedlichen Disziplinen. Allerdings reichen solcherart Ver‐

suche  schon  bis  in die Antike  zurück.  Insbesondere  seit den  1920er 

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Kein totes Pferd reiten!

263

Jahren  gab  es  wechselnd  erfolgreiche  Aktivitäten,  Mensch‐Natur‐

/Umweltbeziehungen  sowohl  in  den  gesellschaftswissenschaftlichen 

als auch den ökologischen Wissenschaftszirkeln in den USA und Eu‐

ropa  als  festen Bestandteil  im  jeweiligen  Fächerkanon  zu verankern 

bzw. als fachkulturübergreifenden eigenen Zugang entsprechend the‐

oretisch  zu  fassen  (vgl. Groß  2001; Katz  2004). Viele dieser Ansätze 

sehen  sich  bis  heute  entweder mit  dem Vorwurf,  naturreduktionis‐

tisch  bzw.  umweltdeterministisch  zu  sein,  konfrontiert,  oder  ihnen 

wurde/wird eine Naturvergessenheit unterstellt, d. h. die mangelhafte 

Berücksichtigung der material‐physischen, biologischen Aspekte der 

gesellschaftlichen  Natur‐/Umweltbeziehungen  kritisiert  (vgl.  z. B. 

Glaeser 1992; Cittadino 1993; Brand 1998; Valsangiacomo 1998; Wein‐

garten/Janich 1999; Groß 2001; Kropp 2002). Mit sog. vermittlungsthe‐

oretischen Ansätzen  (Kropp  2002),  in denen Natur und Gesellschaft 

dialektisch  (wie  im Ansatz  der  gesellschaftlichen Naturverhältnisse: 

Jahn/Wehling 1998) oder als Hybrid (z. B. Haraway 1995; Latour 1995) 

konzeptualisiert  sind, wird  die Hoffnung  verbunden,  diese  Schwä‐

chen überwinden zu können.  

  Auf die unterschiedlichen Diskurse zur Reichweite und Gül‐

tigkeit  verschiedener  naturalistischer,  kulturalistischer  bzw.  sozio‐

zentrischer  sowie  vermittlungstheoretischer  Ansätze  der  Wirklich‐

keitserfassung  kann  hier  nicht  eingegangen werden  (vgl.  dazu  z. B. 

Janich  1996;  Weingarten/Janich  1999;  Keil/Schnädelbach  2000; 

Karafyllis  2001;  Kropp  2002;  Rink/Wächter  2004;  Becker/Jahn  2006; 

Groß 2006). Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass mittlerweile weder 

auf der  Seite der Naturwissenschaften  ernsthaft  in Zweifel  gezogen 

wird, dass auch  sog. „Naturtatsachen“ als  soziale Konstrukte zu be‐

trachten  sind  (vgl. z. B. die Erkenntnisse der Neurobiologie und der 

modernen  Physik  sowie Dürr/Zimmerli  1989; Dürr  2003),  noch  von 

den meisten Vertreterinnen und Vertretern der  Sozial‐ und Geistes‐

wissenschaften tatsächlich bestritten wird, dass eine materielle Wirk‐

lichkeit auch ohne Menschen existiert und von einem komplexen vor‐

strukturierten Entwicklungszusammenhang irdischer Lebensprozesse 

mit autopoietischen Qualitäten auszugehen ist (vgl. Soper 1995; Janich 

1996; Quine 2000). Distanziert wird sich von absolut naturreduktionis‐

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tischen  bzw.  ‐deterministischen  Ansätzen,  in  denen  ausschließlich 

natürliche Faktoren als wirkmächtig gelten und einzig natürliche Pro‐

zesse für real gehalten werden (vgl. Wolf 2008: 867), genauso wie von 

radikal‐konstruktivistischen postmodernen Vorstellungen jeder Wirk‐

lichkeit als Diskurs (vgl. Soper 1995; Becker/Jahn 2006).  

  Das bedeutet  jedoch nicht, dass naturwissenschaftliche Erklä‐

rungsansätze  über  ökologische  Zusammenhänge  oder  krisenhafte 

Umweltprobleme frei von normativen, gesellschaftliche Wirkung ent‐

faltenden Einschreibungen sind – was bis heute im Übrigen weiterhin 

wenig reflektiert wird (vgl. Trepl 1987; Valsangiacomo 1998; Weingar‐

ten/Janich  1999;  Jax  2000;  Jopp/Weigmann  2001;  Jungkeit  u.  a  2001; 

Fischer 2003; Potthast 2003; Rink/Wächter 2004; Katz/von Winterfeld 

2006; Weber 2006).  

  Die bisherigen wissenschaftlichen Konzepte zur Verklamme‐

rung von Natur‐ und Gesellschaftsbezügen weisen einen unterschied‐

lichen Grad an „integrations¬theoretischer Reife“ auf. D. h. es beste‐

hen  zahlreiche ungelöste Probleme bezüglich der Gegenstands‐ und 

Begriffskonstitution, der Problemdefinition, des normativen Rahmens, 

die Methoden und Verfahren der wissenschaftlichen Erkenntnispro‐

zesse  betreffend  und  bezüglich  geeigneter  theoretischer  „Brücken“ 

zur Verbindung der unterschiedlichen Perspektiven und Wissensfor‐

men  (System‐, Kohärenz‐, Transformations‐ und Orientierungs‐ oder 

Zielwissen; vgl. Becker/Jahn 2006; Hunecke 2006). Die Soziale Ökolo‐

gie will ebenso wie die Humanökologie mit ihrem ganzheitlichen An‐

spruch  „den Zusammenhang von materialen Naturbeziehungen mit 

den  symbolischen  Formen,  in  denen  diese materialen  Beziehungen 

hergestellt und vorgestellt werden, d. h. individuell und gesellschaft‐

lich  konstruiert  werden“  (Jahn  1990:  29),  aufzeigen  (vgl.  auch  Be‐

cker/Jahn  2000).  Gegenstandsbereich  sind  Relationen,  Wechselwir‐

kungen und Verhältnisse zwischen Menschen bzw. gesellschaftlichen 

Gruppen  und  ihrer  Natur/Umwelt  sowie  deren  Regulationsmuster 

(vgl. Becker/Jahn 2003). 

  Bislang  ist keine einheitliche theoretische Konzeptualisierung 

und begrifflich konsistente Beschreibung des Verhältnisses zwischen 

Mensch, Natur/Umwelt und Gesellschaft und damit keine Auflösung 

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des Dualismus von Gesellschaft und Natur erreicht. Wichtig erscheint 

es dennoch oder vor allem, „den Blick für die vielfältigen Formen von 

Natur‐Gesellschafts‐Interaktionen  offen  zu  halten  und  dabei  unter‐

schiedliche  Perspektiven  und  Ebenen  der  Analyse  zuzulassen“ 

(Hunecke  2006:  37). Viele  dieser  neuen  integrationsorientierten  For‐

schungsrichtungen  konzentrieren  sich  vielleicht  auch  aus  diesem 

Grund vor allem auf forschungsmethodische Überlegungen, die neue 

Impulse  für  eine Heuristik  und  für  (methodologische)  Brückenkon‐

zepte zur Vereinigung unterschiedlicher Wissensformen  liefern kön‐

nen. 

  In der  inter‐/transdisziplinären Umweltforschung mangelt es 

nicht an Appellen, die Wissenschaftstheorie als methodische  Instanz 

zu konsultieren. Letztlich handelt es sich dabei um die Aufforderung, 

geeignete Methodologien, d.h. Verfahren und Regeln der Wissensge‐

nerierung wie auch zur Absicherung der Gültigkeit von wissenschaft‐

lichen  Aussagen  zu  entwickeln  (vgl. Hunecke  2006).  Denn  die  auf 

diesem Feld  forschenden Wissenschaftler/innen haben unterschiedli‐

che  disziplinäre Hintergründe,  sie  verwenden  ihre  eigenen  Spezial‐

Methodologien und ihre eigene Fachsprache. Werden im transdiszip‐

linären  Verständnis  darüber  hinaus  Nicht‐Wissenschaftler/innen  in 

die  Forschung  einbezogen,  kompliziert  sich  die  Situation  zusätzlich 

(vgl. Hartmann 2005). 

  Marcel Hunecke (2006) hat einen ersten wissenschaftstheoreti‐

schen Beitrag zu einer Heuristik der Sozialen Ökologie geleistet, der 

sich mit  den  theoretischen  „Schwachstellen“  dieser  Forschungsrich‐

tung  ebenso  auseinandersetzt wie mit möglichen Brückenkonzepten 

zu  ihrer methodologischen Fundierung. Er hat dazu 41 Kriterien zur 

Beurteilung des Erklärungsgehaltes von Ansätzen der Selbstorganisa‐

tion, des Prinzips der methodischen Ordnung und des ökonomischen 

Ansatzes  für die  sozial‐ökologische  Forschung  sowie  114 Leitfragen 

zur Orientierung der Wissenschaftler/innen für das forschungsprakti‐

sche Arbeiten abgeleitet.  

  In den nachfolgenden Plädoyers wird es nicht darum gehen, 

alles, was  es  an wissenschaftlichen  Theorieansätzen  zur  Integration 

sozial‐  und  naturwissenschaftlicher  Perspektiven,  zur  Vermittlung 

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des  Substanz/Materie‐Geist‐Dilemmas  gibt,  zu  systematisieren,  kri‐

tisch zu würdigen, auf die dabei eine Rolle spielenden Fallstricke bzw. 

ungelösten Probleme hinzuweisen und so einen weiteren kleinen Bei‐

trag zur konstruktiven Weiterentwicklung dieser Integrationsaufgabe 

zu  leisten. Der hier verfolgte Anspruch  ist wesentlich  bescheidener: 

Ausgehend  von  verschiedenen Kritiksträngen  und Argumentations‐

zusammenhängen bei der Diskussion um die wissenschaftliche Bear‐

beitung von Gesellschaft‐Natur‐Beziehungen, von Reflexionen (inklu‐

sive  eigener  Erfahrungen)  interdisziplinärer,  fachkulturübergreifen‐

der Forschungsprozesse sowie von einigen Einsichten durch die Vor‐

träge und Diskussionen bei der Tagung, die diesem Sammelband vo‐

rausging, sollen diese vier Plädoyers dazu provozieren und vielleicht 

auch motivieren, sich der wissenschaftstheoretischen Erkenntnisse bei 

der  Erforschung  komplexer Mensch‐Umwelt‐Beziehungen  zu  bedie‐

nen  –  sei  es  als Analyseinstrument  zur  Schärfung  von  begrifflichen 

Unklarheiten und zur Strukturierung des gesamten Ablaufs der Wis‐

sensgenerierung, zum Verständnis für den anderen Blick auf das glei‐

che Problem oder sei es zum Nachdenken über die Rationalitäten und 

Geltungsgrenzen des eigenen Forschens und die Vielfalt an Perspek‐

tiven auf Wirklichkeiten und nicht zuletzt als  Impuls  für weiterfüh‐

rende Diskussionen. 

 

Plädoyer 1:  Für mehr Bescheidenheit im Anspruch der Forschungspro‐

grammatik  und  eine  effektivere Nutzung  des  bereits Vor‐

handenen 

Die Wissenschaftstheorie lehrt uns, dass jede Form von Erkenntnis in 

ihrer Aussagekraft, Reichweite und Gültigkeit bestimmten Einschrän‐

kungen unterliegt. Diese  jeweils und genau bei der Erforschung von 

gesellschaftlichen Naturverhältnissen auszuloten, kann zum einen der 

Zusammenarbeit zwischen Vertreterinnen und Vertretern der Natur‐ 

und  Sozial‐/Geisteswissenschaften  förderlich  sein  –  z. B.  über  eine 

dadurch  erfolgende Konturierung der Differenzen und Gemeinsam‐

keiten der unterschiedlichen Perspektiven und Zugänge. Zum ande‐

ren  unterstützt  sie  dabei,  den  Prozess  der Wissensproduktion  von 

Beginn an so zu strukturieren, dass die Auswirkungen von Erkennt‐

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Kein totes Pferd reiten!

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nisgrenzen und  ‐möglichkeiten  auf das Deutungs‐ und Regulations‐

potenzial von Natur‐Mensch‐Gesellschaft‐Verhältnissen  sichtbar und 

damit einer Diskussion zugänglich gemacht werden können. 

  Die  Lektüre  derzeitiger  Förderprogramme  im  Bereich  der 

Nachhaltigkeitsforschung bzw. zur Erforschung globaler Umweltver‐

änderungen  erweckt den Eindruck, dass die Untersuchungsbereiche 

immer  komplexer,  die  Anforderungen  an  die  Forscher/innen‐

Gruppen  trotz  eher übersichtlicher Förderzeiträume  immer vielfälti‐

ger und umfangreicher werden und die  in den Programmen  formu‐

lierten  Erwartungen  an  das  Problemlösungspotenzial  dieser  For‐

schung  zunehmend  steigen.  Machbarkeitswahn,  Umsetzungserfolg 

und  Innovationsdruck dominieren das Feld. Selten gibt es einen Be‐

zug  auf  wissenschafts‐  und  gesellschaftstheoretische  Debatten  zur 

Bedeutung und zum Wandel wissenschaftlich‐technischen Wissens in 

Zeiten globaler Transformation  (Kahlert 2001). Vor allem  im Bereich 

transdisziplinärer Wissensarbeit  können  die  stärker werdende  Ten‐

denz zur Ausweitung und Verdichtung von Aufgaben, ein andauernd 

geforderter Kompetenzerwerb und eine überzogene Verantwortungs‐

zuweisung an die/den Einzelne/n beobachtet werden. 

  Eine  solcherart  kosten‐,  zeit‐  und  erfolgseffektiv  orientierte 

Förderlogik  läuft  Gefahr,  professionell  organisierten  Forschungs‐

aktivismus  zu  bedienen,  der  stärker mit  seinem  Selbstmanagement 

und  der  Erfüllung  oben  genannter  Erwartungen  beschäftigt  ist,  als 

dass  er  zu  umfassend  analysierten,  interpretierten  und  theoretisch 

durchdrungenen  Resultaten  führen  kann.  Die  bereits  vorhandenen 

umfangreichen Wissensbestände zu sichten und zu nutzen, sprich die 

(stille) Beschäftigung mit dem Über‐, Quer‐ und Neudenken vorlie‐

gender wissenschafts¬theoretischer Erkenntnisse und Ansätze, könnte 

jedoch überaus hilfreich bei der Aufgabe sein, Natur und Gesellschaft‐

liches  konzeptionell  zu  verbinden  und  als  Vermittlungszusammen‐

hang zu analysieren und zu beschreiben. 

 

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Plädoyer 2:   Für mehr fachkulturenübergreifende Forschungsteams  

Wie  bereits  oben  formuliert,  ist  es  ein  zentraler  Anspruch  inter‐

/transdisziplinärer  oder  fachkulturenüberschreitender  (natur‐  und 

sozialwissenschaftlicher)  Forschung  zu  globalen  Umweltproblemen, 

sich  auf  die  Interaktionen, Wechselwirkungen  und Vermittlungszu‐

sammenhänge  material‐stofflicher  und  symbolisch‐diskursiver  As‐

pekte zu konzentrieren, statt die Bedingungs‐ und Bedeutungskontex‐

te  jeweils  separat  aus  der  natur‐  bzw.  gesellschafts‐

/kulturwissenschaftlichen Perspektive in den Blick zu nehmen. 

  Für  die  konkrete  Forschungspraxis  bedeutet  dies,  beide Di‐

mensionen  integrativ  in  der  Forschung  anzulegen  und  damit  eine 

Auseinandersetzung über Begriffe,  theoretische Konzepte und deren 

normative Basis  sowie über die  kontextabhängige Gültigkeit  bereits 

vorhandener Daten zu  initiieren und ein gemeinsames methodisches 

Vorgehen für die Forschung zu erarbeiten. Dies gelingt am besten  in 

einem  interdisziplinär aus Vertreterinnen und Vertretern der Natur‐ 

und  Sozialwissenschaften  zusammengesetzten  Team,  das  sich  von 

Beginn  an mit  dem  „In‐Beziehung‐Setzen“  der  verschiedenen Wis‐

sensformen  befasst.  In  der  Tat  bleibt  die Unterscheidung  zwischen 

einer  sozialwissenschaftlichen  Forschungsarbeit,  die  für  einen  be‐

stimmten  Kontext  als  problematisch  skizzierte  Gesellschaft‐Natur‐

Verhältnisse  in  ihren  lebensweltlichen Bezügen und  im Rahmen spe‐

zifischer stofflich‐materieller Bedingungen soziologisch oder politolo‐

gisch untersucht, von einer z. B.  sozial‐ökologischen Analyse dessel‐

ben Zusammenhangs unscharf. Denn es kommt doch erheblich darauf 

an, wie, d. h. auf welcher kategorialen Ebene, die Natur‐ und Gesell‐

schaftsseite zueinander in Beziehung gesetzt werden. Sich quasi welt‐

anschaulich  auf  ein  theoretisches  Gerüst  (wie  z. B.  das  der  gesell‐

schaftlichen  Naturverhältnisse  des  Frankfurter  Instituts  für  sozial‐

ökologische Forschung) zu beziehen, natur‐gesellschaftliche Interakti‐

onen in lebensweltlichen Kontexten in den Blick zu nehmen und Pra‐

xisakteure als Expertinnen und Experten von Anfang an aktiv  in das 

Forschungsgeschehen  einzubeziehen,  ist  völlig  unbenommen  eine 

längst  notwendige  Erweiterung  der  konventionellen  Umweltfor‐

schung. Bezieht sich „interdisziplinär“ dabei jedoch auf einen fachkul‐

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Kein totes Pferd reiten!

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turellen, beispielsweise politik‐, kultur‐ und geschichtswissenschaftli‐

chen Zugang, bei dem materiell‐physische Aspekte von  zu untersu‐

chenden gesellschaftlichen Naturverhältnissen zwar als Rahmen  set‐

zende Bezugsgrößen  (diskursiv) mit berücksichtigt werden – z. B.  in 

Form von Emissions‐ oder Immissionsausgangsdaten –, aber nicht mit 

den sozialwissenschaftlichen Erhebungen begrifflich, methodologisch 

oder  konzeptionell  verschränkt  werden,  erscheint  es  mir  weniger 

missverständlich, von  einer  sozialwissenschaftlichen Perspektive  auf 

Gesellschaft‐Natur‐Beziehungen  statt  von  einem  die  stofflich‐

materielle  und  sozial‐diskursive  Ebene  verbindenden  sozial‐

ökologischen Forschungsansatz zu sprechen. Dies gilt selbstverständ‐

lich umgekehrt  ebenso  für Forschungen, die – naturwissenschaftlich 

angelegt – mit einem unbekümmerten Rekurs auf sozialwissenschaft‐

liche  Theoriegebäude  und Wissensbestände  Gesellschaftliches  ohne 

Tiefenschärfe interpretatorisch einbeziehen.  

  Viele Projekte haben zwar den expliziten Anspruch, integrativ 

zu  arbeiten,  in  der Nachbetrachtung  zeigt  sich  jedoch,  dass  dieser 

nicht bzw. nur schleppend umgesetzt werden konnte (vgl. Hartmann 

2005). Jede/r scheint weiterzuforschen wie zuvor, und die Zusammen‐

arbeit zwischen Forscherinnen und Forschern mit verschiedenen dis‐

ziplinären Hintergründen besteht oft nur auf dem Papier  (vgl. Balsi‐

ger  2005).  Integrativ  angelegte  natur‐  und  sozialwissenschaftliche 

Untersuchungsperspektiven bedürfen einer gemeinsam argumentativ 

erzeugten dialogischen Aushandlung von Methoden und Arbeitswei‐

sen  über  die  beteiligten  Disziplinen  hinweg  und  durch  diese  hin‐

durch,  sodass  eine  neue  (Trans‐)Disziplinarität  entsteht  (vgl. Mittel‐

straß 2005). Dies verlangt eine intensive Beschäftigung mit dem jewei‐

lig Unausgesprochenen, aber „machtvoll Mitgemeinten“, mit den  je‐

weils  anderen Wirklichkeitsdeutungen und Erklärungsansätzen und 

bedarf notwendigerweise einer personalen Entsprechung.  

  Für  die  Förderpraxis  würde  das  bedeuten,  in  Förderpro‐

grammen, die einen solchen Anspruch verfolgen, Antrags‐Vorphasen 

finanziell zu unterstützen und Mittel  für Workshops bereitzustellen. 

So  könnten  fachkulturenübergreifende  Teams  auf  effektive  Weise 

zusammengestellt  und  Verständigungsprozesse  sowie  forschungs‐

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praktische Überlegungen  im Vorfeld  initiiert werden. Des Weiteren 

sollten forschungsbegleitend Weiterbildungsma߬nahmen zur Förde‐

rung  einer  sog.  inter‐/transdisziplinären Kompetenz  angeboten wer‐

den.1  

Ausgeweitet  auf  den  Gutachter/innen‐Kreis  könnten  solche Weiter‐

bildungsangebote  auch der Begutachtungsqualität von Anträgen bis 

hin zur Weiterentwicklung des Förderprogramms insgesamt dienlich 

sein.  Denn  bislang  ist  die  Beurteilung  integrativ  angelegter  For‐

schungsprojekte  noch  immer  eher  multidisziplinär  erfolgt  –  in  Er‐

mangelung  entsprechend  inter‐/transdisziplinär  kompetenter  Exper‐

tinnen und Experten.  

 

Plädoyer 3:   Für eine Reflexion des Normativen 

Bei der Erforschung gesellschaftlicher Naturverhältnisse spielt es eine 

nicht unmaßgebliche Rolle, von welchem Modell von Natur und Ge‐

sellschaft  jeweils  ausgegangen wird, welche Begriffe und Bedeutun‐

gen den Erklärungsansätzen zugrunde liegen und wie diese normativ 

Wirksames  transportieren.  Beispielsweise  sind die  gesellschaftlichen 

Verhältnisse und Folgen einer Vorstellung von Natur als einer wilden, 

gewaltigen,  unberechenbaren,  gleichermaßen  jedoch  fürsorglichen, 

ernährenden, dem Menschen wesenhaft gegenübergestellten,  andere 

als die einer Natur, die als ein funktionales organismenloses Energie‐ 

und Stoffflusssystem (z. B. als CO2‐Senke, Luftfilter, Ressourcenlager) 

konzeptualisiert ist (vgl. Katz/von Winterfeld 2006). 

1   Eine  solche  „Schlüsselqualifikation“  beinhaltet  Fähigkeiten  wie  (vgl.  Baer 

2005):  

•  den eigenen methodischen und theoretischen Zugang selbstkritisch zu hin‐

terfragen,  

•  disziplinäre Differenzen produktiv wahrzunehmen,  

•  die  eigene disziplinäre Arbeit permanent wissenschaftskritisch  zu  reflek‐

tieren und auf Stärken und Schwächen hin zu relativieren,  

•  fragwürdige  und  problematische  Positionen  aushalten  und  konstruktiv 

damit umgehen zu können,  

•  gegenseitige disziplinäre/außerdisziplinäre Anerkennung und Respekt. 

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Kein totes Pferd reiten!

271

  Die  in  Naturvorstellungen  verborgenen Wertmaßstäbe  und 

Gesellschaftsbilder werden meist nicht bewusst, sondern stillschwei‐

gend mit der Beschreibung als allgemeingültig akzeptiert  (vgl. Gloy 

2005a, b).  Jede Gesellschaftsform kennt solche  in der sozialen Praxis, 

in Sprache und Ausdruck unauffälligen, normativ wirksamen Setzun‐

gen. Sie finden sich auch in vermeintlich neutralen, objektiven natur‐

wissenschaftlich‐ökologischen  Grundannahmen,  Analysen  und  Lö‐

sungsvorschlägen  und  entfalten  dabei  Orientierung  stiftende  und 

durchaus machtvolle gesellschaftliche Wirkungen: Man denke nur an 

die  in zahlreichen sog. ökologischen Positionen enthaltene Aufforde‐

rung nach einer gesellschaftlichen „Unterordnung“ unter die Gesetz‐

mäßigkeiten der Natur oder nach einem „Weiter so“, aufgrund einer 

unerschöpflichen, weil sich selbst regulierenden, selbst heilenden Na‐

turkonzeption oder an die Allmachtsphantasie der beliebigen Gestalt‐ 

und  Modifizierbarkeit  einer  anfälligen,  verbesserungsbedürftigen 

bzw. technisch ersetzbaren Natur (vgl. ebd.). 

  Die klassischen Wissenschaften über die Natur bzw. die Um‐

welt  des Menschen  verstehen  sich  bis  heute  als  objektiv  und wert‐

neutral. Es  findet dort kaum  eine Debatte über die verborgenen Be‐

wertungen  und  Wertzuschreibungen  in  den  (Vor‐)Verständnissen 

bzw.  Festlegungen  im  Forschungsgegenstand  und  ‐geschehen  statt 

(vgl.  Potthast  1999;  Rink  u.  a.  2004).  Auch  im  (noch  immer)  stark 

„ökologielastig“  und  naturwissenschaftlich  geprägten  Nachhaltig‐

keitsdiskurs werden  normierende  Setzungen  (wie  z. B.  das, was  als 

ökologisch intakt oder natürlich gilt) als naturwissenschaftliche Tatsa‐

chen  bzw. Wahrheiten  –  und  damit  als  nicht mehr  verhandelbar  – 

präsentiert.  Eine  Ausblendung  normativer  Implikationen  ökologi‐

scher Grundannahmen, Problemsichten und  ‐analysen  ist  für die ge‐

sellschaftliche Umsetzung des Leitbildes einer nachhaltigen Entwick‐

lung  jedoch besonders folgenreich. Denn die unsichtbaren Bewertun‐

gen und Vorannahmen wirken auf die Argumentationen und Strate‐

gien der in diesem Kontext tätigen Akteurinnen und Akteure ein und 

vermögen damit  z. B. die Aufgaben‐ und Verantwortungsverteilung 

für Natur‐  und  Umweltschutz  bzw.  ‐nutzung  zu  beeinflussen  und 

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darüber wiederum auch die Akzeptanz und Durchsetzungsstärke von 

Konzepten zum gesellschaftlichen Umgang mit Natur.  

  Um diese normativen Wirkungen  sichtbar  zu machen,  ist  es 

notwendig,  den  gesellschaftlich  relevanten  (symbolischen)  Bedeu‐

tungsgehalt von Beschreibungen, Konzepten, Aussagen  oder Begrif‐

fen von Natur in sozial‐ökologischen Forschungskontexten zu reflek‐

tieren. Denn wissenschaftliche  und  alltagsgebräuchliche  Vorstellun‐

gen  und  Verständnisse  von  Natur  und  ihrer  Gestaltung  enthalten 

Hinweise  auf dahinter  stehende Wertesysteme und  gesellschaftliche 

Ordnungsprinzipien  (vgl. Orland/Scheich 1995; Gloy 2005a, b; Kirch‐

hoff 2006; von Winterfeld 2006)  

 

Plädoyer 4:   Für die Analyse von Macht  

„Wissenschaft ist Politik mit anderen Mitteln“, heißt es u. a. bei Donna 

Haraway (1995) und Ulrike Felt (2002). Damit ist einerseits die Defini‐

tionsmacht  von  Wissenschaftlerinnen  und  Wissenschaftlern  ange‐

sprochen, beispielsweise über das, was als ein gesellschaftlich relevan‐

tes Problem gilt und deswegen erforscht werden muss,  sowie ande‐

rerseits  über  dessen  Lösungsmöglichkeiten,  die  dazu  erforderlichen 

technologischen Schwerpunktsetzungen und die Grenzen der Mach‐

barkeit. Politik  und Wissenschaft  sind mittlerweile  eng miteinander 

verflochten. Wissenschaftliche Expertise  ist ständig gefragt, dient der 

Vorbereitung  und  häufig  genug  auch  der  Legitimation  von  politi‐

schen  Entscheidungen. Wissenschaftler/innen,  von Amts wegen  der 

Wahrheit, Sachlichkeit und Wertneutralität verpflichtet, sollen durch 

ihre generierten Erkenntnisse einen Ausweg aus Angst und Unsicher‐

heit, den steten Begleiterinnen der Industriemoderne, weisen. 

  Wissenschaftler/innen bekleiden zunehmend machtvolle und 

entscheidungsrelevante Positionen: Sie sitzen in Beratungsgremien, in 

Bundestagskommissionen, werden als Gutachter/innen zu allen mög‐

lichen  Themen  befragt,  veröffentlichen Berichte  und  Prognosen, die 

wiederum  für  politische Weichenstellungen  herangezogen  werden. 

Die  „Vormachtstellung“  bei  der  Benennung  von  Grenzen  der  Res‐

sourcennutzung  oder  der  Belastbarkeit  von Ökosystemen  sowie  bei 

der  Prognose  von  Auswirkungen  gesellschaftlichen  Handelns  auf 

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Natur  und  Umwelt  durch  Naturwissenschaftler/innen  beinhaltet 

mindestens  implizit  die  Aufforderung  nach  spezifischen  Beschrän‐

kungen  gesellschaftlicher Aktivitäten und Entwicklungen. Als  kom‐

plexe und problematische Umweltzusammenhänge erklärende Exper‐

tinnen und Experten nehmen Wissenschaftler/innen heute eine zent‐

rale Stellung in der Gesellschaft und in politischen Gestaltungsprozes‐

sen  ein,  ohne  jedoch  für  die  Position  des/  der  politischen  Entschei‐

dungsträgerin/Entscheidungsträgers demokratisch legitimiert zu sein.  

  Bezogen auf inter‐/transdisziplinäre Forschungen zur Analyse 

und Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse leitet sich daraus 

das unbedingte Erfordernis  ab, die den  Forschungskontexten  einge‐

schriebenen Machtverhältnisse  in  ihrer  gesellschaftlichen Bedeutung 

zu  reflektieren. Denn: Auch das sog. Orientierungswissen  ist ebenso 

wie  das  „Wissen  von“  (Substanz,  Bestandteile)  und  „Wissen  über“ 

(Struktur,  Funktion,  Prozesse,  Zusammenhänge)  nicht  gesellschafts‐ 

und damit auch nicht „machtfrei“. In jeder dieser Wissensformen ste‐

cken normativ wirkende Annahmen und Aussagen über Natur, das 

Leistungspotential  von Wissenschaft  und  ihr Verhältnis  zur Gesell‐

schaft.  Um  die machtförmige  Verwobenheit  von Wissenschaft  und 

Gesellschaft sichtbar machen zu können, wie es der Ansatz „Science 

in Context“ vorsieht, sollten daher Machtanalysen inhärenter Bestand‐

teil jedes Förderprogramms zur Erforschung von Gesellschafts‐Natur‐

Beziehungen sein. Macht ist eine der wichtigsten Begrifflichkeiten und 

Untersuchungskategorien  der  Soziologie. Auch wenn  dabei  oftmals 

auf die klassische Definition nach Max Weber Bezug genommen wird 

–  sei  es  abgrenzend  oder  anschließend  –,  existiert mittlerweile  eine 

Fülle an  recht unterschiedlichen  theoretischen Machtkonzepten  (vgl. 

Inhetveen  2008). Diese Vielfalt kann hier weder kritisch  einordnend 

aufgezeigt,  noch  soll  diskutiert  werden,  welche  machtanalytischen 

Zugänge  im  Kontext  der  Untersuchung  von  Natur‐

Gesellschaftsinteraktionen jeweils in den Blick zu nehmen sind. Mein 

Plädoyer ist vielmehr ein generelles, nämlich dafür, die Reflexion von 

Macht als eine auf die Problemkonstitution, Analyse, Gestaltung und 

Regulation  gesellschaftlicher Naturverhältnisse  einwirkende Dimen‐

sion  in den entsprechenden Förderprogrammen und Forschungspro‐

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jekten als zu erfüllende Aufgabe verbindlich zu verankern und damit 

die  Auseinandersetzung  mit  den  verschiedenen  Konzepten  zur 

Machtanalyse und  ihrer „Passförmigkeit“  im  jeweiligen Forschungs‐

kontext zu initiieren und zu etablieren.  

  Dies wäre darüber hinaus für die Bearbeitung der Frage nach 

der Gültigkeit  von Wissen,  seiner  gesellschaftlichen und politischen 

Relevanz  und  damit  auch  nach  einer  transparenten,  demokratisch‐

partizipatorischen Ausgestaltung des Prozesses der Wissensprodukti‐

on und seiner praktischen Verwendung äußerst fruchtbar.  

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Christine Katz

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Page 282: Streit um Materie?

Autorinnen und Autoren

Bianca Baerlocher, lic. phil.

2001‐2006 Studium Soziologie, MGU  (Mensch, Gesellschaft, Umwelt) 

und Medienwissenschaften an der Universität Basel und Zürich. Seit 

2006  Doktorandin  am  Programm  Nachhaltigkeitsforschung  an  der 

Universität Basel. Dissertationsprojekt des Schweizerischen National‐

fonds: Ökologische Regimes als theoretisch‐konzeptueller Beitrag zur 

sozialwissenschaftlichen  Nachhaltigkeitsforschung.  Forschungs‐

schwerpunkte: Sozialtheorie und Umwelt 

 

Thomas Barth, M.A.

2001 bis 2007 Studium der Soziologie und Politikwissenschaft an der 

Friedrich‐Schiller‐Universität  Jena.  2007  bis  2008  wissenschaftliche 

Hilfskraft und Mitarbeiter am Institut für Soziologie der FSU Jena. Seit 

2008  Doktorand  am  Promotionskolleg  »Demokratie  und  Kapitalis‐

mus«  der  Rosa‐Luxemburg‐Stiftung  an  der  Universität  Siegen  und 

Lehrbeauftragter an der FSU Jena. Thema der Dissertation: »Die Um‐

welt  des  kapitalistischen  Staates. Metamorphosen  bundesdeutscher 

Umweltpolitik«. Forschungsschwerpunkte: Politische Soziologie und 

Staatstheorie, Soziologische Theorie, Umweltsoziologie und Umwelt‐

politik. 

 

Jana Flemming, Dipl.-Sozialwissenschaftlerin

2001  bis  2009  Studium  der  Sozialwissenschaften  an  der Humboldt‐

Universität  zu  Berlin  und  Moskauer  Staatlichen  Lomonossow‐

Universität (MGU), Russische Föderation. 2009‐2010 wissenschaftliche 

Mitarbeiterin  am  Fachgebiet  Politikwissenschaftliche  Umweltfor‐

schung  der Universität  Kassel.  Gegenwärtig  freie Mitarbeiterin  der 

Rosa‐Luxemburg‐Stiftung.  Forschungsschwerpunkte:  Gesellschaftli‐

che Naturverhältnisse, Klimawandel und ‐anpassung, Energiepolitik. 

 

Page 283: Streit um Materie?

Autorinnen und Autoren

282

Karsten Gäbler

2000‐2006 Studium der Geographie, Philosophie und Erziehungswis‐

senschaften  (Lehramt) an der Friedrich‐Schiller‐Universität  Jena. Seit 

2006  wissenschaftlicher Mitarbeiter  am  Lehrstuhl  für  Sozialgeogra‐

phie  der  FSU  Jena.  Forschungsschwerpunkte:  sozialgeographische 

Theorieentwicklung, Theorie(n) gesellschaftlicher Natur‐ und Raum‐

verhältnisse, Geographien der Moral und des Konsums. 

 

Daniela Gottschlich, Politikwissenschaftlerin, M.A.

studierte von 1992‐2000 Politikwissenschaft und Germanistik an den 

Universitäten Osnabrück und Göttingen. Seit 1995 Mitarbeit  in zahl‐

reichen Agenda 21‐Projekten. Von 2007‐2008 wissenschaftliche Mitar‐

beiterin an der Universität Osnabrück am Fachbereich Sozialwissen‐

schaften.  Promotion  zu  Gerechtigkeits‐,  Politik‐  und  Ökonomiever‐

ständnissen  im  Nachhaltigkeitsdiskurs.  Leitet  seit  2008  gemeinsam 

mit Tanja Mölders die Forschungsnachwuchsgruppe „PoNa – Politi‐

ken  der  Naturgestaltung.  Ländliche  Entwicklung  und  Agro‐

Gentechnik zwischen Kritik und Vision“ an der Leuphana Universität 

Lüneburg.  Forschungsschwerpunkte:  Gestaltung  gesellschaftlicher 

Naturverhältnisse  als  demokratietheoretische  Frage,  Internationale 

Beziehungen,  feministische  Theorien  und  Nachhaltigkeit,  Agro‐

Gentechnik. 

 

Cedric Janowicz, Diplom-Soziologie, Dr. phil.

1993‐1998  Studium  der  Soziologie,  der  Sozialpsychologie  und  der 

Politischen Theorie an der Ludwig‐Maximilians‐Universität München. 

1999 bis 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sonderforschungsbe‐

reichs  536  ʺReflexive  Modernisierungʺ,  von  2004  bis  2009  wissen‐

schaftlicher Mitarbeiter am  Institut  für  sozial‐ökologische Forschung 

(ISOE)  in Frankfurt  a. Main.  2007 Promotion  an der TU Darmstadt: 

ʺZur Sozialen Ökologie urbaner Räume. Afrikanische Städte im Span‐

nungsfeld  von  demographischer  Entwicklung  und Nahrungsversor‐

gung.ʺ Seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Projektträger des 

Page 284: Streit um Materie?

Autorinnen und Autoren

283

Deutschen Zentrum  für Luft‐ Raumfahrt e.V.  (PT‐DLR). Forschungs‐

schwerpunkte:  Sozial‐ökologische  Forschung,  Soziale  Dimensionen 

von Klimaschutz und Klimawandel, Raumentwicklung 

 

Christine Katz, Dr. rer. nat.

Diplombiologin mit wissenschaftlicher Tätigkeit in der Ökosystemfor‐

schung  (Promotion);  langjährige  wissenschaftliche  Politikberatung 

beim  Deutschen  Bundestag  (Technikfolgenabschätzung);  seit  2003 

wiss. Mitarbeiterin an der Leuphana‐Univ. Lüneburg; Gastprofessorin 

im  Fachbereich  Umweltwissenschaften  im  WS  2004/2005;  For‐

schungsprojekte  zu  Naturverständnis  bei  Umweltakteuren,  Ge‐

schlechterverhältnisse  und  Nachhaltigkeit;  u.a.  Leiterin  eines  For‐

schungsverbundes des BMBF zu den Natur‐, Professionsverständnis‐

sen und der Organisationskultur im Forstbereich; Studien und Exper‐

tisen  im  umwelt‐/nachhaltigkeitspolitischen  Bereich;  Forschungs‐

schwerpunkte:  Geschlechter‐  und  Naturverhältnisse,  interkulturelle 

Naturpraktiken, Klimawandel und Bildung. 

 

Sylvia Kruse, Dipl.-Umweltwissenschaftlerin, Dr. soc.

1997 bis 2003 Studium der Umweltwissenschaften an der Universität 

Lüneburg;  2003  bis  2006  wissenschaftliche Mitarbeiterin  bei  inter3, 

Institut  für  Ressourcenmanagement,  Berlin.  2009  Promotion  an  der 

Leuphana  Universität  Lüneburg:  „Vorsorgendes  Hochwassermana‐

gement  im Wandel  – Ein  sozial‐ökologisches Raumkonzept  für den 

Umgang mit Hochwasser“;  seit  2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin 

an  der  Eidgenössischen  Forschungsanstalt  für  Wald,  Schnee  und 

Landschaft  (WSL), Forschungseinheit Wirtschafts‐ und Sozialwissen‐

schaften Birmensdorf  (Schweiz);  Forschungsschwerpunkte: Naturge‐

fahren,  Klimaanpassung,  Raumentwicklung,  adaptive  governance, 

sozial‐ökologische Forschung.  

 

Page 285: Streit um Materie?

Autorinnen und Autoren

284

Patrick Masius, M.A.

2001‐2005  Studium  der Geographie,  Ethnologie  und  Philosophie  an 

den Universitäten Bayreuth,  Sussex und Greifswald.  2007‐2010 Mit‐

glied  des  Graduiertenkollegs  ʺInterdisziplinäre  Umweltgeschichteʺ; 

2010  Fertigstellung  der  Dissertation  an  der  Universiät  Göttingen: 

ʺChance  und  Risiko:  Naturkatastrophen  im  Deutschen  Kaiserreich 

(1871‐1914).  Eine  umwelthistorische  Betrachtung.ʺ  Seit  September 

2010 Mitarbeiter am Institut für Agrarökonomie und Rurale Entwick‐

lung  (Göttingen).  Forschungsschwerpunkte: Umweltökonomie, Um‐

weltethik, Ökosystemmanagement, Ressourcenschutz, Naturkatastro‐

phen, Umweltgeschichte. 

 

Tanja Mölders, Dipl.-Umweltwissenschaftlerin, Dr. soc.

1994‐2000  Studium  der  Umweltwissenschaften  an  der  Universität 

Lüneburg. Seit 2000 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universi‐

täten Lüneburg und Hamburg. 2009 Promotion an der Leuphana Uni‐

versität  Lüneburg:  „Gesellschaftliche  Naturverhältnisse  zwischen 

Krise  und Vision. Das  Biosphärenreservat Mittelelbe“.  Seit  2008  ge‐

meinsam mit Daniela Gottschlich Leiterin der Forschungsnachwuchs‐

gruppe  „PoNa  –  Politiken  der Naturgestaltung.  Ländliche  Entwick‐

lung  und  Agro‐Gentechnik  zwischen  Kritik  und  Vision“  an  der 

Leuphana  Universität  Lüneburg.  Forschungsschwerpunkte:  Natur‐

Gesellschaft‐Beziehungen, Soziale Ökologie, Geschlechterverhältnisse 

und Nachhaltigkeit, Ländliche Entwicklung. 

 

Birgit Peuker, Dipl.-Soziologin, Dr. phil.

Studium der Diplom‐Soziologie an der Technischen Universität Dres‐

den. 2009 Promotion  ʺDer Streit um die Agrar‐Gentechnikʺ gefördert 

durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU). Seit 2009 Förder‐

stipendium  an  der  Technischen  Universität  Dresden.  Forschungs‐

schwerpunkte:  Gentechnik  und  Landwirtschaft,  Technik‐  und  Um‐

weltsoziologie, Akteur‐Netzwerk‐Theorie. 

 

Page 286: Streit um Materie?

Autorinnen und Autoren

285

Henrike Rau, Ph.D. in Soziologie

1995  bis  1998  Studium  der  Psychologie  und  der  Soziologie  an  der 

Friedrich‐Schiller‐Universität  Jena  und  am  University  College 

Galway, Ireland. 1999‐2004 M.Litt./Ph.D. in Soziologie an der National 

University  of  Ireland,  Galway:  „Time  Perspectives  and  Temporal 

Practices: A Cross‐cultural, Comparative  Study  of Time Cultures  in 

Ireland and Germany“. Seit 2003 Dozentin an der School of Political 

Science  and  Sociology, NUI, Galway.  2008‐2009  achtmonatiger  For‐

schungsaufenthalt am  Institut  für Soziale Ökologie der Alpen‐Adria‐

Universität  Klagenfurt  (Standort  Wien).  Forschungsschwerpunkte: 

Umweltsoziologische Nachhaltigkeitsforschung,  räumliche Mobilität, 

nachhaltige Zeitperspektiven und Zeitnutzungsmuster, Interkulturali‐

tät, kulturelle Vielfalt und Nachhaltigkeit.