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Natur undGesellschaft
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Sylvia Kruse, Bianca Baerlocher (Hrsg.)
geISBN 978-3-906129-52-5
Sozialwissenschaftliche Perspektivenauf die Regulation und Gestaltungeiner Wechselbeziehung
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Wie gehen Gesellschaften mit ihren natürlichen Ressourcen um und welche Gestaltungsspielräume und Regulationsme- chanismen bieten sich, um das Verhältnis von Natur und Gesellschaft nachhaltig zu gestalten? Ob bei der umweltpo- litischen Steuerung, bei der Regulation durch Eigentumsrecht, bei der Verhandlung von Gentechnik in der Landwirtschaft oder beim Umgang mit Naturgefahren – im Zentrum stehen jeweils Prozesse, in denen natürliche und gesellschaftliche Faktoren in Wechselwirkung miteinander stehen. Der Sam- melband vereint Aufsätze, die aus verschiedenen sozial- wissenschaftlichen Perspektiven aktuelle theoretische sowie empirische Analysen zur Regulation und Gestaltung dieser Wechselbeziehung zur Diskussion stellen.
Sylvia Kruse studierte und promovierte in den Umweltwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Forschungsinteressen liegen an der Schnittstelle zwischen sozialwissenschaftlicher Umweltforschung und räumlicher Planung. An der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) erforscht sie den Umgang mit Naturgefah- ren und Klimawandel im Alpenraum.
Bianca Baerlocher studierte Soziologie, MGU (Mensch, Gesellschaft, Umwelt) und Medienwissenschaften an den Universitäten Basel und Zürich. In ihren Forschungen an der Universität Basel erarbeitet sie mit dem theoretischen Konzept der ökologischen Regimes einen Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung.
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Sylvia Kruse, Bianca Baerlocher (Hrsg.)
Natur und Gesellschaft
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Über das Buch
Wie gehen Gesellschaften mit ihren natürlichen Ressourcen um und
welche Gestaltungsspielräume und Regulationsmechanismen bieten
sich, um das Verhältnis von Natur und Gesellschaft nachhaltig zu
gestalten? Ob bei der umweltpolitischen Steuerung, bei der Regulati‐
on durch Eigentumsrecht, bei der Verhandlung von Gentechnik in der
Landwirtschaft oder beim Umgang mit Naturgefahren – im Zentrum
stehen jeweils Prozesse, in denen natürliche und gesellschaftliche Fak‐
toren in Wechselwirkung miteinander stehen. Der Sammelband ver‐
eint Aufsätze, die aus verschiedenen sozialwissenschaftlichen Per‐
spektiven aktuelle theoretische sowie empirische Analysen zur Regu‐
lation und Gestaltung dieser Wechselbeziehung zur Diskussion stel‐
len.
Über die Herausgeberinnen
Sylvia Kruse studierte und promovierte in den Umweltwissenschaften
an der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Forschungsinteressen
liegen an der Schnittstelle zwischen sozialwissenschaftlicher Umwelt‐
forschung und räumlicher Planung. An der Eidgenössischen For‐
schungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) erforscht sie
den Umgang mit Naturgefahren und Klimawandel im Alpenraum.
Bianca Baerlocher studierte Soziologie, MGU (Mensch, Gesellschaft,
Umwelt) und Medienwissenschaften an den Universitäten Basel und
Zürich. In ihren Forschungen an der Universität Basel erarbeitet sie
mit dem theoretischen Konzept der ökologischen Regimes einen Bei‐
trag zur sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung.
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Sylvia Kruse, Bianca Baerlocher (Hrsg.)
Natur und Gesellschaft
Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Regulation und Gestaltung einer Wechselbeziehung
edition gesowip
Basel 2011
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Die Deutsche Bibliothek – CIP – Einheitsaufnahme
Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek
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Die Deutsche Bibliothek ‐ CIP‐Cataloguing‐in‐Publication‐Data
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thek
Originalausgabe
Alle Rechte vorbehalten
© 2011 by edition gesowip, Basel/Switzerland
Herstellung: SDL Berlin
Printed in Germany
ISBN 978‐3‐906129‐52‐5
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Inhalt
Bianca Baerlocher und Sylvia Kruse
Natur in den Sozialwissenschaften – Eine Einleitung……………. 7
Teil 1: Perspektiven auf die Regulation von Natur und Gesellschaft
Cedric Janowicz
Das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse und seine
Bedeutung für die Umweltsoziologie…………………………. 21
Thomas Barth
Ökologische Krise und Krisenmanagement….................................. 45
Karsten Gäbler
Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum 67
Henrike Rau
Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz für die
Wechselbeziehungen von Umwelt, Politik und Gesellschaft 93
Teil 2: Gesellschaftliche Naturverständnisse von Akteuren
Patrick Masius
Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich…………………….. 129
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Inhalt
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Birgit Peuker
Natur und Gesellschaft in der Agrar‐Gentechnik‐Debatte……… 165
Daniela Gottschlich und Tanja Mölders
Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung gesellschaftlicher
Naturverhältnisse………………………………………………… 189
Jana Flemming
Streit um Materie?................................................................................... 227
Teil 3: Ein Plädoyer zum Schluss
Christina Katz
Kein totes Pferd reiten!........................................................................... 255
Autorinnen und Autoren……………………………………………… 281
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Natur in den Sozialwissenschaften – Eine Einleitung
Bianca Baerlocher und Sylvia Kruse
1. Einführung
Der anthropogen verursachte Klimawandel, die Zunahme technologi‐
scher Risiken und die Ressourcenknappheit führen vor Augen, dass
der Umgang der modernen Gesellschaft mit ihren natürlichen Le‐
bensgrundlagen zu unerwünschten Folgen führt. Das sich wandelnde
Verhältnis von Gesellschaft und Natur wird in verschiedenen sozial‐
wissenschaftlichen Disziplinen bereits seit einigen Jahrzehnten wis‐
senschaftlich reflektiert (z. B. Catton/Dunlap 1980; Ostrom 1990; Beck
1986; Luhmann 1986). Zentrale Fragen sind dabei, wie sich Gesell‐
schaften nachhaltig entwickeln, wie sie mit ihren natürlichen Ressour‐
cen verantwortlich haushalten und wie sie mit (globalen) Umweltrisi‐
ken vorsorgend umgehen können.
Als Reflexionsinstanz trägt die sozialwissenschaftliche For‐
schung vor allem im Hinblick auf das Leitbild nachhaltiger Entwick‐
lung – dessen Kernidee die Abhängigkeit gesellschaftlicher Entwick‐
lung von knappen natürlichen Ressourcen beinhaltet – eine intellek‐
tuelle Mitverantwortung für die Gestaltung gesamtgesellschaftlicher
Entwicklungsprozesse. Mit ihren Analysen und Erklärungen legiti‐
mieren oder kritisieren die Sozialwissenschaften Optionen gesell‐
schaftlichen Wandels und zeigen Gestaltungsspielräume und Hand‐
lungsoptionen auf.
Genau diese Reflexionsaufgabe im Hinblick auf das Leitbild
nachhaltiger Entwicklung stellt die sozialwissenschaftliche Forschung
jedoch vor wissenschaftstheoretische und forschungspraktische Her‐
ausforderungen. Um diese besser zu verstehen, ist ein Blick in die
Entstehung der Sozialwissenschaften und ihr Selbstverständnis als
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Bianca Baerlocher und Sylvia Kruse
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Forschungsrichtung notwendig. Die Sozialwissenschaften etablierten
sich im ausgehenden 19. Jahrhundert im westlichen Wissenschaftssys‐
tem, indem sie das „Soziale“ als Gegenstandsbereich einer neuen Wis‐
senschaftsrichtung in Abgrenzung zu den Naturwissenschaften iden‐
tifizierten. Das dabei zugrunde gelegte Paradigma „Soziales aus Sozi‐
alem zu erklären“, diente als Denkrahmen, der vorgab unter welcher
Kategorie ein sozialwissenschaftliches Problem zu lösen sei. Die Klas‐
siker der Soziologie gelangten bei der Abgrenzung ihres Gegen‐
standsbereiches zu unterschiedlichen Lösungen. Bei Durkheim ist die
Grundkategorie des Sozialen das Kollektivbewusstsein, bei Weber
steht das soziale Handeln und später bei Luhmann die Kommunikati‐
on im Zentrum (Durkheim 1984; Weber 1984; Luhmann 1997). Den
Klassikern der Soziologie schwebte dabei ein starkes paradigmati‐
sches Programm vor, das auf Einheit der Disziplin abzielte. Indem sie
Sachverhalte auf die Möglichkeit von Sozialität reduzierten, schlossen
sie natürliche Gegebenheiten kategorisch aus (Conrad 1998). Auch in
der nachfolgenden Phase der Etablierung und Ausdifferenzierung
haben sozialwissenschaftliche Disziplinen ihre Anerkennung in der
Abgrenzung von den naturwissenschaftlichen Disziplinen gerade
dadurch gewonnen, dass sie das Soziale als autonomen Realitätsbe‐
reich unabhängig von Natur verstanden (Brand 1998; Groß 2006; Groß
2001; Kropp 2002; Zierhofer/Baerlocher/Burger 2008). Dies gilt insbe‐
sondere für die Soziologie, aber auch für andere sozialwissenschaftli‐
che Disziplinen, wie die Politikwissenschaften oder die Ökonomie. So
galt und gilt zum Teil noch heute Natur, verstanden als dualistisches
Gegenüber der Gesellschaft, als blinder Fleck der Sozialwissenschaf‐
ten.
Natur und Gesellschaft werden also nicht nur in den Natur‐
wissenschaften, sondern auch in den im Verlauf des 19. Jahrhunderts
entstehenden Sozialwissenschaften als erkenntnistheoretisch und me‐
thodologisch unterscheidbare Wissensobjekte gefasst. Demnach wä‐
ren die Gesetzmässigkeiten der Natur Gegenstand der naturwissen‐
schaftlichen Erkenntnis; gesellschaftliche Entwicklung und die gesell‐
schaftliche Verfasstheit menschlichen Handelns beträfen den Er‐
kenntnisbereich der Sozialwissenschaften. Dynamische und wechsel‐
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Natur in den Sozialwissenschaften – Eine Einleitung
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wirksame Verhältnisse von Gesellschaft und Natur können aus dieser
Sichtweise allerdings kaum erfasst werden. Die starke Selbstbezüg‐
lichkeit der wissenschaftlichen Disziplinen kann zudem die interdis‐
ziplinäre Zusammenarbeit zwischen Sozialwissenschaften und Na‐
turwissenschaften erschweren (Scheffer/Schmidt 2009: 295).
Vor dem Hintergrund gravierender Umweltprobleme wurde
in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vielen sozialwissen‐
schaftlich Forschenden deutlich, dass die Fähigkeit der Reflexion über
Natur innerhalb der soziologischen Tradition nach Durkheim und
Weber eingeschränkt bleibt. Das klassisch soziologische bzw. sozial‐
wissenschaftliche Paradigma konnte die ökologische Krise nicht mehr
angemessen erfassen. Von diesem Konsens ausgehend entwickelten
sich verschiedene Richtungen einer sozialwissenschaftlichen Umwelt‐
und Nachhaltigkeitsforschung.
2. Konzeptualisierungen von Natur und Gesellschaft
Will die sozialwissenschaftliche Umweltforschung ihrer Reflexions‐
aufgabe nachkommen und Spielräume und Handlungsorientierung in
Bezug auf das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft aufzeigen,
so ist eine zentrale Herausforderung, Natur theoretisch und empirisch
in den Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften zu integrieren.
In Bezug auf die beschriebene Ausgangslage sozialwissenschaftlicher
Disziplinen, stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von Natur und
Gesellschaft beschrieben werden kann.
Catton und Dunlap (1980) zählen sich zu den ersten Umwelt‐
soziologen und propagierten bereits vor über dreissig Jahren die
Aufweichung des klassischen soziologischen Paradigmas, indem sie
eine Wende zu einem „New ecological paradigm“ forderten. Sie stell‐
ten die Möglichkeit zur Diskussion, dass auch natürliche Phänomene
zur Erklärung sozialer Phänomene herangezogen werden könnten.
Sie haben damit den Anstoss zu einer Reflexion des Verhältnisses von
Natur und Gesellschaft in Bezug auf dessen wissenschaftliche Bear‐
beitung im Rahmen des gültigen soziologischen Paradigmas gegeben.
Seitdem sind eine Reihe von Vorschlägen gemacht worden, die im
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Bianca Baerlocher und Sylvia Kruse
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Kontext dieser Forderung stehen. Naturalistische Erklärungen des
Verhältnisses von Natur und Gesellschaft, d. h. dass Naturgesetze
soziale Prozesse determinieren würden, wurde bereits von den Klas‐
sikern der Soziologie abgelehnt und sind auch heute noch wenig
brauchbar. Auch die Ansicht, dass Menschen uneingeschränkt in die
Natur eingreifen können und absolute Autonomie über sie besitzen,
so wie es die Vorstellung in der Moderne war, lässt sich nicht auf‐
rechterhalten. Seit Mitte der 1980er Jahre wird die ökologische Krise
zum Anlass genommen sich soziologisch mit den Nebenfolgen von
Umweltveränderungen zu befassen. Zu den prominentesten Schriften
gehören Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ (1986) und Niklas Luh‐
manns „Ökologische Kommunikation“ (1986). Nicht zuletzt das Leit‐
bild nachhaltiger Entwicklung legt nahe, dass gesellschaftliche Ent‐
wicklung nicht mehr unabhängig von natürlichen Ressourcen gesehen
werden kann. Auch andere Autorinnen und Autoren der Sozialwis‐
senschaften greifen das Argument auf, dass Natur und Gesellschaft
nicht unabhängig voneinander gedacht werden können. Die Ansätze
in diesem Diskurs variieren von systemtheoretischen (z. B. gesell‐
schaftlicher Metabolismus) bis handlungstheoretischen Perspektiven
(z. B. Akteur‐Netzwerk‐Theorie, Action‐Setting‐Theorie, ökologische
Regime, Reflexive Moderne). Alle diese theoretischen Ausarbeitungen
stehen vor der Aufgabe, die Integration von Natur vor dem klassi‐
schen Paradigma der Sozialwissenschaften zu vollziehen oder es zu
verwerfen. Sowohl naturalistische als auch soziozentristische Heran‐
gehensweisen an das Natur‐Gesellschafts‐Verhältnis beinhalten Re‐
duktionismen (vgl. Kropp 2002: 137 ff.). Während in naturalistischen
Konzeptionen die kulturellen, sozialen und politischen Vermittlungen
von Umweltproblemen ausgeblendet werden und auch die Wirkun‐
gen von Natur auf Gesellschaft weitgehend unberücksichtigt bleiben,
erhalten gesellschaftliche Prozesse in den soziozentristischen bzw.
konstruktivistischen Perspektiven kaum Anbindung an natürlich‐
materielle Bedingungen (ausser bei Luhmanns systemtheoretischer
Perspektive). Auch der Zusammenhang von materiellen und diskur‐
siven Bedeutungen wird in dieser zweiten Perspektive systematisch
übersehen und dem Sozialen eine hohe Eigenständigkeit zugewiesen.
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Natur in den Sozialwissenschaften – Eine Einleitung
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Weder die eine noch die andere Seite vermag natürliche Gegebenhei‐
ten befriedigend zu integrieren.
3. Zum Inhalt
Die hier aufgeworfene Problematik wird in den folgenden Beiträgen
von den Autorinnen und Autoren aus verschiedenen sozialwissen‐
schaftlichen Blickwinkeln sowohl theoretisch‐konzeptuell als auch
anhand von empirischen Fallstudien aufgegriffen. Der erste Teil des
Sammelbandes befasst sich mit Ansätzen zur Regulation der Wech‐
selbeziehung zwischen Natur und Gesellschaft auf der Makro‐ und
Mesoebene. Im zweiten Teil werden die Akteure und ihre Gestal‐
tungsmöglichkeiten in Bezug auf Natur diskutiert.
Teil 1: Perspektiven auf die Regulation von Natur und Gesell-schaft
Im Rahmen sozial‐ökologischer Forschung wurde das sich regulie‐
rende, dialektische Wechselspiel von Natur und Gesellschaft unter
der Begrifflichkeit „gesellschaftlicher Naturverhältnisse“ erfasst. Das
Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse ist allgemein gefasst
und kann auf verschiedene Weise für die Theoriebildung und für die
Empirie konkretisiert werden (Becker/Jahn 2006). Die Beiträge des
ersten Teils dieses Sammelbandes greifen das Konzept der gesell‐
schaftlichen Naturverhältnisse auf, wobei eine Konkretisierung des
Konzeptes über den Begriff der Regulation vorgenommen wird. Im
gängigen Verständnis in den Sozialwissenschaften beschreibt der Be‐
griff der Regulation intendierte Steuerungs‐ und Gestaltungsprozesse
von Akteuren. Damit können soziale Prozesse und Dynamiken ange‐
sprochen sein, so z. B. ein Gesetz zur Schulpflicht. Die gesellschaftli‐
chen Intentionen können sich jedoch auch auf natürliche Phänomene
beziehen, indem z. B. Flussläufe korrigiert werden oder die Verwen‐
dung von Holz durch ein Forstgesetz reguliert wird. Alle genannten
Beispiele lassen sich im Rahmen des klassischen soziologischen Para‐
digmas erfassen. Ein erweiterter Regulationsbegriff bezieht darüber
hinaus neben den intendierten auch unintendierte Prozesse ein, so
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Bianca Baerlocher und Sylvia Kruse
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dass auch natürliche Phänomene Einfluss auf gesellschaftliche Ent‐
scheidungsprozesse haben und unintendierte natürliche Prozesse
Gesellschaft strukturieren können.
Der erste Beitrag dieses Sammelbandes von Cedric Janowicz
versucht dahingehend eine erste Antwort zu geben, in dem der Autor
das Konzept der Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse und
seine Bedeutung für die Umweltsoziologie ins Zentrum seiner theore‐
tischen Überlegungen stellt. Ausgehend von dem Dilemma der um‐
weltsoziologischen Theoriebildung zwischen Naturalismus und
Kulturalismus bzw. Sozialkonstruktivismus sieht er das Konzept der
gesellschaftlichen Naturverhältnisse als Lösungsansatz für die um‐
weltsoziologische Theoriebildung, die der „Entmaterialisierung“ ent‐
gegenzuwirken versucht. Für das Verhältnis von Gesellschaft und
Natur wird angenommen, dass dieses in Form eines dynamischen
Beziehungsmusters reguliert wird.
Das Konzept der Regulation gesellschaftlicher Naturverhält‐
nisse wird in den nächsten beiden Beiträgen für die institutionelle
Ebene konkretisiert. Thomas Barth fokussiert auf politische Regulati‐
onsmechanismen gesellschaftlicher Naturverhältnisse auf makro‐
struktureller Ebene. Seine These ist, dass es trotz umfassender um‐
weltpolitischer Regulierungen zu sich verschärfenden Problemlagen
im Umweltbereich kommt. Diese Ausgangslage analysiert er mit Hilfe
einer kritischen Staatstheorie nach Offe und Habermas, um Umwelt‐
politik und deren genuine Aufgabe des Schutzes der Umwelt kritisch
zu hinterfragen. Dabei diskutiert er drei Thesen, nämlich: 1. Der Staat
hat ein spezifisches Interesse an der Behandlung von Umweltproble‐
men; 2. Die staatliche Bearbeitung von Umweltproblemen ist struktu‐
rellen Einschränkungen unterworfen; 3. Krisenmanagement wird vor
die Ergründung der Ursachen der Krise gestellt.
Klassischerweise werden institutionelle Regulationsweisen in
Bezug auf Ressourcennutzungen in den Rechtswissenschaften und
Politikwissenschaften vor allem mit eigentumsrechtlichen Fragen ver‐
knüpft. In diesem Sinne versteht Karsten Gäbler Eigentum als eine der
Schlüsselformen der Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse.
Er entwickelt eine eigentumstheoretische Betrachtung entlang der
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Natur in den Sozialwissenschaften – Eine Einleitung
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Frage, wie gesellschaftliche Naturverhältnisse durch Eigentumsord‐
nungen reguliert werden können. Am Bespiel der Gemeingutdebatte
diskutiert er, welche Gestaltungsspielräume im Hinblick auf Eigen‐
tum und Natur vorhanden sind.
Abgerundet werden diese konzeptuellen Überlegungen mit
einem Beitrag, der den Fokus auf die politischen Regulationsmöglich‐
keiten von Mobilität richtet. Henrike Rau diskutiert das „neue Mobili‐
tätsparadigma“ John Urrys im Hinblick auf die Frage nach Möglich‐
keiten der politischen Regulierung von Mobilität und deren Bedeu‐
tung für die Wechselbeziehung von Gesellschaft und Natur. Im Mit‐
telpunkt ihrer Untersuchung steht die Diskussion um politische Ein‐
flussnahme durch national‐staatliche Institutionen, nicht‐staatliche
und zivilgesellschaftliche Akteure.
Teil 2: Gesellschaftliche Naturverständnisse von Akteuren
Der zweite Teil des Sammelbands befasst sich mit der Wahrnehmung
von Natur und den kategorischen Zuordnungen von Natur und Ge‐
sellschaft, wobei die individuelle Akteursebene und die Möglichkei‐
ten der Gestaltung des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft in
den Vordergrund gestellt werden. Im ersten Beitrag dieses Abschnit‐
tes analysiert Patrick Masius den politischen und wissenschaftlichen
Diskurs nach dem Rheinhochwasser 1882/83. An diesem Beispiel aus
dem Deutschen Kaiserreich wird deutlich, dass schon damals natürli‐
che und anthropogene Ursachen für extreme Überschwemmungser‐
eignisse gegenüber gestellt wurden und je nach Akteursgruppe unter‐
schiedliche Schlussfolgerungen für den Umgang mit Hochwasser ge‐
zogen wurden. Der Autor zeigt zudem auf, wie stark die Debatten,
die über den Umgang mit Natur ausgetragen wurden, wissenschaftli‐
che Argumentationen von politischen Interessen durchzogen waren.
Dass diese kategorischen Zuteilungen im Verhältnis Natur
und Gesellschaft auch heute noch aktuell sind, demonstriert Birgit
Peuker am Beispiel der Agrar‐Gentechnikdebatte. Sie argumentiert
dafür, das jeweilige Naturverständnis um die Perspektive der Gesell‐
schaft zu erweitern, weil bestimmte Naturverhältnisse nicht losgelöst
von einer Konzeption von Gesellschaft zu verstehen sind. Am Beispiel
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Bianca Baerlocher und Sylvia Kruse
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der Agrar‐Gentechnikdebatte untersucht sie, welche Auffassungen
unterschiedliche soziale Akteure über das Verhältnis zwischen Natur
und Gesellschaft besitzen und durch welche Besonderheiten sich
diesbezüglich Akteure aus der Umweltbewegung auszeichnen.
In einem ähnlichen Kontext verortet sich der Beitrag von Da‐
niela Gottschlich und Tanja Mölders. Die Autorinnen gehen davon aus,
dass die ökologische Krise auch eine Krise des Politischen ist und dis‐
kutieren die Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Naturver‐
hältnisse in Richtung Nachhaltigkeit. Ihre Arbeitshypothese lautet,
dass eine nachhaltige Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse
der Reflexion bzw. der Reformulierung von Natur‐, Ökonomie und
Politikverständnissen bedarf. Dies wird an den Politikfeldern Ländli‐
che Entwicklung und Agro‐Gentechnik erläutert.
Ein weiteres Fallbeispiel, wie individuelle Akteure mit Natur
umgehen, analysiert Jana Flemming in ihrem Beitrag. Die Autorin un‐
tersucht soziale Konflikte um Natur im Untersuchungsgebiet
Schorfheide‐Chorin, indem sie auf Ursachen von Konflikten, deren
Funktionen und deren Wahrnehmung durch die verschiedenen Ak‐
teure fokussiert. Ihr Ausgangspunkt ist die These, dass in Konflikt‐
handlungen häufig materielle Motive in den Vordergrund gestellt
werden und die nicht weniger wichtigen symbolisch‐kulturellen As‐
pekte der Gestaltung von gesellschaftlichen Naturverhältnissen ver‐
deckt bleiben. Insofern legt die Autorin den Fokus ihrer theoretischen
Überlegungen und empirischen Forschung auf die nicht‐materiellen
Prämissen von Konflikten zwischen Naturschutz und Landwirtschaft.
Teil 3: Ein Plädoyer zum Schluss
Die Beiträge des Sammelbandes spiegeln einen Ausschnitt über die
Möglichkeiten, das Verhältnis von Natur und Gesellschaft, die Regu‐
lationsweisen von Gesellschaften und die Gestaltungsmöglichkeiten
einzelner Akteure in den Sozialwissenschaften zu erfassen. Die ein‐
gangs erwähnten paradigmatischen und methodologischen Heraus‐
forderungen zur Analyse dieser Wechselbeziehungen greift Christina
Katz in ihrem Schlussplädoyer wieder auf. Mit ihrem Essay nimmt die
Autorin einen Streifzug durch die Wissenschaftstheorie vor und fragt
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Natur in den Sozialwissenschaften – Eine Einleitung
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sich: Wie können Umwelt, nachhaltige Entwicklung und Natur zum
Untersuchungsgegenstand der sozialwissenschaftlichen Forschung in
Theorie und Praxis werden? Mit dem Bild eines wissenschaftstheore‐
tischen „Hindernisparcours“ entwirft sie vier Plädoyers, in denen sie
die forschungspraktischen Implikationen von integrativen Konzepten
zur wissenschaftlichen Bearbeitung von Mensch‐Natur‐Verhältnissen
beschreibt.
4. Danksagung
Der Sammelband ist das Produkt einer Tagung der Nachwuchsgrup‐
pe Umweltsoziologie mit dem Titel „Natur und Gesellschaft – Gestal‐
tung und Regulation der Gesellschafts‐Natur‐Beziehung“, die im
März 2009 an der Universität Basel stattgefunden hat. In den Beiträ‐
gen führen die Autorinnen und Autoren ihre Vorträge weiter aus.
An dieser Stelle danken wir ganz ausdrücklich den Autorin‐
nen und Autoren für ihr Engagement auf der Tagung und im an‐
schliessenden Schreib‐ und Reviewprozess, ebenso wie den Kommen‐
tatorinnen und Kommentatoren für ihre konstruktive Kritik und ihren
Beitrag zum Gelingen des Sammelbandes. Insbesondere in Veröffent‐
lichungen, an denen Autorinnen und Autoren verschiedener Diszipli‐
nen beteiligt sind, ist es nicht trivial sowohl eine gemeinsame und
allgemeinverständliche Sprache zu finden als auch theoretische Bezü‐
ge zu formulieren, die zur Verständlichkeit und Anknüpfungsfähig‐
keit der hier diskutierten Ideen sowohl in der eigenen Subdisziplin als
auch im interdisziplinären Dialog beitragen.
Darüber hinaus danken wir Marcel Diel für sein sorgfältiges
Lektorat und Emily Schultz für die Umsetzung des Layouts. Für fi‐
nanzielle Unterstützung für Druck, Layout und Lektorat des Buches
danken wir der Edition gesowip, der Sektion Umweltsoziologie der
Deutschen Gesellschaft für Soziologie, dem Programm Nachhaltig‐
keitsforschung der Universität Basel und der Forschungseinheit Wirt‐
schafts‐ und Sozialwissenschaften der Eidgenössischen Forschungs‐
anstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL).
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Bianca Baerlocher und Sylvia Kruse
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5. Literaturverzeichnis
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Taschenbuch Verlag.
Becker, Egon/Jahn, Thomas. (Hrsg.) (2006): Soziale Ökologie. Grund‐
züge einer Wissenschaft von den gesellschaftlichen Naturver‐
hältnissen Frankfurt am Main: Campus Verlag.
Brand, Karl‐Werner (Hrsg.)(1998): Soziologie und Natur. Theoretische
Perspektiven. Opladen: Leske & Budrich.
Catton, William R./Dunlap, Riley E. (1980): A new ecological para‐
digm for post‐exuberant sociology. In: American Behavioral
Scientist, 24, 15‐47.
Conrad, Jobst (1998): Umweltsoziologie und das soziologische
Grundparadigma. In: Brand, Karl‐Werner (Hrsg.): Soziologie
und Natur. Theoretische Perspektiven. Opladen: Leske &
Budrich, 33‐52.
Durkheim, Emile (1984): Die Regeln der soziologischen Methode.
Neuwied: Hermann Luchterhand Verlag.
Groß, Matthias (2001): Die Natur der Gesellschaft. Eine Geschichte der
Umweltsoziologie. Weinheim: Juventa Verlag.
Groß, Matthias (2006): Natur. Bielefeld: transcript Verlag.
Kropp, Cordula (2002): „Natur“: soziologische Konzepte, politische
Konsequenzen. Opladen: Leske + Budrich.
Luhmann, Niklas (1986): Ökologische Kommunikation. Kann die mo‐
derne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstel‐
len? Opladen: Westdeutscher Verlag.
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt
am Main: Suhrkamp Verlag.Ostrom, Elinor (1990): Governing
the commons. The evolution of institutions for collective ac‐
tion. Cambridge: Cambridge University press.
Scheffer, Thomas/Schmidt, Robert (2009): Soziologie als modus
operandi. Wie interdisziplinaritätsfähig ist die Soziologie? So‐
ziologie, Jg. 38/3, 291‐306.
Weber, Max (1984): Soziologische Grundbegriffe. Tübingen: J. C. B.
Mohr.
Page 18
Natur in den Sozialwissenschaften – Eine Einleitung
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Zierhofer, Wolfgang/Baerlocher, Bianca/Burger, Paul (2008): Ökologi‐
sche Regimes. Konzeptionelle Grundlagen zur Integration
physischer Sachverhalte in die sozialwissenschaftliche For‐
schung. Berichte zur dt. Landeskunde, 82, 135‐150.
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Teil 1: Perspektiven auf die Regulation von Natur und Gesellschaft
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Das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse und seine Bedeutung für die Umweltsoziologie
Cedric Janowicz
1. Einführung
Auf dem 34. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der
2008 in Jena stattfand, veranstaltete die Sektion ‚Soziale Ungleichheit
und Sozialstrukturanalyse’ eine Sitzung mit dem Titel ‚Jenseits von
Stand und Klasse? 25 Jahre Individualisierungsthese’. Unter den An‐
wesenden befand sich auch Ulrich Beck, und nachdem alle Beiträge
präsentiert worden waren, glaubte ich aus seinem Kommentar eine
gewisse Bestürzung herauszuhören – eine Bestürzung darüber, dass
nach 25 Jahren Debatten um die Individualisierungsthese immer noch
die alten Diskussionen, durchsetzt von den immer gleichen Missver‐
ständnissen, geführt wurden.
Ökologische Krisenerscheinungen werfen nun seit Längerem
schwerwiegende Fragen für die soziologische Theoriebildung auf,
und auch hier bewies Ulrich Beck in ganz ähnlicher Weise wie im
Bereich der Ungleichheitssoziologie in seiner „Risikogesellschaft“
(1986) diagnostische Weitsicht, als er die Konsequenzen der
anthropogen verursachten Zersetzung der natürlichen Lebensgrund‐
lagen für die Gesellschaftstheorie auf die griffige Formel brachte: „Na‐
tur kann nicht mehr ohne Gesellschaft, Gesellschaft kann nicht mehr
ohne Natur begriffen werden.“ (Beck 1986: 107)
Hätte die Umweltsoziologie eine ähnliche Veranstaltung mit
dem Thema ‚25 Jahre Risikogesellschaft: Was bleibt?’ durchgeführt,
die Betroffenheit wäre bei ihm aller Voraussicht nach nicht geringer
ausgefallen. Denn für die Umweltsoziologie scheint in besonderem
Maße jene Diagnose stimmig, die Armin Nassehi für die Soziologie
insgesamt traf, wenn er konstatiert, dass „das Fach sich […] kommod
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Cedric Janowicz
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eingerichtet [hat] in Paradigmata, die ihre polemogene gegenseitige
Aufmerksamkeit inzwischen durch eine Art friedliche Koexistenz mit
recht stabilen Demarkationslinien ersetzt haben“ (Nassehi 2006: 64).
So sind auch die Lager der Umweltsoziologie zunächst recht über‐
schaubar: Auf der einen Seite befinden sich jene, die oftmals im An‐
schluss an den Versuch einer naturalistischen Fundierung der Um‐
weltsoziologie durch William Catton und Riley Dunlap (1979) eine
Neuorientierung des Faches einfordern, indem gegenüber ‚herkömm‐
lichen’ Theorien darauf beharrt wird, dass der Mensch nur eine Spezi‐
es unter anderen sei und dass seine zugegebenermaßen hohe Anpas‐
sungs‐ und Lernfähigkeit dennoch nicht darüber hinwegtäuschen
könne, dass seine Lebensgrundlage physische und biologische Gren‐
zen aufweise, deren Zerstörung zwangsläufig auch seine eigene Ver‐
nichtung impliziere. Im Wesentlichen wurde versucht, die Soziologie
zu ökologisieren, indem zentrale Ergebnisse und Methoden ökologi‐
scher Forschung auf Gesellschaften übertragen wurden (vgl. Wehling
1989).
Auf der anderen Seite gibt es jene, die in jeder Aussage über
ökologische Prozesse bloß einen weiteren Diskurs zu erkennen glau‐
ben und hartnäckig eine Trennung von Zeichen und außersprachli‐
cher Referenz verteidigen. Sie sehen im Naturbegriff vor allem die
soziale Projektion gesellschaftlicher Verhältnisse und fragen nach de‐
ren ‚grammatischen’ Konstruktionsregeln. Im Rahmen einer ganzen
Reihe von begriffsgeschichtlichen Arbeiten konnten beeindruckend
die Wandlungen und Differenzen in den Vorstellungen, Mythen und
Interpretationen von ‚Natur’ nachgezeichnet werden (vgl. Merchant
1987; Heiland 1992; Soper 1995; Kropp 2002): Was der Konstruktivis‐
mus in das „Säurebad seiner Kritik taucht, verliert sein prätendiertes
Sosein und erweist sich als Zusammengesetztes, als Konstrukt, als
Gewordenes“ (Sarasin 2009: 416).
Dieses Oszillieren umweltsoziologischer Auseinandersetzung
zwischen Natur‐ und Kulturdeterminismus und der beiden damit
verbundenen „philosophical undead“ (Rouse 2002) Realismus und
Idealismus mag vielen als ein ‚alter Hut’ erscheinen – dennoch ist
mein Eindruck, dass die meisten umweltsoziologischen Debatten im
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Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse
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Kern nach wie vor um diese unfruchtbare Auseinandersetzung krei‐
sen. Genau an dieser Stelle setzt die Soziale Ökologie an, die man in‐
nerhalb der Umweltsoziologie einem dritten Lager zuschlagen könn‐
te, das oftmals als ‚vermittlungstheoretische’ (vgl. Kropp 2002; Krae‐
mer 2008) Position bezeichnet wird. Diese dritte Möglichkeit der theo‐
retischen Konzeptualisierung des Verhältnisses von Natur und Ge‐
sellschaft einzunehmen bedeutet, die jeweiligen Kurzschlüsse und
Blockaden der skizzierten Herangehensweisen zu überwinden. Die
zentrale Schwierigkeit eines solchen Unterfangens besteht nun aller‐
dings darin, ein Verständnis von ‚Natur’ zu entfalten, das auf der ei‐
nen Seite die nicht abzustreitende Kontextabhängigkeit derselben
berücksichtigt, auf der anderen Seite an deren extra‐diskursiver Be‐
deutung und Wirkmächtigkeit im Sinne eines nie vollkommen in
Sprachspielen aufgehenden Restes festhält (vgl. Žižek 1996); denn nur
unter diesen Bedingungen macht letztlich die Rede von den Wechsel‐
wirkungen zwischen sozialen und ökologischen Dynamiken meines
Erachtens erst Sinn. Oder anders ausgedrückt: Die zentrale Schwie‐
rigkeit besteht darin, stofflich‐materielle Zusammenhänge soziolo‐
gisch nicht einfach als Black Box zu behandeln, sondern sie sozialwis‐
senschaftlichen Interpretationen zugänglich zu machen und gleichzei‐
tig die konkreten stofflich‐materiellen Auswirkungen in ihren Rück‐
wirkungen auf gesellschaftliche Zusammenhänge nicht auszublenden.
In einem solchen Verständnis erscheinen Repräsentiertes und
Repräsentierendes als zwei Seiten derselben Medaille, sodass in den
„Konstruktionsprozess nicht nur soziale und kognititve/diskursive
Elemente mit ein[fließen], sondern ebenso materielle“ (Peuker/Voss
2006: 15). Und in diesem Sinne sollte sich die Umweltsoziologie auch
nicht von einem Nachdenken über Materialität verabschieden, indem
sie sich im Rahmen einer vermeintlich unumgänglichen fachdiszipli‐
nären Beschränkung lediglich „auf die soziale Dimension der gesell‐
schaftlichen Umweltnutzung“ (Kraemer 2008: 145) beschränkt.
Im Folgenden soll die Soziale Ökologie und das damit ver‐
bundene Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse als eine
theoretische Variante vorgestellt werden, die dezidiert gegen eine
umweltsoziologische Theoriebildung im Sinne einer „sociology as if
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Cedric Janowicz
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nature did not matter“ (Murphy 1995) plädiert. In einem ersten Schritt
sollen kurz die theoretischen Blockaden aktueller Debatten skizziert
werden, vor deren Hintergrund in einem zweiten Schritt die Konturen
einer Sozialen Ökologie deutlich gemacht werden. In einem dritten
und letzten Schritt wird mit Bezugnahme auf aktuelle Rezeptionen
klassisch pragmatistischer Strömungen ein sozial‐ökologischer Vor‐
schlag zur integrierten Betrachtung von kulturell‐symbolischen und
materiell‐stofflichen Elementen bei der Analyse ökologischer Krisen‐
erscheinungen entworfen.
2. Theoretische Blockaden
Zweifelsohne sind die ersten beiden oben skizzierten Positionen in
ihrer Ausschließlichkeit ein wenig überzeichnet, denn bei einer ent‐
sprechenden Diskussion mit den einzelnen Vertreterinnen und Ver‐
tretern würde kein Sozialkonstruktivist behaupten, dass Umweltprob‐
leme nicht ‚wirklich’ sind, oder ein Realist den Einfluss kultureller
Einflüsse auf die Wahrnehmung von Natur bestreiten (vgl. Groß
2006: 100). Beiden Positionen ist allerdings gemein, dass sie partiell
richtige und wichtige Einsichten absolut setzen und in der Folge auch
mit schwerwiegenden Defiziten behaftet sind: Während die erste Va‐
riante ohne Zweifel zu Recht auf die natürlichen Lebensgrundlagen
von Gesellschaften verweist, erscheint der naive epistemologische
Realismus (im Sinne der Annahme eines direkten Zugangs zur ‚Wirk‐
lichkeit‐an‐sich’) und der oftmals damit verbundene naturalistische
Imperativ in Gestalt der Annahme eines (natur)wissenschaftlich be‐
stimmbaren Umgangs von Gesellschaften mit ihren natürlichen
Grundlagen weitestgehend blind für die Besonderheiten der kulturell
geprägten und vermittelten gesellschaftlichen Naturverhältnisse. So‐
ziozentrische Ansätze verweisen wiederum auf den Anteil gesell‐
schaftlicher Konstruktionsleitungen von Natur, indem sie auf die
prinzipielle Unmöglichkeit einer von semiotischen ‚Verunreinigun‐
gen’ gesäuberten und unverzerrten Erkenntnis einer als außergesell‐
schaftlich gedachten Natur pochen. Was bei einer solchen Reduktion
von Natur auf ihre semiotische Erzeugung und einer damit einherge‐
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henden Ausblendung stofflich‐materieller Aspekte verloren geht, ist
die Möglichkeit einer dezidierten Bearbeitung und Bewältigung öko‐
logischer Krisenphänomene, da letztlich im Rahmen ideologiekriti‐
scher Anmerkungen allenfalls auf die differenten Naturverständnisse
unterschiedlicher, miteinander im Widerstreit stehender Akteure
verwiesen werden kann, die realen Konsequenzen historisch‐situierter
Aneignungsstrategien als Folge dieser Auseinandersetzungen in ihren
stofflich‐materiellen Rückwirkungen auf Gesellschaften aber theore‐
tisch nicht erfasst werden können.
In beiden Fällen werden in der Analyse ökologischer Krisen‐
erscheinungen Reduktionismen deutlich, indem entweder die
Vorgängigkeit der Natur oder der Gesellschaft postuliert wird; in der
ersten Variante haben Krisenphänomene objektive Eigenschaften, die
in der Natur der Dinge liegen. Ausgeblendet wird dabei die Prägkraft
gesellschaftlicher Kontexte, denn die natürlichen Prozesse erscheinen
so stark, dass sie ihrerseits gesellschaftliche Verhältnisse überformen.
Für die zweite Position weist der Konstitutionspfeil geradewegs in die
andere Richtung, also vom Gesellschafts‐ zum Naturpol: Ökologische
Krisenerscheinungen sind keine ‚objektiven’ Naturgegebenheiten,
sondern, wie Bruno Latour es in seiner Kritik am Konstruktivismus
einprägsam formuliert hat, „sie bilden nur die Leinwand, auf die die
Gesellschaft ihren Film projiziert“ (Latour 1995: 74). So ist die ‚Natur’
entweder zu stark oder zu schwach: Entweder sie ist so stark, dass sie
gesellschaftliche Prozesse kraft ihrer ‚Materialität’ determiniert und
dadurch Gesellschaften selber schwach und immateriell erscheinen
lässt, oder sie ist so schwach, dass ihre inneren Eigenschaften nicht
zählen, sondern sie lediglich den formlosen Gegenstand gesellschaft‐
licher Kategorien bilden.
Erhebt die Umweltsoziologie dagegen den Anspruch, prak‐
tisch verändernd im Sinne einer nachhaltigeren Gestaltung des Natur‐
Gesellschafts‐Verhältnisses in die Welt einzugreifen, muss meines
Erachtens für die Umweltsoziologie die Frage weniger „Verschwindet
die Natur?“ (Voss/Peuker 2006) lauten als vielmehr „Wie bringt man
die materielle Welt zurück ins Bild?“ (Greif 2002: 28), oder stärker
wissenschaftstheoretisch formuliert: Kann man vom epistemologischen
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Cedric Janowicz
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Standpunkt aus Antirealist sein, also die Unhintergehbarkeit der Ein‐
sicht akzeptieren, dass wissenschaftliche Fakten immer schon sozial
konstruiert sind, und ontologisch Realist sein, also anerkennen, dass es
mithin Dinge gibt, die auch unabhängig von Sprache und Bedeutung
bestehen?
3. Soziale Ökologie und das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse
Die oben gestellte Frage beantwortet die Soziale Ökologie mit ‚Ja, man
kann!’. Es gibt niemals nur einen Weg, dieses schwierige Verhältnis
von Natur und Gesellschaft theoretisch zu konzeptualisieren, aber die
Soziale Ökologie, wie sie am Institut für sozial‐ökologische Forschung
in Frankfurt verstanden wird (vgl. Becker/Jahn 2006), ist der Weg, der
im Folgenden vorgestellt wird. Die Soziale Ökologie entzieht sich den
beiden oben skizzierten Alternativen und setzt gegen das ausschlie‐
ßende Entweder‐oder ein komplementäres Sowohl‐als‐auch.
In der allgemeinsten Form geht es bei der Sozialen Ökologie
um die Beschreibung der Wechselbeziehungen zwischen gesellschaft‐
lichen und natürlichen Prozessen und der komplexen Dynamiken, die
sich aus diesen Verflechtungen ergeben können (vgl. Be‐
cker/Jahn/Hummel 2006: 189). Damit wird der Einsicht Rechnung
getragen, dass ökologische Krisen nur als sozial‐ökologische Krisen‐
phänomene angemessen theoretisiert und verstanden werden können,
sie sich also weder als Vergesellschaftung der Natur noch als Natura‐
lisierung der Gesellschaft begreifen lassen. Durch Formen der doppel‐
seitigen Kritik an naturalistischen und soziozentrischen Positionen
wird ein neuer Denkraum eröffnet, der es erlaubt, einen produktiven
Ausweg aus den Blockaden und Lähmungen aktueller Debatten zu
beschreiten, indem sowohl neue Möglichkeiten der Theoretisierung
als auch der Gestaltung sichtbar gemacht werden.
Zentraler Ausgangspunkt der Sozialen Ökologie ist die An‐
nahme, dass alle sozialen Systeme für eine erfolgreiche Entwicklungs‐
und Reproduktionsfähigkeit ihr Verhältnis zur Natur auf verschiede‐
nen Ebenen regulieren müssen. In diesem Bemühen gehen sie unwei‐
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gerlich das ein, was man als gesellschaftliche Naturverhältnisse be‐
zeichnen kann. Auf der abstraktesten Ebene sind damit „Formen und
Praktiken gemeint, in und mit denen Gesellschaften ihr Verhältnis zur
Natur stofflich regulieren und kulturell zu symbolisieren versuchen“
(Becker/Jahn/Hummel 2006: 193). Im Zentrum einer adäquaten sozio‐
logischen Analyse muss aus dieser Sicht ein Begriff von Gesellschaft
stehen, der weder die natürlichen Bedingungen ihrer Existenz leug‐
net, noch zu einem unhistorischen und substantialistischen Begriff der
Natur zurückkehrt und damit weiterhin einen Dualismus zweier
vermeintlich unabhängiger Bereiche reproduziert (vgl. Görg 2003: 26).
Damit führt das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse das
„Sein wieder dem Werden zu“ (Sarasin 2009: 416), indem es diese als
sich vor dem Hintergrund ihrer historischen Gewachsenheit auf einen
offenen Horizont zubewegend begreift und es gleichzeitig der Über‐
zeugung ist, dass man Zusammenhänge erhellt, in denen diskursive
und außer‐diskursive Elemente in nicht‐kontingenter Weise miteinan‐
der interagieren.
Vor diesem Hintergrund lauten die zentralen umweltsoziologi‐
schen Fragen, die mit dem Konzept adressiert werden sollen: Welchen
Einfluss haben materielle Prozesse und natürliche Gegebenheiten auf
die Entwicklung von Gesellschaften? Wie lassen sich weiterhin diese
Einflüsse theoretisch konzeptualisieren und empirisch erfassen? Aber
auch die umgekehrte Richtung ist von entscheidender Bedeutung:
Wie verändern Gesellschaften ihrerseits das ökologische Gefüge, in
dem bestimmte Naturbilder symbolisch und kulturell in Handlungs‐
zusammenhänge eingelassen sind?
Der Begriff der ‚gesellschaftlichen Naturverhältnisse’ signali‐
siert, dass im Gegensatz beispielsweise zu Bruno Latours Netzwerk‐
theorie an der grundsätzlichen Differenz dieser beiden Bereiche fest‐
gehalten wird. Auch wenn das gesellschaftliche Unterscheidungs‐
vermögen im Zuge der ökologischen Krise abgenommen hat, wird an
der grundsätzlichen Einsicht festgehalten, dass Natur mehr ist als nur
eine soziale Konstruktion und dass gesellschaftliche Prozesse eigene,
mit natürlichen Prozessen nicht identische Organisationsformen auf‐
weisen. Eine solche Position ist letztlich auch insofern konsequent, als
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dass Vermittlungsbeziehungen nur zwischen unterscheidbaren Ele‐
menten untersucht werden können. Somit geht es auf theoretischer
Ebene nicht so sehr um eine „Überbrückung von materieller und sozi‐
aler Welt“ (Heidenreich 2004: 33), sondern eher um die Frage, wie die
Differenz von materieller und sozialer Welt als Verhältnis zu denken
ist, ohne das eine auf das andere zu reduzieren.
Im Anschluss an diese ersten Überlegungen der Kritischen
Theorie versucht nun das Konzept der gesellschaftlichen Naturver‐
hältnisse die Aporien naturalistischer und soziozentrischer Ansätze in
eine produktive Form zu bringen, indem sie die alte Ontologie der
Substanzen durch eine Ontologie der Relationen ersetzt (Becker/Jahn
2006: 71). Damit ist gemeint, dass Gesellschaft und Natur innerhalb
einer Vermittlungsbeziehung stehen, die letztlich nach keiner Seite
hin aufgelöst werden kann. Vielmehr handelt es sich um einen wech‐
selseitigen Verweisungszusammenhang, in dem das, was unter ‚Na‐
tur‘ verstanden wird, von dem Gesellschaftsbegriff abhängt und um‐
gekehrt. Somit werden ‚Natur‘ und ‚Gesellschaft‘ nicht als qualitativ
unterschiedliche Realitätsbereiche ontologisch verstanden, sondern
als methodisch unterscheidbare Wissensobjekte; die Unterscheidung
ist daher theorie‐ und beobachtungsabhängig, also mithin abhängig
von den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Formen der Wahr‐
nehmung und Bearbeitung und liegt nicht in ‚der Natur der Sache‘
selbst. Untersuchungsgegenstand sind daher vermittelnde Strukturen
zwischen Gesellschaft und Natur, anhand derer die vielfältigen Be‐
ziehungsmuster konkret dargestellt und untersucht werden können.
In dieser Bedeutung bezeichnet das Adjektiv ‚sozial‐ökologisch’ kei‐
nen eigenständigen, ontologischen Gegenstandsbereich, sondern
vielmehr einen Verknüpfungstyp. Ein solches Denken in Verhältnissen
zieht auch wichtige methodologische Konsequenzen nach sich: Es
wird in Relationen statt in Substanzen gedacht, es wird stärker auf
Differenz statt auf Identität abgehoben und es werden eher Prozesse
als Strukturen untersucht (vgl. ausführlich Becker/Jahn 2006).
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Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse
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4. Das Verhältnis von Natur und Gesellschaft im Rahmen gesellschaftlicher Naturverhältnisse denken: Experimentelle Interaktivität
In dem Versuch, neben der Charybdis einer radikal‐realistischen Posi‐
tion, die jedweden sozialen Einfluss auf das Zustandekommen (na‐
tur)wissenschaftlicher Ergebnisse negiert, und einer vulgär‐
postmodernen Scylla eines ‚anything goes’ eine dritte Alternative zu
offerieren, die in gewisser Weise, wenn nicht ‚wahres’, so doch ‚robus‐
tes’ Wissen zu liefern vermag, haben in jüngster Zeit eine ganze Reihe
von Autoren eine Neurezeption pragmatistischer Positionen vorge‐
schlagen (vgl. Rammert 1999; Strübing 2005). Gemeinhin wird in der
Literatur eine Unterscheidung gezogen zwischen den Vertretern des
klassischen Pragmatismus, zu dem Autoren wie John Dewey, Charles
S. Peirce oder William James, aber auch Herbert Mead gerechnet wer‐
den, und den Neopragmatisten, unter denen sich Denker wie Hilary
Putnam, Richard Rorty oder Donald Davidson befinden (vgl. Nagl
1998; Rorty 1994). Das für den vorliegenden Zusammenhang ent‐
scheidende Charakteristikum der pragmatischen Strömung ist meines
Erachtens, dass bei allen Unterschieden in den einzelnen Positionen
an die Stelle der realistischen Haltung eines ungebrochenen Repräsen‐
tationsmodells oder der konstruktivistischen Konzeption des Verhält‐
nisses von Geist und Natur die praktische Involviertheit des tätigen Sub‐
jekts tritt. Der ‚Clou’ der neueren Wissenschafts‐ und Technikfor‐
schung besteht dabei vor allem darin, Materialität im Sinne einer
‚wirklicheren Wirklichkeit’ zu deontologisieren, ohne die Einsicht in
ihre Nicht‐Identität mit sozialen Prozessen einer relativistischen Posi‐
tion zu opfern.
Wie ich im Folgenden zeigen möchte, ergibt sich aus der
Kombination klassischer Elemente pragmatischer Strömungen und
neuerer wissenschaftstheoretischer Ansätze, die gemeinhin unter dem
Label „postconstructivist trends“ (Lynch 1993: 107) zusammengefasst
werden, eine Position, die auf eine sozialtheoretisch überzeugende
Weise die alte Debatte zwischen Konstruktivismus und Realismus,
wenn nicht endgültig zu lösen, so doch ‚pragmatisch’ zu handhaben
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weiß, indem Problemlagen verschoben werden. Kernüberlegungen
einer solch „pragmatischen Wende“ (Rorty 1986: 168) ist die Forde‐
rung, „die Vorstellung fallen (zu) lassen, wonach die Erkenntnis da‐
rauf aus ist, die Realität zu repräsentieren. Statt dessen sollten wir die
Forschung als eine Art Nutzbarmachung der Realität betrachten.“
(Rorty 1994: 24) Auch wenn innerhalb der klassischen und der neue‐
ren pragmatistischen Strömungen, wie in jedem anderen geisteswis‐
senschaftlichen Paradigma auch, signifikante Unterschiede auszuma‐
chen sind, lässt sich eine übergreifende Gemeinsamkeit darin finden,
dass sie alle erklärte „Antidualisten“ (ebd.: 37) und damit in einem
besonderem Maße anschlussfähig an die sozial‐ökologische Theorie‐
bildung sind. Denn das Ziel der sozial‐ökologi¬schen Forschung ist es
nicht, unerschütterlich wahres Wissen zu produzieren, sondern Wis‐
sensinhalte in Bezug auf konkrete Problemlagen zu generieren, die es
ermöglichen, praktisch verändernd in die Welt einzugreifen (vgl. Be‐
cker/Jahn 2006: 114). Diese wichtige Perspektive einer sozial‐
ökologischen Zugangsweise impliziert damit eine wichtige Annahme
zu ihrem Welt‐ und Realitätsbezug: Zwar gibt es kein Wissen von
‚unabhängig gegebenen’ Objekten, denn dieses ist immer beobachter‐
abhängig; das heißt aber nicht, dass keine wissensunabhängigen rea‐
len Phänomene existieren (vgl. Wehling 2006: 244)!
Durch den konsequenten Bezug der Forschung auf problema‐
tische Sachverhalte (Problemorientierung) einerseits und auf gesell‐
schaftliche Lösungsmöglichkeiten (Gestaltungsorientierung) anderer‐
seits, müssen sich theoretische Annahmen und Modelle auch in der
‚Wirklichkeit’ bewähren (vgl. Hummel/Kluge 2006: 249). Genau dieses
‚experimentelle’ Erproben von Begrifflichkeiten und Modellen ist ge‐
meint, wenn Charles Sanders Peirce mit Verweis auf das Bibelwort
„Denn an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ (Matthäus 7,16) die
Bewährbarkeit als Überprüfungskriterium ihres realen Bedeutungs‐
gehalts vorschlägt. Auf einer erkenntnistheoretischen Ebene wird
damit gewonnen, dass der Schwerpunkt von epistemologischen Aus‐
einandersetzungen nun nicht mehr um die schwierige Frage der Mög‐
lichkeitsbedingungen der Wirklichkeitserkenntnis kreist, sondern das
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Hauptaugenmerk vielmehr auf die Möglichkeiten und pragmatischen
Weisen menschlicher Wirklichkeitsveränderungen gelegt wird.
Hierbei handelt es sich ebenso wenig um eine utilitaristische
wie eine empiristische oder relativistische Position. Im Pragmatismus
wird keine subjektfreie und objektive Beziehung zu den Dingen pro‐
pagiert, im Rahmen derer nun doch wieder die Natur aus den Expe‐
rimenten als vermittlungslos Gegebenes zu sprechen beginnt. Das
wird deutlich, wenn man den vor allem bei James Dewey zentralen
Begriff der ‚Erfahrung’ in seiner Erkenntnisfunktion genauer betrach‐
tet. Dewey gewinnt seinen Erfahrungsbegriff dezidiert aus einer Aus‐
einandersetzung sowohl mit der Tradition der Antike als auch mit der
cartesischen Dualität von Leib und Seele (vgl. Dewey 1989: 123 ff.,
1995). Dabei sollte der Deweysche Begriff der Erfahrung nicht als rein
‚subjektives Erlebnis’ aufgefasst werden. Vielmehr hält sein Begriff
der Erfahrung die objektive und die subjektive Seite zusammen, ist,
wie er unter Rückgriff auf William James schreibt, als ein ‚doppelläu‐
figes’ Wort zu verstehen:
„Erfahrung bezeichnet das gepflanzte Feld, die gesäten Saa‐
ten, die eingebrachte Ernte, den Wechsel von Tag und Nacht, Frühling
und Herbst, feucht und trocken, Hitze und Kälte, die beobachtet, ge‐
fürchtet, ersehnt werden; Erfahrung bezeichnet auch den, der pflanzt
und erntet, der arbeitet und genießt, hofft, fürchtet, plant, Magie oder
Chemie zur Hilfe nimmt.“ (Dewey 1995: 25)
Der Sinn der angesprochenen ‚Doppelläufigkeit’ besteht also
in ihrer antidualistischen Stoßrichtung und richtet sich gegen die
Trennung von Subjekt und Objekt, von Handlung und Material, an
deren Stelle eine relationierende Sichtweise tritt. Erfahrung wird eben
nicht als passive, sensualistische Operation, sondern im Rahmen einer
wechselseitigen Interaktivität als aktive Konstituierung von Wirklich‐
keit konzipiert (vgl. Rammert 1999: 285), man könnte auch sagen: im
Rahmen gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Erfahrung ist eben nicht
nur Erfahrung von der Natur, sondern immer auch Erfahrung in der
Natur, da sie immer auch die Reaktionen eines menschlichen Orga‐
nismus auf die ihn umgebende Umwelt im Kontext gesellschaftlicher,
kultureller und sozialer Bedingungen darstellt.
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Pragmatistische Positionen erfahren Natur also nicht als Substanz,
sondern als „Set von Ereignissen“ (Rammert 1999: 285), die sich da‐
durch charakterisieren lassen, dass sie einer historischen Wandelbar‐
keit unterworfen sind, da sie je nach Kontext auch unterschiedlich
‚erfahren’ werden und dennoch nicht relativistisch zu interpretieren
sind:
Auch wenn es kein eigentliches Sosein der Welt und auch
wenn es nichts von der Art eines ‚inneren Wesens der Reali‐
tät’ gibt, dann gibt es dennoch kausale Zwänge. Diese Zwän‐
ge werden zwar zu verschiedenen Zeiten und zu verschiede‐
nen Zwecken unterschiedlich beschrieben, doch das ändert
nichts daran, dass es Zwänge sind. (Rorty 1994: 23)
Gleichzeitig sind diese Wahrnehmungen und die damit verbundenen
Erfahrungen aber auch das wichtigste Erkenntnisinstrument, das dem
Menschen zur Verfügung steht. Sowohl der Aspekt der Zwänge als
‚Widerstandsfähigkeit’ von Natur als auch der der Erfahrung als Er‐
kenntnisinstrument sind wichtige Elemente einer transdisziplinär
ausgerichteten Sozialen Ökologie.
Die ‚Objekte’, von denen hier die Rede ist, sind auch nicht zu
verwechseln mit den Objekten einer modernistischen Wissenschafts‐
auffassung: Während letzteren ihre Funktion als epistemische Objekte
aus einer konsequent betriebenen Dekontextualisierung erwächst,
erfüllen erstere diese Funktion als Objekte des situierten Alltagshan‐
delns. Die Annahme eines Wirkungszusammenhangs zwischen
menschlichen und nicht‐menschlichen Elementen kommt weiterhin in
dem der Sozialen Ökologie sehr vertrauten Begriff der ‚Wechselwir‐
kung’ zum Tragen. Wie James geht auch Dewey von einem engen
Verhältnis von biologischer Konstitution, menschlichem Handeln und
Umwelt aus. Erfahrung ist damit auch nicht nur schlicht und einfach
ein Erfahren von Natur, sondern als unaufhebbarer Teil der Natur
beinhaltet die menschliche Erfahrung auch ein Reagieren des Orga‐
nismus auf seine Umwelt, wie das folgende, etwas ausführlichere
Zitat deutlich macht:
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Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse
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Die Feststellung, dass Menschsein immer In‐der‐Welt‐sein
bedeutet, heißt, dass der Mensch in einer Reihe von Situatio‐
nen lebt. Und wenn wir feststellen, dass der Mensch ‚in’ die‐
sen Situationen lebt, dann ist hier die Bedeutung des Wortes
‚in’ verschieden von seiner Bedeutung etwa in der Aussage,
dass Pfennige ‚in’ einer Tasche sind oder Farbe ‚in’ einer Dose
ist. Es bedeutet, dass eine Wechselwirkung zwischen einem
Individuum und seiner Umgebung stattfindet … Die Umwelt
ist, mit anderen Worten, das Insgesamte der Bedingungen, die
mit persönlichen Bedürfnissen, Wünschen, Zwecken und Fä‐
higkeiten in Wechselwirkung stehen, um die jeweilige Erfah‐
rung entstehen zu lassen. (Dewey 1974: 265)
Die in diesem Zusammenhang von Dewey verwendete Rede von der
‚Anpassung’ eines Organismus darf aber nicht im Sinne einer deter‐
ministischen Wirkungskette missgedeutet werden. So verweist bei‐
spielsweise Joas in seiner Interpretation pragmatischer Positionen
darauf, dass es sich bei dieser Anpassung stets um eine kreative An‐
passungsleistung von Akteuren handelt; entgegen einer deterministi‐
schen Interpretation, die in der pragmatischen Praxisphilosophie le‐
diglich eine Philosophie der Anpassung sehen will, ist die Lösung
potentiell problematischer oder schwieriger Situationen nicht eindeu‐
tig und objektiv durch das Problem vorgegeben (vgl. Joas 1992: 10 ff.;
auch Joas 1996). Dewey selbst wendet sich explizit (vgl. Dewey
1998: 10) gegen die Annahme einer linear‐kausalistischen Verkürzung
des Verhältnisses von natürlichen und gesellschaftlichen Elementen
und denkt diese im Rahmen seines Funktionskreises ganz ähnlich wie
die Soziale Ökologie in Rückkopplungen.
In der Konsequenz bedeutet dies die Annahme ‚realer’ Ge‐
genstände, die Konstruktionsleistungen in ihrer Widerständigkeit
Grenzen setzen und zugleich „kontingenten Konstruktionsaktivitäten“
(Wehling 2006: 217) unterliegen: Weder ist Materialität „wholly ‚out
there’“ noch ist sie „wholly constructed out of thin air“ (Lynch 2003:
223) – das sind die tragenden Konstruktionspfeiler einer
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pragmatistisch interpretierten Sozialen Ökologie. Die Wechselwir‐
kung zwischen Sozialität und Materialität, die sich in der alltäglichen
wie wissenschaftlichen Erfahrung vereint, hat Pickering mit dem an‐
schaulichen Bild eines „dance of agency“ (Pickering 1995: 21) zu erfas‐
sen versucht, innerhalb dessen sich die Interaktionsstrukturen der
Subjekte und die Widerständigkeiten der Objekte mit der Folge von
„relative durabilities“ (Law/Mol 1995: 280) einander anpassen. Damit
fallen Erfahrung und Erkenntnis, auf je unterschiedlichem Niveau,
aus pragmatischer Sicht zusammen. Im Rahmen der alltäglichen Le‐
bensführung dient die Erfahrung der Widerständigkeit einer Justie‐
rung von Strategien zur praktischen Bewältigung der Lebenswirk‐
lichkeit und sollte daher nicht „als Routine und Verlust der Subjekti‐
vität verstanden werden“, sondern als „praktische Innovation, kreati‐
ve Lösung realer Probleme“ (Joas 1992: 102). Eine solche Sichtweise
hat freilich zur Folge, dass wissenschaftliche Arbeit nicht als praxis‐
ferne Kontemplation, sondern als wissenschaftliche Praxis verstanden
werden muss, in der die uralte Frage nach der Korrespondenz zwi‐
schen Erkenntnis und Gegenstand in den Vorgang der „‚prakti‐
sche(n)’ Herstellung und Stabilisierung einer Kette von Repräsentati‐
onen“ (Wehling 2006: 238) übersetzt wird. Damit kann die ‚Realität’
sowohl alltäglicher und wissenschaftlicher Erfahrungen als auch sozi‐
al‐ökologischer Problemlagen als „intertwining … between material
and human agency“ (Pickering 1995: 15) interpretiert werden.
5. Soziale Ökologie – eine praktische Wissenschaft
Auch wenn Jared Diamond an vielen Stellen andere Wege geht als die
Soziale Ökologie, so ist sein Ausgangspunkt demjenigen der Sozialen
Ökologie doch recht ähnlich. Er geht davon aus, dass Menschen, wol‐
len sie ihre Grundbedürfnisse befriedigen und überleben, sich Natur
aneignen müssen und dass „die nachhaltige Bewirtschaftung der na‐
türlichen Ressourcen … immer schwierig“ (Diamond 2005: 23,
Hervorh. i. O.) war und bleiben wird. Um die daraus resultierenden
komplexen Beziehungen von Menschen bzw. einzelner gesellschaftli‐
cher Teilbereiche zu ihren jeweiligen natürlichen und gesellschaftli‐
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Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse
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chen Umwelten zu untersuchen, verwendet die Soziale Ökologie die
Begriffe Regulation, Transformation und Adaptivität. Ich habe an
anderer Stelle ausführlich deutlich gemacht, welcher ‚Mehrwert’ einer
so verstandenen sozial‐ökologischen Perspektive bei der Analyse
konkreter Problemlagen erzielt werden kann (vgl. Janowicz 2008). Im
Rahmen dieses Aufsatzes habe ich argumentiert, dass hinsichtlich
umweltsoziologischer Theoriebildung der wegweisende Beitrag der Sozia‐
len Ökologie in der Beantwortung der zentralen Frage liegt, wie auf
eine theoretisch angemessene Weise der zu beob¬achtenden Tendenz
der Entmaterialisierung soziologischer Theoriebildung entgegengetre‐
ten werden kann.
Der Begriff der Regulation nimmt seinen Ausgangspunkt in
den Grundbedürfnissen menschlicher Existenz. Auch wenn der Be‐
griff des ‚Bedürfnisses‘ alles andere als unumstritten ist, so existieren
bestimmte, bis zu einem gewissen Grad anthropologisch vorgegebene
Bedürfnisse, die Gesellschaften ‚erfolgreich‘ regulieren müssen, damit
ihr integrativer Fortbestand gewährleistet ist: beispielsweise die Be‐
reitstellung von ausreichend Nahrung und Wasser, die Regulierung
der Fortpflanzung. Die konkrete Regulation dieser ‚natürlichen‘ Be‐
dürfnisse ist selbstredend hochgradig von gesellschaftlichen Normen
und Machtstrukturen abhängig: Nahrungsaufnahme und Wasser sind
stark kulturell präformiert, Fortpflanzung ist im Rahmen der Ge‐
schlechterverhältnisse hochgradig symbolisch aufgeladen. Die Orga‐
nisation solch basaler gesellschaftlicher Naturverhältnisse erfolgt
dann auf der Makro‐Ebene im Rahmen sog. Regulationsordnungen
(kapitalistische Produktionsweise, Geschlechterverhältnisse), die, ähn‐
lich wie das Giddenssche Konzept der Strukturierung, spezifische
Formen von Regulationsmustern ermöglichen und begrenzen. Des
Weiteren verweisen sie stets auf den materiell‐symbolischen Doppel‐
charakter gesellschaftlicher Naturverhältnisse.
Der Begriff der ‚Regulation‘ eröffnet im Anschluss an, aber
auch im Gegensatz zu der ökonomischen Regulationstheorie ein adä‐
quateres Verständnis gesellschaftlicher Naturverhältnisse und weist
drei charakteristische Merkmale auf (vgl. Jahn/Wehling 1998: 87): Ge‐
sellschaftliche Naturverhältnisse werden nicht von einem zentralen
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Akteur reguliert, sondern durch das Aufeinandertreffen einer Vielzahl
heterogener und konfliktträchtiger Praktiken; damit wird die histori‐
sche Variabilität der Regulationsformen betont; weiterhin verweist
der Begriff der Regulation auf die Differenz von symbolischer Kon‐
struktion und materieller Basis und fokussiert explizit auf deren Zu‐
sammenhang.
Die Veränderungen solcher Regulationsordnungen bzw. da‐
zugehöriger Regulationsmuster in der Zeit lassen sich nun als sozial‐
ökologische Transformationen beschreiben. Die wissenschaftliche
Problematik sozial‐ökologischer Forschung besteht folglich darin,
diese Veränderungen als eine spezifische Wechselwirkung natürlicher
und gesellschaftlicher Elemente zu formulieren: Durch Regulations‐
ordnungen wird ‚Natur‘ von Gesellschaften symbolisch und materiell
‚angeeignet‘ und damit verändert, gleichzeitig ist diese ‚Natur‘ aber
nicht passiv, sondern wirkt auf die Gesellschaft zurück und setzt sie
einem Veränderungsdruck aus.
Regulationsordnungen sind so in gewisser Weise mit gesell‐
schaftlichen Institutionen vergleichbar, denn beide haben ihren Ur‐
sprung in der Bereitstellung von zeitstabilen Lösungsmustern für ge‐
sellschaftlich relevante und dauerhaft sich stellende Probleme. Und
ebenso wie institutionelle Arrangements können diese materiell‐
symbolischen Regulierungen gesellschaftlicher Naturverhältnisse in
die Krise geraten und im schlimmsten Fall misslingen. Krisenhafte
Nebenfolgen bestimmter Regulierungen können zeitlich und räumlich
erst sehr viel später zutage treten. Die dynamischen Beziehungsmus‐
ter zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Natürlichen als reguliert
zu betrachten, bedeutet, dass ihr Verhältnis durch das Zusammen‐
spiel von sozialen, kulturellen und ökologischen Wirkungszusam‐
menhängen geprägt wird. Ein solches Verständnis impliziert nicht,
dass derartige Regulationen das intendierte Ergebnis zielgerichteter
Handlungen einzelner Akteure darstellen, wohl aber, dass Gesell‐
schaften bzw. soziale Gruppierungen in der Befriedigung ihrer
Grundbedürfnisse ihr Verhältnis zur Natur regulieren müssen und in
diesem Zusammenhang historisch situierte gesellschaftliche Natur‐
verhältnisse etablieren. Das Konzept der Regulation beinhaltet damit
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Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse
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wesentlich die Annahme, dass Beziehungsmuster untersucht werden
müssen und nicht isolierbare Einzelphänomene sowie dass es sich
dabei um hybride Verflechtungen handelt. Regulationen können aber
auch fehlschlagen bzw. problematische Entwicklungen verursachen,
wobei als ‚problematisch’ gilt, wenn sich die Beziehungsmuster so
verändern, dass entweder irreversible ökologische Schäden auftreten
und/oder die Reproduktion und Entwicklungsfähigkeit gesellschaftli‐
cher Zusammenhänge gefährdet sind (vgl. Hummel/Kluge 2006:
248 f.). Der Begriff der Transformation wiederum verweist darauf,
dass Regulationsformen selbst in geschichtliche Dynamiken einge‐
bunden sind und diese sowohl prägen als auch von ihnen geprägt
werden. Transformationen verweisen damit auf die historischen Ein‐
bettungen gesellschaftlicher Naturverhältnisse und implizieren das
Verständnis des „Gewordenseins des Gegenwärtigen“ (Klu‐
ge/Hummel 2006: 260). Bei dem Begriff der Adaptivität schließlich
handelt es sich meines Erachtens weder um eine verkappte
Biologisierung gesellschaftlicher Prozesse noch sozialwissenschaftli‐
cher Theoriebildung. Vielmehr gilt es auch gerade für Sozialwissen‐
schaftlerinnen und Sozialwissenschaftler, von lieb gewonnenen
Selbstverständlichkeiten und identitätsstiftenden Reflexbewegungen,
wie bei dem Wort ‚Anpassung’ sofort zusammenzuzucken, Abstand
zu nehmen – vielleicht hilft es auch, anstelle des Begriffs der
Adaptivität das im angloamerikanischen Wissenschaftsbetrieb ge‐
bräuchlichere ‚resilience’, das man mit ‚Robustheit’ übersetzen könn‐
te, zu gebrauchen (vgl. Folke et al. 2005). Robustheit lässt sich dabei
definieren als „the capacity of a system to absorb disturbance and
reorganize while undergoing change so as to still retain essentially the
same function, structure, identity, and feedbacks“ (ebd.: 443). Somit
geht es auch nicht um die Anpassung von ganzen Gesellschaften als
von bestimmten funktionalen Teilbereichen.
Das Leitbild einer so verstandenen Anpassung ist das der
Nachhaltigkeit. Es ist der Versuch, trotz aller kritischen Distanz zu
den prometheischen Versprechen der Moderne und dem damit ver‐
bundenen technokratischen Steuerungsoptimismus an der Vorstel‐
lung der Gestaltbarkeit von gesellschaftlichen Naturverhältnissen und
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Cedric Janowicz
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damit an der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis festzuhalten,
die im philosophischen Verständnis des Pragmatismus ‚wahr’ ist und
deren Leitstern die Deweysche Frage bildet: „Führt sie zu Schlussfol‐
gerungen, die dann, wenn sie auf die gewöhnliche Lebenserfahrung
und ihre Probleme zurückbezogen werden, diese bedeutsamer, erhel‐
lender und unseren Umgang mit ihnen fruchtbringender machen?“
(Dewey 1995: 24) Entscheidend ist dabei die Annahme, dass die Er‐
zeugung eines solchen Handlungswissens die Erzeugung von Sys‐
temwissen voraussetzt: „Planvoll gestaltendes und steuerndes Ein‐
greifen im Kontext nachhaltiger Entwicklung erfordert ein Verständ‐
nis der komplexen Wirkungszusammenhänge zwischen ökologischen,
sozialen und ökonomischen Prozessen.“ (Keil/Hummel 2006: 244)
Adaptivität vereint somit eine analytische und eine normative Seite,
die sich beide wechselseitig bedingen: In analytischer Hinsicht geht es
um die Identifikation kritischer Verzweigungspunkte von Entwick‐
lungen, an denen sie in krisenhafte Entwicklungen übergegangen sind
bzw. übergehen können. Die normative Seite von Adaptivität äußert
sich darin, dass es nicht um die deterministische Anpassung von Ge‐
sellschaften an natürlich vorgegebene Zwänge geht. Stattdessen geht
es immer um gesellschaftlich gefilterte Prozessbeurteilungen und ‐
entscheidungen, die nicht nur das ‚Wohin’ vorgeben, sondern auch
das ‚Auf welchem Weg’. Eine Einschätzung kritischer Übergänge
kann somit nur vor dem Hintergrund des Konzepts der Nachhaltig‐
keit erfolgen. Adaptivität umfasst damit stets beides, die Analyse und
die Bewertung alternativer Entwicklungspfade.
Eng damit verbunden ist auch eine Absage an all jene Positio‐
nen, die daran festhalten, dass „Wissenschaft selbst … frei von Praxis“
(Ipsen 2006: 163) sei. Soziale Ökologie vollzieht sich als Forschung
durch ihre Problembezüge und durch die Bindung an Normen der
Nachhaltigkeit in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten, die
Probleme vordefinieren. Wer wie die Soziale Ökologie an der Gestalt‐
barkeit von gesellschaftlichen Naturverhältnissen festhält, wirft un‐
weigerlich die normative Frage nach den Kriterien dieser Gestaltung
auf. In gewisser Weise scheint es damit so zu sein, dass die Soziale
Ökologie einer Utopie anhängt, der Utopie einer nachhaltigeren Welt.
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Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse
39
Aber diese Utopie erfüllt nicht die Funktion einer Entwertung der
Gegenwart zugunsten einer fernen Zukunft, sondern versteht sich als
eine Utopie im Sinne Cavells, der in solchen Utopien ein wesentliches
Mittel gegen Zynismus und Resignation sieht (Cavell 2004). In einem
solchen Sinne dient sie nicht dem Fortschritt als solchem, sondern
überhaupt erst der Möglichkeit des Fortschreitens (vgl. Hampe
2006: 40). Sie liefert die Folie, die Forscherinnen und Forscher in ihren
Bemühungen vorantreiben. In diesem Sinne plädiert die Soziale Öko‐
logie entschieden gegen die erwähnte Einschätzung von Wissenschaft
als praxisfreier Tätigkeit. Ganz im Gegenteil: Wissenschaft ist eine
Erkenntnisleistung, die einen praktischen Unterschied im Leben der
Menschen ausmachen sollte.
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Ökologische Krise und Krisenmanagement
Die Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse im demokratisch-kapitalistischen Staat
Thomas Barth
1. Einleitung
Ein Blick auf die gegenwärtige Situation der gesellschaftlichen Um‐
welt, der besonders die Auseinandersetzungen um und die politi‐
schen Reaktionen auf die dahingehenden Problemdiagnosen einbe‐
zieht, ergibt ein eigentümliches Bild: Zwar wurden seit der breiten
Thematisierung der ökologischen Krise seit Ende der 1960er Jahre bis
heute unzählige umweltpolitische Maßnahmen, Regulierungen und
Programme verabschiedet, Vereinbarungen getroffen und Institutio‐
nen gegründet. Dem steht jedoch v. a. im globalen Maßstab eine wei‐
tere Zuspitzung der Umweltsituation gegenüber. Angefangen bei der
drohenden Klimakatastrophe über die zu erwartenden Wasser‐,
Biodiversitäts‐ und Landverbrauchskrisen bis hin zum Abfallproblem
und näher rückenden Ressourcenengpässen verdichten sich die Be‐
obachtungen zum Gesamtbild einer ökologischen Krise.
Ich gehe im Folgenden von der Annahme aus, dass mit der
Herangehensweise einer kritischen Staatstheorie – die v. a. auf frühe
Arbeiten von Claus Offe und Jürgen Habermas sowie die Regulations‐
theorie zurückgreift – ein klarerer Blick auf die Frage danach möglich
wird, wie es zu dieser Eigentümlichkeit von umfassenden umweltpo‐
litischen Regulierungen und trotzdem sich verschärfenden Problem‐
lagen kommt. Aus einer solchen Perspektive wird die Selbstbeschrei‐
bung des Feldes hinterfragt, die da lautet, die genuine Aufgabe der
Umweltpolitik sei der Schutz der Umwelt. Erst wenn diese Selbstbe‐
gründung in Frage gestellt wird, lassen sich wesentliche Aspekte klä‐
ren, die ich in Form von drei Thesen bearbeiten will: Die erste These
Page 47
Thomas Barth
46
lautet, dass der Staat ein spezifisches Interesse an der Behandlung der
Umweltproblematik hat. Jedoch ist zweitens die Form der staatlichen
Problembearbeitung strukturellen Beschränkungen unterworfen, die
drittens eine Bearbeitung der Ursachen der ökologischen Krise ver‐
unmöglichen. Was sich stattdessen vollzieht, ist ein Krisenmanage‐
ment, welches die Krise und ihre Behandlung auf Dauer stellt.
Wenn ich im Folgenden aus einer Perspektive der politischen
Soziologie von der Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse
spreche, beziehe ich mich auf die staatliche Umweltpolitik der Bun‐
desrepublik Deutschland. Mit dieser Fokussierung des politisch‐
administrativen Bereiches – also dem des Governments – klammere ich
alltagsweltliche und individuelle Umwelterfahrungen und
‐bezüge weitgehend aus und bewege mich auf einer eher makrostruk‐
turellen Ebene. (I) Zunächst will ich im Anschluss an vorhandene Kri‐
sentheorien diskutieren, inwiefern es sinnvoll ist, nicht nur von öko‐
logischen Problemen, sondern einer Krise gesellschaftlicher Natur‐
verhältnisse zu sprechen. (II) Daran schließt sich die konkrete Be‐
stimmung des ‚Krisenmanagers’ moderner westlicher Gesellschaften
wie der Bundesrepublik an: des demokratisch‐kapitalistischen Staates.
(III) Dieser ist charakterisiert durch eine ganz bestimmte, aus seinen
Strukturproblemen resultierende Bearbeitungsform der ökologischen
Krise als staatliche Umweltpolitik.
2. Gesellschaftliche Naturverhältnisse und ökologische Krise
Gegenwärtig ist es, der umfassenden Wirtschaftskrise sei es gedankt,
wieder en vogue, von Krisen zu sprechen. Der ursprünglich medizini‐
schen Wortbedeutung nach wird mit Krise „die akute Phase eines
Krankheitsverlaufes bezeichnet, wo über Heilung, Tod oder Aufschub
entschieden wird“ (Lipietz 1986: 712). Auf soziologische Fragestellun‐
gen übertragen, lautet die daraus folgende Konsequenz, dass gesell‐
schaftlichen Akteuren deutlich wird: Man kann „nicht mehr in der
alten Weise weitermachen“ (ebd. 713). In diesem Sinne wurde in der
soziologischen Diskussion v. a. in den 1970er Jahren von verschiede‐
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Ökologische Krise und Krisenmanagement
47
nen gesellschaftlichen Krisen gesprochen, z. B. von ökonomischer
Krise, Rationalitätskrise, Legitimationskrise und Motivationskrise
(Habermas 1973). Im Zentrum steht dabei u. a. die Überlegung, dass
gesellschaftliche Krisen „Prozesse bezeichnen, in denen die Struktur
eines Systems in Frage gestellt wird“ (Offe 1973: 198). Mit solch einem
prozessualen Krisenverständnis wird zweierlei impliziert: zum einen
die Überlegung, dass es sich stets um die Identifikation von Krisen‐
tendenzen handelt, und zum anderen, dass der Ausgang von Krisen
nicht vollständig determiniert, sondern offen ist (ebd.: 199). Mit dem
ersten Punkt wird differenziert zwischen tatsächlich eintretenden Kri‐
sen und den strukturell erzeugten Krisentendenzen, womit der empiri‐
sche Analysefokus1 auf die Suche nach Bedingungen gerichtet wird,
unter denen „mögliche Krisentendenzen tatsächlich eintreten und sich
durchsetzen“ (Habermas 1973: 50). Mit dem zweiten Punkt wird be‐
tont, dass es bei Krisenverläufen auf die sozialen Kämpfe zwischen
Akteuren ankommt, die um „einen Ausgang aus der Krise [ringen],
der jedoch nie genau der angestrebte ist“ (Lipietz 1998: 40). Damit
wird neben den strukturell angelegten Krisentendenzen auch die
Akteursperspektive nicht vernachlässigt, die v. a. bei der Krisenbear‐
beitung von Bedeutung ist. Bei der Analyse von kriseninduzierenden
Prozessen konzentriert man sich demnach nicht nur auf punktuelle
Ereignisse, sondern nimmt die systemimmanenten Mechanismen in
den Blick, welche derartige Ereignisse generieren (Offe 1973: 199). Die
Wahl einer derartigen Analyseebene zielt darauf ab, aus einer gege‐
benen Gesellschaftsstruktur sowohl die auftretenden Krisen als auch
die Potentiale zur Krisenbewältigung herzuleiten.
Unter diesen theoretischen Voraussetzungen macht es einen –
auch analytischen – Unterschied, ob von einer Krise gesellschaftlicher
Naturverhältnisse bzw. einer ökologischen Krise gesprochen wird
oder ‚lediglich’ von ökologischen Problemen. Denn zusammenfassend
wird mit der Wahl des Krisenbegriffes der Blick auf a) systemimma‐
nente Ursachen der Krisentendenzen gerichtet und damit b) nach sys‐
1 Auf diesem und der damit verbundenen Frage liegt in diesem Aufsatz jedoch
nicht das Hauptaugenmerk.
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Thomas Barth
48
tematischen Zusammenhängen zwischen einer Gesellschaftsstruktur
und ihren ökologischen Problemen gefragt sowie c) nach strukturellen
Begrenzungen möglicher Bearbeitungsformen. Aus einer neo‐
marxistischen Perspektive, die auch die oben zitierten Autoren vertre‐
ten, erscheint die Annahme schlüssig, dass für kapitalistische Gesell‐
schaften Krisen nicht vollkommen unvorhersehbare und rein exogene
Ereignisse sind, sondern diese Gesellschaftsformationen ihrem Wesen
nach krisenhaft sind.
Neben theoretischen Gründen gibt es jedoch auch eine fak‐
tisch‐historische Verbindung zwischen den von historisch‐
materialistischen Theoretikerinnen und Theoretikern vor allem in den
Blick genommenen ökonomischen und der hier diskutierten ökologi‐
schen Krise. Denn die gesellschaftsweite Thematisierung der ökologi‐
schen Krise trat nicht zufällig gleichzeitig mit der Krise des Fordismus
in den 1970er Jahren auf. Die ökologische Krise ging dagegen mit der
tief greifenden Krise der fordistischen Vergesellschaftung insgesamt
einher und trug mit dazu bei, „die Widersprüche und immanenten
Grenzen dieser historisch spezifischen Phase kapitalistischer Verge‐
sellschaftung zu artikulieren“ (Görg 2004: 201). Der den Fordismus
kennzeichnende Zusammenhang von standardisierter und ressour‐
cenintensiver Massenproduktion und Massenkonsum war mit einer
extremen Naturausbeutung verbunden. Neben diese materiellen
Merkmale trat auf ideeller Seite der verbreitete „Glaube an einen un‐
endlichen Fortschritt im Sinne des materiellen Warenreichtums, an
die politische Gestaltbarkeit aller gesellschaftlichen Verhältnisse, an
die Wohltaten der technischen Entwicklung, an fortschreitende gesell‐
schaftliche Gleichheit und das Vertrauen in eine staatsbürokratisch
garantierte soziale Sicherheit“ (Hirsch 2005: 120). Nun setzte sich aber
zunehmend das Bewusstsein durch, dass gerade die Institutionen der
Bearbeitung von Legitimationsproblemen, nämlich die erreichten so‐
zialen Sicherheiten und die breite Partizipation am Wohlstand, durch
ihre Koppelung an kontinuierliches Wirtschaftswachstum nur auf‐
grund erheblicher Umweltbelastungen erreicht wurden (vgl.
Demirović 1991: 443 f.). Damit gewann die ökologische Bewegung an
Gewicht, die dieses fordistische Gesellschaftsmodell in Frage stellte.
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Ökologische Krise und Krisenmanagement
49
Die ökologische Kritik verband sich nun mit den verschiedenen Pro‐
testbewegungen, die die zahlreichen Widersprüche dieser konkreten
Gesellschaftsformation thematisierten, wie etwa die Studenten‐, Frau‐
en‐ und Friedensbewegung, was zu einer Krise fordistischer Hege‐
monie insgesamt führte. Zu den ökonomischen Krisentendenzen des
Fordismus (vgl. z. B. Fulcher 2007: 161‐164) trat insofern eine Legiti‐
mationskrise hinzu, sodass, wenn von der ökologischen Krise gespro‐
chen wird, von einer umfassenden gesellschaftlichen Krise gespro‐
chen werden muss. Die Bearbeitung der ökologischen Krise unterliegt
aber auch denselben gesellschaftsstrukturell bedingten Möglichkeiten
und Beschränkungen wie die anderer Krisen.
Auf der damit skizzierten theoretischen Basis kann dann eine
These wie die folgende formuliert werden: „Die gesellschaftlichen
Einrichtungen, die für die Bearbeitung ökologischer Probleme ge‐
schaffen wurden, sind von den allgemeinen Strukturmerkmalen kapi‐
talistischer Vergesellschaftung geprägt und insofern von einer Irratio‐
nalität gekennzeichnet, die die Bearbeitung der Probleme erschwert
und eine Überwindung der Krise verunmöglicht“ (Görg 2003: 39). Ich
schließe im Folgenden an der These Görgs an, werde aber versuchen,
diese „allgemeinen Strukturmerkmale kapitalistischer Vergesellschaf‐
tung“ konkreter zu fassen, indem ich mich auf die staatliche Umwelt‐
politik konzentriere.
Der Staat rückt, wenn von systematisch auftretenden Krisen
gesprochen wird, insofern ins Zentrum der Aufmerksamkeit als sich
die Frage stellt, wie es unter diesen widersprüchlichen und krisenhaf‐
ten Bedingungen zur empirisch zu beobachtenden Stabilität und Kon‐
tinuität in diesen Gesellschaftsformationen kommt. Diese Frage, die
die Kernfrage der Regulationstheorien darstellt (Lipietz 1985: 109),
wird im Rahmen dieser Schule mit der Rolle des Staates beantwortet.
„Dessen vordringliche Aufgabe besteht unter den Bedingungen kapi‐
talistischer Vergesellschaftung darin, jene sozialen Prozeduren und
regulativen Instanzen zu entwickeln, die eine Stabilität der sozialen
Verhältnisse über alle Krisen und Transformationen hinweg garantie‐
ren“ (Hartel 2000: 42). Ich will mich im Folgenden dieser zentralen
Positionsbestimmung des Staates anschließen, weiche jedoch von den
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Thomas Barth
50
regulationstheoretischen Arbeiten insofern ab, als ich eine Staatstheo‐
rie in Anschlag bringe, die sich v. a. an die frühen Arbeiten Claus
Offes anlehnt.
3. Der demokratisch-kapitalistische Staat
Als eine dominierende Sichtweise der umweltpolitischen Entwicklung
kann die der „ökologischen Modernisierung“ gelten, die sowohl auf
einer analytischen als auch politisch‐programmatischen Ebene an‐
setzt. Vertreter dieses Ansatzes begreifen Umweltprobleme als prin‐
zipiell lösbar, sehen als Voraussetzung einer gelingenden Bearbeitung
jedoch eine Staatstätigkeit, welche sich am Anstoßen von Innovatio‐
nen ausrichtet. Von den Vertretern werden allerdings auch die Gren‐
zen der Machbarkeit dieses Konzeptes reflektiert, was sich an zwei
Aspekten festmachen lässt (Jänicke 2000): Zum einen basiert ein sol‐
cher Lösungsweg der ‚modifizierten Weiter‐so‐Modernisierung’ auf
der Vorstellung, technische Innovationen durch marktwirtschaftliche
Prozesse entwickeln und verbreiten zu können. Das bei einer solchen
Fixierung auf Marktsteuerung vorausgesetzte permanente Wirt‐
schaftswachstum hat jedoch die Effizienz‐Erfolge bisher stets in para‐
doxer Weise relativiert. Zum anderen gibt es Kategorien von Um‐
weltproblemen die sich einer technischen Bearbeitung schlichtweg
entziehen. Dazu zählen etwa Flächenverbrauch, Artenschutz und
Atommüll‐Endlagerung. Jänicke folgert daraus, dass es zusätzlich zur
ökologischen Modernisierung eines „ökologischen Strukturwandels“
bedarf, der mit der Wachstums‐Modernisierungs‐Logik bricht. Auch
wenn eine solche Perspektive also die Probleme ernst nimmt und ihre
Grenzen mitdenkt, bleibt sie doch ihrem Standpunkt verhaftet. Denn
als Lösung für die immanenten Beschränkungen des Weges angepass‐
ter Modernisierung wird auch hier die Staatstätigkeit ins Spiel ge‐
bracht, die via „ökologischer Strukturpolitik“ einen solchen funda‐
mentalen Wandel einleiten und gestalten soll.
Ein zentrales Problem derartiger Ansätze ist damit ihr Staats‐
verständnis: Sie scheinen den Staat als ein neutrales Instrument zu
begreifen, welches den Interessen der Mehrheit nach in Dienst gestellt
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Ökologische Krise und Krisenmanagement
51
werden kann. Sie gehen damit weder von einem Eigeninteresse des
Staates aus, noch nehmen sie die strukturelle Privilegierung bestimm‐
ter Interessen in den Blick. Mit dem hier gewählten theoretischen Zu‐
gang kann Staatstätigkeit nicht auf ein neutral und eigenlogisch ope‐
rierendes Institutionensystem reduziert werden. Gleichwohl kann
auch nicht davon gesprochen werden, dass sich im Staat Interessen
unvermittelt durchsetzen und dieser dadurch nur der Agent der Eli‐
ten sei. Insofern diese beiden Aspekte nicht vernachlässigt werden
sollen, könnte man durchaus davon sprechen, dass ich bei der nun
folgenden Anwendung der kritischen Staatstheorie auf ökologische
Fragestellungen eine materialistische mit einer systemtheoretischen
Vorstellung des Politischen verknüpfen will.2 Ich werde im Folgenden
die Theorie des demokratisch‐kapitalistischen Staates skizzieren, in‐
dem ich zunächst a) auf die Aspekte eingehe, die es rechtfertigen,
vom gegenwärtigen Staat als einem kapitalistischen zu sprechen. Da‐
ran anschließend will ich b) die Schwierigkeit andeuten, in einer Wei‐
se vom Staat zu sprechen, die diesen missverständlich als einheitli‐
chen Akteur erscheinen lässt. Danach werde ich c) die demokratischen
Aspekte dieses Staates darstellen.
3.1 Der kapitalistische Staat
Für eine kritische Staatstheorie, wie sie hier zur Anwendung kommt,
ist es kennzeichnend, die politische Verfasstheit der modernen Gesell‐
schaft – den Staat – nicht unabhängig von der kapitalistischen Grund‐
struktur dieser Gesellschaft zu sehen. Also weder das eine – der mo‐
derne Kapitalismus – noch das andere – der liberal‐demokratische
Staat – sind ohne ihr Gegenüber denkbar. Diese Ausgangsüberlegung
lässt sich konkretisieren, indem der Staat in doppelter Hinsicht als
kapitalistischer Staat verstanden wird. Einerseits, weil er allein es ver‐
mag, eine marktförmig organisierte Ökonomie mittels unerlässlicher
institutioneller und infrastruktureller Leistungen – marktfremden
Institutionen – abzusichern. Ein Kapitalismus ohne ein derartiges in‐
stitutionelles Gerüst wäre auf Dauer nicht existenzfähig, da notwen‐
2 Dies gilt so auch für die frühen Arbeiten Claus Offes (2006).
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Thomas Barth
52
dige Voraussetzungen des Kapitalverwertungsprozesses, wie z. B. die
Reproduktion der Arbeitskraft und Vertragssicherheit, nicht profita‐
bel produziert werden können.3 Andererseits ist der Staat ein kapitalis‐
tischer, weil er seine fiskalische Ausstattung aus (Steuer‐)
Ressourcen bestreitet, die in der von ihm erst ermöglichten Wirt‐
schaftsweise produziert werden. Der Staat selbst ist kein Kapitalist
und kann es auch nicht sein (Offe 2006: 137), jedoch liegt es in seinem
Eigeninteresse, den Erfordernissen der Akkumulation nachzukom‐
men, weil seine Bestandsfähigkeit davon abhängt – es für seine Selbst‐
erhaltung notwendig ist.
3.2 Der Staat als Akteur?
Mit den obigen Formulierungen wird z. T. die Vorstellung des Staates
als eines sich selbst bewussten Akteurs nahegelegt, der bestimmte
Zielsetzungen in rationaler Weise verfolgt, was natürlich nicht ernst‐
haft gemeint sein kann. Vielmehr sind diese Äußerungen heuristi‐
scher Natur, da in dieser Weise staatliches Handeln vereinfachend
beschrieben werden kann, jedoch der Blick auf die dieses Bild konsti‐
tuierenden Prozesse gelenkt werden muss. Offe versteht ‚den’ Staat
nicht als „einheitlichen Akteur“, sondern als „ein in zahlreiche und
gegeneinander relativ isolierte Instanzen gegliedertes soziales Sys‐
tem“ (Offe 2006: 142). Das, was dann als staatliches Handeln er‐
scheint, sind die „‚aufsummierten’ Aktivitäten“ dieser verschiedenen
Instanzen, wie z. B. Parlamente, Parteien und Behörden. Indem jede
dieser Instanzen einen bestimmten „Umweltausschnitt“ „aus der Sicht
ihrer organisatorischen Prämissen“ (ebd.) bearbeitet und unter Bedin‐
gungen der Konkurrenz ein Interesse an sich selbst (z. B. über Haus‐
haltszuweisungen) verfolgt, welches sich mit Interessen anderer Ab‐
teilungen widersprechen kann, konstituiert sich „das jeweils ressort‐
3 Vgl. dazu auch Karl Polanyi (1990: 19 f.): „Eine solche Institution [eine sich
selbst regulierende Marktwirtschaft, d. A.] konnte über längere Zeiträume
nicht bestehen, ohne die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft
zu vernichten; sie hätte den Menschen physisch zerstört und seine Umwelt in
eine Wildnis verwandelt.“
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Ökologische Krise und Krisenmanagement
53
oder parteipolitisch gebrochene ‚Interesse des Staates an sich selbst’“
(ebd. 143).
3.3 Der demokratische Staat
Der Staat ist nicht bloßer Vollzug kapitalistischer Interessen, sondern
ein in Wahlen legitimierter Staat, der auch den Forderungen der
Nicht‐Kapitalisten in gewissem Maße entsprechen muss. Denn erst
durch die „Trennung von ‚Staat’ und ‚Gesellschaft’, von ‚Politik’ und
‚Ökonomie’ […], wenn [also] die ökonomische und gesellschaftliche
Macht mit der politischen nicht unmittelbar identisch ist, kann Herr‐
schaft einer demokratischen politischen Kontrolle unterworfen wer‐
den“ (Hirsch 2005: 76 f.). Jedoch kann gleichwohl nicht von einer
wirklichen Trennung dieser Bereiche gesprochen werden, da der Staat
„gerade durch die Ausgrenzung einer ‚staatsfreien’ Sphäre von Pro‐
duktion und Reproduktion diese Sphäre mit einem spezifischen staat‐
lichen Organisationsmittel ausstattet, nämlich der (Vertrags‐)Freiheit“
(Offe 2006: 128). Treffender spricht Offe deshalb von der „relativen
Autonomie“ des Staates, da durch den „rein formalen Charakter staat‐
licher Organisationsmittel […] jede direkte Parteinahme der Staats‐
gewalt für konkrete gesellschaftliche Interessen abgewehrt [wird]“
(ebd.: 129). Insofern abstrahiert der Staat auch als „ideeller Gesamtka‐
pitalist“ vom Interesse des einzelnen Unternehmens und der einzel‐
nen Branche, indem er oftmals ausdrücklich gegen individuelle Kapi‐
talinteressen agiert, und bleibt trotzdem kapitalistischer Staat. Im Sin‐
ne dieser beiden Aspekte ist der Staat demokratischer Staat, der das
Allgemeininteresse als Ziel und Zweck seines Handelns angibt und
erst aufgrund seiner repräsentativ‐demokratischen Verfassung das
Recht zum Eingriff in gesellschaftliche Zusammenhänge erhält. Der
Staat hat sich also aus Selbsterhaltungsgründen auch in bestimmter
Weise auf die demokratischen Legitimationsforderungen zu beziehen,
sofern er nicht Gefahr laufen will, Legitimationsnöte zu einer Legiti‐
mationskrise anwachsen zu lassen. Diese „Legitimationszwänge“ des
Staates ergeben sich direkt aus der Trennung von Politik und Öko‐
nomie und der damit einhergehenden „Repolitisierung“ der Klassen‐
verhältnisse (Habermas 1973: 84). Denn indem der Staat durch staat‐
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Thomas Barth
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lich vermittelte Kompromisse, wie z. B. Tarifverhandlungen, gewis‐
sermaßen zwischen die Nicht‐Kapitalisten und Kapitalisten tritt,
transformiert er gesellschaftliche Konflikte zu politischen Konflikten.
Im Zuge dieser Transformation von Konflikten werden auch „die Ri‐
siken und die Art ihrer Bearbeitung von vornherein so definiert […],
daß die Struktur des Kapitalverwertungsprozesses unmittelbar kaum
berührt wird“ (Offe 2006: 167). Hieraus ergibt sich ebenfalls die Not‐
wendigkeit, die Form der demokratischen Legitimationsbeschaffung
so zu beschränken, dass nicht der Bestand des Systems gefährdet
wird. Geleistet wird dies durch die Dominanz formal‐demokratischer
Partizipation und eine weitgehende Entpolitisierung der Öffentlich‐
keit (Habermas 1973: 84).
Zusammenfassend gesagt, können sämtliche Staatstätigkeiten
als Bearbeitungsformen der zwei widersprüchlichen Strukturproble‐
me verstanden werden: den Akkumulationserfordernissen einerseits
und den Legitimationsforderungen andererseits. Das Eigeninteresse
des Staates besteht dann darin. die Widersprüche zwischen diesen
beiden Herausforderungen unsichtbar zu machen bzw. in ihren Fol‐
gen abzumildern. Die Bearbeitung beider Probleme muss dabei in
möglichst widerspruchsloser Weise vonstatten gehen. Insofern der
Staat nämlich ständig bestrebt ist, zwischen den widersprüchlichen
Logiken von Akkumulation und Legitimation zu vermitteln, geht er
nur der Aufgabe nach, die ihm sein Eigeninteresse auferlegt: „ein Sys‐
tem von Organisationsmitteln des gesellschaftlichen Lebens zu finden
und zu erhalten, das widerspruchsfrei und bestandsfähig ist“ (Offe
1975: 13).
Diese theoretische Herangehensweise weist trotz ihrer hier nicht im
Einzelnen darzustellenden Tiefenschärfe und Aktualität – die gegen‐
wärtige Wirtschaftskrise und der darauf folgende enorme Staatsinter‐
ventionismus belegen dies – eine Fehlstelle auf: In der ursprünglichen
Theoriekonstruktion bleibt die Frage nach den Naturverhältnissen
außen vor. Offe richtet sein Augenmerk ausschließlich auf Sozialpoli‐
tik, sodass im Folgenden eine Aktualisierung dieses Ansatzes durch
eine Übertragung seiner Analysen auf den Bereich der Umweltpolitik
erfolgen soll.
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Ökologische Krise und Krisenmanagement
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4. Umweltpolitik im kapitalistischen Staat
Die Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse im Rahmen einer
kritischen Staatstheorie zu beschreiben, bedeutet staatliche Umwelt‐
politik als eine spezifische Bearbeitungsform des strukturellen Di‐
lemmas des demokratisch‐kapitalistischen Staates zu verstehen. Ba‐
sierend auf den bisherigen theoretischen Annäherungen ist es die
Aufgabe der Umweltpolitik, zwischen den Erfordernissen des Akku‐
mulationsprozesses und den Legitimationsforderungen so zu vermit‐
teln, dass es nicht zu einer Bestandsgefährdung des Gesamtsystems
kommt. Damit sind die beiden zu Beginn genannten Thesen nunmehr
explizit angesprochen: Das spezifische Interesse des Staates an der
Behandlung der ökologischen Krisentendenzen besteht einerseits da‐
rin, die natürlichen Bedingungen des Kapitalverwertungsprozesses zu
erhalten, die ansonsten durch diesen nicht berücksichtigt würden.
Andererseits ist auch den Legitimationsnöten seitens des Staates zu
begegnen, die durch ökologische Kritik ausgelöst werden, was v. a.
eine Reaktion der Einbeziehung und Vereinnahmung der Kritik, aber
auch repressive Maßnahmen beinhaltet.
4.1 Staatliche Umweltpolitik als Bearbeitung des Akkumulati-onsproblems
Oben wurde schon auf die beiden Gesichtspunkte verwiesen, unter
denen der Staat als ein kapitalistischer Staat erscheint: Während er
einerseits a) durch die Bereitstellung systemfremder – d. h. nicht‐
kapitalistischer – Organisationsmittel den Bestand des Kapitalverwer‐
tungsprozesses sichert, ist er andererseits b) auf die materiellen Er‐
gebnisse ebendieses Prozesses notwendig angewiesen, weil dieser
„(und nur er) die materielle Basis seines Wirkens – via Steuerabschöp‐
fung – garantiert“ (Borchert/Lessenich 2006: 13).
a) Der Staat fungiert hinsichtlich institutioneller und infrastruktureller
Faktoren als Unterhalter der „Gleisanlagen des gesellschaftlichen
Verkehrs“ (Offe 2006: 128), indem er mit seinen Organisationsmitteln,
etwa des Rechtes, zwar nicht den materiellen Inhalt gesellschaftlicher
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Thomas Barth
56
Vorgänge bestimmt, aber gewissermaßen ein formales Gerüst schafft.
In diesem Sinne wird der kapitalistische Staat nicht selbst zum Kapita‐
listen und legt fest, was produziert wird, aber er definiert die system‐
notwendigen Rahmenbedingungen der kapitalistischen Produktions‐
weise, z. B. durch Eigentumsrecht, Arbeitsmarkt‐ und Sozialpolitik
und eben auch Umweltpolitik. Dass es ein Kennzeichen des Kapita‐
lismus darstellt, die Bedingungen, die er voraussetzt, selbst nicht ren‐
tabel schaffen zu können, sondern sie bei in höchstem Maße egoisti‐
schem Verhalten der einzelnen Unternehmen rücksichtslos zu
vernutzen, wurde oben schon festgestellt. O’Connor (1988) identifi‐
ziert drei Kategorien von derartigen notwendigen „Produktionsbe‐
dingungen“: die äußere Umwelt, die menschliche Arbeitskraft und
die gesellschaftliche Infrastruktur. Nahezu jegliche Staatstätigkeit
kann dann unter der „Rubrik ‚Regulation und Produktion der Pro‐
duktionsbedingungen’ zusammengefasst werden“ (O’Connor
1996: 28).
Die Regulation der ‚Produktionsbedingung Umwelt’ betrifft
sowohl die natürlichen Ressourcen, auf die die Produktion angewie‐
sen ist, als auch die Reproduktion der Arbeitskraft, also etwa die Ge‐
sundheit der Arbeiter/innen. Zwar ist es für einzelne Unternehmen
(Einzelkapital) rational, in hohem Maße ausbeuterisch mit diesen Be‐
dingungen umzugehen, damit entsteht jedoch ein Problem für das
Gesamtkapital. Denn unter sich verschlechternden Umweltbedingun‐
gen wird es immer schwieriger – d. h. teurer –, Profite zu erwirtschaf‐
ten, da z. B. Ressourcen knapper werden, die Wasserqualität schlech‐
ter und die Produktivität der Arbeitskräfte krankheitsbedingt sinkt.
Staatliche Regulierungen der Naturverhältnisse finden ihren Beginn
deshalb schon in den Gewerbeordnungen des 19. Jahrhunderts (Jäni‐
cke/Kunig/Stitzel 2000: 165), bevor sie als eigentliche Umweltpolitik
Ende der 1960er Jahre in der Bundesrepublik implementiert werden.
Damit tritt der zunächst rein wirtschaftspolitische Charakter staatli‐
cher Umweltpolitik deutlich hervor, insofern diese darauf ausgerich‐
tet bleibt, die durch Umweltverschmutzung entstehenden Kosten zu
minimieren (Ronge 1972: 834). Auch auf europäischer Ebene findet
sich dieser ökonomieorientierte Beginn, allerdings in etwas anderer
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Ökologische Krise und Krisenmanagement
57
Form: Umweltpolitik wurde dort v. a. im Rahmen von Handelspolitik
definiert, um aus unterschiedlichen Umweltstandards resultierende
Handelshemmnisse zu beseitigen (Knill 2008: 18 f.). Inwiefern Um‐
weltpolitik auch nicht‐produktionsrelevante Aspekte aufweist, ist
unter dem Gesichtspunkt der Legitimation Gegenstand des nächsten
Kapitels.
b) Neben diesen restriktiven Aktivitäten seitens des Staates, die eine
langfristige – bzw., um im Sprachspiel zu bleiben, nachhaltige – Kapi‐
talverwertung und Akkumulation sicherstellen sollen, ergibt sich
auch die Möglichkeit der direkten Steuerabschöpfung, wie sie in der
Bundesrepublik etwa mit dem „Gesetz zum Einstieg in die ökologi‐
sche Steuerreform“ vom 24. März 1999 (BGBl. I, 378) verabschiedet
wurde. Nicht nur wurde damit eine zusätzliche Einnahmequelle des
Staates geschaffen, diese fügte sich auch nahtlos in den Diskurs um
die Unzulänglichkeit bisheriger umweltpolitischer Maßnahmen ein,
wie sie v. a. unter dem Stichwort „Vollzugsdefizit“ (Mayntz et al.
1978) geführt wurden. Als wesentlich für ausbleibende Erfolge im
Umweltschutz galt in diesem Rahmen nicht die Gestalt der bestehen‐
den Gesetze und Verordnungen, sondern deren mangelhafte Umset‐
zung. Die Lösung des Problems wurde darin gesehen nach alternati‐
ven Steuerungsmöglichkeiten zu suchen, was eine Entwicklung hin
zu ökonomisch ausgerichteten Politikinstrumenten wie eben Steuern
und Abgaben sowie weicheren Maßnahmen wie Umweltvereinba‐
rungen, Öko‐Auditierung und Umweltzeichen bedeutete. Ziel war es
somit, das Umweltrecht effektiver zu gestalten, was durch eine Über‐
tragung der marktförmigen Kosten‐Nutzen‐Abwägung auch in die
Sphäre des Rechts erreicht werden sollte (Fisahn 2008). Dieser Wandel
vom „befehlenden Staat“, der vorrangig über ordnungsrechtliche Ge‐
und Verbote steuert, hin zum „kooperativen Staat“, der ökonomi‐
schen Instrumenten hohe Bedeutung beimisst, tritt sehr deutlich im
Falle des globalen Emissionsrechtehandels hervor. Nicht vergessen
werden darf an dieser Stelle auch, dass von einem wirklichen ‚Rück‐
zug’ des Staates kaum zu sprechen ist. Denn gerade auch die Ent‐
scheidung, im Zeichen neoliberaler Politik staatliche Aufgaben zu
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Thomas Barth
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privatisieren, bleibt letztlich eine staatliche im rechtlich abgesicherten
Rahmen.
Der Staat besitzt also in diesem Sinne eine ökonomische
Schlagseite zugunsten der Bearbeitung der kapitalistischen Erforder‐
nisse, was nicht heißen muss, dass das stets zu Lasten umweltbezoge‐
ner Forderungen geht. Aber er muss zusätzlich die strukturelle Be‐
günstigung dieser Erfordernisse und damit auch bestimmter Interes‐
sen unsichtbar machen, wenn er den Anschein der Neutralität, der ja
eine Bedingung seiner demokratischen Herrschaftsausübung ist, wah‐
ren will. Dieser Problemkomplex liegt jedoch thematisch im Bereich
der staatlichen Bearbeitung des Legitimationsproblems, dem ich mich
nun zuwenden werde.
4.2 Staatliche Umweltpolitik als Bearbeitung des Legitimati-onsproblems
Die ökologischen Forderungen stellen sich als ein Legitimationsproblem
für den Staat, insofern dessen Problemlösungskompetenz angesichts
der dämmernden Krise durch die Ökologiebewegung in den 1970er
Jahren massiv in Frage gestellt wurde. So „ging die ökologische Kritik
[...] mit einer Strukturkritik an Staat und Parteien einher. Charakteris‐
tisch war eine antiinstitutionelle Grundhaltung. Damit vermischten
sich zum Teil auch antikapitalistische und antiindustrialistische Posi‐
tionen und begünstigten einen ökologischen Fundamentalismus, der
für radikale und konfrontative Strategien optierte“ (Rucht 1994: 272).
„Legitimationsnöte“ bzw. eine Tendenz zur Legitimationskrise
scheint sich bezüglich ökologischer normativer Forderungen abzu‐
zeichnen, wenn darunter mit Habermas verstanden wird, dass „Er‐
wartungen entstehen, die mit systemkonformen Entschädigungen
nicht befriedigt werden können“ (Habermas 1973: 104). Als Indikator
hierfür kann das Aufkommen der ökologischen Protestbewegung
interpretiert werden, also zunächst die Gründung von lokalen Initia‐
tiven, dann die Radikalisierung der Proteste (z. B. Startbahn West,
Anti‐AKW) aber etwa auch die Gründung der GRÜNEN. Auf Legiti‐
mationsnöte weisen diese Entwicklungen insofern hin, als sie sämtlich
Alternativen zu den etablierten Problemlösungsmöglichkeiten darstel‐
Page 60
Ökologische Krise und Krisenmanagement
59
len. Indem sie diese als unzulänglich, ungerecht, ungeeignet und
überholt ausweisen, fordern sie gleichzeitig zur Veränderung des Be‐
stehenden auf.
Für den Staat, der ein Interesse an sich selbst hat, kommt es
folglich darauf an, diese Forderungen in systemkonformer Weise auf‐
zunehmen. Sie müssen also in möglichst widerspruchsloser Weise mit
den Akkumulationserfordernissen in Einklang gebracht und demge‐
mäß v. a. befriedet werden. D. h. einerseits müssen die formulierten
Ansprüche in gewisser Weise erfüllt und andererseits institutionell
abgesicherte Räume zu ihrer friedlichen Artikulation bereitgestellt
werden. Die Erfüllung der ökologischen Forderungen wurde zum ei‐
nen in Form des Sofortprogramms Umweltschutz (1970) begonnen
und dann in zahlreichen Gesetzen, allerdings in stark abgeschwächter
Form, umgesetzt, zumal schon im Zuge der Öl‐ und Wirtschaftskrise
Mitte der 1970er Jahre eine „Tempoverlangsamung“ (Jäni‐
cke/Kunig/Stitzel 2000: 34) in Sachen Umweltpolitik zu beobachten
war. Zum anderen erfolgte die Erfüllung der Forderungen durch die
Unterstützung lokaler Umweltschutzinitiativen und zahlreiche Ap‐
pelle an das Umweltgewissen jedes Einzelnen (Ronge 1972: 832). Mit
diesem Aspekt ist auch die Bereitstellung systemkonformer Kanäle
politischer Willensbildung bereits angesprochen, die eine friedliche
Artikulation gewährleisten soll. Während eine Möglichkeit, die damit
bezweckte Entradikalisierung von Protestpotential zu betreiben, in
der Entpolitisierung der umkämpften Fragen besteht, liegt die andere
in der produktiven und partizipativen Einbindung der Akteure. „Die
Strategie der Individualisierung des Umweltschutzes – jeder sein ei‐
gener Umweltschützer; Umweltbewußtsein, Umweltverantwortung,
Umwelterziehung, Umweltkriminalität – vollzieht diese Entpolitisie‐
rung“ (Ronge 1972: 845). Die Strategie der Kooperation mit kritischen
Akteuren – Verbandsbeteiligung im Bundesnaturschutzgesetz, Um‐
weltorganisationen werden zu gefragten Sachkennern der Administ‐
ration, eine grüne Partei geht ihren Weg durch die Parlamente – voll‐
zieht diese Einbindung.
Die bundesdeutsche Umweltpolitik kann in dieser Hinsicht
der Bearbeitung der Legitimationsprobleme als recht erfolgreich gel‐
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Thomas Barth
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ten: In Bezug auf ökologische Forderungen ist keine Systembedro‐
hung, kaum mehr ein radikales In‐Frage‐Stellen der industrialisierten
Moderne, zu erkennen, sondern es dominieren systemkonforme, pro‐
duktive Lösungen, die dem Modernisierungspfad folgen. Lässt sich
etwa die Frühphase der Ökologiebewegung noch als konflikthafte
Fundamentalopposition beschreiben, ist ab Mitte der 1980er Jahre
eher von einer kooperativen Mitarbeit zu sprechen, was jedoch nicht
bedeuten muss, dass „Konfrontationsepisoden“ (Kriesi/Guigni 1996)
v. a. im Bereich von Anti‐AKW‐Protesten verschwunden sind.
5. Fazit
Ausgehend von krisentheoretischen Überlegungen habe ich im Rah‐
men einer kritischen Staatstheorie versucht, den Charakter der bun‐
desdeutschen Umweltpolitik als eine Form der Regulation gesell‐
schaftlicher Naturverhältnisse näher zu bestimmen. Ich wählte für die
Formbestimmung des zu regulierenden Verhältnisses den Begriff der
ökologischen Krise, im Gegensatz zu einer möglichen Fassung des
Gegenstandes als ökologische Probleme oder ökologische Frage. Die
beiden letzteren Bestimmungen verstellen nämlich m. E. den Blick auf
die in der gegenwärtigen Gesellschaftsformation systematische – weil
systemimmanent unausweichlich erfolgende – Erzeugung von ökolo‐
gischen Gefährdungen.
Aus der hier eingenommenen Perspektive erscheint die Regu‐
lation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch den Staat als eine
Form der Bearbeitung des Strukturproblems, dessen er sich als ein
demokratischer und kapitalistischer Staat ausgesetzt sieht. D. h. staat‐
liche Umweltpolitik ist daran orientiert, zwischen den sich widerspre‐
chenden Erfordernissen des Kapitalverwertungsprozesses einerseits
und legitimen demokratischen Forderungen andererseits eine mög‐
lichst widerspruchsfreie Regulierungsform herzustellen bzw. zu er‐
halten. Indem diese beiden Logiken den möglichen Spielraum der
umweltpolitischen Staatstätigkeit markieren, werden bestimmte theo‐
retisch vorstellbare Regulierungsformen höchst unwahrscheinlich. So
sind aufgrund der notwendigen Angewiesenheit des Staates auf die
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Ökologische Krise und Krisenmanagement
61
Ergebnisse des Kapitalverwertungsprozesses sowie auf bestimmte
Formen der Zustimmung weder eine umfassende radikal‐ökologische
Wende vorstellbar, noch ein umfassender Rückbau von bisherigen
Errungenschaften des Umweltschutzes. Die gegenwärtige (stets: libe‐
ral‐demokratische) Gesellschaft befindet sich damit in einer Art Zwi‐
schenposition, in welcher jenseits systemdestabilisierender Tendenzen
ein Management der ökologischen Krise betrieben wird. Diese zeich‐
net sich durch zwei grundlegende Eigenschaften aus: Umweltpolitik
findet erstens in hohem Maße statt, das Problem wird also nicht igno‐
riert; jedoch findet sie zweitens in einer Weise statt – und kann unter
den angegebenen Bedingungen nur in dieser Weise stattfinden –, in
der keine Lösungen gefunden bzw. implementiert werden können,
die die grundlegenden Pfeiler der gegenwärtigen wachstums‐ und
rentabilitätsorientierten und damit notwendig krisenhaft
naturvernutzenden Gesellschaftsformation in Frage stellen. Denn da‐
mit kann sich trotz der umweltpolitischen Fortschritte letztlich nicht
aus dem Zirkel herausbewegt werden, dass Umweltschutzerfolge bei
„gleichzeitigem Wirtschaftswachstum gemindert, neutralisiert oder
gar überkompensiert werden können“ (SRU 2008: 37).
Aus dieser staatsorientierten Perspektive lassen sich zwei
Überlegungen zum umfassenderen Problemkontext der Regulation
und Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse anschließen, die
auch von praktischer politischer Bedeutung sind: In einer ersten, eher
allgemeinen Hinsicht kann sich zwar der Behauptung angeschlossen
werden, dass Natur‐Gesellschaft‐Verhältnisse prinzipiell gestalt‐ und
also veränderbar sind. Doch dabei müssen gleichzeitig die historisch‐
konkreten Grenzen der Gestaltbarkeit im Auge behalten werden, wie
sie etwa in einer Gesellschaft bestehen, deren politisches Steuerungs‐
system auf kapitalistisches Wachstum strukturell angewiesen ist. Der
Fokus sollte deshalb in der Praxis wie auch analytisch darauf gelegt
werden, welche Akteure mit welchen Interessen in der staatlichen
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Thomas Barth
62
Sphäre um Hegemonie4 ringen und unter welchen Bedingungen sie
das tun. Sofern dies nicht aus dem Blick verloren wird, können spezi‐
fische umweltpolitische Entwicklungen, z. B. auf globaler Ebene die
Regulierungen zur biologischen Vielfalt (vgl. Brand/Görg 2003) oder
aktuelle Klimaschutzvereinbarungen (vgl. Altvater/Brunnengräber
2008), in ihrer dominanten ökonomischen Ausrichtung und ihren
problematischen Konsequenzen besser eingeschätzt werden. Eine
zweite, zunächst auf die individuelle Ebene abzielende, also etwa For‐
derungen nach individuell nachhaltigem Konsum betreffende Bemer‐
kung lässt sich ebenfalls anschließen: Zwar sind es letztlich tatsächlich
die Handlungen und die Orientierungen einzelner Menschen, bspw.
in Kooperativen ökologisch zu wirtschaften, welche alternative For‐
men gesellschaftlicher Naturverhältnisse praktisch umsetzen. Aber es
sollte nicht der Eindruck entstehen, die Verlagerung kollektiver Ver‐
antwortung auf die vielen einzelnen ‚widerständigen Willen’ (deren
‚Korrektur’ z. B. mittels Konsumentenerziehung möglich wäre) sei der
Weg zu einer konfliktfreien Umgestaltung der Gesellschaft. Wie ich
oben dargelegt habe, werden mit solch einer Politik massive soziale
Ungleichheiten in Kauf genommen, denn wenn die Preise wirklich die
‚ökologische Wahrheit’ sagen, dann sagen sie es den einen deutlicher
als den anderen. Umweltschützer sind dann v. a. jene, die es sich leis‐
ten können.
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tes abzielte.
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Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum
Karsten Gäbler
1. Einleitung
Es ist ein Gemeinplatz umweltpolitischen Denkens geworden, dass
die Institution des Eigentums eine Schlüsselkategorie der Bearbeitung
ökologischer Probleme ist. Wo Eigentumsrechte nur unzureichend
spezifiziert sind, so wird argumentiert, entstehen Umweltprobleme
viel eher als dort, wo eindeutige Regelungen vorhanden sind (Han‐
na/Folke/Mäler 1995: 15). Oder positiv formuliert: Um Umweltprob‐
leme zu lösen, bedarf es der Implementation eines geeigneten Eigen‐
tumsregimes.
In der Frage danach, welche konkreten Eigentumsformen zur
Bearbeitung der ökologischen Krise zweckmäßig sind, herrscht jedoch
Dissens. In der Tradition der ökonomischen Klassik wird das private
Eigentum als Garant der Hege und des gemeindienlichen Einsatzes
einer (natürlichen) Ressource betont. Andere Argumentationen unter‐
streichen hingegen, dass bestimmte Güter gerade nicht der Verfügung
Einzelner unterstehen dürfen, sondern als Gemeingut demokratisch
verwaltet werden müssen (vgl. z. B. Barnes 2006: 65 ff.; Gresh
2006: 106 f.). Beide Ansätze eint der Gedanke, dass ein unregulierter
Zugang zu wertvollen materiellen und immateriellen Ressourcen (wie
z. B. die Atmosphäre, die Ozeane oder die Artenvielfalt) durch die
Einrichtung von Zugangsregeln verhindert werden muss. Gesellschaf‐
ten müssten, so der Tenor der Kritik, ihre gemeinsame Verantwortung
für Umwelt und Natur anerkennen und die Ausbeutung der endli‐
chen Ressourcen stoppen (vgl. ebd.).
Eine solche Betrachtung der globalen Ebene des gesellschaftli‐
chen Naturbezugs darf dabei jedoch über eines nicht hinwegtäuschen:
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Karsten Gäbler
68
„Umweltprobleme“ entstehen nicht durch Handlungen eines Kollek‐
tivsubjekts „Gesellschaft“, sondern durch Aggregation sozial einge‐
betteter individueller Handlungen. Die ökologische Krise kann inso‐
fern ebenso etwas mit dem Scheitern globaler Umweltschutzabkom‐
men zu tun haben wie mit der individuellen Entscheidung, ein Eigen‐
heim zu erwerben. Auch im lokalen Handeln spielen Eigentumsbe‐
ziehungen eine elementare Rolle. Blomley (2003: 131) etwa konstatiert:
„The environment of the everyday is, of course, propertied, divided
into both thine and mine and more generally into public and private
domains, all of which depend upon and presuppose the internaliza‐
tion of subtle and diverse property rules that enjoin comportment,
movement, and action.” Welche Handlungsspielräume im Umgang
mit materiellen Ressourcen, mit dem, was wir „Natur“ nennen, vor‐
handen sind, hängt also ganz wesentlich von den etablierten Eigen‐
tumsverhältnissen ab.
Die Verbindung von Fragen des gesellschaftlichen Naturbe‐
zugs mit Fragen der Eigentumsverhältnisse scheint naheliegend. Als
eine fundamentale soziale Institution kann Eigentum einen sowohl
theoriebezogenen als auch empirischen Ansatzpunkt zur Analyse
gesellschaftlicher Naturverhältnisse liefern. Die Eigentumsforschung
bewegt sich dabei – notwendigerweise – an der Schnittstelle zwischen
Rechts‐, Wirtschafts‐ und Sozialwissenschaften.
Im Zentrum dieses Beitrages steht die Frage nach der Leis‐
tungsfähigkeit einer eigentumstheoretischen Betrachtung der gesell‐
schaftlichen Naturverhältnisse. Welche Sachverhalte werden durch
eine Fokussierung des Eigentums und der Eigentumsverhältnisse
sichtbar gemacht? Und darauf aufbauend: Welche Möglichkeiten der
Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum bzw.
die Eigentumsordnung bestehen? Welche Gestaltungsspielräume sind
im Hinblick auf Eigentum und Natur bzw. Umwelt vorhanden?
In einem ersten Schritt werden die juristischen und sozialwis‐
senschaftlichen Grundbestimmungen des Eigentums dargestellt. Die
Leitfragen sind: Was ist Eigentum? Welche soziale Funktion erfüllt es?
Welche Formen sind etabliert und welche normativen Vorstellungen
sind in der Eigentumsordnung aufgehoben?
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Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum
69
In einem zweiten Schritt werden die Möglichkeiten der Regu‐
lation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum themati‐
siert. In welchem Verhältnis stehen Zugangsregeln zu einem Gut und
das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse? Welcher Ge‐
staltungsspielraum ergibt sich für den Gesetzgeber und den Bürger in
Bezug auf eigentumsförmig geregelten Naturbezug? Am Beispiel der
Gemeingutdebatte wird in diesem Zusammenhang diskutiert, mit
welchen Schwierigkeiten das umweltpolitische Instrument der Verfü‐
gungsrechte konfrontiert ist.
2. Bestimmungen des Eigentums
Eigentum gehört zu den fundamentalen Institutionen von Gesell‐
schaften – gleich, ob es sich dabei um die antike Polis, die mittelalter‐
liche Feudalgesellschaft oder um spätmoderne, marktwirtschaftlich
organisierte Gesellschaften handelt. Vorstellungen von eigentums‐
förmiger Bezugnahme zu Sachen sind in nahezu allen sozialen Ord‐
nungssystemen aufgehoben, von religiösen Konzepten bis hin zu
rechtlichen Kodifizierungen. So etwa wird im Dekalog das Eigentum
durch das Verbot des Diebstahls geschützt (siebtes Gebot), und die
Gewährung von Eigentumsrechten ist in den Verfassungen zahlrei‐
cher Staaten als Grundrecht enthalten. 1 Die für die soziale Wirklich‐
keit folgenreichsten Bestimmungen des Eigentums finden sich im
Rechtssystem.
2.1 Eigentum im juristischen Sinn2
Im juristischen Sinn können zwei Auffassungen von Eigentum diffe‐
renziert werden: einerseits die Vorstellung, beim Eigentum handele es
1 Das deutsche Grundgesetz formuliert hierzu: „Das Eigentum und das Erbrecht
werden gewährleistet“ (Art. 14 GG). Ebenso die Bundesverfassung der
Schweizerischen Eidgenossenschaft: „Das Eigentum ist gewährleistet“ (Art. 26
BV). 2 Die im Folgenden diskutierten konkreten Rechtsbestimmungen beziehen sich
ausschließlich auf den deutschen Kontext (Bürgerliches Gesetzbuch BGB und
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland GG).
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Karsten Gäbler
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sich um die „Herrschaftsbeziehung“ zwischen einer Person und einer
Sache; andererseits die Idee, Eigentum sei eine Beziehung zwischen
Personen, ein „Rechtebündel“ (Stepanians 2005: 232 f.).
Die erste Position hebt hervor, dass Eigentum sich auf ein
konkretes Objekt bezieht. Sie ähnelt damit der Alltagssemantik vom
Eigentum, die sich etwa in Aussagen wie „Dieses Haus ist mein Ei‐
gentum“ widerspiegelt und eine Identifikation von Eigentum und
Gegenstand des Rechtstitels vornimmt. Kritiker dieser Auffassung
wenden oft ein, sie ignoriere den sozialen Charakter des Rechts und
blende aus, dass Eigentum nur als Recht gegenüber einer anderen
Person verstanden werden kann. Eigentum müsse folglich als eine
Beziehung zwischen Personen aufgefasst werden, deren Wesen in
dem Recht bestehe, im Gegensatz zu anderen Personen über eine Sa‐
che verfügen zu können und sich – zumindest im formalen Sinn – der
Zustimmung der Rechtsgemeinschaft zu dieser Verfügung sicher sein
zu können.
Wie die Verfügungsmacht ausgefüllt werden kann, hängt von
den konkreten rechtlichen Bestimmungen ab. In der Regel umfasst
das Eigentumsrecht jedoch die Rechte des „Gebrauchs“ (ius usus), der
„Nutzung“ (ius usus fructus), der „Veränderung“ (ius abusus) und
der „Veräußerung“ (ius successionis) (Ullrich 2004: 106).
Auch wenn die Figur des Eigentums als Bündel von Rechten
heute als Standardauffassung gilt (vgl. Siegrist 2006: 24 f.), haben bei‐
de Interpretationen in den Formulierungen der deutschen Gesetz‐
gebung Spuren hinterlassen. So bestimmt das Bürgerliche Gesetzbuch:
„Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder
Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren
und andere von jeder Einwirkung ausschließen […]“ (§ 903 BGB). Der
Passus der Beliebigkeit hebt die Herrschaftsbeziehung hervor; die
Betonung des Gesetzes, der Rechtsansprüche Anderer und der Aus‐
schlusscharakter des Eigentums unterstreichen die Sozialität des
Rechts. Eigentum kann in diesem Sinne als Recht an einer Sache ge‐
genüber einer (oder mehreren) Person(en) verstanden werden.
Bereits in diesen grundlegenden rechtlichen Bestimmungen
des Eigentums ist also auf dessen sozialen Charakter hingewiesen. In
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Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum
71
einem folgenden Schritt muss nun geklärt werden, worin die soziale
Funktion des Eigentums genauer besteht.
2.2 Soziale Funktionen des Eigentums
In sozialtheoretischer Hinsicht ist Eigentum, ganz allgemein, als Ver‐
ständigung über bestimmte Handlungsweisen aufzufassen. Es regelt
den Umgang mit materiellen und immateriellen Objekten und bietet
in Situationen konfligierender Interessen Entscheidungsregeln an (vgl.
Demsetz 1967: 347 ff.; Siegrist 2006: 9). Soziale Beziehungen werden
qua Eigentum dauerhaft koordiniert, Eigentumsrechte „standardisie‐
ren“ Handlungsmöglichkeiten von Akteuren (vgl. Siegrist 2006: 22).
Während Eigentum in dieser Hinsicht eine ermöglichende
Funktion für die Individuen besitzt und Handeln anschlussfähig
macht, wirkt es im selben Zug auch einschränkend. Einerseits begrenzt
die Notwendigkeit der Achtung der Eigentumsansprüche Anderer
das eigene Handeln. Andererseits bedeutet das Innehaben von Eigen‐
tum auch, dass der Eigentümer/die Eigentümerin verantwortlich für
eine Sache ist. Das Eigentum erlaubt also die Zuordnung der positi‐
ven wie negativen Erträge einer Sache zum Eigentümer/zur Eigentü‐
merin.3
Über die Koordination individueller Handlungen sind im
Eigentum schließlich auch gesellschaftliche Ordnung und Dynamik
begründet. Markt‐ und Tauschbeziehungen z. B. formieren sich erst
auf Grundlage einer Eigentumsordnung. Erst wenn es möglich ist,
Sachen exklusiv in den eigenen Verfügungsbereich zu bringen (d. h.
hergestellte oder erworbene Dinge auch zu ‚behalten‘), sind Tausch‐
handel und Sparen sinnvolle Tätigkeiten. Denn was in der ökonomi‐
schen Praxis letztlich bewertet, akkumuliert und getauscht wird, sind
nicht Sachen im engeren Sinne, sondern Verfügungsrechte an Sachen
(vgl. Baecker 2006: 53). Im institutionalisierten Tausch werden die
Handlungsoptionen der Individuen schließlich entpersonalisiert und
das Handeln über Distanz wird ermöglicht. Dies ist die Grundlage der
3 Dieser Gedanke wird in der (institutionen)ökonomischen Terminologie als
Internalisierung externer Effekte beschrieben (vgl. Coase 1960).
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Karsten Gäbler
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arbeitsteiligen Gesellschaft (vgl. Engels 1962 [1884]: 110; Baecker
2006: 53; Sturn 1998: 213 ff.).
Um die Reichweite der sozialen Funktionen des Eigentums
hervorzuheben, gilt es in einem nächsten Schritt dessen Erscheinungs‐
formen zu beschreiben. Die bisherigen Ausführungen haben unter der
Hand bereits einen bestimmten Typus als Standardauffassung des
Eigentums eingeführt: das individuelle Privateigentum. Es könnte so
der Eindruck entstehen, individuelles Privateigentum sei Eigentum
überhaupt. Welche sozialen Funktionen Eigentum jedoch konkret
erfüllen kann, ist in ganz wesentlichem Maße davon abhängig, wel‐
cher Art der Träger des Eigentumsrechtes ist (eine Einzelperson, ein
Unternehmen, der Staat etc.) und wie die Zugangsregelungen zu ei‐
nem Gut zustande kommen.
2.3 Formen der Eigentumsbeziehung
Idealtypisch lassen sich vier Eigentumsformen unterscheiden: das
Privateigentum, das Gemeineigentum, das Staatseigentum und das
Eigentum jedermanns (vgl. Acheson u. a. 1998: 79 ff.).
Das Privateigentum stellt die Zuordnung von Zugangs‐ und
Nutzungsrechten zu einer einzelnen privaten oder juristischen Person
dar. Die Exklusivität der Verfügungsmacht ist beim Privateigentum
im stärksten Maße verwirklicht und wird mit der Kodifizierung priva‐
ter Eigentumsrechte durch den Staat unterstützt. Der Privateigentü‐
mer/die Privateigentümerin bestimmt nach eigenem Belieben über die
Verwendung des Gutes.
Beim Gemeineigentum untersteht das Zugriffsrecht auf die Sa‐
che einer mehr oder weniger klar definierten Gruppe von Personen.
Die Nutzungsregelungen entstehen durch gruppeninterne Überein‐
kunft. Im Unterschied zum Privateigentum besteht hier in jedem Falle
die Notwendigkeit der (gruppeninternen) Koordination der Nutzung.
Im Falle des Staatseigentums ist eine Regierung – im Selbstver‐
ständnis des demokratischen Staats: stellvertretend für die Bürger –
Träger des Eigentumsrechts an der Sache. Die Nutzungsregelungen
müssen durch Gesetze bzw. politische Verfahren legitimiert sein. In
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Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum
73
der Regel soll das Staatseigentum dabei eine Gemeinwohlfunktion
erfüllen.
Das Eigentum jedermanns schließlich bezeichnet eine Situation,
in der es keine festgelegten Nutzungsrechte für eine Sache gibt, da ein
exklusiver Zugang zu einem Gut nicht oder nur unter sehr hohen
Kosten möglich ist. Dieses Bezugsverhältnis wird deshalb auch als
‚offener Zugang’ (open access) zu einem Gut charakterisiert. Im enge‐
ren Sinne ist dies natürlich nicht als Eigentumssituation zu bezeich‐
nen, sondern gerade als Fehlen einer Institution Eigentum; dement‐
sprechend bestehen auch keine expliziten Nutzungsregelungen.
Die Klassifikation dieser vier bereits im römischen Recht be‐
kannten Eigentumsformen suggeriert auf den ersten Blick Eindeutig‐
keit. Die Kriterien der Abgrenzung von Eigentumsformen können
jedoch je nach Argumentationskontext und Erkenntnisinteresse vari‐
ieren, sodass andere Taxonomien zustande kommen. Während die
dargestellte Klassifikation auf die Kriterien der Größe der Nutzer‐
gruppe sowie die Etablierung der Nutzungsregelungen zurückgeht,
heben andere Klassifikationen die Dichotomie zwischen öffentlichem
und privatem, zwischen individuellem und gemeinschaftlichem oder
aber zwischen stark und schwach definiertem Eigentum hervor. Je
nach Unterscheidungskriterium werden dabei unterschiedliche As‐
pekte der Eigentumsbeziehung betont.4
Wird z. B. die Unterscheidung zwischen öffentlichem (im Sinne
von staatlichem, öffentlich‐rechtlichem) und privatem (zivilrechtli‐
chem) Eigentum hervorgehoben, steht dem Staatseigentum auf der
einen Seite das individuelle Privateigentum sowie das gemeinschaftli‐
che Privateigentum einer Eigentümergruppe auf der anderen Seite
gegenüber. Gemeineigentum im obigen Sinne würde in dieser Kate‐
gorisierung als Privateigentum mehrerer Personen aufgefasst werden.
Die Unterscheidung öffentlich/privat betont die besondere Rolle der
Gesetze, geschwächt wird dagegen die Differenzierung von individu‐
ellen und kollektiven Entscheidungsfindungen.
4 Die dadurch entstehende Pluralität macht eine sorgfältige Identifikation der
entsprechenden Leitunterscheidungen notwendig.
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Unterscheidet man zwischen individuellem und gemeinschaftli‐
chem Eigentum, so besteht eine Dichotomie zwischen individuellem
Privateigentum und Gemein‐ bzw. Staatseigentum. Staatseigentum im
Verständnis der vier Idealtypen wäre in diesem Sinne (nur) ein Son‐
derfall des Gemeineigentums, in welchem die Eigentümergruppe mit
den Bürgern des Staates identisch ist. Das Erkenntnisinteresse einer
solchen Kategorisierung steht der öffentlich/privat‐Dichotomie dia‐
metral gegenüber: Das Erkenntnispotenzial liegt im Vergleich indivi‐
dueller Entscheidungen und kollektiver Koordinationsprozesse, der
blinde Fleck ist die besondere Rolle der staatlichen Legitimationsver‐
fahren.
Wird zwischen definierten und undefinierten Eigentumsver‐
hältnissen differenziert, stehen dem Eigentum jedermanns die drei
anderen Eigentumsformen gegenüber. Der Gewinn einer solchen Ge‐
genüberstellung liegt in einer Spezifizierung der allgemeinen Leis‐
tungsfähigkeit von Eigentumsrechten. Verloren geht hingegen die
Unterscheidung spezifischer Eigentumsregimes und ihrer Potenziale.
Bereits im kursorischen Überblick über diese Vielfalt von Un‐
terscheidungsmerkmalen deutet sich an, wo die Grenzen einer Klassi‐
fikation idealtypischer Eigentumsregimes liegen: Weder herrscht in
der theoretischen Auseinandersetzung begriffliche Schärfe und Einig‐
keit, noch entspricht den Eigentumsregimes in der Praxis in jedem
Falle ein konkretes Äquivalent.5 Typisierungen wie das aufgeführte
Tableau der vier Eigentumsformen haben demzufolge eher den Cha‐
rakter eines analytischen Werkzeuges. Sie sind geeignet, Phänomene
des Bezugs zu materiellen und immateriellen Objekten aufzuschlüs‐
seln, bedürfen jedoch im konkreten Fall einer Präzisierung bzw. Er‐
weiterung. Die vorgeschlagene Unterscheidung in Privat‐, Gemein‐,
Staatseigentum und Eigentum jedermanns schließt an die etablierten
umweltökonomischen Debatten (z. B. bei Ostrom 1998; Hanna u. a.
1996; Acheson u. a. 1998) an. Sie gibt damit einen Hinweis auf das
Erkenntnisinteresse dieser Diskurse: Einerseits sollen die Spezifika
5 Diesem Phänomen wird z. B. in der Unterscheidung von Umständen de jure
und de facto Rechnung getragen.
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Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum
75
individueller und kollektiver Verfügungsrechte herausgestellt werden
(d. h. die Unterschiede privater und öffentlicher Güterbewirtschaf‐
tung), andererseits sollen auch die Differenzen staatlicher und nicht‐
staatlicher Regulation reflektiert werden (indirekte, formale Nut‐
zungsregulation gegenüber direkter Übereinkunft).
2.4 Gütereigenschaften, Wertvorstellungen und Typen von Eigentum
Mit den bisherigen Ausführungen ist vor allem der soziale, sinnhafte
Aspekt der Eigentumsbeziehung in den Blick genommen worden.
Diese Fokussierung könnte leicht dazu verleiten anzunehmen, die
objekthafte Seite des Eigentums spiele eine untergeordnete Rolle, oder
anders: Eigentumsregimes ließen sich umstandslos auf jeden Objekt‐
typus anwenden. Gegen eine solche Annahme sprechen jedoch schon
einfache empirische Beobachtungen. In der Eigentumspraxis kann
z. B. oft beobachtet werden, dass bestimmte Typen von Sachen mit
typischen Eigentumsformen assoziiert sind. Kaum regulierbare Hoch‐
seegebiete etwa sind – in der Diktion der vier Idealtypen – Eigentum
jedermanns. Kühlschränke und PKW hingegen sind meist Privatei‐
gentum. Diese Verknüpfung scheint auf zwei Gründe zurückführbar
zu sein. Einerseits scheint sie etwas mit den materiellen Eigenschaften
des Gegenstands zu tun zu haben (bzw. mit den zur Verfügung ste‐
henden technischen Möglichkeiten der Zugangsregulation), anderer‐
seits mit der normativen, oft gesellschaftstheoretisch begründbaren
Bevorzugung einer bestimmten Eigentumsform.
Zunächst zur Frage danach, welche Eigenschaften Objekte
von Eigentumsbeziehungen haben können. Die Schlüsselkategorien
sind dabei Mobilität und Materialität und daraus folgend Exklusivität
und Rivalität der Nutzung. Ein Gut kann z. B. materiell und mobil
sein (wie etwa eine Packung Milch), es kann materiell und immobil
sein (wie ein Stück Land), immateriell und mobil (z. B. ein Musik‐
stück) usw. (vgl. Gill 2005: 1). Daraus folgend kann das Eigentum zu
unterschiedlichen Graden exklusiv sein, d. h. es kann in verschiede‐
nem Maße möglich sein, jemanden vom Gebrauch einer Sache auszu‐
schließen. Es ist z. B. möglich, eine Person von der Nutzung eines
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Grundstückes auszuschließen, aber es ist unter der gegebenen Werte‐
ordnung nicht möglich, jemanden legal vom Gebrauch der Atemluft
zu exkludieren. Weiterhin kann auch das Maß der Nutzungsrivalität
einer Sache variieren. Darunter wird verstanden, in welchem Maße
der Konsum eines Nutzers/einer Nutzerin gleichzeitig den potenziel‐
len Konsum eines anderen Nutzers/einer anderen Nutzerin ein‐
schränkt. Ein einmal verzehrter Apfel kann nicht mehr von Anderen
genutzt werden, das Signal einer Rundfunkanstalt hingegen kann
gleichzeitig vielen Nutzern dienen (vgl. Buck 1998: 4; Acheson u. a.
1998: 79 ff.).
Welche Affinitäten von Eigenschaftsbündeln und Eigentums‐
formen lassen sich nun empirisch beobachten? Zwei Beispiele zur
Illustration: Güter, die ein hohes Maß an Exklusivität aufweisen sowie
der Rivalität der Nutzung unterliegen (etwa alltägliche Verbrauchsgü‐
ter), sind oft Gegenstand privater Eigentumsverhältnisse. Der Zugang
zu nicht‐rivalen Gütern hingegen, bei denen keine starke Exklusivität
vorliegt bzw. keine effektive Verfügungsmöglichkeit besteht (z. B. die
Sonneneinstrahlung), ist nicht verfügungsrechtlich reguliert – sie sind
Eigentum jedermanns bzw. ein globales Gemeingut.
Unabhängig von der eigenschaftsbedingten Verknüpfung von
Eigentumsregimes kann es aber auch gesellschaftlich sehr genaue
Vorstellungen davon geben, was Gegenstand von Eigentumsbezie‐
hungen sein sollte und welche Akteure Träger von Eigentumsrechten
sein können. So etwa ist das Gemeineigentum oder das Staatseigen‐
tum an einer Sache Ausdruck der Überzeugung, dass die Sache nicht
in der Verfügungsgewalt Einzelner oder der (unbegrenzten) Allge‐
meinheit stehen sollte. Diese Wertvorstellungen werden meist nur
dann bewusst, wenn eine Transformation des Eigentumsregimes vor‐
genommen wird – und damit eine oft nicht gemeinsam geteilte Ver‐
änderung der Bewertung einer Sache erfolgt. Beispiele dafür sind et‐
wa die in unterschiedlichen ökonomischen und sozial‐politischen
Lagen geäußerten Privatisierungs‐ bzw. Verstaatlichungsforderungen
in Bezug auf bestimmte Güter.
Die skizzierte Affinität von Gütertypen und Eigentumsformen
zeigt schon an der Oberfläche, dass die Gestaltung der Eigentumsbe‐
Page 78
Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum
77
ziehung keineswegs beliebig ist. Bestimmte Eigentumsformen werden
gesellschaftlich präferiert, andere eher vermieden. Diese Präferenzen
können bis in die verfassungsrechtlichen Grundlagen verfolgt wer‐
den.
2.5 Der indirekte verfassungsrechtliche Vorrang des Privat-eigentums
In der rechtlichen Grundarchitektur des demokratisch‐liberalen Staats
ist eine Präferenz des Privateigentums zu beobachten (vgl.
Depenheuer 2002: 114). Wenn der Verfassungsgeber das Eigentum
gewährleistet, so meint er damit Privateigentum. Privateigentum steht
für den Verfassungsgeber im Gegensatz zu anderen Eigentumsfor‐
men, die an einem öffentlichen Interesse orientiert sind. Deutlich wird
dieser Zusammenhang mit Blick auf die Einschränkung der Eigen‐
tumsgewährleistung: „Eine Enteignung ist nur zum Wohle der All‐
gemeinheit zulässig. […] Die Entschädigung ist unter gerechter Ab‐
wägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu be‐
stimmen […]“ (Art. 14 (3) GG). Grundlage der Enteignungsoption des
Staates ist die so genannte „Sozialbindung“ des Eigentums
(Depenheuer 2002: 114). Diese ist im Gesetzestext in der Formel „Ei‐
gentum verpflichtet“ (Art. 14 (2) GG) sowie dem Hinweis, dass Eigen‐
tum dem Wohle der Allgemeinheit zu dienen habe, untergebracht.
Die Sozialbindung ist auch Basis der in Art. 15 GG ermöglichten So‐
zialisierungsoption des Staates: „Grund und Boden, Naturschätze und
Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch
ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Ge‐
meineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft über‐
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Karsten Gäbler
78
führt werden.“6 Der Staat hat demnach die Auflage, Eingriffe in das in
Art. 14 (1) GG gewährte Eigentumsrecht zu begründen. Privateigen‐
tum hingegen ist ohne Begründungspflicht durch die Verfassung und
die Gesetze legitimiert (vgl. Depenheuer 2002: 114). Diese implizite
Priorisierung des Privateigentums darf in ihrer Wirkung nicht unter‐
schätzt werden. Privateigentumsvorrang affirmiert die freiheitser‐
möglichenden sozialen Funktionen und legt eine wesentlich auf Pri‐
vateigentum basierende wirtschaftliche und soziale Ordnung – mit all
ihren Folgen – nahe. Die Hürde, die der Verfassungsgeber zum Ein‐
griff in das private Eigentum setzt, ist hoch. Der Staat muss im Einzel‐
fall zwischen individuellem und kollektivem Interesse abwägen. Be‐
sonders in Bezug auf ökologische Problemlagen könnte die Durchset‐
zung der Gemeinwohlorientierung jedoch an Gewicht gewinnen, und
zwar dann, wenn der verfassungsrechtliche Auftrag zum „Schutz der
natürlichen Lebensgrundlagen“ (Art. 20a GG) mit der Sozialpflichtig‐
keit des Eigentums in Beziehung gesetzt wird (vgl. Stober 1996: 212).
Sozialpflichtigkeit des Eigentums bestünde dann auch in einem ‚öko‐
logisch sinnvollen’ Umgang mit Umweltgütern.
2.6 Gestaltung der Eigentumsbeziehung
Gerade der letztgenannte Aspekt der Eingriffsmöglichkeit des Staates
in das private Eigentum verweist auf eine Lücke in der bisherigen
Darstellung: Wurden der formale Rahmen des Eigentums sowie – in
eher (sozial)theoretischer Perspektive – seine Funktionen dargestellt,
6 Wenn der Verfassungsgeber hier etwas diffus von Gemeineigentum spricht, so
hat er damit zunächst einmal die Sicherung der Gemeinwohlfunktion des Ei‐
gentums und weniger eine konkrete Eigentumsform im Blick (vgl. Frotscher/
Kramer 2008: 70; Stober 1996: 213). Das bedeutet, die Form der Gemeinwirt‐
schaft bleibt in Art. 15 GG unbestimmt, es können damit sowohl (private) ge‐
nossenschaftliche Organisationsformen als auch die Überführung in Staatsei‐
gentum gemeint sein (vgl. Frotscher/Kramer 2008: 70). Diese Unbestimmtheit
des Gemeinwirtschaftsbegriffs scheint vor allem ein Resultat der bisherigen
praktischen Bedeutungslosigkeit des Artikels 15 GG zu sein, der bislang nie
zur Anwendung gekommen und damit weiter präzisiert worden ist (vgl.
ebd.: 68).
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Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum
79
so blieb bislang weitestgehend ausgeklammert, dass die Eigentums‐
beziehung in der Praxis ausgefüllt werden muss. Die Frage nach die‐
ser Konkretisierung lässt sich in zwei verschiedenen Hinsichten be‐
greifen. Einerseits kann man darunter verstehen, welche Optionen der
Staat hat, den Bezug von Eigentümern/Eigentümerinnen und Sachen
zu regulieren. Andererseits lässt sich aber auch fragen, welche Gestal‐
tungsmöglichkeiten der Eigentümer/die Eigentümerin hat. In Bezug
auf die erste Fragerichtung sind drei Ansatzpunkte denkbar.
Die erste und grundlegende Möglichkeit der Gestaltung des
Eigentums ist die Definition des Objektbereichs, auf den sich (private)
Eigentumsbeziehungen erstrecken. Damit ist die Frage gemeint, an
welchen Dingen der Welt rechtmäßig Eigentum erworben werden
kann. Im Allgemeinen bezieht sich die deutsche Gesetzgebung hin‐
sichtlich des Eigentums auf Sachen, d. h. es kann z. B. kein Eigentum
an Personen erworben werden. Eine Ausnahme des Sachbezugs stel‐
len die staatseigenen „öffentlichen Sachen“ dar, bei denen ein anderer
Sachenbegriff als derjenige des bürgerlichen Rechts zum Tragen
kommt (vgl. Papier 1998: 2).7 Der Ausschluss von Dingen aus dem
Zugriffsbereich des Eigentums muss nicht bedeuten, dass der Gesetz‐
geber keinen Einfluss auf den Umgang mit diesen Dingen hätte – nur
erfolgt dieser Einfluss eben nicht eigentumsförmig.
Als zweite Option besitzt der Gesetzgeber die Möglichkeit, in
bestimmten Fällen über die Art des Trägers von Eigentumsrechten an
bestimmten Sachen zu verfügen. Während im Standardfall eine Pri‐
vatperson Träger des Eigentumsrechts ist, kann unter den bereits ge‐
nannten besonderen Bedingungen (und auf gesetzlicher Grundlage)
eine Überführung in Formen des Gemeineigentums vorgenommen
werden. Neben diesen juristischen Mitteln kann der Staat natürlich
7 Öffentliche Sachen müssen etwa keine Körperlichkeit (wie die Sachen des
bürgerlichen Rechts) aufweisen, was es erlaubt, z. B. die Atmosphäre oder
Elektrizität als öffentliche Sachen zu klassifizieren (vgl. Papier 1998: 2). Mit der
Klassifizierung als öffentliche Sache ist auch eine „öffentliche Zweckbestim‐
mung“ impliziert. Öffentliche Güter wie Straßen, Wasserwege, der Luftraum
oder Versorgungseinrichtungen haben in diesem Sinne dem Gemeinwohl zu
dienen (ebd.).
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auch als wirtschaftlicher Akteur auftreten und Eigentumsrechte von
Privateigentümern/Privateigentümerinnen erwerben. Dies ist etwa
der Fall, wenn der Staat – zu den Bedingungen des Marktes – Eigen‐
tum an Gütern erwirbt. Mit beiden Mitteln verändert der Staat die
Eigentumsverhältnisse und bringt Güter in seinen Verfügungsbereich.
Die dritte Möglichkeit der Gestaltung des Eigentums besteht
schließlich in seiner Einschränkung durch Gesetze (z. B. im Umwelt‐
oder Denkmalschutz). Hier kann, auf den konkreten Kontext bezogen,
eine Einschränkung der Verfügungsmacht an Sachen vorgenommen
werden.
Auf der anderen Seite hat auch der Eigentümer/die Eigentü‐
merin einer Sache Möglichkeiten, das Eigentumsverhältnis zu gestal‐
ten. Legt man die Definition des Eigentums als Bündel von Rechten
zugrunde, so kann er zunächst einmal von diesen Rechten Gebrauch
machen. Im einfachsten Fall nutzt der Eigentümer/die Eigentümerin
selbst die Sache. Er hat jedoch auch die Möglichkeit, das Rechtebündel
„aufzuspalten“ (Engel 2002: 82). Das bedeutet, es werden nur Teile
der im Eigentum enthaltenen Rechte übertragen, das Veräußerungs‐
recht z. B. bleibt beim Eigentümer/der Eigentümerin (vgl. Schla‐
ger/Ostrom 1992). Ein klassisches Beispiel dafür ist das Mietverhält‐
nis. Der Eigentümer/die Eigentümerin eines Hauses kann dem Mie‐
ter/der Mieterin das Nutzungsrecht für eine bestimmte Zeit vertrag‐
lich überlassen. Nicht aber kann der Mieter/die Mieterin das Eigen‐
tum an dem Haus rechtswirksam übertragen. Zudem können be‐
stimmte Einschränkungen der Nutzung vertraglich vereinbart wer‐
den.
Neben diesen formal‐rechtlichen Gestaltungsoptionen beste‐
hen in der Eigentumspraxis natürlich auch vielfältige Formen nicht‐
juristisch kodifizierter Verfügungsrechte. Gewohnheitsrechtliche Nut‐
zungsregelungen etwa können sehr effektive Handlungs‐
koordinationen darstellen, die oft nur dann reflektiert und als Quasi‐
Eigentum betrachtet werden, wenn es zu Interessenkonflikten kommt.
Die idealtypischen Eigentumsformen können in der Praxis zudem
modifiziert werden, indem etwa Mischformen von (gemeinschaftli‐
chen) öffentlichen und (individuellen) privaten Gütern entstehen.
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Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum
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Nominell gemeinschaftlich und unter der Bedingung gleicher forma‐
ler Zugangsrechte besessenes Land etwa kann in der Praxis durch
Gewohnheitsrechte quasi‐exklusiv benutzt werden, während anderer‐
seits etwa formal privatisierte Güter durch Unterlaufen der exklusi‐
ven Verfügungsmacht zum Gemeingut werden (vgl. Lindner 2008: 7).8
Vice versa kann die Transzendierung der klassischen Eigentumsfor‐
men jedoch auch zu Exklusionsprozessen führen. So sollen Gemein‐
güter in der Regel gleiche Zugangsrechte zu einem Gut ermöglichen,
in der Eigentumspraxis jedoch entstehen allzu oft große Asymmetrien
(vgl. Brown 2007; Ostrom/Schlager 1992: 251 ff.).
3. Eigentum und die Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse
Im folgenden Abschnitt findet nun eine Fokussierung des Blickwin‐
kels auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse durch
Eigentumsbeziehungen statt. Dazu wird zunächst das Konzept der
gesellschaftlichen Naturverhältnisse – als Analyseinstrument ökologi‐
scher Problemlagen – skizziert. Anschließend wird erläutert, in wel‐
cher Weise Eigentum und gesellschaftliche Naturverhältnisse prinzi‐
piell miteinander zusammenhängen, und schließlich ist zu klären, wie
eine Regulation durch die Eigentumsordnung konkret aussehen kann.
Dies wird am Beispiel der Forderung nach Einrichtung von Gemein‐
gütern illustriert.
3.1 Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse
„Gesellschaftliche Naturverhältnisse“ sind – vor allen empirischen
Tatsachen – zunächst einmal als ein analytisches Konzept zu begrei‐
fen. Das Konzept hebt eine dialektische Perspektive hervor, in der
Natur und Kultur „konstitutiv aufeinander bezogen“ sind (Be‐
cker/Jahn/Hummel 2006: 175).
8 David Stark hat dies unter dem Stichwort „recombinant property“ in die sozi‐
alwissenschaftliche Debatte eingeführt (Stark 1996).
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Karsten Gäbler
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Im Brennpunkt dieser Perspektive stehen Praktiken, die drei
Hauptmomente sind das Individuum, Gesellschaft und Natur (vgl.
Becker 2006: 36). Es geht folglich um gesellschaftlich eingebettete in‐
dividuelle Praktiken, in denen Natur und Umwelt auf der materiellen
sowie der symbolischen Ebene strukturiert werden. Zu diesen „zwi‐
schen Gesellschaft und Natur regulierend vermitteln[den]“ Praktiken
gehören ganz allgemein etwa Arbeit, Produktion, Ernährung, Land‐
nutzung, Mobilität und Wohnen (Becker/Jahn 2003: 103).
Für die Frage nach der Regulation gesellschaftlicher Naturver‐
hältnisse ist dieser Fokus folgenreich. Sie stellt sich konsequenterwei‐
se nämlich nicht als eine Frage nach staatlicher oder supranationaler
Umweltpolitik – wenngleich diese natürlich ein Bestandteil gesell‐
schaftlicher Naturverhältnisse sein können –, sondern als Frage nach
alltäglichen Praktiken sowie deren beabsichtigten und unbeabsichtig‐
ten Folgen. Die ökologische Krise wird in dieser Perspektive als ein
Versagen dieser alltäglichen Praktiken interpretiert, das Konsequen‐
zen von der lokalen bis in die globale Ebene nach sich zieht (vgl. Be‐
cker/Jahn/Hummel 2006: 193).
Eine Regulation der gesellschaftlichen Naturverhältnisse
nimmt folglich an den genannten Praktiken ihren Anfang. Der Dop‐
pelcharakter des Konzepts der gesellschaftlichen Naturverhältnisse
weist dabei darauf hin, dass die alltäglichen Praktiken sowohl eine
stofflich‐energetische Dimension als auch die kulturelle Symbolisie‐
rung umfassen (Becker/Jahn 2003: 101). Regulation gesellschaftlicher
Naturverhältnisse beginnt demnach bereits bei der mehr oder minder
strikt durchgehaltenen begrifflichen Unterscheidung zwischen Natur
auf der einen und Kultur auf der anderen Seite.
In spätmodernen Gesellschaften sind zahlreiche dieser Unter‐
scheidungspraktiken nun in hohem Maße institutionalisiert. Dies
kann sich in verfestigten kulturellen Deutungsmustern von Natur
zeigen oder in sozialen Regulationen des Naturbezugs – etwa in Form
von Gesetzen oder moralischen Ordnungen. Als zentrale soziale Insti‐
tution ist das Eigentum eine der Schlüsselformen der Regulation ge‐
sellschaftlicher Naturverhältnisse.
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Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum
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3.2 Eigentum und gesellschaftliche Naturverhältnisse
Mit Blick auf die genannten grundlegenden Praktiken ist die eminente
Rolle des Eigentums für die Gestaltung gesellschaftlicher Naturver‐
hältnisse leicht einsichtig. Produktion, Landnutzung oder das Woh‐
nen – um nur drei zu nennen – sind allesamt Tätigkeiten, die auf ver‐
schiedenen Ebenen in hohem Maße eigentumsrechtlich gesteuert sind.
Und es fällt schwer, sich überhaupt Tätigkeiten vorzustellen, die nicht
in irgendeiner Form etwas mit der Unterscheidung zwischen „mein“
und „nicht‐mein“ und den damit implizierten verfügungsrechtlichen
Bestimmungen zu tun haben. Becker/Jahn (2003: 104) sprechen daher
zu Recht von Eigentumsverhältnissen als „Regulationsmuster[n]“ auf
der Makroebene, analog z. B. zu anderen grundlegenden Kategorien
wie Geschlechterverhältnissen. Auf die Frage, wie Eigentum und die
Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse miteinander zusam‐
menhängen, ließe sich also zunächst einmal festhalten: Indem in der
Eigentumsordnung die Bezugnahme zu Dingen in der Welt geregelt
wird, wird damit unter anderem auch der Gesellschaft‐Natur‐Bezug
strukturiert.
Mit der Rede von der Regulation gesellschaftlicher Naturver‐
hältnisse ist die Frage nach dem Subjekt der Regulation verbunden.
Was bereits in den Ausführungen zur Gestaltbarkeit des Eigentums
dargestellt wurde, gilt auch für diese Frage: Einerseits gibt es eine
individuelle Eigentumspraxis, andererseits, auf der Makroebene, die
Rahmung durch den Staat und die Gesetze. Die Individuen setzen
sich materiell und symbolisch zu Natur in Beziehung, indem sie etwa
ein Eigenheim erwerben, die Verhaltensregeln eines Naturschutzge‐
bietes anerkennen oder die Pacht für einen Kleingarten entrichten.
Der Staat hingegen strukturiert durch seine Gesetzgebung das Han‐
deln der Akteure. Er differenziert z. B. in der Gesetzgebung zwischen
‚wertvoller’ und ‚nicht‐schützenswerter’ Natur, indem er Standards
für Umwelt‐ und Naturschutz bestimmt, er ermöglicht privates Eigen‐
tum an Land, entschädigt für Enteignungen im Zuge der Einrichtung
eines Naturschutzgebietes usw.
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Einen besonders aufschlussreichen Fall der Regulation gesell‐
schaftlicher Naturverhältnisse qua Eigentum stellt die Forderung nach
gemeinschaftlicher Bewirtschaftung bedeutsamer Umweltgüter dar
(vgl. z. B. Barnes 2006: 65 ff.; Gresh 2006: 106 f.). In diesen Bemühun‐
gen zeigt sich geradezu paradigmatisch, mit welchen Schwierigkeiten
der Versuch der Entwicklung angemessener Regulationsformen der
gesellschaftlichen Naturverhältnisse verbunden ist.
3.3 Die Wiederkehr der Gemeingüter
Will man die ökologische Krise auf eine griffige Formel bringen, so
ließe sich behaupten dass hier erstmals Dinge als knapp erlebt wer‐
den, die zuvor in unbegrenztem Maße verfügbar erschienen. Dies
bezieht sich etwa auf saubere Luft, Trinkwasser, ozeanische Fischbe‐
stände, eine funktionierende Ozonschicht etc. Das Erleben von
Knappheit führt in der Regel dazu, den Zugang zu einem Gut zu kon‐
trollieren. Es ist leicht einsichtig, dass dies im Falle der üblicherweise
als „globale Probleme“ angesehenen Umweltgüter nur schwer mög‐
lich ist. Sie haben deshalb – aus materieller bzw. technischer Sicht –
den Charakter von Gemeingütern9, da der Zugang zu ihnen technisch
oft kaum zu regulieren ist. Andererseits herrscht, möglicherweise als
Folge der quasi erzwungenen Gemeingutstruktur, die Überzeugung,
diese Güter sollten auch als globales Gemeingut anerkannt werden.10
Die Forderungen nach Anerkennung als globale Gemeingüter
beinhalten dabei zwei Annahmen: Zum Ersten wird damit behauptet,
dass die Propertisierung Umweltprobleme zu lösen imstande ist.
Zweitens ist darin die stärkere Behauptung enthalten, die geeignete
Eigentumsform dazu sei das Gemeineigentum.
Gegenüber der Propertisierungsthese wird kaum Einspruch
erhoben. Es gehört zum Commonsense, dass die im Eigentum erzielte
9 Im Sinne einer allgemeinen Unterscheidung zwischen individuellen und ge‐
meinschaftlichen Gütern. 10 Hier jedoch im engeren Sinne des Begriffes: Eigentum einer Gruppe (im Falle
der globalen Gemeingüter freilich alle Menschen umfassend), über das klare
Nutzungsregelungen bestehen.
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Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum
85
Verknüpfung eines Gutes mit dem Interesse der Eigentümer/in oder
des Eigentümers einem sinnvollen Einsatz des Gutes dienlich ist.
Selbst wenn (wie prima facie im Privateigentum) Zweifel an der Hege
eines Gutes entstehen können, hat der Staat die Möglichkeit, die Sozi‐
albindung des Eigentums durchzusetzen.11 „Eigentum verpflichtet“,
diese Vorschrift hat schließlich für alle Eigentumsformen Geltung –
nur muss sie auch konkretisiert werden.
Im Hinblick auf die Forderung einer Gemeingutstruktur hin‐
gegen herrscht Uneinigkeit. Oft wird sich auf Aristoteles’ (1990:
1261b) Diktum bezogen, dass für dasjenige, „was sehr vielen gemein‐
sam zugehört, […] am wenigsten Sorge getragen [wird]“, um Ge‐
meingüter als uneffizient abzulehnen (vgl. auch Ciriacy‐
Wantrup/Bishop 1975: 713 ff.; Lloyd 1968 [1837]: 18 ff.).
Der Grund dafür wird im sozialen Dilemma des Trittbrettfah‐
rerproblems gesehen. Wenn viele Nutzer/innen gemeinsam auf eine
Ressource zugreifen, hat niemand einen Anreiz, das entsprechende
Gut zu schonen. Durch den individuellen Charakter des Nutzens und
die kollektive Natur des Schadens sowie dadurch, dass die Akteure
die Abnahme des Kollektivertrags individuell nicht berücksichtigen,
führt das rationale Handeln des Einzelnen zum irrationalen Handeln
der Gemeinschaft. Oder wie der Biologe Garrett Hardin in seiner
berühmten Hirtenparabel der „Tragödie der Allmende“ formuliert:
„Each man is locked into a system that compels him to increase his
herd without limit – in a world that is limited. Ruin is the destination
to which all men rush, each pursuing his own best interest in a society
that believes in the freedom of the commons” (Hardin 1968: 1244).
Zur Lösung dieses Problems schlägt Hardin eine Überfüh‐
rung wichtiger Umweltgüter in Privateigentum oder Staatseigentum
vor (vgl. Hardin 1968: 1245). Historisch ist diese Lösung bekannt:
Zwangsprivatisierungen zur Steigerung der Ertragsleistungen der
Landwirtschaft gab es bereits im 18. Jahrhundert z. B. in Preußen und
Österreich (vgl. Bücher 1902: 7), einem ähnlichen Prinzip folgen die
11 Wenn er sie denn – bislang ist ja nur vom bundesdeutschen Recht ausgegan‐
gen worden – rechtlich vorsieht.
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Karsten Gäbler
86
„Enclosures“ im England des 17. Jahrhunderts (vgl. Blomley 2007).
Auch aktuell kann dies beobachtet werden, etwa bei der Verstaatli‐
chung von Wäldern oder Fischgründen (vgl. etwa Bohnet/Frey
1996: 293).
Kritiker der theoretischen Annahmen Hardins und der darauf
aufbauenden umweltpolitischen Maßnahmen verweisen jedoch oft
auf die paradoxen empirischen Folgen von Privatisierung und Ver‐
staatlichung: Gerade diejenigen Instrumente nämlich, die zur Erhal‐
tung eines Umweltgutes führen sollen, bewirken im Großteil der em‐
pirisch belegten Fälle eher das Gegenteil. Die Verstaatlichung zieht
einen Niedergang der Hege des Guts nach sich (vgl. Acheson u. a.
1998: 77, 86; Bohnet/Frey 1996: 293; Goldman 1998: 21 f.), und auch die
Privatisierung garantiert keineswegs die Verhinderung einer Tragödie
der Allmende (vgl. Trawick 2003: 978).
Begründen lassen sich diese paradoxen Konsequenzen einer‐
seits mit einer begrifflich‐konzeptionellen Verwirrung der
Allmendetheorie, andererseits mit einer Kritik der handlungstheoreti‐
schen Prämissen dieses Denkens.
Begrifflich verwechseln die Gemeingutkritiker Gemeineigen‐
tum und Eigentum jedermanns. Das heißt sie gehen in ihrer Modell‐
bildung von einem in der sozialen Wirklichkeit eher selten zu be‐
obachtenden Fehlen von Aneignungsregeln aus – während das z. B.
von Hardin gewählte Bild der mittelalterlichen Allmende geradezu
prototypisch für die klare Regelung des Zugangs zu einem Gut inner‐
halb einer Gemeinschaft ist.
Zweitens sind die handlungstheoretischen Prämissen des Mo‐
dells von der Eigentumspraxis häufig widerlegt worden. So funktio‐
nieren (tatsächliche) Gemeingutbewirtschaftungen oft problemlos.
Ostrom (1998: 109 f.) etwa belegt für erfolgreich kooperierende Fi‐
schergemeinschaften, dass in kleinen, hauptsächlich auf direkten Kon‐
takten basierenden Sozialsystemen die Selbstregulation der Ressour‐
cennutzung eher die Regel als die Ausnahme ist. Kleine, homogene
Sozialverbände mögen dabei stärker ausgeprägte Kooperationsmuster
aufweisen als große, abstrakte Gemeinschaften. Dieser Umstand muss
jedoch nicht notwendigerweise bedeuten, dass allein die Größe einer
Page 88
Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse durch Eigentum
87
Gemeinschaft für den Erfolg kooperativer Strategien ausschlaggebend
ist.
Für die Frage nach der Regulation gesellschaftlicher Natur‐
verhältnisse durch Eigentumsbeziehungen sind die Ergebnisse der
hier nur grob skizzierten Gemeingutdebatte folgenreich. Wie das bei
Hardin problematisch zitierte Beispiel der mittelalterlichen Allmende
nämlich zeigt, kann es in Sozialsystemen wirkungsvolle verfügungs‐
rechtliche Regelungen jenseits formaler rechtlicher Kodifizierung ge‐
ben (vgl. Siegrist/Sugarman 1999: 28 f.). Ähnlich den Mitgliedern der
traditionellen Dorfgemeinschaft, die sich an nicht schriftlich fixierten,
aber deshalb nicht minder bindenden Verhaltensnormen im Umgang
mit Ressourcen orientieren (etwa an ungeschriebenen moralischen
Normen), ist eine wirksame Eigentumspraxis jenseits rechtlicher Re‐
gelung auch für aktuelle Probleme im Umgang mit Umweltgütern zu
untersuchen. Die Steuerung von Eigentumsverhältnissen zum Zweck
der Regulation problematisch gewordener Naturverhältnisse kann
sich angesichts dessen nicht ausschließlich am juristischen Eigen‐
tumsverständnis bzw. an Idealtypen von Eigentumsformen orientie‐
ren, sondern muss die vielfältigen in der Praxis etablierten Formen
von Verfügungsrechten – gewohnheitsrechtlich geregelte Mischfor‐
men individuellen und kollektiven Eigentums etwa – zur Kenntnis
nehmen und in die Bearbeitung des Einzelfalls integrieren.
4. Zusammenfassung
Die innerste Leistungsfähigkeit des Eigentums ist die Koordination
sozialer Beziehungen, und zwar sowohl in ermöglichender als auch in
einschränkender Hinsicht. Eigentum kann als soziale Institution zur
Stabilisierung von Gesellschaft beitragen und es ist zu vermuten, dass
Eingriffe in die allgemeine Eigentumsordnung gravierende soziale
Veränderungen nach sich ziehen. Im Eigentum sind normative Vor‐
stellungen enthalten – und zwar nicht nur in dem allgemeinen Sinne,
dass es als ein Begriff der Rechtssphäre per definitionem einen
Sollensanspruch umfasst. Vielmehr ist die durch die Gesetze erfol‐
gende inhaltliche Ausgestaltung des Eigentums von bestimmten nor‐
Page 89
Karsten Gäbler
88
mativen Vorstellungen über gesellschaftliches Zusammenleben und
den Naturbezug geprägt.
Die Kategorie des Eigentums in den Blickpunkt einer Analyse
der gesellschaftlichen Naturverhältnisse zu rücken, erlaubt also eine
umfassende, gesellschafts‐ bzw. politiktheoretisch rückgebundene
Analyse von (problematischen) Mensch‐Natur‐Beziehungen. Mit einer
eigentumstheoretischen Perspektive werden sowohl die Beziehungen
zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. Bürger und Staat, aber
auch zwischen formal‐rechtlich kodifizierten Eigentumsbeziehungen
einerseits und in der Praxis etablierten Verfügungsrechten anderer‐
seits zum Gegenstand gemacht.
Bereits an der Oberfläche zeigt sich dabei, dass ein einfacher
Zusammenhang zwischen der Spezifizierung von Verfügungsrechten
und der Bearbeitung ökologischer Problemlagen nicht gegeben ist.
Eigentumsordnungen können, mit anderen Worten, nicht als simple
Stellschraube der Veränderung des Naturbezugs aufgefasst werden.
Im Hinblick auf die empirische Vielfalt verfügungsrechtlicher Rege‐
lungen gilt es daher, die Interdependenzen zwischen individuellen
naturbezogenen Praktiken und deren normativer – d. h. sowohl for‐
mal‐rechtlicher als auch moralischer – Rahmung weiter zu untersu‐
chen.
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Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz für die Wechsel-beziehungen von Umwelt, Politik und Gesellschaft
Henrike Rau
1. Einleitung
Die Konsequenzen zunehmender räumlicher Mobilität für Mensch
und Umwelt und die gesellschaftlichen Ursachen und Folgen ungleich
verteilter Mobilitätschancen fanden bis in die 1990er Jahre kaum sozi‐
alwissenschaftliche (und auch selten verkehrspolitische) Beachtung
(vgl. Rammler 1999). In der Umweltsoziologie spielte Mobilität bisher
ebenfalls eine untergeordnete Rolle und wurde stattdessen häufig als
ingenieur‐ und wirtschaftswissenschaftliches Thema angesehen (vgl.
Buhr u. a. 1999; Schöller 2007). In den letzten Jahren ist das sozialwis‐
senschaftliche Interesse an Verkehrs‐ und Mobilitätsfragen allerdings
maßgeblich gestiegen, wobei Zusammenhänge zwischen Mobilitäts‐
angeboten, Zugänglichkeit und sozialer Inklusion/Exklusion besonde‐
re Beachtung gefunden haben (vgl. Cass/Shove/Urry 2005; Preston
2009). So hat es besonders in der englischsprachigen Literatur Vor‐
schläge für einen theoretischen und methodologischen Kurswechsel
in der Soziologie gegeben, der eine Priorisierung von Mobilität und
die Ablösung tradierter sozialwissenschaftlicher Paradigmen durch
ein „neues Mobilitätsparadigma“ propagiert (vgl. Cresswell 2006;
Sheller/Urry 2006; Urry 2000a und b, 2007). Gleichzeitig wurden
Kernkonzepte der empirischen Sozialforschung wie die Zentralität
des Nationalstaates als Untersuchungseinheit in Frage gestellt (vgl.
Appadurai 1996) und Themen wie (umweltbedingte) Migration und
Verkehrs‐ und Raumplanung zunehmend aufgegriffen.
Page 95
Henrike Rau
94
Das gestiegene Interesse an Mobilitätsfragen in der Umwelt‐
soziologie hat verschiedene Gründe. Zum einen hat Mobilität in ihrer
Rolle als sozial‐räumliche Praxis unmittelbare Auswirkungen auf die
Umwelt und wird gleichzeitig von Umweltfaktoren beeinflusst bzw.
eingeschränkt. Die Nutzung fossiler Brennstoffe (z. B. für die Herstel‐
lung und den Betrieb von Fahrzeugen und das Bereitstellen von Ver‐
kehrsinfrastruktur) und die sich daraus ergebenden Konsequenzen
für Mensch und Umwelt verdeutlichen diesen Zusammenhang. Der
Verkehrssektor ist weltweit eine der wichtigsten Quellen klimaschäd‐
licher Gase – Tendenz steigend (vgl. Brenck/Mitusch/Winter 2007).
Zum anderen ist das Verhältnis zwischen mobiler Gesellschaft
und Umwelt zum Ziel zahlreicher Gestaltungs‐ und Regulierungsver‐
suche und damit auch zum Gegenstand sozialwissenschaftlichen Inte‐
resses geworden. In vielen Industrie‐ und Schwellenländern sind heu‐
te diverse Akteursgruppen mit der konzeptionellen Ausarbeitung und
praktischen Umsetzung mobilitätsbezogener Regulierungsansätze
beschäftigt (z. B. politische Institutionen auf lokaler, regionaler, natio‐
naler und supranationaler Ebene, Vertreter der Wirtschaft, NGOs und
Bürgerinitiativen). Die daraus entstehenden politisch‐institutionellen
Strukturen und Handlungsräume reflektieren dabei häufig die Ten‐
denz spätmoderner Demokratien zum mehrstufigen Regieren (multi‐
level governance). Allerdings zeigen mobilitätspolitische Entscheidun‐
gen in Europa, dass sich politische Macht noch immer auf höheren
Ebenen (national und supranational) konzentriert und die Regulie‐
rung von Mobilitätsmustern häufig fest an die etablierten Institutio‐
nen liberaler Demokratien gebunden ist. Partizipative Ansätze, die
eine Bürgerbeteiligung „von unten“ anstreben, sind in technischen
Bereichen wie der Verkehrsplanung nach wie vor selten. Das wird am
Beispiel verkehrs‐ und mobilitätsbezogener Umweltkonflikte in der
Republik Irland deutlich, die durch konstruktive Bürgerbeteiligung
bei der Planung und Umsetzung von Verkehrsinfrastrukturprojekten
hätten abgeschwächt bzw. verhindert werden können (vgl. Rau
Page 96
Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz
95
2008).1 Gleichzeitig hat eine geringe Bürgerbeteiligung an Verkehrs‐
und Mobilitätsentscheidungen in Irland (und andernorts) oftmals zur
Folge, dass gesellschaftlich brisante Themen wie die vielseitigen Ver‐
knüpfungen von Bürgerrechten und räumlicher Mobilität, das Recht
auf selbstgewählte räumliche Immobilität sowie Ansprüche auf „freie
und nachhaltige Mobilität“ (Matzloff 2009: 9) in der öffentlichen De‐
batte kaum Beachtung finden. Andererseits können partizipative Pro‐
zesse in der Verkehrsplanung auch neue Risiken erzeugen, die die
Handlungsmöglichkeiten politisch schwächerer Akteure (z. B. ehren‐
amtliche Vereine, Gemeinden) einschränken und die Gefahr verschie‐
dener organisatorischer und finanzieller Abhängigkeiten erheblich
erhöhen (vgl. Rau/Hennessy 2009).2 Diese und andere Themen sind
zweifellos für die sozialwissenschaftliche Nachhaltigkeitsforschung
relevant.
Welche Möglichkeiten bietet die theoriengeleitete soziologi‐
sche Erforschung sozialer und ökologischer Aspekte räumlicher Mo‐
bilität, globale Nachhaltigkeitsprobleme besser verstehen und gege‐
benenfalls auch beeinflussen zu können? Welche Vorteile und Risiken
kann eine solche „Mobilitätswende“ in der Umweltsoziologie mit sich
bringen? Dieser Beitrag plädiert für eine kritische Auseinanderset‐
zung mit gegenwärtigen Vorschlägen, soziologische Theorien und
Forschungsansätze zu „mobilisieren“. Die nachfolgenden Ausführun‐
gen konzentrieren sich auf das von dem britischen Soziologen John
1 So bietet in Irland eine Beteiligung an verkehrsbezogenen Planfeststellungsver‐
fahren einzelnen Bürgerinnen und Bürgern und nichtstaatlichen (Umwelt‐)
Organisationen oftmals nur begrenzte Möglichkeiten, deren Ausgang zu be‐
einflussen. Die Gründe dafür liegen u. a. in der starken Zentralregierung, der
politischen und finanziellen Schwäche kommunaler Akteure sowie in der weit
verbreiteten ablehnenden Haltung gegenüber stärkerer Bürgerbeteiligung. 2 Rau und Hennessys (2009) Vergleich zwischen der Republik Irland und Nord‐
irland zeigt, dass eine verstärkte Beteiligung nichtstaatlicher Organisationen
wie z. B. ehrenamtlicher Vereine an der Umsetzung verkehrspolitischer Strate‐
gien sowohl Vorteile wie mehr Mitspracherecht und erhöhte staatliche Zu‐
wendungen als auch erhebliche personelle und finanzielle Belastungen mit
sich bringen kann. Die kritische, sachbezogene Haltung gemeinnütziger Verei‐
ne kann durch Kooption ebenfalls eingeschränkt werden.
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Henrike Rau
96
Urry (2000a, 2007) entwickelte „neue Mobilitätsparadigma“, im Be‐
sonderen dessen Relevanz für die umweltsoziologische Mobilitäts‐
und Verkehrsforschung und deren praxisbezogene Anwendung zur
Regulierung nicht‐nachhaltiger Mobilitätsmuster (z. B. Abhängigkeit
vom motorisierten Individualverkehr). Dabei stehen drei Kernfragen
im Mittelpunkt: Welches Gesellschaftsbild liegt dem Mobilitätspara‐
digma zugrunde, welche Akteure spielen darin eine Rolle und welche
Möglichkeiten der Regulierung von Natur‐Gesellschaft‐Interaktionen
sind darin verankert?
Mit Hilfe theoretischer Überlegungen und ausgewählter em‐
pirischer Beispiele aus der Mobilitätsforschung sollen nachfolgend die
scheinbar „verselbständigte Grenzenlosigkeit“ spätmoderner sozial‐
räumlicher Praktiken und deren Auswirkungen auf Mensch und
Umwelt beleuchtet werden. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit das
„neue Mobilitätsparadigma“ eine Neubewertung und innovative
umweltsoziologische Erforschung von Gesellschaft‐Umwelt‐
Interaktionen fördert. Der Beitrag konzentriert sich zunächst auf poli‐
tische und sozio‐kulturelle Aspekte räumlicher Mobilität in
(spät)modernen Gesellschaften und deren Behandlung im Rahmen
der (Umwelt‐)Soziologie. Daran schließt sich eine kritische Untersu‐
chung des von Urry entwickelten „neuen Mobilitätsparadigmas“ an,
wobei dessen Kernaussagen zur Entwicklung sozio‐technischer
Mobilitätssysteme und deren Folgen für Mensch und Umwelt beson‐
dere Beachtung erfahren. Darauf aufbauend widmet sich der Artikel
der Frage, welche noch verbleibenden bzw. neu enstandenen Mög‐
lichkeiten der Regulierung von Mobilität und Gesellschaft‐Natur‐
Wechselbeziehungen existieren, wobei die politische Einflussnahme
durch nationalstaatliche Institutionen sowie nicht‐staatliche und zi‐
vilgesellschaftliche Akteure im Mittelpunkt steht.
Page 98
Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz
97
2. Mobilität in der (umwelt)soziologischen Forschung
2.1 Mobilität und Moderne: Zweckgemeinschaft oder Wahl-verwandtschaft?
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Soziologie mit grundlegenden
Veränderungen in der Zusammensetzung und Entwicklung spätmo‐
derner Gesellschaften befasst und häufig eine „Verflüssigung“ sozia‐
ler Strukturen auf globaler Ebene sowie die damit verbundene räum‐
liche Mobilisierung sozialer Beziehungen prognostiziert (vgl. z. B.
Bauman 2000, 2006). Die schrittweise Auflösung traditioneller Formen
des sozialen Miteinanders (wie Kernfamilie, nachbarschaftliche Ge‐
meinschaft oder nationalstaatliches Gefüge), die zunehmende Indivi‐
dualisierung von Lebensläufen (vgl. Leisering/Leibfried 1999;
Scherger 2007) sowie die anthropogene Umweltzerstörung (vgl. Beck
1986, 2007) sind für viele Autorinnen und Autoren beispielhaft für
den rasanten gesellschaftlichen Wandel an der Schwelle zum 21. Jahr‐
hundert. Gleichzeitig werden in diesen Transformationsprozessen
auch die Ursachen und Auswirkungen (un)freiwilliger Mobilität von
Menschen, Kapital, Waren und Informationen sichtbar. Zusammen‐
hänge zwischen physischer Mobilität, globaler Vernetzung und sozia‐
lem Wandel sind deshalb in den letzten Jahren in den Mittelpunkt
soziologischer Forschung und Theorienbildung gerückt (vgl. Giddens
1990; Urry 2000a und b, 2007; Cresswell 2006).
Die Modernisierung der Republik Irland in den letzten Jahr‐
zehnten und der damit verbundene Übergang von einem landwirt‐
schaftlich geprägten Land hin zur „hypermobilen“, post‐industriellen
Gesellschaft soll hier stellvertretend als Beispiel für die „Wahlver‐
wandtschaft von Mobilität und Moderne“ (vgl. Rammler 1999) ange‐
führt werden. Besonders der in den 1990er Jahren einsetzende rapide
gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandel dieses westeuropäischen
Inselstaates – der so genannte Celtic Tiger – ging mit einem ebenso
rasanten Mobilitätsanstieg einher (Tabelle 1; vgl. Edmondson 1998;
Killen 2007).
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Henrike Rau
98
Tabelle 1: Ausgewählte Mobilitätsindikatoren für die Republik Irland,
1997/2007
1997 2007
Registrierte Kfz (privat) 1.134.429 1.882.901
Neu angemeldete Kfz (privat) mit Hubraum
> 1500 ccm
(% aller Neuanmeldungen)
43.892
(34,9 %)
96.287
(53,3 %)
Durchschnittliche km/Jahr für private Kfz 18.572* 17.137
km/Jahr für Lkw (in Mio.) 1.208 2.662
Quelle: Central Statistics Office Ireland (CSO) 2007; Sustainable Ener‐
gy Ireland (SEI) 2006). * Angabe für 2001
Dabei ist die in Irland zu beobachtende Dominanz des motorisierten
Individualverkehrs (MIV) keineswegs ein Ausnahmefall, sondern
spiegelt Mobilitätstrends in anderen Industrie‐ und Schwellenländern
wider. Allerdings sind sowohl der Motorisierungsgrad als auch das
damit verbundene „Konsumieren von Entfernung“ im internationalen
Vergleich ungewöhnlich hoch (Tabelle 2). Krawczyk und Ronchetti
(2009) stellen fest, dass der durchschnittliche Kilometerstand pro Jahr
für Pkw in der Republik Irland 70 % höher ist als in Deutschland und
Frankreich, 50 % höher als in Großbritannien und 30 % höher als in
den USA. Wobei festzuhalten ist, dass ein hoher Mobilisierungsgrad
nicht zwangsläufig einen hohen Kilometerstand bedeutet, denn die
Verbindung zwischen Autobesitz und Autonutzung ist häufig starken
intra‐ und internationalen Schwankungen unterworfen (vgl. Wickham
2006). Nichtsdestotrotz belegen diese Indikatoren die wachsende Be‐
deutung (individualisierter) räumlicher Mobilität, deren soziale und
ökologische Auswirkungen jedoch bisher in der Soziologie wenig
Beachtung erfahren haben.
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Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz
99
Tabelle 2: Motorisierungsgrad ausgewählter EU‐Länder3 1970‐2006
Anzahl Kfz pro 1000 Einwohner
1970 1980 1990 2000 2006
EU27 – – 345 427 466
EU15 183 293 405 478 508
EU12 – – 140 243 307
Dänemark 218 271 309 347 371
Finnland 155 256 388 412 475
Irland 132 215 228 348 418
Österreich 160 297 388 511 507
Slowakei 36 110 166 237 247
Quelle: European Commission 2008a
Soziologen bewerten die durch Globalisierungs‐ und Mobilisierungs‐
prozesse bedingten gesellschaftlichen Veränderungen oft sehr unter‐
schiedlich. Pessimistische Perspektiven, die den Zerfall sozialer
Grundstrukturen prognostizieren, stehen hier optimistischeren Aus‐
blicken gegenüber, die in der zunehmenden globalen Vernetzung
neue Handlungsspielräume und Möglichkeiten für Veränderung
vermuten. Abhandlungen, die sich mit dem rasanten Anstieg des mo‐
torisierten Individualverkehrs befassen, verdeutlichen diese Vielfalt in
der Bewertung globaler Entwicklungen. Während einige Autoren die
negativen Folgen der (Auto‐)Mobilisierung moderner Gesellschaften
wie die eingeschränkte Bewegungsfreiheit für nicht motorisierte Per‐
sonen, Unfallrisiken und Umweltzerstörung kritisieren (vgl.
Whitelegg 1997; Böhm u. a. 2006), betonen andere den positiven Bei‐
trag gesteigerter Mobilität zur Bekämpfung von Armut und sozialer
Ausgrenzung (vgl. Kenyon/Lyons/Rafferty 2001; Hine/Mitchell 2003;
3 Die hier betrachteten Länder ähneln sich hinsichtlich ihrer Fläche bzw. Ein‐
wohnerzahl und Bevölkerungsdichte, zeichnen sich aber durch unterschiedli‐
che Entwicklungspfade und (verkehrs)politische Grundstrukturen aus. Die zu
beobachtende Steigerung des Mobilitätsgrades zwischen 1970 und 2006 weist
jedoch Parallelen auf.
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Henrike Rau
100
Cass/Shove/Urry 2005) und zur Gleichstellung von Frauen und Män‐
nern (vgl. Grieco/Pickup/Whipp 1989).
2.2 Die Soziologie der Räumlichen Mobilität: Erste Versuche und kritische Stimmen
Obwohl räumliche Mobilität eine immer größere Rolle in der Gestal‐
tung zwischenmenschlicher und sozial‐ökologischer Beziehungen
spielt, fand sie bisher in der Umweltsoziologie nur wenig Beachtung.
Sie wurde stattdessen häufig geografischen, städteplanerischen und
ingenieurwissenschaftlichen Forschungsfeldern zugeordnet. Aus der
Nachhaltigkeitsforschung stammende Beiträge zur postfossilen Mobi‐
lität konzentrierten sich bisher meist auf praktische und verkehrspoli‐
tische Veränderungen wie die Entwicklung multimodaler Mobilitäts‐
konzepte in Städten, gingen aber nur bedingt auf soziale and politi‐
sche Ursachen und Folgen erhöhter und zunehmend individualisier‐
ter (Auto‐)Mobilität ein.
Dieses „soziologische Desinteresse“ an Mobilitäts‐ und Ver‐
kehrsthemen hat vielfältige Gründe, wobei zumindest zwei miteinan‐
der verknüpfte Faktoren herausstechen. Zum einen spielte die wis‐
senschaftlich‐disziplinäre Abgrenzung der Soziologie (und anderer
Sozialwissenschaften) von den Naturwissenschaften und die damit
verbundene Legitimierung bestimmter Forschungsfelder eine ent‐
scheidende Rolle. Eines der Kernprinzipien klassischer soziologischer
Forschung, nämlich „Soziales aus Sozialem zu erklären“ (Durkheim),
führte in der Vergangenheit häufig zur Vernachlässigung physischer
Ursachen und Folgen menschlichen Verhaltens (vgl. Kraemer 2008).
Dies trifft auch auf die Behandlung von Verkehrs‐ und Mobilitätsfra‐
gen zu (vgl. Rau 2009). Rammler (1999: 42) spricht von „verkehrssozi‐
ologischen Spurenelementen“, die seit den Anfängen der Soziologie
im 19. Jahrhundert bis in die 1990er Jahre kaum einer Systematisie‐
rung unterlagen. Stattdessen bietet die soziologische Literatur einige
wichtige Einzelbeiträge oder verkehrs‐ und mobilitätsbezogene
Randbemerkungen innerhalb breiter angelegter Abhandlungen über
die Entwicklung moderner Gesellschaften wie z. B. Robert E. Parks
humanökologisch orientierter Aufsatz „The Mind of the Hobo:
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Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz
101
Reflections upon the Relation between Mentality and Locomotion“
(1925/1967) oder Georg Simmels Aufsatz „Die Großstadt“ (1903b), der
unter anderem Bezug auf die Auswirkungen des Stadtverkehrs auf
das Individuum nimmt.
Zum anderen hatte die disziplinäre Ausdifferenzierung in‐
nerhalb der Sozialwissenschaften eine thematische und methodologi‐
sche Diversifizierung zur Folge. Die schrittweise Abgrenzung der
Soziologie von anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen führte
u. a. zu einem Ausklammern zahlreicher physischer Phänomene aus
der etablierten soziologischen Forschung. Im Zuge dieser Ausdiffe‐
renzierung wurde die Erforschung sozialer und kultureller Einfluss‐
größen auf gesellschaftliche Mobilitäts‐ und Raumnutzungsmuster
häufig Fächern wie der Humangeografie, Architektur und Stadtpla‐
nung überlassen. Trotz nennenswerter Versuche, eine Soziologie des
Raumes zu etablieren (vgl. Simmel 1903a; Lefèbvre 1974/1991; Sennet
1977, 1990), gilt die Beschäftigung mit sozial‐räumlichen Phänomenen
wie z. B. eine gerechte Verteilung von Verkehrsinfrastruktur und ihrer
Risiken und die daran gekoppelten Muster von sozialer Inklusion und
Exklusion immer noch als soziologisches Randthema (vgl. Rau 2009).
Das trifft ebenso auf die Verkehrssoziologie zu, die bis Ende der
1980er Jahre vielerorts noch den Status einer ‚Hilfswissenschaft’ hatte
und trotz zahlreicher Entwicklungssprünge in den 1990er Jahren wei‐
terhin eine untergeordnete Rolle in (politischen) Verkehrsdebatten
spielt.
Zweifellos hat das gestiegene öffentliche Interesse an den
Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Umwelt und deren
Folgen für Politik und Wirtschaft zur derzeitigen Ausweitung sozio‐
logischer Forschung auf nicht‐traditionelle Themenfelder wie Mobili‐
tät, Verkehr und Raumnutzung beigetragen (vgl. Corcoran 2006;
Corcoran/Gray/Peillon 2007, 2009). Das ist einerseits positiv, weil
raumorientierte Arbeitsfelder wie die Planung von Verkehrs‐ und
Siedlungsstrukturen dadurch eine zusätzliche soziologische Dimensi‐
on erhalten. Andererseits ist zu bemerken, dass sich viele soziologi‐
sche Theorien und Methoden bisher als nicht oder nur bedingt geeig‐
net für die Erforschung „nicht‐traditioneller“ sozial‐ökologischer
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Henrike Rau
102
Phänomene herausgestellt haben. So kritisiert Kraemer (2008) die un‐
tergeordnete Behandlung sozialer Fragestellungen in Umwelt‐ und
Nachhaltigkeitsdebatten. Die wachsende Anzahl umweltsoziologi‐
scher Ansätze und Studien zum Thema Mobilität bietet zahlreiche
Möglichkeiten, sowohl theoretisch‐konzeptionelle als auch methodo‐
logische Entwicklungen in Richtung einer integrierten soziologischen
Umweltforschung zu analysieren. Das „neue Mobilitätsparadigma“
(vgl. Urry 2000a und b, 2007) stellt einen solchen Versuch eines integ‐
rativen Ansatzes dar, der im nachfolgenden Abschnitt kritisch disku‐
tiert wird.
3. Gemeinschaft ohne Grenzen? Mobilität als zentrales Merkmal spätmoderner Gesellschaften
3.1 Die Hauptmerkmale des „neuen Mobilitätsparadigmas“
In zahlreichen soziologischen Standardwerken der 1990er und 2000er
Jahre wird die räumliche Mobilisierung bestimmter sozialer Gruppen
(z. B. Bauern, Migranten, Soldaten) als zentrales Merkmal gesellschaft‐
licher Modernisierung angeführt (vgl. Giddens 1990). Diese Mobilisie‐
rung wird dabei häufig mit rapiden ökonomischen und politischen
Veränderungen in Verbindung gebracht, wie z. B. die zunehmende
Bedeutung urbaner Ballungsgebiete als Macht‐ und Handelszentren
und die durch verbesserte Verkehrsinfrastruktur herbeigeführte Mo‐
dernisierung der Kriegsführung im 19. und 20. Jahrhundert. Spätmo‐
dernen Globalisierungsprozessen wird ebenfalls eine entwurzelnde
Wirkung zugesprochen, wobei gleichzeitig die Fähigkeit einzelner
Nationalstaaten, die Mobilität ihrer Bürgerschaft zu fördern bzw. ein‐
zuschränken, hinterfragt wird. Die Folgen gesteigerter Mobilität für
Mensch und Umwelt, wie z. B. die durch zunehmenden Auto‐ und
Luftverkehr verursachte Übernutzung fossiler Brennstoffe und die
dadurch entstehenden globalen sozio‐politischen Spannungen, wur‐
den dabei oftmals einer breiter angelegten Gesellschaftskritik unter‐
geordnet.
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Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz
103
In der britischen Soziologie finden sich zahlreiche positive
(jedoch keinesfalls unkritische) Bewertungen von Globalisierungspro‐
zessen und deren Potenzial für soziale und räumliche Mobilisierung
(vgl. Jain 2002). John Urrys (2000a und b) Ausführungen zur Entwick‐
lung einer „Soziologie jenseits von Gesellschaft“ (sociology beyond
societies) verdienen hier besondere Beachtung. Im Kontext der zuneh‐
menden Globalisierung sieht Urry die schrittweise Unterwanderung
des Nationalstaates und die zunehmende Bedeutung von Mobilität als
zentrale Themen einer Soziologie für das 21. Jahrhundert: „[…] mobil‐
ities, as both metaphors and as process, are at the heart of social life
and should thus be central to sociological analysis.“ (Urry 2000a: 49)
Urrys Aufruf, traditionelle soziologische Forschung, die sich
(fast) ausschließlich auf verortete Gesellschafts‐ und Gemeinschafts‐
formen konzentriert hat, durch Mobilitätsanalysen „jenseits von Ge‐
sellschaft“ zu ersetzen, greift somit das Verschwinden gesellschaftli‐
cher Fixpunkte im Zeitalter der Globalisierung und die damit einher‐
gehenden materiellen Folgen für Mensch und Umwelt auf. Gleichzei‐
tig betont er den scheinbar unausweichlichen Einfluss von Mobilität
auf verschiedene Kategorien sozialer Beziehungen. „[A]ll social enti‐
ties, from a single household to large scale corporations, presuppose
many different forms of actual and potential movement” (Urry
2007: 6). Die Entwicklung und Anwendung eines „neuen Mobilitäts‐
paradigmas“ (new mobilities paradigm) zur systematischen, theorienge‐
leiteten Erforschung derartiger Ströme wird für Urry damit zur
Hauptaufgabe einer sich erneuernden Soziologie des globalen Zeital‐
ters. Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit die Soziologie als Ge‐
sellschaftswissenschaft derartige Vorstellungen von Gesellschaft als
mobil und grenzenlos konzeptionell und methodologisch verarbeiten
kann. Ist es überhaupt möglich, den zentralen Gegenstand der Sozio‐
logie – die Erforschung mehr oder weniger verorteter gesellschaftli‐
cher Verhältnisse und deren Veränderungen – durch eine Beschäfti‐
gung mit Mobilität zu ersetzen?
Um die tatsächlichen bzw. potenziellen Bewegungen von
Menschen, Gütern und Ideen in einer zunehmend vernetzten Welt
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Henrike Rau
104
theoretisch verarbeiten zu können, bedient sich Urry zweier Kernkon‐
zepte: Ebenen (scapes) und Ströme (flows).
People, money, capital, information, ideas and images are
seen to ‘flow’ along various ‘scapes’ which are organised
through complex interlocking networks located both within
and across different societies (such as the monetary scapes
and flows between London, New York and Tokyo). (Urry
2000a: 14)
Diese Begriffe erinnern an den kulturalistischen Ansatz von Arjun
Appadurai, der in seinem Buch „Modernity at Large“ (1996) globalen
Strömen (global flows) und grenzübergereifenden ethnischen Räumen
(ethnoscapes) eine wichtige Rolle in der Globalisierungsdynamik zu‐
schreibt. Die Besonderheit des von Urry entwickelten Mobilitätspara‐
digmas liegt jedoch in der Einbeziehung nicht‐menschlicher Akteure:
Für Urry sind Menschen und Gegenstände Teile ein und desselben
komplexen Systems. Die zahlreichen, sich ständig verändernden Ver‐
bindungen zwischen menschlichen Akteuren und Technologien be‐
wirkt die Hybridisierung sozio‐technischer Strukturen, die das kollek‐
tive Handeln sozialer Akteure beeinflusst und im Gegenzug durch
deren Handlungen rekonstituiert, verstärkt oder eingeschränkt wird:
[…] technologies do not derive directly and uniquely from
human intentions and actions. They are intricately intercon‐
nected with machines, texts, objects and other technologies
(Michael 1996). […] there are no purified social structures as
such, only hybrids (Latour 1993). (Urry 2000a: 33, Hervorhe‐
bung im Original)
Urry nimmt hier Bezug auf die von Bruno Latour entwickelte Akteur‐
Netzwerk‐Theorie (ANT), welche die Entgrenzung und Hybridisie‐
rung von Mensch und Maschine als Hauptmerkmale sozio‐
technischer Systeme versteht (vgl. Latour 2005). Das „neue Mobili‐
tätsparadigma“ thematisiert damit das Zusammenwirken menschli‐
Page 106
Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz
105
cher und nicht‐menschlicher Akteure (so genannte „Aktanten“) und
die dadurch entstehenden strukturell‐systemischen Grenzen der
menschlichen Handlungsfreiheit. Möglichkeiten des absichtlichen,
zielgerichteten menschlichen Handelns, die durch zunehmende Hyb‐
ridisierung und Mobilisierung sowohl eingeschränkt als auch erwei‐
tert werden können, erhalten dagegen weniger Aufmerksamkeit. So
findet die „Politisierung von Mobilität“ durch verschiedene soziale
Akteure mit teilweise gegensätzlichen Interessen im „neuen Mobili‐
tätsparadigma“ kaum Beachtung, obwohl diese eine ebenso wichtige
Rolle in der Entwicklung von Mobilitätsnachteilen und ‐chancen
spielt wie deren materiell‐technologische Rahmenbedingungen. Die
effektive Nutzung von Informations‐ und Kommunikationstechnolo‐
gien durch global operierende nicht‐staatliche Umweltorganisationen
wie Greenpeace und die Reaktionen staatlicher Institutionen auf der‐
artige Mobilisierungsversuche (z. B. nachrichtendienstliche „Lausch‐
angriffe“ auf Umweltaktivisten) verdeutlichen das komplexe Verhält‐
nis zwischen strukturellen und technologischen Bedingungen und
intendiertem Verhalten.
Automobilität gilt für Urry dabei als Paradebeispiel solcher
nicht‐linearer, komplexer Systeme, welche die (zumindest temporäre)
Vereinigung von Mensch und Maschine (hybrid assemblage) erfordern.
Urry verwendet deshalb den bereits von Slater (2001) geprägten und
von Dant (2004) später modifizierten Begriff des car‐driver, um den
Hybridcharakter der Verbindung zwischen Auto und Fahrer zu beto‐
nen. Das häufig zu beobachtende „Bewohnen“ von Kraftfahrzeugen
durch deren Nutzer ist Ausdruck dieser Hybridisierung, die sich
nachhaltig auf die Identitätsbildung in vielen modernen Gesellschaf‐
ten auswirkt (vgl. Cresswell 2006). Verkehrspsychologe Bernhard
Schlag verwendet Begriffe wie „verlängertes Ich“ und „verlängertes
Zuhause“, um Kritik am unverhältnismäßigen Einfluss des Kraftfahr‐
zeugs auf die Identität vieler Menschen in Deutschland (und andern‐
orts) zu üben (vgl. Uken 2008). Für Urry (2004: 28) verkörpert das Au‐
to den „eisernen Käfig“ der Moderne, der sich bewegt und gleichzei‐
tig häusliche Züge aufweist und der die Nutzung von Zeit und Raum
durch den Menschen maßgeblich mitbestimmt.
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Henrike Rau
106
An dieser Stelle gilt es zu klären, welche Folgen für Umwelt
und Gesellschaft Urry der spätmodernen, sich global ausbreitenden
„Hypermobilität“ zuschreibt. In erster Linie erkennt er zahlreiche
Möglichkeiten zur Neugestaltung gesellschaftlicher Prozesse. Die Vor‐
teile des Reisens für den interkulturellen Austausch und die globale
Vernetzung nationaler Bewegungen für Frieden, Gerechtigkeit oder
Umweltschutz sollen hier nur stellvertretend genannt werden. Urry
beschäftigt sich aber ebenso mit den sozialen und ökologischen Schat‐
tenseiten gesteigerter Mobilität. Die Herausbildung einer „Bewe‐
gungselite“ (kinetic elite), deren wirtschaftliche und politische Macht
sich oftmals auf die unfreiwillige Mobilisierung bzw. „Immobilisie‐
rung“ machtloser sozialer Gruppen stützt, steht bei Urry im Kontrast
zu den neu entstehenden Möglichkeiten globalen kollektiven Han‐
delns.
Keinesfalls geht es einer mobilitätstheoretischen Perspektive
darum, eine mobile, grenzenlose Welt unkritisch zu zelebrie‐
ren oder gar die zugrunde liegenden Machtasymmetrien zu
ignorieren. Im Gegenteil: Ziel einer mobilitätsorientierten For‐
schung muss sein, die sozial ungleiche Beteiligung an der be‐
wegten Gegenwart sowie das Doppelspiel machtungleicher
Entgrenzung und Grenzziehung empirisch zu untersuchen.
(Berndt/Boeckler 2007: 16)
Urry verweist auch auf die Umweltrisiken gesteigerter (Auto‐
)Mobilität und die damit verbundenen Reaktionen von Umweltbewe‐
gungen (vgl. Urry 2000a: 192 f., 2004). Besonders kritisch betrachtet er
die Hegemonie und Änderungsresistenz bestimmter soziotechnischer
Systeme, allen voran die Automobilität, durch die Flexibilität in der
Nutzung von Raum (und Zeit) buchstäblich erzwungen wird und die
zahlreiche unerwünschte soziale und ökologische Folgen hervorbringt
(vgl. Urry 2004). Urry (2000a) benutzt zwei Kategorien – dwelling‐on‐
the‐road und dwelling‐within‐the‐car –, um Veränderungen in der Be‐
ziehung des Mensch‐Auto‐Hybridsystems (car‐driver) zur biophysi‐
schen Umwelt zu beschreiben. Während Autofahren anfänglich im‐
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Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz
107
mer auch einen unmittelbar erfahrbaren Austausch mit der biophysi‐
schen und sozialen Umwelt mit sich brachte (z. B. Sehen und Hören
anderer Verkehrsteilnehmer, Benzingeruch etc.), verfolgen
(spät)moderne Automobilsysteme das Ziel, den Menschen so gut und
sicher wie möglich von der Außenwelt abzuschotten. Es kommt zur
schrittweisen räumlichen Distanzierung zwischen (Bei‐)Fahrer, Straße
und Umgebung – das Auto wird zum „eisernen Kokon“, der jeglichen
Austausch mit der Außenwelt unterbindet. Alles in allem ist Urrys
Ansatz für die sozial‐ und verkehrspolitisch orientierte Sozialfor‐
schung gerade deshalb attraktiv, weil er eine kritische Einschätzung
von Mobilität als Bedrohung und Chance liefert.
3.2 Die Zukunft des „neuen Mobilitätsparadigmas“ in der so-ziologischen Forschung
Für Urry hat die systematische soziologische Untersuchung von
Mobilisierungstrends in (spät)modernen Gesellschaften höchste Prio‐
rität. Sein Hauptaugenmerk richtet sich dabei auf die
Herausfordungen einer Mobilitätswende (mobility turn) in den Sozi‐
alwissenschaften (vgl. Hannam/Sheller/Urry 2006). Für ihn bringt eine
Neuausrichtung auf Fragen der Mobilität grundlegende Veränderun‐
gen in den Grundstrukturen soziologischen Denkens mit sich. Die
„Mobilisierung“ sozialwissenschaftlicher Theorien, Konzepte und
Methoden steht dabei für ihn im Mittelpunkt und erfordert neue
Formen des transdisziplinären Arbeitens sowie die letztendliche Auf‐
lösung disziplinärer Grenzen:
The mobility turn is post‐disciplinary. [...] [It] connects the
analysis of different forms of travel, transport and communi‐
cations with the multiple ways in which economic and social
life is performed and organized through time and across vari‐
ous spaces […] most important social phenomena are only sa‐
tisfactorily analysed if they are so ‘mobilized’. (Urry 2007: 6)
Dies kann unter anderem durch die Weiterentwicklung bereits beste‐
hender soziologischer Fachgebiete erreicht werden. Eine Beschäfti‐
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Henrike Rau
108
gung mit Fragen der Mobilität bedeutet für Urry eine fortlaufende,
sich auf bereits bestehende Stärken konzentrierende Spezialisierung
der soziologischen Forschung:
[…] [N]ot only people are mobile but so too are many ‚objects’
[…] sociology’s recent development of a ‚sociology of objects’
needs to be taken further […] [because] the diverse flows of
objects across societal borders and their intersections with the
multiple flows of people are hugely significant. (Urry
2000a: 3)
Das Hauptanliegen des Mobilitätsparadigmas – nämlich ein Brücken‐
konzept zur Erforschung verschiedener räumlicher und zeitlicher
Aspekte des menschlichen Soziallebens bereitzustellen – wirft zahlrei‐
che konzeptionelle und methodologische Fragen auf. Bietet die Vor‐
stellung von Gesellschaft als Mobilität einen tragfähigen Ansatz für
die soziologische Forschung im 21. Jahrhundert? Kann dadurch die
Vielfalt sozial‐ökologischer Veränderungen adäquat erschlossen und
damit eventuell eine Bedeutungssteigerung der Soziologie im Kontext
heutiger Nachhaltigkeitsdebatten erreicht werden? Welche Konse‐
quenzen ergeben sich aus der „Mobilisierung“ von Theorie und For‐
schungspraxis für die empirische Sozialforschung?
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das von Urry entwi‐
ckelte Mobilitätsparadigma kulturalistische Betrachtungen mit sys‐
tem‐ und netzwerktheoretischen Ansätzen verbindet und damit die
Synthese mobilitätsorientierter sozialwissenschaftlicher Theorien kon‐
struktiv vorantreibt. Gleichzeitig erfordern die dem Mobilitätspara‐
digma zugrunde liegenden gesellschaftstheoretischen Annahmen eine
radikale Abkehr von konventionellen soziologischen Ansätzen. Be‐
sonders die Rolle des Nationalstaates als zentrale(r) Untersuchungs‐
gegenstand und ‐einheit soziologischer Forschung wird dabei hinter‐
fragt. Für Urry können nationalstaatliche Institutionen nur noch eine
sehr begrenzte Rolle in der Regulierung globaler Verkehrs‐, Güter‐
und Menschenströme und der damit verbundenen Neuordnung sozi‐
aler Beziehungen erfüllen und sollten deshalb auch nicht länger der
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Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz
109
Dreh‐ und Angelpunkt soziologischen Denkens sein. Dieser Anspruch
ist nicht unproblematisch und soll im nun folgenden Abschnitt kri‐
tisch diskutiert werden.
4. Die Regulierung von Mobilität: Lohnenswertes Ziel oder vergebliche Mühe?
4.1 Die politische Steuerung von Mobilität
Die Regulierung räumlicher Mobilität durch Vertreter staatlicher bzw.
nicht‐staatlicher und zivilgesellschaftlicher Institutionen und Organi‐
sationen findet sowohl auf (supra)nationaler als auch auf regionaler
und lokaler Ebene statt und produziert somit komplexe sozial‐
politische Machtstrukturen (vgl. Flyvbjerg 1998). Dabei hat sich in den
letzten Jahren in der Verkehrspolitik (wie auch in vielen anderen Be‐
reichen der Politik) ein schrittweiser Wandel in der Staatsführung
vollzogen, der häufig mit dem Vormarsch neoliberaler Wirtschaftspo‐
litik und der Ideologie des „schlanken Staates“ in den 1980er und
1990er Jahren in Verbindung gebracht wird und im Englischen als
Übergang von government zu governance beschrieben wird. Im Zuge
dieser Verschiebungen findet eine Umverteilung politischer Einfluss‐
möglichkeiten auf verschiedene soziale Akteure statt, die zweifellos
die (selbst verordnete) Schwächung staatlicher Institutionen zur Folge
haben kann. Die Auswirkungen dieses Wechsels auf gesellschaftliche
Mobilitätsmuster sind vielschichtig und können hier nicht näher be‐
sprochen werden. Stattdessen konzentriert sich dieser Abschnitt nun
auf wahrgenommene und tatsächliche Einschränkungen national‐
staatlicher Handlungsmöglichkeiten in der Regulierung globaler
Menschen‐, Kapital‐ und Warenströme.
Im ersten Kapitel seines Buches „Sociology beyond Societies“
(2000a) widmet sich Urry verschiedenen Einwänden gegen sein post‐
gesellschaftliches Mobilitätsparadigma. Er bezieht sich unter anderem
auf das von seinen Kritikern angeführte Argument, dass Staaten trotz
fortschreitender Globalisierung immer noch eine entscheidende Rolle
in der Regulierung sozialer Prozesse spielen. Für Urry stellen Mobili‐
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Henrike Rau
110
täts‐ und Vernetzungsprozesse allerdings einen Hauptimpuls für
grundlegende Veränderungen in der Sozialstruktur und
Gouvernementalität von Gesellschaften (social governmentality) dar,
die das Regieren auf nationaler Ebene erheblich erschweren. Eine
Neuorientierung soziologischer Forschung in Richtung Mobilität
würde Urry zufolge die Erforschung der Rolle des Staates in der Re‐
gulierung von Menschen‐ und Stoffströmen anregen und damit einen
wichtigen Beitrag zur Diskussion um die (noch verbleibende) Macht
nationalstaatlicher Institutionen leisten.
Die Auswirkungen gesteigerter räumlicher Mobilität auf die
Funktionsfähigkeit nationalstaatlicher Institutionen und Strukturen,
welche oftmals selbst Produkte der Moderne darstellen, sind nicht
immer eindeutig. Die dem Mobilitätsparadigma zugrunde liegende
Kritik am etablierten soziologischen modus operandi, nämlich Gesell‐
schaft und Nationalstaat als (fast) deckungsgleich und räumlich be‐
grenzt zu sehen, erscheint angesichts komplexer Globalisierungspro‐
zesse jedoch berechtigt. Der wachsende Einfluss regionaler und globa‐
ler Menschen‐, Geld‐ und Warenströme auf die Entwicklung von Ge‐
sellschaften (z. B. erzwungene und freiwillige Migration, weltweiter
Handel mit Erdöl und anderen Rohstoffen, globale Ausbreitung von
Finanzkrisen) lässt immer stärker Zweifel an der Angemessenheit des
‚Paradigmas des Nationalstaates‛ sowohl in der Politik als auch in der
sozialwissenschaftlichen Forschung aufkommen. Allerdings ist das
Ausmaß einer solchen „Aushöhlung“ des Nationalstaates nach wie
vor heftig umstritten (vgl. Held/McGrew 2000; Turner 2007).
Urry prognostiziert einen rasanten Wandel in den Mitteln und
Methoden der staatlichen Regulierung von Mobilität und bedient sich
der von Bauman (1987) verwendeten Metaphern des Wildhüters
(gamekeeper) und des Gärtners (gardener), um diese Veränderungen zu
beschreiben. Interessanterweise spielen diese Metaphern unmittelbar
auf die Beziehung von Mensch und Natur an: Während für den Wild‐
hüter(staat) die Regulierung von Mobilität und die Erhaltung einer
bestimmten Bevölkerungszahl auf nationalstaatlichem Gebiet im Vor‐
dergrund steht, sieht der Gärtner(staat) seine Rolle zusätzlich in der
Regulierung und Kontrolle des einzelnen Bürgers sowie im Schaffen
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Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz
111
von Ordnung und in der Kultivierung gesellschaftlicher (und natürli‐
cher) Ressourcen. Urry argumentiert, dass das mobile Zeitalter eine
Rückkehr des „Wildhüterstaates“ bewirkt, der Mobilität reguliert,
jedoch wenig Interesse an der inneren Ordnung der Gesellschaft und
der Förderung bzw. Beschränkung und Reglementierung des Einzel‐
nen zeigt.
Urrys „neues Mobilitätsparadigma“ wirft zwei weitere wich‐
tige Fragen auf: Zum einen, ob bzw. wie sich Wechselbeziehungen
zwischen einer immer mobiler werdenden Gesellschaft und deren
natürlicher Umwelt überhaupt „von oben“ beeinflussen lassen. Die
zunehmende Durchlässigkeit nationalstaatlicher Grenzen hat nach‐
weislich weitreichende Auswirkungen auf die Regulierung grenz‐
überschreitender Mobilität und somit auch auf die Wirksamkeit glo‐
baler umweltpolitischer Maßnahmen. Umwelt‐ und Mobilitätspolitik
sind somit untrennbar miteinander verknüpft, was am Beispiel der
wachsenden Bedrohung von Bevölkerung und Natur durch den in‐
ternationalen Handel mit Atommüll deutlich wird (vgl. Khoo/Rau
2009). Allerdings gilt es zu hinterfragen, ob einzelne Staaten tatsäch‐
lich kaum noch in der Lage sind, diese Formen der „Mobilisierung
von Risiken“ zu verhindern. So lässt sich argumentieren, dass die
vielerorts gesetzlich verankerte Einschränkung individueller oder
kollektiver Mobilität, wie z. B. die Inhaftierung von Straftätern oder
die Errichtung von Sicherheitszonen zur Verhinderung von Protesten,
den fortdauernden regulierenden Einfluss des Staates auf die Mobili‐
tät seiner Bürgerschaft signalisiert, diese jedoch nur in wirtschaftlich
und politisch wichtigen Bereichen zur Erhaltung des status quo zum
Einsatz kommt. Die Regulierung mobilitätsbedingter Umweltrisiken
erfordert oftmals eine Einschränkung etablierter wirtschaftlicher und
politischer Aktivitäten und einen Angriff auf den status quo und stößt
somit oft auf starke politische Widerstände.
Daran anknüpfend stellt sich die Frage, welche nicht‐
staatlichen politischen Akteure Einfluss auf die Regulierung von Mo‐
bilität nehmen können und wie effektiv deren Interventionen tatsäch‐
lich sind. Aktuelle Debatten in der politischen Soziologie beschäftigen
sich dabei mit der Frage, inwieweit die durch die „neoliberale Wen‐
Page 113
Henrike Rau
112
de“ der 1980er und 1990er Jahre geschwächten Nationalstaaten über‐
haupt noch fähig sind, mächtigen, global operierenden wirtschaftli‐
chen Interessengruppen Paroli zu bieten. Die globale Finanzkrise im
Jahre 2008 wurde von vielen als symptomatisch für den Kontrollver‐
lust staatlicher Einrichtungen bezüglich der Regulierung von Finanz‐
strömen angesehen. Diskussionen um den Klimawandel werfen ähn‐
liche Probleme auf, da sie die Handlungsunfähigkeit vieler Staaten
bezüglich globaler Umweltrisiken deutlich machen. Andererseits hat
sich durch die Bildung supranationaler politischer Entitäten wie der
EU eine neue mobilitäts‐ und umweltpolitische Handlungsebene ent‐
wickelt, die dieses Defizit auszugleichen sucht.
Das „neue Mobilitätsparadigma“ betont häufig den begren‐
zenden Einfluss sozialer und materieller Bedingungen auf den Ver‐
lauf menschlichen Handelns. Allerdings stellt Urry fest, dass sich
strukturelle Gegebenheiten und freies Handeln individueller Akteure
– wann, wie und wohin sich eine Person bewegt – gegenseitig beein‐
flussen, ohne dass der eine oder andere Einflussfaktor klar überwiegt.
This is not to suggest that […] human do not exert agency. But
they only do so in circumstances which are not of their own
making; and it is those circumstances – the enduring and in‐
creasingly intimate relations of subjects and objects – that are
of paramount significance. (Urry 2000b: 194)
Er greift damit den von Giddens (1990) entworfenen strukturations‐
theoretischen Ansatz auf, kritisiert jedoch, dass dieser die Komplexität
iterativer Prozesse und deren mögliche destabilisierende Wirkung auf
gesellschaftliche Strukturen nicht konkretisiert. Stattdessen sieht Urry
in den (un)beabsichtigten Konsequenzen von Mobilität sowohl Me‐
chanismen zur Erhaltung bestehender sozialer und materieller Struk‐
turen als auch Möglichkeiten für deren Destabilisierung. Dieses Aner‐
kennen struktureller Einschränkungen (structural constraints) von
Mobilität fördert gleichzeitig ein kritisches Herangehen an ideologi‐
sche Annahmen, die Mobilität und die Grundwerte liberal‐
demokratischer Gesellschaften wie Freiheit, Freizügigkeit und Gleich‐
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Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz
113
heit miteinander verknüpfen (Müller/Kiefer 2004). Für Urry verbinden
sich im menschlichen Mobilitätsverhalten sowohl Möglichkeiten als
auch Zwänge, wobei diese strukturationstheoretische Ausrichtung
des „neuen Mobilitätsparadigmas“ nicht unumstritten ist.
4.2 Mobilitätspolitik und die Resilienz nationalstaatlicher Strukturen: Argumente für eine „Politisierung“ des Mobi-litätsparadigmas
Zahlreiche Fälle unbeabsichtigter und intendierter „grenzenloser“
Mobilität lassen Urrys Kritik an der Dominanz des „Gesellschaft als
Nationalstaat“‐Ansatzes in der soziologischen Forschung zunächst
plausibel erscheinen. Der wieder auflebende politische Wille zur Ent‐
wicklung transnationaler Verkehrswege innerhalb Europas, besonders
im Bahnbereich (vgl. European Commission 2008b), illustriert diesen
Trend, der sowohl Mobilitätschancen als auch Risiken bringt. Die
durch den Wegfall innereuropäischer Grenzen entstandene Reisefrei‐
heit für Bürger aus EU‐Mitgliedsstaaten und umweltpolitische Kon‐
flikte um riskante europaweite Atommülltransporte liefern hier zwei
anschauliche Beispiele für die Vor‐ und Nachteile „grenzenloser“ Mo‐
bilität. Außerdem schränkt die EU auch immer wieder die Mobilität
„von außen“ ein, was am Importverbot für brasilianisches Rindfleisch
2007 oder an der kontroversen EU‐Einwanderungspolitik deutlich
wird. Die Regulierung von Mobilität bleibt damit ein zentraler Pfeiler
des supranationalen europäischen Projekts:
Die Europäische Einigung übt somit einen neuen Modernisie‐
rungsdruck auf die beteiligten national verfaßten Gesellschaf‐
ten. Dieser Integrationsprozeß bleibt nicht ohne Raumbedarf,
weil er die individuellen Raum‐Zeit‐Muster auseinanderzerrt.
Die künftige Sicherung sozialer Teilhabe, gleichermaßen ver‐
brieftes Recht wie Verpflichtung, schafft ohne Zweifel mehr
Verkehr. (Knie 1999: 37)
Das Zusammenspiel sozialer, politischer und ökologisch‐materieller
Faktoren auf verschiedenen politischen Handlungsebenen macht die
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Henrike Rau
114
Regulierung räumlicher Mobilität zu einem hochbrisanten Thema in
heutigen Globalisierungs‐ und Nachhaltigkeitsdebatten (vgl.
Khoo/Rau 2009). Die Immobilisierung von Gütern und Personen und
die Regulierung grenzübergreifender Netzwerke und Stoffströme
durch politische Interventionen wie Importzölle, Grenzkontrollen und
Einwanderungsgesetze lässt dabei Zweifel an der angeblichen Hand‐
lungsunfähigkeit staatlicher Institutionen aufkommen (vgl. Turner
2007). Beiträge aus der soziologischen Verkehrsforschung liefern Be‐
weise, dass staatliche Interventionen wie z. B. die Einführung von
Lkw‐Mautgebühren auf europäischen Transitstrecken wie dem Bren‐
ner‐Pass in Österreich immer noch eine tragende Rolle in der Förde‐
rung und Regulierung räumlicher Mobilität spielen.
Gerade hier offenbart sich also eine wichtige Schwachstelle
des „neuen Mobilitätsparadigmas“, nämlich dessen geringe Aussage‐
kraft bezüglich der Entwicklung komplexer politischer Prozesse zur
Förderung, Kontrolle bzw. Einschränkung von Mobilität. Die syste‐
matische Erforschung der im Rahmen von Verkehrs‐ und Mobilitäts‐
entscheidungen eingenommenen (Macht‐)Positionen staatlicher Insti‐
tutionen, privatwirtschaftlicher Lobbygruppen, nicht‐staatlicher Or‐
ganisationen und Bürgervertretungen eröffnet somit ein zukünftiges
Anwendungsgebiet für das von Urry entwickelte Mobilitätsparadig‐
ma, erfordert jedoch dessen weitreichende „Politisierung“. Welchen
Einfluss hat das Zusammenspiel verkehrspolitischer und wirtschaftli‐
cher Prozesse auf die (Im‐)Mobilität verschiedener sozialer Gruppen?
Kann die These, dass Wirtschaftswachstum und (Automobil‐)Verkehr
untrennbar miteinander verzahnt sind und somit politische Prozesse
nur einen sehr geringen Einfluss auf diese Verbindung ausüben kön‐
nen, mit Hilfe des Mobilitätsparadigmas hinterfragt bzw. entkräftet
werden? Diese Fragen sind vor allem im Bereich der Nachhaltigkeits‐
forschung von enormer Bedeutung.
Fest steht, dass die Regulierung und Gestaltung von Alltags‐
mobilität immer noch stark von der Unterordnung verkehrspoliti‐
scher Ziele unter wirtschaftliche Ziele geprägt ist (vgl. Vigar 2002;
Schöller 2007). Dabei spielen besonders diejenigen politischen Akteure
eine aktive Rolle, die von der fortbestehenden Kopplung „Straßenbau
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Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz
115
= Wirtschaftsaufschwung“ profitieren. Diese Verflechtung politischer
und wirtschaftlicher Interessen lässt sich am Beispiel von Verkehrsinf‐
rastrukturinvestitionen in der Republik Irland verdeutlichen. Das von
der irischen Regierung 2006 beschlossene Investitionsprogramm
„Transport 21“ stellt fast 35 Milliarden Euro für die Entwicklung von
Verkehrsinfrastruktur bereit. Dabei werden öffentlichkeitswirksame
Maßnahmen wie der Ausbau des Autobahnnetzes und öffentlich‐
private Partnerschaften für die Durchführung straßenbaulicher Maß‐
nahmen priorisiert (Tabelle 3; vgl. OECD 2002).
Tabelle 3: „Transport 21“‐Investitionsprogramm für Verkehrsinfrastruktur‐
entwicklung in der Republik Irland 2006‐2015
Sektor Ausgaben im Jahr 2008 (Mrd. Euro)
Straßenbau 1,599
Öffentlicher Verkehr 0,890
Regionale Flughäfen 0,014
Gesamtsumme 2008 2,504
Gesamtsumme 2006‐2015 34,4
Quelle: www.transport21.ie/Publications/upload/File/T21_Annual_
Report_2008_eng.pdf, letzter Zugriff: 20. Juni 2009.
Diese Zahlen verdeutlichen den politischen Charakter von Verkehrs‐
entwicklungsprozessen. Motorisierter Individualverkehr in der Re‐
publik Irland (und vielen anderen Ländern) „passiert“ demnach nicht
einfach, wie häufig von Verfechtern des „predict and provide“‐
Paradigmas behauptet wird, sondern wird gezielt durch den im Re‐
gelfall aus Steuergeldern finanzierten Bau von Verkehrsinfrastruktur
gefördert. Soziologische Ansätze, die die zentrale Rolle von Mobilität
sowie deren politische Beeinflussung erkennen und beurteilen helfen,
könnten zweifellos zum besseren Verständnis verkehrspolitischer
Prozesse beitragen und gleichzeitig den derzeit geringen Einfluss der
Disziplin auf die Umwelt‐ und Nachhaltigkeitsdebatte positiv beein‐
flussen. Eine systematische „Politisierung“ soziologischer Verkehrs‐
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Henrike Rau
116
und Mobilitätstheorien sowie die Entwicklung und Umsetzung prob‐
lemorientierter inter‐ bzw. transdisziplinärer Forschungsansätze wür‐
de dieses Anliegen fördern. Die konstruktive Erweiterung des „neuen
Mobilitätsparadigmas“ mit dem Ziel der Integration politischer As‐
pekte (z. B. Machtverhältnisse auf verschiedenen Handlungsebenen)
sowie eine kritische Auseinandersetzung mit etablierten wissenschaft‐
lichen und politischen Ansätzen zur Regulierung von Gesellschaft‐
Natur‐Wechselbeziehungen könnten dabei eine zentrale Rolle spielen.
4.3 Gesellschaft-Natur-Interaktionen im Spiegel der Mobilität: Anregungen für die umweltsoziologische Mobilitätsfor-schung
Die sozialwissenschaftliche Verkehrs‐ und Mobilitätsforschung hat
sich in den letzten Jahren gegenüber „traditionellen“ ingenieurs‐,
wirtschafts‐ und naturwissenschaftlichen Disziplinen stärker behaup‐
ten können. So hat es in der sozialwissenschaftlichen Erforschung
verkehrspolitischer Entscheidungsprozesse bedeutende Fortschritte
gegeben, obwohl deren Einfluss auf aktuelle verkehrspolitische De‐
batten oftmals immer noch gering ist (vgl. Vigar 2002; Schöller 2007).
Andererseits existieren auch weiterhin zahlreiche Erkenntnislücken
(vgl. Knie 2007). Dies trifft besonders auf die Untersuchung mobili‐
tätsbedingter Mensch‐Natur‐Interaktionen und deren Konsequenzen
für die nachhaltige Entwicklung zu. Dieser Abschnitt liefert einige
Argumente dafür, dass die Erforschung komplexer Gesellschaft‐
Natur‐Interaktionen durch den von Urry propagierten Paradigmen‐
wechsel neu ausgerichtet werden könnte, was eine der wesentlichen
Stärken seines „neuen Mobilitätsparadigmas“ ausmacht.
Eine mobilitätsparadigmatische Perspektive, die zum einen
soziale und ökologische Gesichtspunkte einbezieht und zum anderen
die Begrenztheit nationalstaatlichen Denkens zur Behandlung globa‐
ler Umverteilungs‐ und Umweltprobleme aufzeigt, ermöglicht es,
Veränderungen in den Mobilitätsgewohnheiten und deren Folgen für
Mensch und Umwelt zu erfassen. Gleichzeitig kann etablierten na‐
turwissenschaftlichen Standpunkten zu Mobilitäts‐ und Nachhaltig‐
keitsfragen eine wichtige sozialwissenschaftliche Perspektive zur Seite
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Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz
117
gestellt werden. Die dem Mobilitätsparadigma zugrunde liegende
Ablehnung so genannter „Container‐Theorien“ (vgl. Beck 1997), wel‐
che von der Deckungsgleichheit von Territorialstaat und Gesellschaft
ausgehen, macht es außerdem möglich, das Verhältnis von Gesell‐
schaft und Natur im Raum neu zu definieren.
Urry widmet sich ausführlich der Frage der konzeptionellen
Entgrenzung von Gesellschaft und Umwelt und vertieft hier die be‐
reits in früheren Publikationen (Macnaghten/Urry 1998) vorgebrachte
Kritik an der in der Soziologie verbreiteten Unterteilung in gesell‐
schaftliche und natürliche Prozesse: „[…] the human and physical
worlds are elaborately intertwined and cannot be analysed separately
from each other, as society and as nature, or humans and objects.“
(Urry 2000b: 194)
Urrys Ausführungen zum Thema Staatsbürgerschaft und
Umwelt greifen dieses Thema erneut auf (vgl. Urry 2007: 168‐172).
Besonders die Debatte um den moralischen Status und die Rechte von
Tieren verdeutlichen für Urry die Grenzen anthropozentrischer und
utilitaristischer Ansätze, denen eine strikte Trennung von Gesellschaft
und Natur sowie nationalstaatliches Denken zugrunde liegen.
Zweifellos eröffnet diese kritische Perspektive zahlreiche
Möglichkeiten, die Einbeziehung nicht‐menschlicher Akteure in ge‐
sellschaftstheoretische Überlegungen voranzutreiben und das Mobili‐
tätsparadigma für die umweltsoziologische Forschung nutzbar zu
machen. Besonders die im Mobilitätsparadigma verankerte Grund‐
idee hybrider „Mensch‐Material‐Netzwerke“ macht es möglich, Ele‐
mente der biophysischen Umwelt als wichtige Knotenpunkte hinzu‐
zufügen. Damit wäre es möglich, den Nutzen des von Urry entwickel‐
ten Paradigmas für die Erforschung von Gesellschaft‐Natur‐
Interaktionen maßgeblich zu steigern. Allerdings ist hinzuzufügen,
dass diese von Urry vorgeschlagene konzeptionelle Entgrenzung auch
zahlreiche Probleme aufwirft, die von Vertretern der Umweltsoziolo‐
gie immer wieder kritisch diskutiert werden und die besonders die
Grenzen und Zuständigkeiten soziologischer Forschung und die
Wahrnehmung von Handlungsoptionen berühren. Kraemer (2008: 51)
argumentiert, dass
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Henrike Rau
118
[…] ein wichtiger Grund für dieses Integrationsdefizit [der
Sozialwissenschaften im Kontext der Umweltforschung; H.
R.] in der vorherrschenden Konzeptionalisierung von Gesell‐
schaft zu sehen ist, die entweder auf ein System von Kommu‐
nikation (Luhmann), auf kommunikatives Handeln (Haber‐
mas) oder auf kulturelle Bedeutungen (Mead, Schütz) zu‐
rückgeführt wird.
Becker (2006: 6) bewertet Äußerungen, dass sich „zwischen Natur und
Gesellschaft nicht mehr unterschieden lässt“, als irreführend und ge‐
fährlich, da sie eine Abgrenzung des Bereichs, in dem Menschen ver‐
antwortlich handeln können, unmöglich machen. Die Unterscheidung
zwischen Natur und Gesellschaft bietet „unverzichtbare Orientie‐
rungsleistung und Handlungsentlastung für soziale Akteure, weil sie
ein Unterscheidungskriterium für Zuständigkeiten liefern“ (Viehöver
et al. 2004: 65, zitiert in Becker 2006: 6).
Für Urry stehen die komplexen Verknüpfungen von Men‐
schen und Objekten im Mittelpunkt, mit Hilfe derer traditionelle
räumliche (und zeitliche) Schranken überwunden werden können.
Die Umweltbilanz dieser komplexen Netzwerke ist dabei von beson‐
derem Interesse, da sie die Grenzen dieser Mensch‐Maschine‐
Hybridisierung aufzeigen kann. Verkehrssysteme machen dies deut‐
lich: Zum einen ermöglichen sie die Überwindung der durch den
menschlichen Körper festgelegten Grenzen der Mobilität, zum ande‐
ren wirken sie restriktiv auf dessen Funktionsfähigkeit. Die (nahezu)
unbegrenzten Möglichkeiten des mobilisierten Individualverkehrs
stehen im Kontrast zu dessen einschränkender Wirkung auf den Men‐
schen (z. B. Stau, Unfallgefahr, Übergewicht durch Bewegungsarmut,
Dominanz des Autos im öffentlichen Raum). Verkehrssoziologe Bru‐
no Matzloff (2009: 9) beobachtet dabei einen schrittweisen Übergang
in der urbanen Raum‐ und Verkehrsplanung von der „Ära des Ob‐
jekts (Auto, Bus, Bahn, ...) zur Ära der Dienstleistung“, wobei letztere
den Zugang zu städtischen Ressourcen priorisiert. Für ihn deutet sich
eine Richtungsänderung in der Stadtentwicklung an, die „das Objekt
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Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz
119
vernachlässigt, um sich für Dienstleistungen innerhalb eines globalen
Mobilitätssystems zu interessieren [...] [und] sich intelligenten Ver‐
kehrsmodellen öffne[t]“ (ebd.).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine „Mobilitäts‐
wende“ zweifellos neue Impulse für die Umweltsoziologie liefern
könnte. Das wird besonders deutlich, wenn man Urrys Mobilitätspa‐
radigma und die daran gekoppelte Erweiterung gesellschaftstheoreti‐
scher Aussagen auf menschliche und nicht‐menschliche Akteure be‐
trachtet. Außerdem könnte in Zukunft die sozialwissenschaftliche
Verkehrs‐ und Mobilitätsforschung mit Hilfe des Mobilitätsparadig‐
mas stärker interdisziplinär ausgerichtet werden, um deren Potenzial
für die Umwelt‐ und Nachhaltigkeitsforschung zusätzlich zu erhöhen
(vgl. Schöller/Canzler/Knie 2007).
5. Fazit
Die zunehmende räumliche Mobilität von Menschen, Gegenständen
und Informationen und die sich daraus ergebenden Folgen für Gesell‐
schaft, Politik und Wirtschaft rücken derzeit mehr und mehr in den
Mittelpunkt (umwelt)soziologischer Globalisierungsforschung. Das
von John Urry entwickelte „neue Mobilitätsparadigma“ stellt dabei
eine innovative theoretische Syntheseleistung dar, die den sozialen
Wandel (spät)moderner Gesellschaften in Zeiten der Globalisierung
fassbar zu machen sucht. Die daran gekoppelte intensive Beschäfti‐
gung mit Mobilitätsphänomenen wie Migration, Zugänglichkeit und
soziale Inklusion und nachhaltige Verkehrs‐ und Raumplanung in
ständig wachsenden „Megacities“ eröffnet gleichzeitig Möglichkeiten,
Kritik an konventionellen soziologischen Vorstellungen von Gesell‐
schaft als räumlich begrenzt und nationalstaatlich organisiert zu üben.
Den Vorteilen zunehmender räumlicher Mobilität stehen
zahlreiche negative soziale und ökologische Folgen gegenüber, die
jedoch in bisherigen modernistisch‐ökonomistischen Mobilitätsdebat‐
ten kaum erwähnt wurden. Obwohl verkehrsbedingte Umweltschä‐
den wie gesundheits‐ und klimaschädliche Emissionen, die Fragmen‐
tierung von Habitaten und die Versiegelung von Flächen in den letz‐
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Henrike Rau
120
ten Jahren mehr Aufmerksamkeit erlangt haben, bleibt die theorienge‐
leitete soziologische Erforschung sozialer und ökologischer Verkehrs‐
folgen und deren Wechselwirkungen weiterhin marginalisiert (vgl.
Rammler 1999). Dies ist umso verwunderlicher, als räumliche Mobili‐
tät zweifellos ein zentrales Mensch‐Natur‐Interaktionsfeld darstellt,
welches gleichzeitig dringende Fragen der sozialen Ordnung und
Gerechtigkeit und des globalen gesellschaftlichen Wandels aufwirft.
Jüngste breit diskutierte Versuche, das Verhältnis von Mensch und
(städtischer bzw. gebauter) Umwelt neu zu definieren und sozial
nachhaltige und umweltfreundliche Alternativen zur „Hypermobili‐
tät“ (hypermobility) aufzuzeigen, signalisieren das wachsende (um‐
welt)soziologische Interesse an der Erforschung räumlicher Mobilität
(vgl. Marzloff 2009). Die Stärke dieser „neuen“ Mobilitätstheorien
liegt dabei in deren Fähigkeit, materielle Grundbedingungen mensch‐
lichen Handelns wie die Gestaltung urbaner Räume und die Planung
und Bereitstellung von Verkehrsinfrastruktur mit soziologischen
Kernthemen wie der Schaffung sozialer Ordnung und der (Um‐
)Strukturierung wirtschaftlicher und politischer Machtverhältnisse zu
verknüpfen.
Die Attraktivität des von Urry entwickelten „neuen Mobili‐
tätsparadigmas“ für die Umweltsoziologie liegt zweifellos in dessen
theoretischer Vielschichtigkeit. So bildet eine Fusion strukturations‐,
netzwerk‐ und systemtheoretischer Ansätze das theoretische Grund‐
gerüst. Besonders die von Urry vorgenommene „Mobilisierung“ der
von Bruno Latour entwickelten Akteur‐Netzwerk‐Theorie eröffnet
zahlreiche Möglichkeiten, nicht‐menschliche Akteure wie Verkehrs‐
mittel und mobile Technologie in gesellschaftstheoretische Überle‐
gungen einzubeziehen. Gleichzeitig rückt die von Latour und Urry als
zentrales Merkmal (spät)moderner Gesellschaften verstandene Hyb‐
ridisierung soziotechnischer Systeme in den Vordergrund.
Andererseits bleiben jedoch auch die konzeptionellen Schwä‐
chen etablierter soziologischer Ansätze am „neuen Mobilitätspara‐
digma“ haften. Die wohl größte Herausforderung ist die von Urry
(und anderen) geübte Kritik an der konzeptionellen Trennung von
Gesellschaft und Natur, welche bis heute in der Umweltsoziologie
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Das „neue Mobilitätsparadigma“ als Regulierungsansatz
121
kontrovers diskutiert wird (vgl. Becker 2006; Kraemer 2008). Zum
anderen hat die Betonung zahlreicher struktureller Einschränkungen
menschlicher Mobilität zu dem Vorwurf geführt, dass das Mobilitäts‐
paradigma dem Individuum jegliche Fähigkeiten abspräche, zielge‐
richtet und unabhängig zu handeln. Zweifellos verdeutlicht die Über‐
nutzung natürlicher Ressourcen zur Schaffung komplexer Verkehrs‐
systeme die (mehr oder minder starke) Abhängigkeit menschlichen
Mobilitätsverhaltens von Umweltbedingungen. Das bedeutet jedoch
nicht, dass soziale Akteure keinerlei Einfluss auf diese Bedingungen
haben. Die Nutzbarmachung und damit verbundene Umwandlung
bzw. Zerstörung natürlicher Ressourcen ist immer noch eine der
wichtigsten menschlichen Kulturleistungen und somit von zentraler
Relevanz für die (Kultur‐)Soziologie. Trotzdem gilt es, die Einschrän‐
kungen menschlicher Handlungsmöglichkeiten durch biophysische
Gegebenheiten gleichermaßen anzuerkennen und soziologisch zu
erforschen. So wirken sich die mit dem weltweiten Ausbau von Au‐
tomobilitätssystemen verbundenen Umweltbelastungen nicht nur
direkt auf die potenzielle Mobilität zukünftiger Generationen aus,
sondern beeinflussen ebenso die in Zukunft verfügbaren gesellschaft‐
lichen Handlungs‐ und Gestaltungsmöglichkeiten. Die heute für viele
(wenn auch bei Weitem nicht alle) zugänglichen Mobilitätsangebote
und damit verbundenen Freiheiten könnten so auf lange Sicht eine
dramatische Einschränkung des Handlungs(spiel)raums menschlicher
Gesellschaften mit sich bringen.
Die durch die „Mobilitätswende“ in der Soziologie vorange‐
triebene systematische Beschäftigung mit den sozialen Ursachen und
Folgen räumlicher (Im‐)Mobilität hat einen wichtigen politikrelevan‐
ten Beitrag zum Verständnis globaler Wandlungsprozesse geleistet. In
Zukunft gilt es, die Kernaussagen des Mobilitätsparadigmas einer
eingehenden Prüfung zu unterziehen. Welche nicht‐menschlichen
Akteure sollten in soziologische Gesellschaftsmodelle einbezogen
werden? Welche Konsequenzen hat die konzeptionelle Entgrenzung
von Natur und Gesellschaft für die sozialwissenschaftliche Nachhal‐
tigkeitsforschung? Und wie kann das mobilitätsbezogene Zusammen‐
spiel von Mensch und Umwelt soziologisch analysiert werden, ohne
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Henrike Rau
122
dabei den Status der Soziologie als selbständige wissenschaftliche
Disziplin zu schwächen? Diese und weitere Fragen werden mit Si‐
cherheit im Mittelpunkt zukünftiger sozialwissenschaftlicher Mobili‐
tätsdebatten stehen.
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Teil 2: Gesellschaftliche Naturverständnisse von Akteuren
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Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich
Konflikte um die Natur von Überschwemmungen am Beispiel des Rheinhochwassers von 1882/83
Patrick Masius
1. Einleitung
Der Umgang mit Naturkatastrophen wurde im ausgehenden 19. Jahr‐
hundert zu einer Herausforderung für den jungen deutschen Natio‐
nalstaat. Das Hochwasser am Rhein im Winter 1882/83, das hier als
Beispiel für die Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich dienen
soll, provozierte vielfältige Reaktionen. In der preußischen Rheinpro‐
vinz, am Mittelrhein und oberen Niederrhein, wurden Ende Novem‐
ber 1882 die höchsten Wasserstände des 19. Jahrhunderts erreicht.
Ende Dezember und Anfang Januar folgte ein zweites Hochwasser,
das wieder für Schäden in Millionenhöhe sorgte, diesmal aber den
Oberrhein (Hessen, Baden, Elsass, Lothringen und die Bayrische
Pfalz) am schlimmsten traf. Hunderttausende mussten während der
Hochwasser ihre Häuser und Wohnungen verlassen. Teilweise wur‐
den ganze Gemeinden evakuiert. Einzelne Gebäude wurden von den
Fluten zerstört und Verluste von Menschenleben durch Ertrinken wa‐
ren zu beklagen. Die Organisation der Hilfe wurde von Behörden und
Hilfsvereinen geleistet. Warum aber war es überhaupt so weit ge‐
kommen?
Wissenschaftler und Politiker suchten nach Erklärungen für
das Desaster und Möglichkeiten, um einen solchen Notstand in Zu‐
kunft zu verhindern. Unabhängig von der Betrachtung der tatsächlich
ergriffenen kurzfristigen und langfristigen Maßnahmen, ist es beson‐
ders aufschlussreich, die Interpretationen und Diskussionen um die
Ursachen des Hochwassers zu verfolgen. Dadurch eröffnet sich ein
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Patrick Masius
132
Blick auf die zeitgenössischen Auseinandersetzungen über Natur und
Naturkatastrophen.
Unter „Natur“ verstehe ich ein universales Konzept, das in
Opposition zu Kultur zu begreifen ist und mit verschiedenen Inhalten
gefüllt sein kann (vgl. Douglas 1982: 209); und spezieller ein aufkläre‐
risches Motiv, das in kantischer Tradition im Gegensatz zum vernünf‐
tigen Handeln des Menschen steht (vgl. Habermas 1981: 72 ff.). In
Anlehnung an Habermas wird die kausale Ordnung der Natur in Se‐
paration von der normativen Ordnung der Gesellschaft begriffen (vgl.
ebd.: 80). Dabei sind Umwelt und Natur durch die Gleichzeitigkeit
von materieller Realität und sozialer Konstruktion bestimmt (vgl.
Brüggemeier 2004: 65). In der Naturkatastrophe werden Natur (Na‐
turereignis) und Kultur (verwundbare Gesellschaft) miteinander in
Bezug gesetzt. Eine Naturkatastrophe ist nämlich nichts anderes als
eine „Sammel‐Bez. für alle extremen Naturereignisse, die nicht nur zu
großen Schäden in der Natur, sondern v. a. an vom Menschen ge‐
schaffenen Bauwerken und Infrastruktur sowie zahlreichen Todesop‐
fern, Verletzten und Obdachlosen führen“ (Brockhaus 2005). Die
Wahrnehmung von und der Umgang mit Naturgefahren unterliegt
dabei sozialen Mechanismen und ist kein naturgegebener Prozess
(vgl. Weichselgartner 2002).
Nach dem Rheinhochwasser 1882/83 wurden unterschiedliche
Interpretationen der Überschwemmungskatastrophe verhandelt. Auf
der einen Seite wurden extreme Wetterereignisse als Ursache heraus‐
gestellt; auf der anderen Seite wurde die Verantwortung in den nega‐
tiven Auswirkungen von Entwaldung und Flusskorrekturen gesehen
(Brüggemeier 2004: 78).1 Nachfolgend werden diese Positionen nach‐
vollzogen und ihre jeweiligen politischen Implikationen vor dem Hin‐
tergrund jüngerer Studien von Peter Weingart (2008) und David
Blackbourn (2006) erklärt. Gemäß der oben angedeuteten Trennung
1 Brüggemeier überzeichnet die Bedeutung dieser Position im 19. Jahrhundert.
Im Verlauf des Artikels wird sich zeigen, dass sie sich entgegen Brüggemeiers
Annahme nicht durchgesetzt hat.
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Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich
133
von Natur und Kultur werden die Positionen grundlegend nach
anthropogenen und nicht‐anthropogenen Ursachen gegliedert.
2. Ursachendiskussionen in Politik und Wissenschaft
Direkt nachdem der Rhein wieder in geordneten Bahnen floss, wurde
am 23. Januar 1883 ein offizieller Antrag von Dr. Thilenius und Ge‐
nossen an den Reichstag gestellt. Er beinhaltete die Aufforderung, die
„derzeitigen Stromverhältnisse des Rheines und der ihm zuströmen‐
den Nebenflüsse, mit Einschluss des Oberlaufs derselben“ zu unter‐
suchen, sowie die Prüfung der Frage, „ob und wieweit die betreffen‐
den Stromverhältnisse auf die in den letzten Jahren sich häufenden
und in jüngster Zeit so ungewöhnlich verderblichen Hochfluthen des
Rheines von Einfluß gewesen sind“ (RTA 1883: 467).2 In der Reichs‐
tagssitzung vom 9. Mai wurde der Antrag nach langer Diskussion
mehrheitlich angenommen. Die Frage nach den Hochwasserursachen
war also ein Politikum geworden. Beantwortet werden sollte sie von
sachverständigen Wasserbauingenieuren. Neben der Untersuchung
der Stromverhältnisse wurde nach dem Jahrhunderthochwasser am
Rhein auch eine Untersuchung der Waldverhältnisse und ihres mögli‐
chen Einflusses auf Überschwemmungsereignisse angeordnet. Nach‐
folgend werden die Diskussionen in Wissenschaft und Politik zu‐
sammengefasst, die stattfanden, bevor die empirischen Untersuchun‐
gen erfolgt waren.
2.1 Natürliche Ursache: Die außergewöhnlichen Niederschlä-ge von 1882
Nach dem Jahrhunderthochwasser im Winter 1882/83 wurde ein ein‐
flussreicher Artikel von Max Honsell, einem Badenser Oberbaurat in
Karlsruhe, veröffentlicht. Honsell ordnete die außergewöhnliche Häu‐
fung von Hochwasserereignissen am Rhein in einen Trend ein, der
weder von wasserbaulichen noch von irgendwelchen kulturellen Fak‐
2 An dieser Stelle gilt anzumerken, dass es eine Ausnahme war, dass Über‐
schwemmungen Thema von Reichstagsverhandlungen wurden.
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Patrick Masius
134
toren beeinflusst gewesen sei. Der einende Faktor seien die Nieder‐
schlagsverhältnisse gewesen. „Gegen Ende November nahmen die
massenhaften Regenfälle immer grösseren Umfang an, so dass von
den meisten Stromgebieten Mitteleuropas über Hochwasser berichtet
wurde“ (Honsell 1883: 3). Er beschrieb ausführlich die Niederschlags‐
verhältnisse des Jahres 1882. Als Folge dieser außergewöhnlich nassen
Periode in ganz Mitteleuropa nannte er die „Überschwemmungskata‐
strophen“ in Tirol und Kärnten Mitte September und das Rheinhoch‐
wasser Ende des Jahres. Gestützt wurde sein Argument durch jahr‐
zehntelange Niederschlagsmessungen in Karlsruhe. Ein erstes Fazit
lautete:
Die außerordentlichen Regenverhältnisse der 1870er Jahre,
und des Jahres 1882 insbesondere, wie sie hier beschrieben
worden, und wie sie aus den graphischen Darstellungen noch
deutlicher ersichtlich, und die ja bekanntlich auch mit einer
kosmischen Erscheinung (Sonnenflecken) in Verbindung ge‐
bracht worden sind, dürften denn doch die außergewöhnli‐
chen Hochwassererscheinungen dieser Zeit genugsam erklä‐
ren, und fast möchte man sich der Mühe enthoben erachten,
hier noch anderen Ursachen nachzuspüren. (ebd.: 16)
Auch die Anlage von Sammelbecken hätte nichts an dem Hochwasser
ändern können, weil ihre Kapazitäten lange vor dem November schon
erschöpft gewesen wären (ebd.: 17 f.). Andere Ursachen, die zur Dis‐
kussion standen, hätten lediglich „begleitende Ursachen“ sein und
keine große Wirkung haben können (ebd.: 16).
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Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich
135
Abbildung 1: Graphik aus Max Honsells Schrift, die den Zusammen‐
hang zwischen Niederschlägen und Hochwasser darstellt.
Im Reichstag führte Dr. Thilenius am 9. Mai 1883 anschaulich anhand
von hydrometrischen Karten und Diagrammen aus Max Honsells
Schrift (siehe Abb.1) aus, dass der außergewöhnliche Regen das
Hochwasser verursacht habe. Der Maxauer Pegel, der hier Betrach‐
tung findet, liegt am Oberrhein und hat deshalb nur für das zweite
Hochwasser im Dezember und Januar direkte Aussagekraft. Unter‐
schlagen wird in dieser Korrelation von Niederschlag und Pegelstand
das Hochwasser am Mittelrhein Ende November.
„Wer einigermaßen der meteorologischen Gestaltung der
Dinge gefolgt ist, der wird gefunden haben, dass sich in der Zeit über
ganz Westeuropa ein breites, mächtiges Regengebiet ausgebreitet hat‐
te, welches von Nord nach Süd sich erstreckend das Rheingebiet ein‐
begriff“, resümiert Thilenius, und weiter: „meine Herren, wenn man
nun den Regenhöhen etwas nachgeht, wie sie in dem erwähnten Wer‐
ke von Honsell verzeichnet sind, so findet sich, dass in der That die
Hochfluthen am Rhein ganz genau parallel gehen mit den abnormen
Regenfällen“ (RTV 1883: 2431). Er folgerte daraus konsequent: „Das
steht fest, die letzte Flut ist nicht den Hydrothekten in die Schuhe zu
schieben, die hat ganz entschieden der liebe Himmel selbst gemacht“
(ebd.). Andere Abgeordnete nehmen den von Thilenius gesponnenen
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Patrick Masius
136
Faden auf und führen ihn gemäß ihrer Fasson weiter. Ein Kölner Ab‐
geordneter der Zentrumspartei3, Reichensperger, rekapitulierte die
„fast malerische Weise“, in der Thilenius Wolkenbrüche und Föhn als
Ursachen des Hochwassers herausgestellt hatte. Er zog allerdings aus
den Ausführungen den Schluss, dass jegliches Bemühen, Vorkehrun‐
gen zu treffen, in Anbetracht der ganz ungewöhnlichen, „in der Ge‐
schichte kaum jemals dagewesenen“ Vorkommnisse vergeblich sein
müssten und deshalb der Antrag von Dr. Thilenius und Genossen zur
Untersuchung der Stromverhältnisse keinen Sinn ergebe (RTV 1883:
2442). Auch der deutsch‐konservative Marcard aus Bielefeld erklärte,
„dass die Ereignisse am Rhein auf ganz außerordentlichen und sehr
selten wiederkehrenden elementaren Erscheinungen beruhen“. Seine
Konsequenz lautete, dass die einzige Lösung, um den „massenhaften
Regengüssen gegenüber das enge Thal des Stromes zu schützen“, eine
Erweiterung des Hochwasserprofils sei (ebd.: 2434). Dieser Ansatz
entsprach den Ideen von Johann Gottfried Tulla, dem Vater der Ober‐
rheinkorrektur im 19. Jahrhundert.4 Allerdings kann ein solcher Plan
nur ausnahmsweise und lokal verwirklicht werden, weil menschliche
Besiedlung sowie natürliche Hindernisse einer willkürlichen Erweite‐
rung des Flussbettes entgegenstehen (vgl. ebd.: 2435).
Im preußischen Abgeordnetenhaus wurden am 15. Januar die
Hochwasserursachen im Rahmen eines Beschlusses zur Unterstüt‐
zung der Hochwassergeschädigten schon vor Erscheinen von Max
Honsells Schrift diskutiert. Auch hier wurden die ungewöhnlichen
3 Die Zentrumspartei verstand sich in Opposition zu einer Koalition von Kon‐
servativen, Liberalen und Bismarck. 4 Johann Gottfried Tulla (1770‐1828) war ein Wasserbauingenieur, der Anfang
des 19. Jahrhunderts die Pläne zur Korrektur des Oberrheins von Basel bis
Worms entwarf. Im Zuge der Begradigungsarbeiten, deren Durchführung bis
1870 andauerte, wurde der Oberrhein von 354 km auf 273 km verkürzt. Der
Rhein sollte in einem einzigen geraden Bett fließen. Dies würde sowohl den
jährlichen Überschwemmungen der Auen entgegenwirken wie auch die
Schiffbarmachung erleichtern. Die Gewinner und Verlierer des Projekts finden
sich bei Blackbourn (2006: 96 ff.). Tulla ging in die Geschichte ein als „der
Mann, der den wilden Rhein zähmte“ (ebd.).
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Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich
137
Niederschläge des Jahres 1882 als Ursache benannt, wenngleich man
dies nicht wissenschaftlich fundieren konnte. In den Worten des nati‐
onalliberalen Dr. Hammacher aus Essen hieß es: „Ich für meinen Theil
schreibe die wesentlichen Ursachen der jetzigen Wassersnoth den
ungewöhnlich starken Niederschlägen zu, die bereits seit mehreren
Jahren Centraleuropa heimgesucht haben“ (PAV 1883: 458). Ähnlich
erklärte der Abgeordnete Bachem: „Sie [die Ursachen] liegen ja zu‐
nächst in den abnormen Witterungsverhältnissen des vergangenen
Jahres, in den unendlichen Regengüssen, und in dieser Beziehung
werden wir die Regulierung allerdings dem lieben Gott überlassen
müssen.“ Er folgerte weiter, „hier kann der Staat nicht hineinreden“
(ebd.: 458).5 Auch der konservative und Bismarck verbundene Innen‐
minister Puttkamer unterstützte diese Auffassung: „Der Abgeordnete
Hammacher hat vollkommen richtig hervorgehoben, dass die
eigenthümliche klimatische und meteorologische Konstellation dieses
Sommers die eigentliche Ursache der Ueberschwemmung gewesen
ist. [...] dass da eine ungewöhnliche und im ganzen Jahrhundert uner‐
hörte Hochfluth entstand, das ist begreiflich und unvermeidlich“
(ebd.: 459).
Es ist wohl wenig erstaunlich, dass Regen als Ursache für
Überschwemmungen genannt wird. In Zusammenhang mit dem
Hochwasser am Rhein ist dieser Punkt jedoch bemerkenswert, weil es
auch gute Gründe dafür gab, die Ursache nicht in den meteorologi‐
schen Bedingungen zu sehen, sondern in anthropogenen Eingriffen in
die Natur.
2.2 Menschliche Ursachen: Entwaldung und Flusskorrektu-ren in der Kritik
Zu den anthropogenen Ursachen, die in Wissenschaft und Politik ver‐
treten wurden, gehörten Entwaldung und Flusskorrekturen. Der rhei‐
nische Abgeordnete Bachem von der Zentrumspartei erklärte am
5 Seine Vorstellung steht fest in biblischer Tradition. Siehe z. B. Ijob 5,10: „Er
[Gott] spendet Regen über die Erde hin und sendet Wasser auf die weiten Flu‐
ren“.
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Patrick Masius
138
15. Januar im preußischen Abgeordnetenhaus, dass zu den Ursachen –
jenseits der Niederschläge – auch solche gehörten, die im Bereich poli‐
tischer Entscheidung stehen: „Es gibt aber andere Ursachen, welchen
die königliche Staatsregierung ihre volle Aufmerksamkeit wird zu‐
wenden müssen, und das ist insbesondere die viel und, wie ich glaube
mit Recht angefochtene Regulierung des Rheinstroms und dann die
Abholzung in den Gebieten der Nebenflüsse des Rheins“ (PAV: 455).
In einem kritischen Artikel zu Wissenschaft und Politik der Hochwas‐
servorbeugung, der höchstwahrscheinlich aus dem Umfeld des Was‐
serbauwesens stammte6, schrieb(en) der (die) anonyme(n) Verfasser:
Zwar sei man außer Stande, „die Menge des vom Himmel niederfal‐
lenden Wassers abzuändern“ (Anonymus 1883), aber hilfreiche Maß‐
nahmen zur Vermeidung und Einschränkung von Hochwasserzerstö‐
rungen seien trotzdem möglich. „Wir müssen deswegen unser Stre‐
ben darauf richten, zu bewirken, daß so große Wassermengen, die in
kurzer Zeit herunter fallen, nicht in derselben kurzen Zeit zum Abfluß
gelangen, sondern zurückhalten und ganz allmälig im Verlauf länge‐
rer Zeiträume an die Flüsse abgegeben werden“ (ebd.: 5).
2.2.1 Entwaldung
Der Anonymus führte anhand von internationalen Beispielen aus,
dass Bewaldung den oberirdischen Wasserabfluss verhindere, dass
die Trockenlegung vieler kleiner Seen die Hochwassermengen der
Flüsse vergrößert habe und dass Eindeichungen das Hochwasserpro‐
fil verengen und den Spiegel des Hochwassers unterhalb heben wür‐
den. Die schweren Hochwasserereignisse in Tirol im September 1882
wurden als Beweis für die schädlichen Folgen der Entwaldung ange‐
führt.
Auch in Deutschland sind schon zu viele Wälder niederge‐
schlagen und die Erhaltung der übrig gebliebenen ist nicht
überall genügend gesichert. In einem wohl eingerichteten
6 Die differenzierten Kenntnisse über Wasserbauingenieure und wasserbauliche
Ausbildung können eigentlich nur intern erworben worden sein.
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Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich
139
Staate sollte durch Gesetze festgestellt werden, welche Flä‐
chen im allgemeinen Landesinteresse behufs Regelung des
Wasserabflusses dauernd bewaldet werden müssen, und die‐
se Flächen sollten vom Staate erworben und bewirtschaftet
werden [...]. (ebd.: 12 f.)
Zur Verhinderung des oberirdischen Abflusses sei Bewaldung das
beste Mittel (vgl. ebd.: 7). „Die Waldfrevel der Russen und Österrei‐
cher, die bei uns die Hochwasserverhältnisse verschlimmern“ müss‐
ten ebenso zur Kenntnis genommen werden, wie dass „die Italiener
uns die Vögel wegfangen und die Niederländer die Lachse“. Entspre‐
chende Einfuhrverbote von russischem und österreichischem Holz
seien zu erlassen (vgl. ebd.: 17‐25).
Auch der preußische Baurat a. D. Diek hielt Entwaldung für
einen relevanten Faktor. Im Einzelnen verfuhr er historisch und ar‐
gumentierte von einem grundlegenden Wandel der Landschaft aus‐
gehend. Im Laufe der Jahrhunderte hätten die Wald‐, Wiesen‐, Wei‐
den‐ und Wasserflächen im Rheingebiet abgenommen. Diese Flächen
seien aber notwendig, um das niederfallende Wasser aufzunehmen.
„Folge hiervon ist, dass dieselbe eine Hochflut erzeugende Nieder‐
schlagsmasse, welche in den vorigen Jahrhunderten herabfiel, in die‐
sem Jahrhundert herabfallend dem Meere in kürzerer Zeit und für
eine Sekunde in größerer Menge zuströmt“ (Diek 1883: 5).
Darüber hinaus hätten die Abnahme dieser Flächen und die
gleichzeitige Vermehrung von Ödland und Ackerflächen zu verstärk‐
ter Bodenerosion geführt. Die Verwitterungsprodukte der Erosion
seien in stehenden Gewässern und Talniederungen angeschwemmt
worden. Dadurch seien zum einen natürliche Rückhaltebecken ver‐
kleinert und zum anderen die Sohle des Rheins erhöht worden. Au‐
ßerdem hätten der Bau von Wege‐, Straßen‐, Eisenbahndämmen und
Deichen entlang des Flusses sowie Hafenanlagen, Kaimauern und
Brücken im Laufe der Jahrhunderte die Hochwasserprofile stark ein‐
geschränkt. Größere Überschwemmungen seien die Folge (vgl. ebd.:
5‐8). Entsprechend dieser Diagnose lauteten die zu treffenden Maß‐
nahmen: Es sollten Öd‐ und Ackerland, insofern diese Flächen häufi‐
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Patrick Masius
140
gen Überschwemmungen ausgesetzt sind, „aufgeforstet oder beraset“
werden, weil dadurch eine Menge von Niederschlägen im Boden ge‐
speichert werden könne (ebd.: 9).
Die These der Entwaldung wurde im preußischen Abgeord‐
netenhaus im Hinblick auf das Rheinhochwasser differenzierter be‐
trachtet. Es wurde angeführt, dass in den vorherigen 30 Jahren „abge‐
sehen von der geschehenen ganz ansehnlichen Wiederbewaldung, die
Abholzung gerade im Stromgebiet des Rheins nur in rationeller Weise
stattgefunden“ habe (PAV 1883: 456). Innenminister Puttkamer beton‐
te in diesem Zusammenhang die Verdienste der Staats‐ und Kommu‐
nalverwaltung der Rheingegend, insbesondere der Eifelgegenden. „In
unserem engeren Vaterlande“ – gemeint ist Preußen –, erklärte Putt‐
kamer, würde man Entwaldung „nur schwerlich als Quelle des
Nothstandes nachweisen können“ (ebd.: 459). Der Zentrumsabgeord‐
nete Reichensperger stimmte mit dieser Auffassung überein, glaubte
aber, dass noch mehr für die Aufforstung getan werden könnte, und
wies auf die 1875 von der Schweiz verabschiedeten Waldschutzgeset‐
ze als gutes Vorbild hin. Dort würde auch die Laubstreunutzung be‐
rücksichtigt werden, die bei der Entstehung des Rheinhochwassers
durchaus eine Rolle gespielt habe (vgl. ebd.: 461 f.). Laut dem Abge‐
ordneten Berger (Deutsche Fortschrittspartei) hatte nämlich die Ent‐
nahme von Streu im Gebiet der Bayrischen Pfalz (am Haardtgebirge)
einen unzulässigen Umfang erreicht. Gerade diese Entnahme von
trockenem Laub aus den Wäldern sei von sachverständiger Seite als
wichtig für das Zurückhalten und Speichern des Wassers festgestellt
worden (vgl. ebd.: 456).
In Fachkreisen war der Zusammenhang zwischen Entwal‐
dung und Überschwemmungsereignissen schon seit den 1760er und
1770er Jahren in Europa im Gespräch, wobei die französische École
des Ponts et Chaussées eine Vorreiterrolle einnahm. Nach den schwe‐
ren Überschwemmungen der Garonne im Jahre 1875, die auf die Ent‐
waldung der Pyrenäenabhänge zurückgeführt wurden, wurde das
Thema zumindest in der Schweiz von einer breiteren Öffentlichkeit
ernst genommen. Es wurde in den Debatten nach dem Hochwasser
von 1876 als komplementäre Erklärung zu den unvollendeten Korrek‐
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141
turen verwendet (vgl. Müller 2004: 71‐74). „1876 hat sich das wissen‐
schaftliche Paradigma der Abholzung vollends durchgesetzt. Die
Wasserbauer waren in Erklärungsnotstand: trotz unzähliger Ver‐
bauungen waren Überschwemmungen wohl nicht aus der Welt zu
schaffen“ (ebd.: 107), schreibt der Schweizer Umwelthistoriker Reto
Müller zur Situation in der Schweiz. Daraufhin wurden am 10. Juni
1876 eidgenössische Forstgesetze zum Waldschutz erlassen (vgl.
ebd.: 112). Diese wurden wie oben erwähnt bei den Diskussionen um
die Rheinhochwasser in Deutschland positiv hervorgehoben.
In Deutschland selbst war Entwaldung ein wichtiges Argu‐
ment. 1857 wurde die fortschreitende Abholzung als Ursache für
Hochwasser in Franz Müllers Schrift „Die Gebirgsbäche und ihre
Verheerungen“ prominent gemacht (Müller 1857). Aber die These war
in Bezug auf das Rheinhochwasser 1882/83 nicht unumstritten. Mit
Bezug auf das Abholzungsparadigma in der Schweiz haben die Histo‐
riker Pfister und Brändli herausgestellt, dass Entwaldung tatsächlich
keinen Einfluss auf die schweren Überschwemmungen des 19. Jahr‐
hunderts gehabt habe. Das außergewöhnliche Niederschlagsregime
habe aber entscheidend dazu beigetragen, dass Forstleute das Abhol‐
zungsproblem in Bezug auf Überschwemmungen prominent machen
und sogar eine Waldschutzgesetzgebung erwirken konnten. Die ge‐
troffenen Maßnahmen konnten schwere Hochwasserkatastrophen
wohl nicht verhindern, wohl aber auf lokaler Ebene Schäden von
Überschwemmungen, Lawinen, Steinschlägen und Erosion minimie‐
ren (vgl. Pfister/Brändli 1999).
Der badische Wasserbauingenieur und Rheinexperte Max
Honsell versuchte einen möglichen Einfluss auf die Hochwasserent‐
wicklung am Rhein zu widerlegen. Er rekapitulierte die Waldverhält‐
nisse entlang des Flusses und kam zu dem Schluss, dass es in jüngerer
Zeit keine einschneidenden Abholzungen gegeben habe. „Schwarz‐
wald, Odenwald, das pfälzische Hardtgebirge, Spessart und Fichtel‐
gebirge gehören zu den best bewaldeten Gegenden des deutschen
Mittelgebirges [...]. Er [der Wald] untersteht zum größeren Theile
forstpolizeilicher Beaufsichtigung“ (Honsell 1883: 17). Gerade der
Main und der Neckar seien aber besonders hoch gestiegen, was also
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142
unmöglich auf eine Entwaldung ihrer Einzugsgebiete zurückgeführt
werden kann. Der Teil des Waldes, der in Privatbesitz übergegangen
sei, wäre aufgrund seines geringen Umfangs zu vernachlässigen. Al‐
les Übrige würde rationell bewirtschaftet (vgl. ebd.). Thilenius folgte
Honsell und erzählte, dass sogar der Waldboden durch die Wolken‐
brüche übersättigt war und die kleinsten Rinnsale sich in reißende
Ströme verwandelt hatten. Diese Rinnsale ergossen sich zunächst in
die Nebenflüsse Main, Neckar, Lahn und Mosel und trafen dann im
Rhein zusammen. Lediglich die fehlgeleitete Laubstreunutzung im
bayrischen Hardtgebirge, wie sie auch von Berger im Abgeordneten‐
haus hervorgehoben wurde, fand Thilenius bedenklich (vgl. RTV
1883: 2431).
Honsell berührte in seinen Ausführungen ausschließlich gut
bewaldete Mittelgebirge im Einzugsgebiet des Rheins und ließ „Prob‐
lemzonen“ wie die Eifel unberücksichtigt (Honsell 1883: 17).7 An der
Wende zum 19. Jahrhundert hatte in Deutschland eine letzte große
Rodungswelle stattgefunden. In den preußischen Gebieten setzte auf‐
grund des Edikts zur Aufhebung der Rodungsbeschränkungen von
1811 besonders „am Waldrand der Eifel, im Bergischen Land und am
Rhein, besonders im Kreis Bonn“ eine Rodungswelle ein (Hesmer,
zitiert in: Mantel 1990: 68; Hervorhebung P. M.). In Preußen seien da‐
raufhin viele Landstriche und Gemeinden durch die Vernichtung der
Wälder verwüstet worden (vgl. Hagen 1894: 79). Der Innenminister
von Puttkamer sprach von einer Zunahme der Waldfläche in der Eifel
in den letzten 30 bis 40 Jahren und meinte, Entwaldung könne bei
diesem Hochwasser deshalb keine Rolle gespielt haben (vgl. PAV
1883: 459). Dagegen sprechen die Daten, die der Forsthistoriker Man‐
tel zusammengestellt hat. Demgemäß war sogar nach 1883, als die
Bewaldung im gesamten Deutschen Reich erstmalig wieder zunahm,
die Waldfläche im Westen des Landes immer noch rückläufig (vgl.
Mantel 1990: 70). Insbesondere in den Regierungsbezirken Düsseldorf
(25 %), Köln (12 %), Münster (13 %) und Koblenz (9 %) – also den Be‐
7 Der Einfluss der Eifel auf die Mosel ist vergleichbar mit dem Einfluss des
Odenwaldes auf den Neckar, der von Honsell unter anderem betont wird.
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zirken, die von den Überschwemmungen am Mittelrhein betroffen
waren – war eine Abnahme der Waldfläche zwischen 1878 und 1935
zu verzeichnen (vgl. ebd.).
Honsell, Thilenius und auch der preußische Innenminister
Puttkamer hielten Entwaldung im Falle der Rheinhochwasser also
nicht für relevant. Diese Position wurde auch 1885 von dem Karlsru‐
her Ministerialrat Schenkel vertreten. In seinem mündlichen Bericht in
der auf Thilenius’ Antrag hin eingerichteten Untersuchungskommis‐
sion zu den Stromverhältnissen am Rhein versuchte er die Situation in
Deutschland von der in den Alpen‐ und Pyrenäenregionen (Öster‐
reich, Schweiz, Frankreich) abzugrenzen, weil hier das „Abholzungs‐
paradigma“ wie oben beschrieben bereits etabliert war:
Nach Ansicht des Referenten [Schenkel] ist einerseits an sich
die Bedeutung der Bewaldung für die Wasserzurückhaltung,
namentlich für die hier in Betracht kommenden extremen
Verhältnisse länger dauernder, stärkerer, auf große Gebiete
sich erstreckender Niederschläge nicht zu überschätzen, an‐
dererseits sind die Waldverhältnisse sowohl was Umfang und
Art der Bewaldung, als was die übliche Waldwirthschaft an‐
betrifft, in den deutschen Einzugsgebieten des Rheines, und
insbesondere in dem für die Retentionswirkung hauptsächlich
in Betracht kommenden Mittelgebirge, namentlich auch bei
einer Vergleichung mit den Verhältnissen des österreichi‐
schen, schweizerischen und südfranzösischen Hochgebirgs‐
gebiets, als günstige zu bezeichnen, so dass jedenfalls nach
dem derzeitigen Stande der gemachten Beobachtungen und
Erfahrungen vom Standpunkte der vermehrten Sicherung ge‐
gen Rheinhochwasser Maßnahmen hinsichtlich der Vermeh‐
rung der Waldungen [...] in den deutschen Einzugsgebieten
des Rheins nicht vorzuschlagen sind. (RUR 1885: 8 f.)
Auch in der Kommissionssitzung drei Jahre später trug
Schenkel keine neuen Erkenntnisse vor. Nach wie vor wurde
die Bewaldungsproblematik als irrelevant in Bezug auf die
Rheingebiete betrachtet und die positive Entwicklung in Be‐
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Patrick Masius
144
zug auf die Waldwirtschaft in Deutschland hervorgehoben
(vgl. RUR 1888: 7 f.).
Kurioserweise wurde in einem von der Regierung edierten Über‐
blickswerk zum Großherzogtum Baden aus dem Jahr 1885 ausdrück‐
lich erklärt, dass eine geschlossene Bewaldung das beste Mittel zum
Schutz gegen die „Verheerungen zeitweiser Hochwasser“ am Rhein
sei und dass manche Höhenzüge nicht genügend bewaldet seien (Ba‐
den 1885: 418). Die Diskussion um die Frage des Zusammenhangs
zwischen Entwaldung und Hochwassergefahr kann letztlich nur lokal
und empirisch entschieden werden. Es zeigt sich jedoch unabhängig
davon, dass bestimmte Interessen mit der Entscheidung einhergehen.
So kann das Interesse an vermehrter Bewaldung gut mit Hilfe des
Schutzwaldarguments durchgesetzt werden (vgl. Pfister/Brändli
1999), während andererseits meteorologische Extrema hervorgehoben
werden, um die bestehende Waldpolitik in ein günstiges Licht zu set‐
zen. Bemerkenswert ist weiterhin, dass das „Abholzungsparadigma“,
wie es sich in Frankreich und der Schweiz ohne festen wissenschaftli‐
chen Rückhalt entwickelt hatte (vgl. ebd.), als gegeben angenommen
wurde und man sich dagegen abgrenzte. Nach dem Motto, in
Deutschland sei der Wald in Ordnung, wurde nationales Gedanken‐
gut an der Abholzungsfrage aufgehängt. Die „Waldfrevel der Russen
und Österreicher“ aber seien es gewesen, die die Hochwassergefahr in
Deutschland verschärften (Anonymus 1883: 18). Die Konkurrenz zwi‐
schen den drei großen europäischen Monarchien schwingt hier gut
hörbar mit. Es werden also auch handfeste politische Interessen in
diesem scheinbar rein wissenschaftlichen Problem sichtbar.
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2.2.2 Flusskorrekturen
„Das haben mit ihren Steinen die Hydrothekten gethan“
(RTV 1883: 2432)8
Flusskorrekturen und andere wasserbauliche Maßnahmen standen im
19. Jahrhundert insbesondere am Rhein in der Kritik. In Preußen seien
mangelhafte Schutzdämme (besonders am Niederrhein) und die An‐
lage von Buhnen und Kribbenwerken, die zur Versandung von Re‐
servoirs führten, verantwortlich für einen beschleunigten Wasserab‐
fluss und eine Verschärfung der Hochwassergefahr (PAV 1883: 462
f.).9 Hauptsächlich konzentrierte sich die Diskussion aber auf die von
Tulla geplante Oberrheinbegradigung, die in den 1870er Jahren ihren
Abschluss fand.
Im Reichstag erklärte Dr. Thilenius, die Hydrotechnik sei
„nicht ganz von Sünden freizusprechen“ (RTV 1883: 2432). Durch die
Einengung des Strombettes habe sich die Schnelligkeit des Stromes
vermehrt und damit die Gefahr der Überschwemmung gesteigert. Da
die Rheinregulierung von den politischen Verhältnissen maßgeblich
beeinflusst worden war, sollte die Problematik eher strukturell ver‐
standen werden. So „war eben nicht ein einheitlicher Plan für das
ganze Rheingebiet aufgestellt, wie man es doch hätte voraussetzen
müssen“ (ebd.). Thilenius vergaß an dieser Stelle, dass das Projekt der
Oberrheinbegradigung erst durch die zentralisierten politischen Ver‐
hältnisse unter der napoleonischen Herrschaft Anfang des 19. Jahr‐
hunderts möglich geworden war. Blackbourn konstatiert: „Hydrology
and diplomacy were inseparable elements of Rhine rectification. It
was the French revolutionary and Napoleonic armies that radically
simplified the map of Germany and created the political space for
Tulla’s ideas to receive their first hearing” (Blackbourn 2006: 91). Nach
8 Laut Dr. Thilenius in seiner Reichstagsrede spiegelt dieser Satz die Meinung
der Bevölkerung wider. 9 Außerdem werde laut Biesenbach die Notwendigkeit missachtet, die Rhein‐
sohle durch Ausbaggern zu vertiefen.
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Patrick Masius
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1815 wurde das Problem mehrerer Anrainerstaaten mit unterschiedli‐
chen Interessen am Rhein allerdings valent. Preußen, Hessen, Baden,
die Bayrische Kurpfalz und Elsass‐Lothringen hatten keine geeigneten
übergreifenden Verwaltungsstrukturen und deshalb Schwierigkeiten,
in länderübergreifenden Fragen zu entscheiden.
Anhand der Oberrheinkorrektur in Baden verdeutlichte
Thilenius die Notwendigkeit einer Wasserbaupolitik, die über Län‐
dergrenzen hinweg wirksam sei: „Das schlimmste aber an der ganzen
Sache war bis auf den heutigen Tag, dass jeder Rheinstaat für sich
allein arbeitete“, und spezieller: „[H]at aber Baden [...] gefragt was
Hessen und Bayern nachher damit [mit dem Wasser] anfangen?“
(RTV 1883: 2432). Die Problematik wurde von dem Abgeordneten
Dr. Marquardsen (nationalliberal) weiter ausgeführt. Demnach wur‐
den in Baden durch die Oberrheinkorrektur 10.000 ha gutes Acker‐
land gewonnen. Der Flusslauf wurde dabei um 86 km verkürzt, was
zu einer Beschleunigung der Fließgeschwindigkeit geführt habe (vgl.
ebd.: 2435). Wie stark sich die Geschwindigkeit erhöht hatte, legte
Dr. Thilenius am Beispiel eines Flößers dar, der für eine bestimmte
Strecke rheinabwärts anstelle von zwölf Stunden nach der Regulie‐
rung nur noch fünf brauche (vgl. ebd.: 2432). Die „Folgen haben na‐
turgemäß die unterhalb liegenden Uferstaaten mit ihren Ländereien
zum Theil zu tragen gehabt“ (ebd.: 2435). Noch etwas deutlicher for‐
mulierte der hessische Abgeordnete Schröder: „Der Natur der Dinge,
der geographischen Lage und dem Gefälle des Rheins entsprechend,
musste diese Korrektion aber wesentliche, wenn auch unabsichtlich,
bestimmte und zwar schlimme Folgen für die unterliegenden Rhein‐
gebiete haben“ (RTV 1883: 2438). Der Elsässer Abgeordnete Grad
brachte das rücksichtslose Verhalten gegenüber den Nachbarländern
auf die Formel „Apres nous le deluge“ (ebd.: 2445). Nur der Badenser
Gerwig – ehemaliges Mitglied der Wasserbaudirektion – verteidigte
die Oberrheinkorrektur. Das eigentliche Problem sei nicht der Badi‐
sche Rhein, sondern der Mittelrhein, weil dieser noch nicht korrigiert
sei. „Also nur fortkorrigirt! Wir können das Wasser dort oben nicht
bei uns behalten“, polemisierte er (ebd.: 2444). Damit stand er im Ein‐
klang mit Tullas Position zu den Folgen der Rheinbegradigung. Tulla
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war sich darüber klar gewesen, dass die Begradigung des Oberrheins
eine Erhöhung der Wassermenge in den unteren Flussabschnitten
nach sich ziehen würde. Dementsprechend riet er, „in den untern Ge‐
genden [...] müssen den Quer‐Profilen diejenigen Abmessungen oder
Dimensionen gegeben werden, welche die größere Wassermenge er‐
fordert, wenn diese nicht schädlicher als die ehemalige Wassermenge
werden soll“ (Tulla, zitiert in: Schua/Schua 1981: 142). Was aber er‐
folgte, war das Gegenteil: Um den Rheingau schiffbar zu machen und
eine tiefe Fahrrinne zu erhalten, wurde das Profil eingeschränkt (RTV
1881, zitiert in: Brüggemeier/Toyka‐Seid 1995: 98).
In der Schweiz war der Ruf nach Vollendung von Flusskor‐
rekturen – ein analoges Argument zu Gerwigs – in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts das gängige Thema (vgl. Müller 2004: 71 f.,
107 f.). Diese Forderung nach technischem Fortschritt tauchte in der
wissenschaftlichen Debatte in Deutschland nur in Bezug auf die klei‐
neren nicht korrigierten Flüsse auf. Die Oberläufe der preußischen
Nebenflüsse seien in einem „trostlosen“ Zustand und maßgeblich an
den Hochwassern beteiligt, erklärte Thilenius in Anlehnung an
Honsell. Auch die Zeitungen berichteten, wie viel Schaden durch die
unkorrigierten „Gebirgsströme“ verursacht wurde (Anonymus 1882).
Am Rhein spielte die Forderung nach mehr Flusskorrekturen nur eine
marginale Rolle. Die Kritik an der Oberrheinkorrektur herrschte vor.
Um ihren negativen Folgen entgegenzuwirken, riet der Baurat a. D.
Diek zu verschiedenen Maßnahmen zum Sammeln des Wassers in
Becken und Gräben. Die Wasserspiegel natürlicher Rückhaltebecken
wie Seen oder Moore müssten durch die Hebung ihrer Ablasswehre
erhöht werden. Ungenutzte Talflächen sollten ferner zu Sammelbe‐
cken umgestaltet werden (vgl. Diek 1883: 8‐11). Alle Maßnahmen
müssten versuchen, die negativen Auswirkungen der menschlichen
Aktivitäten der letzten Jahrhunderte zurückzudrängen, und beträfen
allgemein die Schaffung eines „naturgemäßen“ Wasserabflusses (ebd.:
12). In diesem Ruf nach „naturgemäßen“ Maßnahmen schwingt das
Aufkeimen der technikkritischen Naturschutzbewegung in Deutsch‐
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land mit.10 Der Autor des ersten „modernen“ Naturschutztraktates
Ernst Rudorff (vgl. Küster 2006: 497 f.). beschrieb die Eingriffe einer
„abstracten Theorie“ gegen die Natur: Die Landschaft wird „glatt ge‐
schoren“ und in ein regelmäßig „geviertheiltes“ Landkartenschema
umgearbeitet. „Die Bäche, die die Unart haben, im gewundenen Lauf
sich dahinzuschlängeln, müssen sich bequemen, in Gräben geradeaus
zu fließen“ (Rudorff 1880: 271). Rudorff erklärte, die Begradigung der
Bäche sei nicht nur eine ästhetische Barbarei, sondern würde durch
den veränderten Wasserabfluss auch reale Nachteile – gemeint sind
hier Hochwasserschäden – mit sich bringen (vgl. ebd.).
Honsell setzte sich als Wasserbauingenieur und Rheinspezia‐
list eingehend – und schon aus eigenem Interesse – mit der Frage aus‐
einander, ob die bestehenden Wasserbaumaßnahmen überdacht wer‐
den müssten. In seiner Polemik erschienen die Kritiker der Ober‐
rheinkorrektur als irrational und rückwärtsgewandt. Die „Anhänger
des modernen Wasserbaus“ forderten die Beseitigung der Flusskor‐
rekturen und Stromregulierungswerke und hätten sich die jüngsten
Überschwemmungen zu politischen Zwecken zu Nutze gemacht, so
Honsell. Besonders in der Tagespresse würde Stimmungsmache be‐
trieben (vgl. Honsell 1883). Gegen die Kritik, dass Flusskorrekturen
das Hochwasserrisiko am Rhein erhöht haben, wird eingewandt, dass
es gerade die Nebenflüsse des Rheins waren, die zu dem Hochwasser
geführt hätten, und gerade diese wären überhaupt nicht korrigiert
worden. Er erläutert das ungünstige Zusammentreffen der Hochwas‐
serwellen aus den Nebenflüssen. An Main, Nahe, Mosel und Lahn
war es zu außergewöhnlichen Hochwassern gekommen. Ihre Flutwel‐
len führten Ende November zum höchsten Stand des Rheins zwischen
Koblenz und der Ruhr, ohne dass es am Oberrhein zu bedeutenden
Hochwassern gekommen war. Ende Dezember waren es dagegen die
Nebenflüsse am Oberrhein, die zu den Überflutungen führten (vgl.
ebd.: 3 f.). Darüber hinaus hätten die größten Hochwasserereignisse
10 Die Naturschutzbewegung entstand hier in Form von Heimatbewegungen in
den 1880er und 1890er Jahren (vgl. Lekan 2008: 171 ff.).
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an verschiedenen Flussabschnitten des Rheins stattgefunden, was nur
durch die unterschiedliche Niederschlagskonzentration erklärbar sei.
Die Problematik der Nebenflüsse wurde auch im Reichstag
aufgenommen. Die Korrekturen an den Nebenflüssen würden allein
zugunsten der Schifffahrt durchgeführt und nicht nach ihrer Wirkung
auf die Stromverhältnisse des Hauptflusses betrachtet werden (vgl.
RTV 1883: 2432). Schröder rekapitulierte in Bezug auf Hessen und
Rheinbayern: „Meine Herren, die beiden Flüsse Neckar und Main
waren diesmal in ihrer gleichzeitigen großen Höhe mit dem Rhein
eine der Ursachen der entsetzlichen Kalamität“ (ebd.: 2439). Auch
Thilenius glaubte, es „war immer das einzige Ziel, bei niederem Was‐
serstand die gehörige Fahrtiefe für die Schifffahrt zu erhalten“ (ebd.:
2432). Dass Schifffahrtsinteressen gegenüber den Interessen der Ufer‐
bewohner und der Landwirtschaft überrepräsentiert seien, äußerte
Thilenius schon 1881 im Reichstag (RTV 1881, zitiert in:
Brüggemeier/Toyka‐Seid 1995: 98). Obgleich seine Belege hierfür
schwach sind, herrschte im Reichstag große Einigkeit in diesem Punkt
(vgl. RTV 1883: 2436‐2441).11 Reichensperger stellte beispielsweise fest:
„Es wird also hier Aufgabe der Staatsregierung sein, dafür zu sorgen,
dass nicht bloß das erstgedachte Interesse [Schifffahrt] wahrgenom‐
men, dass vielmehr nach allen Richtungen hin Vorkehr getroffen
wird, um dasjenige zu verhüten, worüber bis jetzt schwere Klage ge‐
führt worden ist“ (RTV 1883: 461 f.). Dagegen wirkt der Einwand des
Oberbaurates Baensch, „daß die Techniker das volle Bestreben haben,
nach allen Richtungen hin den Interessen des Landes gerecht zu wer‐
den“, nur wie ein Pflichtbekenntnis (ebd.: 2437).12
Wenn es auch nach den bayrisch‐badischen Korrektionen, die
am Oberrhein größtenteils schon Mitte des Jahrhunderts fertiggestellt
worden waren, zu stärkeren Hochwassern ab Mannheim rheinab‐
wärts gekommen war, so seien diese nicht erheblich gewesen, meinte
11 Thilenius bezieht sich auf eine einzige Rheinschifffahrtsakte von 1866, in der
weder Landwirtschaft noch Interessen der Uferbewohner Berücksichtigung
finden. 12 Baensch war seinerzeit als Oberbaurat im Ministerium für Öffentliche Arbeiten
tätig.
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Honsell. Der Unterschied habe nie so viel betragen, dass er nicht auch
aus dem Verhalten der Seitenflüsse erklärt werden könnte. Korrektu‐
ren zu Gunsten der Schifffahrt seien für die Erklärung der Hochwas‐
serereignisse kaum relevant: „Regulierungswerke, die nur den Zweck
haben, bei niedrigen Wasserständen die für die Schifffahrt nöthige
Fahrtiefe zu erhalten, haben in den seltensten Fällen einen fühlbaren
Einfluss auf die höheren Wasserstände“ (Honsell 1883: 19). Bei Mann‐
heim und Mainz hätten darüber hinaus neue Kaianlagen zu einer
Verengung des Abflussprofils und dadurch zu einem lokal höheren
Anstieg geführt (vgl. ebd.: 11).
3. Natur oder Mensch: ein politischer Konflikt
Die Auseinandersetzung nach den Hochwasserereignissen konzen‐
triert sich auf die Frage, ob anthropogene Einflüsse ausschlaggebend
für die Ereignisse waren oder ob sich die Überschwemmungen aus
den extremen meteorologischen Gegebenheiten natürlich erklären
lassen. Jeweilige Positionen beinhalten politische Implikationen
(i. w. S.), die nachfolgend herausgestellt werden. Als Verteidiger des
Wasserbaus war Max Honsell voll und ganz damit beschäftigt, den
wissenschaftlichen Gegnern zu beweisen, dass die Flusskorrekturen
keinen Einfluss auf das Hochwasser gehabt hätten (vgl. ebd.: 10‐26).13
David Blackbourn, ein amerikanischer Umwelthistoriker, der mit sei‐
nem Buch „The Conquest of Nature. Water, Landscape and the Ma‐
king of Modern Germany“ einen umwelthistorischen Meilenstein ge‐
setzt hat, betont den Punkt, dass Max Honsell selbst an der Vollen‐
dung der Oberrheinkorrektur maßgeblich beteiligt gewesen war und
sich als Erbe Tullas sah. Tulla sei von jeder Verantwortung für die
Hochwasser von 1882/83 freigesprochen worden, stattdessen seien
13 Es darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass das Projekt von Tulla
hauptsächlich der Landgewinnung und dem Hochwasserschutz am Oberrhein
dienen sollte. Tatsächlich brachte das Projekt hier mehr Land und mehr Si‐
cherheit vor Hochwasser und hatte zur Folge, dass sich die Siedlungsdichte
erhöhte. Darüber hinaus gingen Malariaerkrankungen in der Gegend drastisch
zurück (Blackbourn 2006: 96‐97).
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„freak meteorological conditions“ als Ursache ausgemacht worden
(Blackbourn 2006: 109). Die Kritik an den Oberrheinkorrekturen war
von Anfang an präsent, von politischer wie auch von wissenschaftli‐
cher Seite. Im Jahre 1828 waren „Bemerkungen über die Rectification
des Oberrheins und Schilderung der furchtbaren Folgen, welche die‐
ses Unternehmen für die Bewohner des Mittel‐ und Unterrheins nach
sich ziehen wird“ erschienen (André 1828). Zudem kritisierten der in
Mannheim ansässige Niederländer Freiherr von Wijck sowie der
preußische Wasserbauingenieur Johann Eytelwein (1764‐1848) das
Mammutprojekt zur Oberrheinbegradigung (Blackbourn 2006: 109).14
Auch die unteren Rheinanliegerstaaten und besonders Preußen ver‐
handelten jahrelang mit Baden, Bayern und Frankreich über das Vor‐
haben. Letztlich war das Projekt in etwas abgeschwächter Form (i. e.
Beschränkung der Anzahl der Durchstiche) durchgeführt worden
(Honsell 1883: 21). „The critics did not win the argument at that time“,
reflektiert Blackbourn die Oberrheinbegradigung (Blackbourn 2006:
109). Bedenkt man, dass die Ansprüche der kritischen Position gegen‐
über der Flussbegradigung am Rhein heute wissenschaftliche und in
limitiertem Umfang auch politische Anerkennung findet15, fragt es
sich, warum sie sich damals nicht durchsetzen konnten. Eine Ant‐
wortmöglichkeit sehe ich in dem Interessenzusammenschluss von
Politik und Wissenschaft.
14 Johann Eytelwein brachte Erfahrungen aus erster Hand von der Verkürzung
der Oder mit. Außerdem sei die Korrektur der Kinzig 1814 ein Lehrbeispiel da‐
für gewesen, dass auf Flussbegradigung schwere Überschwemmungen folgen
können. Zwei Jahre später, 1816, wurde Kehl aufgrund der neuen Verhältnisse
an der Kinzig überschwemmt. 15 Flussbaumaßnahmen am Rhein wurden und werden zurückgenommen, Alt‐
arme wieder angebunden und Retentionsflächen geschaffen (vgl. Cioc 2002:
Kap.7; Engels 2003). Diese Maßnahmen sind aber in ihrem Umfang stark limi‐
tiert. Im Hochwasserschutzplan von 1998 wurden nur etwa 5 % der ursprüng‐
lichen Talaue zur Renaturierung vorgesehen. Große Teile der ehemaligen Au‐
en sind heute Kulturland und Wohngebiet und damit nicht renaturierbar. Den
Zustand des Rheines von vor 1815 herzustellen, bevor das Projekt Tulla den
Rhein gestaltete, würde deshalb große technische, ökonomische und nicht zu‐
letzt politische Anstrengungen verlangen (vgl. Cioc 2004).
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Die Ausführungen von Thilenius zur Ursachenfrage im
Reichstag basierten auf dem bereits zitierten Artikel von Max Honsell.
Honsell wird von Thilenius als „einer der anerkanntesten modernen
Hydrotechniker“ vorgestellt, und seinen Artikel hat Thilenius selbst
im Reichstag verteilen lassen. Für Thilenius sind diese Ausführungen
nicht nur zuträglich, um seinen Antrag zur Untersuchung der Strom‐
verhältnisse des Rheins durchzusetzen, sondern vielmehr, um sein
persönliches ‚Steckenpferd’, nämlich die Einrichtung eines Systems
von meteorologischen Stationen, zu forcieren. Auf diesen Sachverhalt
wurde auch in der Reichstagsdebatte angespielt. Reichensperger äu‐
ßerte sich dahingehend: „Der Antragsteller hat auch noch die meteo‐
rologischen Anstalten – das ist so ein Lieblingskind von ihm – bei
dieser Gelegenheit empfehlen wollen“ (RTV 1883: 2444). Ohne Über‐
treibung kann man behaupten, dass Max Honsells Schrift auf der poli‐
tischen Bühne von herausragendem Einfluss war. Niemand hätte im
Reichstag ernsthaft eine Ansicht vertreten können, die Honsells Nie‐
derschlagsanalyse widersprochen hätte, da es sich hierbei um die ein‐
zig „harten Fakten“ handelte, die zur Verfügung standen.
Trotzdem gab es weiterhin kontroverse Meinungen über die
Auswirkungen der Flusskorrekturen am Oberrhein. Die Abgeordne‐
ten Marquardsen und Schröder argumentierten beide, dass die Ober‐
rheinkorrektur sich negativ auf den unteren Flussabschnitt ausge‐
wirkt hätte. Der Badenser Gerwig sieht dagegen den Fehler bei den
Hessen, die dem Rhein am Binger Loch keinen ausreichenden Abfluss
verschafften. Es sei nicht die Schuld der Badener, dass der Rhein dort
versande und sich das Flussbett erhöhe. Blackbourns These, dass es in
den 1880er Jahren „common sense“ gewesen sei, jegliche Negativwir‐
kungen früherer Wasserbauprojekte abzustreiten (vgl. Blackbourn
2006: 109), ist folglich eine unzulässige Vereinfachung der tatsächli‐
chen Situation. Politische und wissenschaftliche Debatten sowie das
Medienecho waren in diesem Punkt durchaus kontrovers. Allerdings
waren die politische Führung im engeren Sinne sowie führende Was‐
serbauingenieure darauf bedacht, jede Kritik als unwissenschaftlich
und unbegründet erscheinen zu lassen. In wissenschaftlichen Kreisen
wurde eine Kritik an den Wasserbauprojekten entweder von unab‐
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hängigen Privatiers (z. B. Touchon 1876), ausgedienten Bauingenieu‐
ren (Diek 1883) oder aber anonym (Anonymus 1883) geäußert.
Letzteres ist ein klares Anzeichen dafür, wie viel Druck in
wissenschaftlichen Kreisen auf der Thematik lag; und dieser Druck
rührte nicht zuletzt von der politischen Obrigkeit her. Dies ist umso
erstaunlicher, weil Tulla selbst die Negativwirkungen vorausgesehen
hatte – jedenfalls unter der Prämisse, dass im Mittellauf kein geeigne‐
ter Abfluss geschaffen würde (und dies war nicht geschehen) (vgl.
Tulla, zitiert in: Schua/Schua 1981: 137 ff.). Es war aber nicht so, dass
die Regierung die wissenschaftliche Kritik vollkommen ignorierte. So
bekam Lucius, der zuständige Minister für Landwirtschaft, Domänen
und Forsten, von Kaiser Wilhelm I. den Auftrag, ihm eine Stellung‐
nahme zu eben dem kritischen Artikel, der anonym veröffentlicht
worden war, zukommen zu lassen (vgl. Lucius: Brief vom 1. Mai 1883,
unpaginiert).
Der Minister Lucius war in seinem Bericht darauf bedacht, die
Organisation des Wasserbauwesens in Preußen und Deutschland und
die entsprechende Ausbildung zu verteidigen sowie die Anregungen
zur Ursachenbehebung zu besprechen. Lucius’ Position in Bezug auf
Anregungen zur Waldpolitik und praktischen Hochwasserschutz‐
maßnahmen war, dass die staatliche Macht begrenzt sei, nicht alles
durchführbar wäre und dass alles Mögliche ohnehin schon getan
werde. Der staatliche Ankauf von privaten Waldgebieten und die
Verhandlung internationaler Verträge zum Waldschutz, meinte er,
könnten mit den zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen
und Machtmitteln wohl kaum realisiert werden. Die Staatsverwaltung
werde vielmehr „auf dem betretenen Wege“ fortschreiten und „den
beklagten Uebelständen durch Aufforstung von Oedländereien, Ver‐
hinderung der Waldverwüstungen und Hinwirkung auf eine geregel‐
te Communal‐Forstverwaltung, sowie durch die Anlage von Wasser‐
reservoirs, Vermehrung und Verbesserung der Wiesen innerhalb der
fiskalischen Ländereien, mit allen ihr zu Gebiete stehenden Mitteln“
entgegentreten (vgl. ebd.). Damit suggerierte er dem alten Kaiser, „die
beste aller möglichen Hochwasserpolitiken“ intakt vor sich zu sehen
(ebd.).
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Schließlich argumentierte Lucius in Anlehnung an Honsell,
dass die extremen Niederschläge Ursache des Hochwassers gewesen
seien, und erklärte, „ein Zusammentreffen so ungünstiger Umstände
[wie am Rhein] macht alle Vorkehrungen zur Verhütung von Ueber‐
schwemmungen wirkungslos“ (ebd.)16. Mit den außergewöhnlichen
Niederschlägen entkräftete er alle anderen Argumente. Als Kommen‐
tar zur Einordnung des Anonymus stellte Lucius nach, dass sein Be‐
mühen wertvoll gewesen wäre, wenn er sich nicht in ungerechtfertig‐
ten Angriffen gegen staatliche Institutionen und Behörden ergangen
hätte. Es scheine ihm demnach eher um persönliche Interessen als um
die Sache gegangen zu sein (vgl. ebd.). Der Vorwurf, interessegeleitet
zu argumentieren, wie ihn auch Honsell gegenüber den Flussbegradi‐
gungsgegnern anbrachte, ist wohl kaum haltbar, weil ja Lucius (als
Verteidiger staatlicher Institutionen) und Honsell (als Verteidiger sei‐
nes Wasserbauprojektes) genauso vor dem Hintergrund ihrer Interes‐
sen diskutieren. Dem Kaiser präsentierte Lucius diese Positionen aber
als die „objektiven“ (und diese „Objektivität“ geht hier mit „Staats‐
konformität“ automatisch einher).
Es wird in der Analyse deutlich, dass Politik schon im Kaiser‐
reich maßgeblich auf Resultate von Wissenschaftlern angewiesen war.
Folgt man dem Soziologen Peter Weingart, dann hält Wissenschaft für
Politik zwei Leitungen bereit: erstens instrumentelles Wissen zur Lö‐
sung konkreter Probleme und zweitens Legitimation für politische Ent‐
scheidungen (vgl. Weingart 2008: 27 f., Hervorhebung P. M.). „Der
Druck, politische Entscheidungen unter Rückgriff auf wissenschaftli‐
ches Wissen zu legitimieren, wächst in dem Maße, in dem wissen‐
schaftliches Wissen Autorität als Problemlösungsinstanz zugeschrie‐
ben wird“ (ebd.: 29). In den Debatten nach dem Hochwasser von
1882/83 schien vor allem die Legitimation ehemaliger politischer Ent‐
scheidungen wichtig zu sein (pro Flusskorrektionen). Obgleich das
Deutsche Kaiserreich eine konstitutionelle Monarchie war, hatte die
16 Hier deckt sich Lucius’ Aussage beinahe mit dem „Volksglauben“, dem der
Anonymus attestiert, Hochwasser als ebenso unabwendbar wie Erdbeben zu
betrachten (Anonymus 1883: 4).
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soziale Autorität von Wissenschaftlern diejenige der persönlichen
Autorität charismatischer Personen zumindest in gewissen Fragen
überholt. Ein Konkurrenzkampf um die richtigen wissenschaftlichen
Berater und das neueste Wissen zwischen verschiedenen Parteien, wie
Weingart ihn für unsere heutige Zeit attestiert, hatte sich aber noch
nicht ausgebildet. Dass die enge Verflechtung von Politik und Wis‐
senschaft am Beispiel der Hochwasserproblematik schon im 19. Jahr‐
hundert so deutlich wird, ist kein Zufall. Denn es ist gerade der Be‐
reich der Gefahrenabwehr und Risikoprävention, in dem sich diese
Zusammenarbeit maßgeblich entwickelte. Weingart erklärt am Bei‐
spiel des Sicherheitsproblems des Dampfkessels, wie Ende des
19. Jahrhunderts wissenschaftliche Expertise und technischer Sachver‐
stand für den Staat unabdingbar wurden (vgl. ebd.: 151‐158).
Die Autorität der Herrschenden konnte zwar nicht mehr ganz
ohne die Stütze wissenschaftlicher Erkenntnis auskommen, sie hatte
es aber immer noch in der Hand zu bestimmen, welches die einzig
wahre Wissenschaft war. Andererseits waren die Diskussionen zu
scheinbar rein wissenschaftlichen Fragen wie der Abholzungsproble‐
matik von politischen Elementen durchdrungen. So spielten hier Na‐
tionalismus, die Schweizer Waldschutzgesetze sowie die Konkurrenz
mit den beiden Monarchien in Österreich und Russland eine gewich‐
tige Rolle. Darüber hinaus zeigte sich in der Verbreitung von Max
Honsells Analyse der Hochwasser im Reichstag, wie der Abgeordnete
Thilenius eine wissenschaftliche Studie zu seinen politischen Zwecken
nutzbar machen konnte.17 Sein politisches Interesse bestand vornehm‐
lich darin, für eine Verbreitung meteorologischer Messstationen in
Deutschland zu sorgen. Wenn nun die Niederschläge als verantwort‐
lich für Hochwasser angesehen wurden, hatte er damit ein starkes
Argument für sein Unterfangen.18 Der Erfolg gab ihm Recht. In
Karlsruhe wurde ein „Centralbüro für Hydrologie und Meteorologie“
17 Leider fehlen Einsichten in persönliche Korrespondenzen zwischen Max Hon‐
sell und Thilenius bis dato. 18 Der Glaube an Wettervorhersagen im modernen Sinne war damals noch nicht
verbreitet.
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eingerichtet, das fortan auch für die Untersuchung der Stromverhält‐
nisse des Rheins mit verantwortlich war. Honsell seinerseits hatte
zum Abschluss seines Artikels eine wissenschaftliche Untersuchung
der Stromverhältnisse gefordert, wie sie dann von Dr. Thilenius poli‐
tisch erwirkt wurde. Insgesamt sind in den Hochwasserdebatten die
ersten Verflechtungen zwischen Wissenschaft und Politik erkennbar,
die Weingart heute als die typischen Ingredienzen der Wissensgesell‐
schaft definiert (vgl. Weingart 2008: 32).19
Die von Honsell und Thilenius erwirkte Untersuchung wurde
schließlich von 1885 bis 1891 von einer Kommission durchgeführt, der
auch die oben genannten Reichskommissare Schröder und Marcard
angehörten. Die Ergebnisse der Kommission wurden 1891 durch das
neu etablierte Centralbüro für Meteorologie und Hydrographie unter
dem Titel „Ergebnisse der Untersuchung der Hochwasserverhältnisse
im Deutschen Rheingebiet. Auf Veranlassung der Reichskommission
zur Untersuchung der Stromverhältnisse des Rheins und seiner wich‐
tigsten Nebenflüsse und auf Grund der von den Wasserbaubehörden
der Rheingebietsstaaten gelieferten Aufzeichnungen“ veröffentlicht
(CMH 1891). Es wurden in dieser Studie ausschließlich Messdaten zu
Pegelständen, Hochwasserwellen und Niederschlägen angegeben.
Das Vorwort verfasste Max Honsell (vgl. CMH 1891: 2‐7). Es zeigt sich
in diesem Umgang der Versuch von Staat und Wissenschaft, Natur
durch Zahlen zu rationalisieren, verständlich zu machen und zu kon‐
trollieren (vgl. Borst 1981: 549). So wie einst die Kirche Gottes Hand in
der Naturkatastrophe sah und mit Hilfe der Bibel auslegte, interpre‐
tierte die Regierung nun Natur mittels wissenschaftlicher Messwerte.
Die Obrigkeit legitimierte sich durch Expertenwissen.
Entscheidender an dieser Stelle wirkte allerdings der Punkt, dass die
verantwortlichen Wissenschaftler und Politiker die Richtigkeit ihres
Vorgehens durch eine selbst angelegte Studie bestätigen konnten. Was
19 Natürlich wäre es absurd zu sagen, dass das deutsche Kaiserreich unserer
heutigen Wissensgesellschaft vergleichbar wäre. Es scheint mir aber durchaus
gerechtfertigt, die engen Kopplungen zwischen Wissenschaft und Politik in
der Analyse Weingarts widergespiegelt zu finden.
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sich konkret in dem Tandem von Honsell und Thilenius zeigte, kann
auch strukturell bestimmt werden. So stellte der Zentrumsabgeordne‐
te von Schalscha, der schon 1881 auf die Probleme von Entwaldung
und Flusskorrekturen aufmerksam gemacht hatte (vgl. RTV 1881, zi‐
tiert in: Brüggemeier/Toyka‐Seid 1995: 99), auf der Reichstagssitzung
vom 9. Mai 1883 eben die Aufstellung der Sachverständigenkommis‐
sion grundsätzlich in Frage:
Sie verlangen, dass ‚eine Sachverständigenkommission zu‐
sammenberufen werden solle’. Wer sollen diese Sachverstän‐
digen sein? Doch nicht diejenigen, die bisher die ganze
Stromkorrektur in der Hand gehabt haben? Und wenn diese
zusammentreten im Auftrage des Reichs als Reichskommissi‐
on, glauben Sie, dass diese Sachverständigen auf einmal sagen
werden, das, was wir bisher gethan haben, ist alles verkehrt,
alles Thorheit, das müssen wir beseitigen? [...] Eine solche
Kommission hat keinen anderen Zweck, als dass gesagt wird:
was wir bis jetzt geschaffen haben, ist ganz vorzüglich [...].
(RTV 1883: 2440)
Alternativ schlug von Schalscha vor, lokales Erfahrungswissen von
Fischern, Schiffern und anderen zu mobilisieren, und erinnert damit
erstaunlich an Studien jüngeren Datums, die lokale Partizipation in
Fragen des Risikomanagements fordern (vgl. z. B. Hewitt 1983, 1997,
2007). Hier zeigt sich unter anderem, wie stark die Wissenschaftspra‐
xis von Politik durchdrungen ist.
4. Schlussbetrachtung
In der Betrachtung der Diskussionen um die extremen Überschwem‐
mungen am Rhein Ende des 19. Jahrhunderts finden sich aufschluss‐
reiche Ergebnisse über den Umgang mit Natur. Die damaligen Erklä‐
rungen der Katastrophe lassen sich in zwei grundsätzliche Kategorien
einteilen. Zum einen wurden die Überschwemmungen in Folge der
extremen Wetterbedingungen als Werk der Natur betrachtet. Zum
Page 159
Patrick Masius
158
anderen wurden die extraordinären Hochwasser als Folge menschli‐
cher Aktivitäten in Form von Entwaldung und Flussbegradigung ge‐
sehen.
Letztere Position enthielt eine implizite Kritik des Wasserbaus
und der Waldwirtschaft. Es waren abgesehen von lokal betroffenen
Abgeordneten vornehmlich Abgeordnete der regierungskritisch ein‐
gestellten Zentrumspartei, die menschliche Verantwortung in der
Katastrophe entdeckten. Die kritischen Stimmen aus dem Bereich der
Wissenschaft verfolgten unterschiedliche Interessen. Hervorzuheben
sind in diesem Zusammenhang die Verfechtung eines harmonischen
Naturbildes, in das der Mensch nicht mehr störend eingreifen sollte,
sowie die Umstrukturierung der ingenieurstechnischen Institutionen
im Hinblick auf den Wasserbau.
Auf der anderen Seite standen Politiker, die die damals aktu‐
elle Waldwirtschaft und Wasserbaupolitik verteidigten. Durch die
Rückführung der Überschwemmungen auf die extremen Nieder‐
schläge waren sie jeder Verantwortung enthoben. Weiterhin verfolgte
der Abgeordnete Dr. Thilenius mit seiner Darstellung der Hochwasser
als Naturereignis, das durch außergewöhnliche Niederschläge be‐
dingt war, die Einrichtung meteorologischer Stationen in Deutsch‐
land. Sein Interesse an diesen Stationen rekurrierte unter anderem auf
medizinisch‐klimatische Zusammenhänge, die er aufzuzeigen gedach‐
te. In wissenschaftlicher Hinsicht wurde dieses Szenario durch Max
Honsell, einen Badenser Wasserbauingenieur und Rheinexperten,
getragen. Dieser hatte ein Interesse daran, jede aufkommende Kritik
am Wasserbau am Rhein als unwissenschaftlich zu entlarven, damit
nicht das Prunkstück der Wasserbaukunst, nämlich die Oberrheinre‐
gulierung, in Verruf kam.
Mit beiden Positionen verbanden sich also Interessen ganz
unterschiedlicher Natur. Innerhalb der institutionellen Verarbeitung
des Hochwassers setzte sich die Position durch, die die extremen Nie‐
derschläge als Ursache ausmachte. Die unmittelbare Einrichtung des
Centralbüros für Meteorologie und Hydrographie in Karlsruhe war
eine greifbare Folge davon. Auch wirtschaftliche Interessen mögen
von Belang gewesen sein (Handel und Schifffahrt, Landgewinnung).
Page 160
Hochwasserpolitik im Deutschen Kaiserreich
159
Während die Nützlichkeit von Wetterstationen, die damals durchaus
umstritten war, uns heute einleuchtet, scheint die Wissenschaft, was
die Verursachung der Hochwasser angeht, seit den 1970er Jahren ver‐
stärkt auf Seiten der Kritiker zu stehen. Das bedeutet, die Wissen‐
schaftlichkeit der Niederschlagsthese war zwar mangelhaft, sie brach‐
te aber trotzdem einen Prozess in Gang, der für die Wettervorhersage
in der Zukunft dienlich war. Ähnlich wie im Falle der Schweizer Ab‐
holzungsproblematik (vgl. Pfister/Brändli 1999) zeigt sich, dass sinn‐
volle Entscheidungen häufig auf wissenschaftlich wackligen Funda‐
menten stehen. Die Durchsetzbarkeit bestimmter Erklärungen hängt
folglich weniger von ihrer wissenschaftlichen Beschaffenheit als von
politischen Grundhaltungen und praktischen Interessen ab.
Darüber hinaus wurde deutlich, wie stark Debatten, die rein
wissenschaftliche Problemfelder betrafen, von politischen Ansprü‐
chen durchzogen waren. Im Zeitalter des sich konsolidierenden Nati‐
onalstaates wurden an scheinbar so unbedeutenden Fragen wie der
Abholzungsproblematik internationale Konkurrenzen herauskristalli‐
siert und nationale Identität bestärkt. In Preußen war der Wald in
Ordnung, musste der Wald in Ordnung sein – so das Credo des In‐
nenministers. Und es waren die Österreicher und Russen, die den
Wald rücksichtslos abholzten und damit die Hochwassergefahr in
Deutschland verschärften. Von den Schweizern hingegen wäre man
durchaus bereit gewesen, Lehren im Hinblick auf neue Waldschutz‐
gesetze zu ziehen, aber wie Nachforschungen ergaben, war das ja gar
nicht nötig. Das war ein Problem der Gebirgsländer, und, wie Pfister
und Brändli herausgearbeitet haben, auch dort nur ein konstruiertes.
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Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte
Ergebnisse einer empirischen Studie
Birgit Peuker
1. Einleitung
Die Ökologiebewegung gilt, einer weit verbreiteten Sichtweise fol‐
gend, als Trägerin eines neuen Naturverständnisses. Sie sehe in der
Natur, so heißt es, einen Eigenwert und nicht, wie es die moderne
naturwissenschaftliche Sicht impliziere, eine ausbeutbare Ressource.
Sensibilität gegenüber der Umwelt wurde bzw. wird als notwendig
erachtet, um eine Lösung für die Umweltproblematik zu finden. Dass
sich diese Sichtweise auch gesellschaftspolitisch durchgesetzt hat,
zeigt insbesondere der Nachhaltigkeitsdiskurs, der durch den
Brundtlandbericht von 1987 angestoßen und in den lokalen Agenda‐
Prozessen fortgeführt wurde. Die hier verfolgte These ist, dass bei der
in den 70er Jahren entstandenen Ökologiebewegung nicht das Natur‐
verständnis entscheidend ist, sondern das Verständnis von dem Ver‐
hältnis zwischen Natur und Gesellschaft. Die Ökologiebewegung zielt
zumindest in ihrer Hauptströmung nicht nur auf den Naturschutz,
sondern auf eine Transformation gesellschaftlicher Institutionen wie
auf den Umbau der Industriegesellschaft und die Beseitigung sozialer
Ungleichheiten im globalen wie lokalen Maßstab (vgl. als Beispiel
BUND/Brot für die Welt/EED 2008).
Ausgangspunkt der folgenden Erörterungen ist, dass Natur‐
verständnisse nicht losgelöst von Vorstellungen über die Gesellschaft
betrachtet werden können. Naturverständnis und Naturbegriff – bei‐
de Begriffe werden im Folgenden synonym verwendet – müssen um
die Perspektive der Gesellschaft erweitert werden. Dabei wird der
Page 167
Birgit Peuker
166
Frage nachgegangen, welche unterschiedlichen Auffassungen es über
das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft bei unterschiedlichen
sozialen Akteuren gibt und durch welche Besonderheiten sich diesbe‐
züglich Akteure aus der Umweltbewegung auszeichnen. Diese Frage
soll am Beispiel der Auseinandersetzung um die Anwendung der
Gentechnik in der Landwirtschaft (auch „Agro‐Gentechnik“ oder
„Grüne Gentechnik“ genannt) erörtert werden. Bei dieser Auseinan‐
dersetzung handelt es sich um einen Technikkonflikt, also um eine
Kontroverse über die potentiellen Risiken, aber auch den potentiellen
Nutzen einer Technikinnovation.1
In der hier vorgestellten empirischen Untersuchung zur Aus‐
einandersetzung um die Agrar‐Gentechnik wurden Positionspapiere
von Organisationen aus den Bereichen Umwelt‐ und Verbraucher‐
schutz, der Landwirtschaft, Industrie und der Regierung analysiert.
Bei der Auswertung wurde nicht a priori zwischen Befürwortern und
Gegnern unterschieden, sondern befürwortende, kritische und gegne‐
rische Positionierungen über die Argumente pro und contra Agrar‐
Gentechnik identifiziert und auf unterschiedliche Vorstellungen über
das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft zurückgeführt. An‐
hand der konkreten Auseinandersetzung lässt sich zeigen, in welche
gesellschaftlichen Praktiken diese Vorstellungen eingebettet sind. Es
wird demnach weniger davon ausgegangen, dass Vorstellungen über
das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft unterschiedlichen
Weltbildern (vgl. Gill 2003) oder unterschiedlichen kulturellen Milieus
(vgl. Douglas/Wildavsky 1982; Daele/Pühler/Sükopp 1996; Grove‐
White u. a. 1997) entspringen, sondern vielmehr, dass diese Vorstel‐
lungen in konkreten Praxisvollzügen gehärtet werden, da sie in ihnen
eine ordnende Funktion besitzen. Dieser Gedanke ist angeleitet durch
die Akteur‐Netzwerk‐Theorie, einen Ansatz aus der Wissenschafts‐
1 Ein anderes prominentes Beispiel für einen Technikkonflikt ist die Kontroverse
um die Kerntechnik, die ebenfalls sozialwissenschaftlich untersucht wurde.
Diese Studien sind zumeist in den Forschungen zu den Neuen Sozialen Bewe‐
gungen angesiedelt; vgl. u. a. Brand/Eder/Poferl 1997; Har‐
ré/Brockmeier/Mühlhäusler 1998; Hajer 2005. Speziell zur Gentechnik vgl. u. a.
Daele/Pühler/Sükopp 1996; Aretz 1999; Gill 2003.
Page 168
Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte
167
und Technikforschung. Nach diesem Ansatz besitzen Begriffe prakti‐
sche Funktionen, da sie kollektives Handeln ermöglichen und hier‐
durch Auswirkungen auf die materielle Ordnung der Dinge haben.2
Ziel der Ausführungen ist es, zu verdeutlichen, dass Natur‐
verständnisse mit einer bestimmten Konzeption von Gesellschaft ver‐
bunden sind und dass es neben Befürwortern und Gegnern der Ag‐
rar‐Gentechnik auch differenziertere Positionen gibt. So wird die Am‐
biguität in der Positionierung sozialer Akteure gerade darin deutlich,
dass mit der Agrar‐Gentechnik weniger ökologische als soziale bzw.
politische Fragen verbunden sind, die sich ebenso einer einfachen
dichotomen Betrachtung entziehen. Aufgabe der Sozialwissenschaften
ist es, eine differenziertere Sichtweise auf die Debatte einzunehmen
und nicht etwa Steuerungswissen für nur eine mögliche Form gesell‐
schaftlicher Naturverhältnisse bereitzustellen. Das praktische Ziel ist
es, einen Überblick über die Debatte zu schaffen, um es damit auch
anderen sozialen Akteuren zu ermöglichen, sich reflektiert zu positio‐
nieren.
2. Sichtweisen auf das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte
Das Naturbild der Ökologiebewegung wendet sich gegen ein Ver‐
ständnis von Natur, das diese als passive und ausbeutbare Ressource
begreift, und damit gegen das moderne Weltbild, das auf einer Tren‐
nung von Natur und Gesellschaft aufbaut. Ähnlich lautet die Kritik
der Umweltsoziologie, nach der gerade die Trennung zwischen Natur
und Gesellschaft zu den gesellschaftlichen Praktiken geführt habe, die
die Umweltproblematik erst hervorriefen (vgl. Wehling 1989; Latour
1998; Görg 1999). Die Trennung zwischen Natur und Gesellschaft
2 Siehe einführend zur Akteur‐Netzwerk‐Theorie die Aufsätze in Belli‐
ger/Krieger 2006.
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Birgit Peuker
168
wird dabei mit einer Reihe anderer Dichotomien, die als Grundzug
westlichen Denkens entlarvt werden, scharf kritisiert.3
Im Folgenden wird zunächst gezeigt, dass sich die Naturver‐
ständnisse derjenigen, die sich zur Agrar‐Gentechnik eher befürwor‐
tend oder kritisch positionieren, nicht fundamental voneinander un‐
terscheiden. In einem ersten Schritt wird aufgezeigt, dass sich nicht
nur kritische Positionen auf ökologische Folgen beziehen, sondern
auch befürwortende Positionen. Daran anschließend wird in einem
zweiten Schritt nachgewiesen, dass beide Positionen von einer Aktivi‐
tät der Natur ausgehen. Der Unterschied, so das in einem dritten
Schritt begründete Argument, liegt bei beiden nicht im Naturbegriff,
sondern in der Sichtweise auf das Verhältnis zwischen Natur und
Gesellschaft. Dies zeigt sich insbesondere in den Vorstellungen darü‐
ber, wie sich die Eigenaktivität der Natur kontrollieren lässt. Dabei
wird deutlich, dass hier nicht nur die Aktivität der Natur, sondern
auch der Gesellschaft zur Debatte steht. Beide Sphären werden bereits
als ein Beziehungsgeflecht angesehen, das besonderen Regulierungs‐
bzw. Kontrollmechanismen unterworfen werden soll. Die Trennung
von Natur und Gesellschaft erscheint somit als eine diskursive Strate‐
gie, um die eigene Auffassung über das Verhältnis zwischen Natur
und Gesellschaft als allgemeingültige hinzustellen.
2.1 Ökologische Folgen
Technikkonflikte werden meist als Auseinandersetzungen zwischen
Befürwortern und Gegnern von Technikinnovationen aufgefasst. In
der sozialwissenschaftlichen Literatur, die sich der Untersuchung,
Analyse und Interpretation von Risikokontroversen um Technikinno‐
vationen widmen, besteht die Tendenz, die Unterscheidung zwischen
Befürwortern und Gegnern als eine Dichotomie aufzufassen und mit
3 Die Kritik an den modernen Trennungen, die auf die cartesianische Trennung
zwischen Materie und Geist zurückgeführt werden, ist ebenso bei weiteren
konstruktivistischen Ansätzen vorzufinden, zum Beispiel aus dem Bereich der
Wissenschafts‐ und Technikforschung und der feministischen Theorie, aber
auch bei einigen Strömungen der konservativen Kulturkritik. Vgl. dazu auch
den Beitrag von Mölders und Gottschlich in diesem Band.
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Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte
169
einer Bewertung zu verbinden. So werden zum einen die Befürworter
einer Technologie meist mit (wissenschaftlich‐technischer) Fortschritt‐
lichkeit und Rationalität in Verbindung gebracht, Kritiker hingegen
mit Fortschrittsfeindlichkeit und Irrationalität (vgl. Daele 1991: 14 f.;
Eder 1992; Wildavsky 1993; Daele 1993). Auch wenn, zum anderen,
die Bewertung umgedreht wird, wie dies bei einigen sozialwissen‐
schaftlichen Analysen der Fall ist, bleibt die Dichotomie bestehen. Die
Gegnerschaft gegen eine Technikinnovation gilt dann als fortschritt‐
lich, da umweltsensibel, die uneingeschränkte Förderung hingegen
als borniert und noch in alten Weltbildern verhaftet (vgl. Wynne 1996;
Grove‐White u. a. 1997). In dieser letzten Sichtweise wird die (tech‐
nikkritische) Ökologiebewegung zu einem notwendigen Lerninstru‐
ment der modernen Gesellschaft.4
Diesen, wenn auch unterschiedlichen Bewertungen liegt ein
gemeinsamer Gedanke zugrunde, nach dem Befürworter ökologische
Folgen ignorieren, während Kritiker sie in das Blickfeld der Aufmerk‐
samkeit rücken. Im Folgenden soll zunächst gezeigt werden, dass die
Einteilung in Befürworter und Gegner das Resultat einer Positionie‐
rung ist, die ebenso Mittelpositionen ermöglicht. In einem zweiten
Schritt wird gezeigt, dass selbst diejenigen, die sich als Befürworter
positionieren, ebenso ökologische und gesundheitliche Folgen thema‐
tisieren, und zwar weit mehr als diejenigen auf der Kritikerseite.
Grundlage der folgenden Argumentation bildet eine empiri‐
sche Untersuchung, bei der Positionspapiere von Organisationen aus
4 Vgl. hierzu Eder 1998; Eder 2000: 234 ff. Allgemein wurde in der Umweltsozio‐
logie die Initiierung gesellschaftlicher Lernprozesse als Vorbedingung für die
Lösung der Umweltproblematik angesehen; vgl. hierzu Eder 1990; Wiesenthal
1994; Görg 2003; Groß 2003. Praktisch nutzbar gemacht wird eine solche For‐
derung in Mediations‐ und partizipativen Technikfolgenabschätzungsverfah‐
ren; vgl. als Beispiel für die Agrar‐Gentechnik Daele/Pühler/Sükopp 1996;
Grove‐White u. a. 1997.
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Birgit Peuker
170
unterschiedlichen Praxisbereichen analysiert wurden.5 Hierbei wurde
sich insbesondere auf die Argumente für und wider die Agrar‐
Gentechnik (Pro‐Contra‐Argumente) konzentriert, die in den Positi‐
onspapieren auftauchten. Als Pro‐Argument wurde jedes Argument
gewertet, das die Struktur „Die Agrar‐Gentechnik nützt X“ besitzt; als
Contra‐Argument dementsprechend „Die Agrar‐Gentechnik schadet
X“. Tabelle 1 zeigt für die jeweilige Organisation die Verteilung der
Argumente, die einen entsprechenden Sachverhalt behaupten. Dabei
wurde weiterhin zwischen den inversen Argumenten unterschieden
(„Die Agrar‐Gentechnik nützt nicht X“, was auf eine Infragestellung
eines im Diskurs behaupteten Nutzens verweist, und „Die Agrar‐
Gentechnik schadet nicht X“, was eine Entgegnung auf eine Risikobe‐
hauptung darstellt).
Die Tabelle 1 verdeutlicht, dass es neben der expliziten Positi‐
onierung der Organisationen im Diskurs als Gentechnikbefürworter
und Gentechnikkritiker6 ebenso eine implizite Positionierung gibt, die
sich in der Struktur der Mobilisierung von Risiko‐ und
Nutzensargumenten niederschlägt. Weiterhin ist aus der Tabelle er‐
sichtlich, dass es neben den offensichtlichen Befürwortern, die nur
Nutzens‐, aber keine Risikoargumente anführen, und den offensichtli‐
chen Gegnern, die nur Risiko‐, aber keine Nutzensargumente anfüh‐
5 Für die Auswahl wurden die Organisationen, die sich im deutschsprachigen
Diskurs zur Agrar‐Gentechnik positionieren, über deren Internetpräsentation
gesichtet und danach kategorisiert, in welchem Interesse sie sprachen (zum
Beispiel im Interesse der Natur, der Verbraucher oder der Unternehmen). Für
jede Interessengruppe wurde die zentralste Organisation ausgewählt und die
Argumentationsstruktur nach einem Analyseschema untersucht, das metho‐
disch eine durch die Akteur‐Netzwerk‐Theorie fundierte Netzwerkanalyse
von Texten ermöglichte. Vgl. zu einer Darstellung der Methode Peuker 2008.
Die Analyse wurde im Rahmen eines Promotionsprojektes durchgeführt, das
finanziell von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) unterstützt wur‐
de. 6 Nicht alle Organisationen positionieren sich explizit entlang der Unterschei‐
dung in Befürworter und Gegner, sondern beanspruchen, den Diskurs rationa‐
lisieren bzw. zur Aufklärung beitragen zu wollen.
Page 172
Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte
171
ren, ebenso differenziertere Positionen gibt, die sowohl Risiko‐ als
auch Nutzensargumente mobilisieren.
Tabelle 1: Verteilung der Pro‐Contra‐Argumente.
Risiko Nutzen
Risikokein
RisikoNutzen
kein
Nutzen
Bundesministerium für Forschung und Bildung
(BMBF) 18
Deutsche Landwirtschafts‐Gesellschaft e.V. (DLG) 7
Landesregierung Bayern 2 29
Monsanto Agrar Deutschland (Monsanto) 7 35 1
Max‐Planck‐Gesellschaft (MPG) 1 19
aid infodienst – Verbraucherschutz, Ernährung,
Landwirtschaft e.V. (aid) 19 9 4
Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkun‐
de e.V. (BLL) 5 9 51 1
Deutsche Industrievereinigung Biotechnologie
(DIB) 2 2 35
Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernäh‐
rung und Landwirtschaft (BMVEL) 12 2 5 1
Deutscher Bauernverband e.V. (DBV) 2 1 15
Verbraucher Initiative e.V. 3 4 15
Bioland Verband für organisch‐biologischen
Landbau e.V. 19 3
Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) 21 2
Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) 18 8
Bund für Umwelt und Naturschutz e.V. (BUND) 39 2 18
Evangelischer Entwicklungsdienst (EED) 23 11
Greenpeace e.V. 13 2
Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) 10 10
Misereor 12 4
Forschungsinstitut für biologischen Landbau
(FibL) 2
Page 173
Birgit Peuker
172
Der obere Block umfasst die Befürworter, der untere Block die
Kritiker, im mittleren Block sind die Positionen zusammengefasst, die
zwischen diesen beiden Polen eine differenziertere Sichtweise ein‐
nehmen. Angegeben ist die Anzahl unterschiedlicher Argumente, die
von der entsprechenden Organisation in ihren Positionspapie‐
ren/ihrem Positionspapier angeführt wurden und sich der entspre‐
chenden Dimension zuordnen ließen. Mehrfachnennungen desselben
Argumentes wurden dabei ausgeschlossen.
Die Argumente wurden weiterhin nach der Thematisierung
von Folgen hinsichtlich der ökologischen, gesundheitlichen und so‐
zio‐ökonomischen Auswirkungen der Agrar‐Gentechnik kategorisiert
und ihr Auftreten in den verschiedenen Positionspapieren beobachtet.
Dabei stellte sich heraus, dass auch die Organisationen, die sich im
diskursiven Feld auf der Seite der Befürworter positionieren, Folgen
im ökologischen Bereich thematisieren (Tabelle 2). Der Unterschied
besteht allein darin, dass Befürworter die ökologischen Folgen als
Nutzen begreifen, die Kritiker hingegen als Risiko.7
Angegeben ist die Anzahl unterschiedlicher Argumente, die
von der entsprechenden Organisation in ihren Positionspapie‐
ren/ihrem Positionspapier angeführt wurden und sich der entspre‐
chenden Dimension zuordnen ließen. Mehrfachnennungen desselben
Argumentes wurden dabei ausgeschlossen.
7 Dabei beziehen sich befürwortende und kritische Positionen auf dieselben
Gegenstände, wie zum Beispiel auf die Bodenqualität (Ökologie), Allergien
(Gesundheit) und die Absatzmärkte (Ökonomie). Der Unterschied besteht dar‐
in, dass die Befürworter einen positiven, die Kritiker einen negativen Zusam‐
menhang behaupten. Konkret sagen also zum Beispiel die Befürworter, die
Agrar‐Gentechnik sei von Vorteil für die Bodenqualität, die Kritiker hingegen,
dass die Agrar‐Gentechnik von Nachteil für die Bodenqualität sei.
Page 174
Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte
173
Tabelle 2: Verteilung der Pro‐Contra‐Argumente über die Dimensionen Ökologie, Gesundheit
und Ökonomie.
Ökologie Gesellschaft Ökonomie
Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmit‐
telkunde e.V. (BLL) 15 16 19
Bundesministerium für Forschung und Bil‐
dung (BMBF) 2 5 2
Deutsche Industrievereinigung Biotechnolo‐
gie (DIB) 8 5 11
Deutsche Landwirtschafts‐Gesellschaft e.V.
(DLG) 1
Landesregierung Bayern 7 5 11
Monsanto Agrar Deutschland (Monsanto) 10 12 12
Max‐Planck‐Gesellschaft (MPG) 4 4 5
aid infodienst – Verbraucherschutz, Ernäh‐
rung, Landwirtschaft e.V.(aid) 5 10 11
Bundesministerium für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft (BMVEL) 4 5 10
Deutscher Bauernverband e.V. (DBV) 4 2 5
Verbraucher Initiative e.V. 5 10 3
Bioland Verband für organisch‐biologischen
Landbau e.V. 1 3 12
Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft
(BÖLW) 5 12
Bundeskoordination Internationalismus
(BUKO) 1 1 9
Bund für Umwelt und Naturschutz e.V.
(BUND) 7 5 27
Evangelischer Entwicklungsdienst (EED) 5 1 11
Forschungsinstitut für biologischen Landbau
(FiBL) 2
Greenpeace e.V. 5 5
Misereor 8
Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) 1 9 4
Page 175
Birgit Peuker
174
Darüber hinaus ist aus der Tabelle 2 erkennbar, dass die Befürworter
weit stärker in Bezug auf ökologische Folgen argumentieren als die
Kritiker, die eher die sozio‐ökonomischen Folgen betonen. Ein Bei‐
spiel dafür, dass auch ein expliziter Gentechnikbefürworter den Um‐
weltschutz thematisiert, liefert folgendes Zitat des Agrochemieunter‐
nehmen Monsanto, das weltweit den größten Teil des Marktes für
transgene Saaten kontrolliert8:
Der Umweltschutz steht weit oben auf der Prioritätenliste. Zu
den drängendsten globalen Umweltproblemen gehören die
Anreicherung von Kohlendioxid in der Erdatmosphäre, die
wachsenden Müllberge sowie die Zerstörung von Lebens‐
raum und Artenvielfalt. In gentechnisch veränderten Pflanzen
produziertes Bioplastik könnte mithelfen, die Umweltbelas‐
tung zu reduzieren, die heute noch durch die Produktion
konventioneller Kunststoffe verursacht wird. (Monsanto u. a.
2000: 86)
Erklärungsbedürftig wäre demnach, warum Befürworter ökologische
Aspekte in ihre Argumentation einbeziehen. Dies ließe sich damit
begründen, dass die Diffusion ökologischen Gedankengutes in die
Gesellschaft erfolgreich gewesen ist (vgl. Brand/Eder/Poferl 1997), was
sich insbesondere am Nachhaltigkeitsdiskurs zeigt. Technikentwick‐
lung wird in den Dienst des Umweltschutzes gestellt und Technik
nicht nur als Mitverursacher der Umweltproblematik angesehen. Er‐
klärungsbedürftig ist aber auch, warum Kritiker, die zumeist der
Umweltbewegung zugerechnet werden, weniger ihre Stimme im
Umweltinteresse erheben als im Interesse der Gesellschaft. Dies lässt
sich, wie im Folgenden, dadurch begründen, dass über die Themati‐
sierung der Natur gesellschaftliche Interessen kommuniziert werden.
8 Die Broschüre „Kompendium Gentechnologie und Lebensmittel“, aus der hier
zitiert wird, hat Monsanto zusammen mit zwei anderen Agrochemieunter‐
nehmen, Aventis und Novartis, sowie mit dem Bund für Lebensmittelrecht
und Lebensmittelkunde (BLL) herausgegeben.
Page 176
Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte
175
2.2 Aktive Natur
In einigen sozialwissenschaftlichen Analysen wird behauptet, dass
Befürworter von Technikinnovationen eher von einem passiven Na‐
turverständnis ausgehen (vgl. Eder 1998; Latour 2001). Befürworter
einer Technologie werden auf der Seite der Modernisierer verortet,
die sozialen Fortschritt mit wissenschaftlich‐technischem Fortschritt
gleichsetzen. Ihre Rationalität ist die Rationalität der Wissenschaften.
Im westlichen Denken, das zu der Entstehung der neuzeitlichen Wis‐
senschaften im 17. Jahrhundert und letztendlich auch der modernen
Wissenschaften im 19. Jahrhundert führte, wird Natur als träge und
passiv konzeptualisiert.9
In der Debatte um die Agrar‐Gentechnik besitzt die Natur
jedoch für beide Seiten, die kritische ebenso wie die befürwortende,
Aktivität.10 Dies zeigt sich in der Agrar‐Gentechnik‐Debatte am Bei‐
spiel der Auskreuzung.11 So wird bei kritischen Positionen wiederholt
auf die Auskreuzung verwiesen, um die Unkontrollierbarkeit der Ag‐
rar‐Gentechnik und die Nichtrückholbarkeit gentechnisch veränderter
Organismen (GVO) herauszustellen. Dies verdeutlicht folgendes Zitat
aus der Broschüre „Gen‐Mais in Deutschland“, die von Greenpeace,
dem BÖLW und der ABL herausgegeben wurde:
„Pflanzen beachten keine Grundstücksgrenzen, ihre Pollen werden
von Wind und Insekten verbreitet. Sind Gen‐Pflanzen einmal in die
9 Dies lässt sich auf das mechanistische Weltbild zurückführen (vgl. u. a. Shapin
1998) und verbindet sich dann bei kritischen Positionen mit einer Kritik an der
Trennung von Natur und Gesellschaft. 10 Aktivität wird hier im Sinne einer ‚Agency der Dinge’ nach dem erweiterten
Symmetrieprinzip der Akteur‐Netzwerk‐Theorie verstanden und im Rahmen
dieses Aufsatzes als Zuschreibung sozialer Akteure behandelt. 11 Die Auskreuzung hat dabei nur symbolischen Wert, um auf das Eigenpotential
der Agrar‐Gentechnik zu verweisen. In der Argumentation bei Befürwortern
wie bei Kritikern von weit größerer Bedeutung sind die Risiken der Vermi‐
schung entlang der Warenkette, bei Lagerung, Transport und Weiterverarbei‐
tung. Aus diesem Grund gehen beide Seiten auch von einer Grundverunreini‐
gung bei großflächigem Anbau aus.
Page 177
Birgit Peuker
176
Umwelt entlassen, können sie nicht mehr zurückgeholt werden.“
(Greenpeace/BÖLW/ABL o. J.: 7)
Ähnlich sehen dies auch die Befürworter:
Wenn man z. B. an die ,Staubwolke’ von Pollen über einem
blühenden Roggenfeld denkt, so wird schnell klar, dass Gen‐
austausch zwischen Millionen von Pflanzen ein wichtiger Teil
lebender Systeme ist. Natur ist dynamisch und auch die Gene‐
tik ist nicht stabil, sondern evolutionär. Vor diesem Hinter‐
grund ist der gigantisch große Gentransfer im Sommer eine
wichtige Überlebensstrategie aller lebenden Organismen.
(Monsanto u. a. 2000: 114)
Die Auskreuzung, unabhängig davon, ob es sich dabei um gentech‐
nisch veränderte Organismen handelt oder nicht, verdeutlicht damit
sowohl bei befürwortenden als auch bei kritischen Positionen die Ak‐
tivität der Natur.
Allgemein kann festgestellt werden, dass sich die Sichtweise
auf die Natur geändert hat, was auch zu neuen Praktiken, nicht nur
im Naturschutz, sondern auch in der Technikentwicklung führt. Der
mechanistische Naturbegriff ist zumindest in einigen Technikberei‐
chen überwunden. Der Natur wird nun Eigenpotential und Kreativi‐
tät zugestanden, selbst technische Prinzipien zu generieren (vgl. Stei‐
ner 1998; Weber 2003). Beispielhaft hierfür ist die Bionik, bei der in
der Natur vorkommende Prinzipien in Technikinnovationen übersetzt
werden. In der Gentechnik ist dieser Gedanke in dem Begriff der ge‐
netischen Ressourcen enthalten, die, als genetische Vielfalt in Gen‐
banken aufgehoben, als Grundlage für die Pflanzenzüchtung, aber
auch der Pharmaforschung dienen. Allgemein besteht das Verhältnis
von Technik zu Natur – als Sichtweise und als Praktik, da Sichtweisen
in Praktiken verankert sind und eine Koevolution unterlaufen – hier
nicht mehr in einer Nachahmung der Natur durch die Technik, noch
wird Technik als schöpferische Leistung des Menschen verstanden
(vgl. Böhme 1992; Weber 2003: 26 ff.), sondern Natur selbst wird zur
Produzentin von Technik.
Page 178
Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte
177
2.3 Aktivität und Kontrolle
Die Positionen von Befürwortern und Kritikern beziehen sich glei‐
chermaßen sowohl auf den Umweltschutz als auch auf die Aktivität
der Natur. Der Unterschied zwischen der Position der Befürworter
und der Position der Kritiker liegt nicht in der Zuschreibung von Ak‐
tivität an die Natur, sondern darin, inwiefern es für möglich gehalten
wird, diese Aktivität zu kontrollieren.12 Dies wird an den unterschied‐
lichen Auffassungen über das Verhältnis zwischen Natur und Gesell‐
schaft deutlich.
Befürworter beziehen sich auf eine Gesamtgesellschaft, nicht
selten im globalen Maßstab, Kritiker hingegen auf lokale bzw. regio‐
nale Beziehungsgeflechte. Hier sind soziale und natürliche Elemente
miteinander verquickt und in der alltäglichen Praxis miteinander
verwoben. Zur Gesellschaft, die eher als regionale Gemeinschaft bzw.
Kollektiv (vgl. Latour 2005) gesehen wird, gehören nicht nur soziale
Akteure, sondern auch die in den praktischen Vollzügen frei verfüg‐
baren nicht‐sozialen physischen Entitäten, die auch als natürlich be‐
schrieben werden. Damit ist gemeint, dass in praktischen Handlungs‐
vollzügen die diskursiven Grenzen zwischen Natur und Gesellschaft
und die rechtlichen Abgrenzungen des Eigentums verschwimmen.
Als Modell hierfür gilt zumeist die noch kleinbäuerliche Lebensweise
in den Ländern des Südens13:
[...] den meisten südlichen Kulturen entspricht das Konzept
des geistigen Eigentums nicht, das hinter dem Patentschutz
steht. Für viele enthält es einen Widerspruch zu ihrer ethi‐
schen Auffassung, alle Elemente der Natur als Gemein‐
12 Unter Kontrolle ist in diesem Zusammenhang gemeint, dass ein Arrangement
in diskursiver, sozialer und technischer Hinsicht errichtet wurde, welches die
Aktivität der beteiligten Entitäten so ausrichtet, dass sie den intendierten Zie‐
len der Subjekte bzw. der Netzwerkerbauer nicht zuwiderläuft. Kontrolle wird
hier demnach als Zuschreibung verstanden. 13 Aber auch in den westlichen Industrieländern gibt es noch in bäuerlichen
Kulturen Reste der Vorstellung, dass für denjenige, der auf und von dem Land
lebt, es keine Natur gibt. Vgl. Heindl/Groeneveld 2006: 127 ff.
Page 179
Birgit Peuker
178
schaftsgüter anzusehen, auf die niemand einen individuellen
Besitzanspruch erheben kann. (Misereor o.J.)
Für Kritiker erscheint die Verstärkung der Kontrollgewalt durch die
Agrar‐Gentechnik als eine Enteignung: Sie verweisen auf die Patentie‐
rung bzw. die Etablierung von geistigen Eigentumsrechten auf geneti‐
sche Ressourcen, die Einführung von Nachbaugebühren und die Zer‐
störung kleinbäuerlicher Lebensweisen sowie die Behinderung ökolo‐
gischer und gentechnikfreier Landwirtschaft. Aus ihrer Sichtweise
handelt es sich demnach um Privatisierung und damit um eine Ent‐
eignung öffentlicher Güter.
Bei befürwortenden Positionen stellt sich die Frage nach dem
Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft eher in Bezug auf eine
globale Gesamtgesellschaft. Vom Blickpunkt eines globalen Manage‐
ments aus sollen nicht nur die Unsicherheiten der Natur, sondern
auch der Gesellschaft und insbesondere die Verbraucher kontrolliert
werden. Dies wird in einer Broschüre, „Gentechnik im Lebensmittel‐
bereich“, des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde
(BLL) deutlich:
Wer ist in der Industrie bereit, in der Lebensmittelindustrie,
wer in der Politik ist bereit, sich vor einen Verbraucher zu
stellen und vor ihm von einem Restrisiko zu reden? Welcher
Politiker ist denn bereit, sich hinzustellen und zu sagen: Wir
lassen diese Substanz zu, aber es besteht ein minimales Restri‐
siko, dass Sie an Krebs erkranken. Es wird sich kein Politiker
finden, der diese Aussage macht. Deshalb ist es auch nicht so
einfach, hier Patentrezepte zu fordern, wie man im Risikoma‐
nagement damit umgeht. Unsere Gesellschaft ist dazu noch
nicht bereit, weil sie bezüglich dieses Risikos bei normalen
Lebensmitteln nicht erzogen worden ist. (BLL 2002: 77)
Nicht nur die Natur, sondern auch die Gesellschaft sollen demnach
„erzogen“ werden, um eine Technikanwendung zu gewährleisten.
Um Natur und Gesellschaft zu disziplinieren, werden nicht nur tech‐
Page 180
Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte
179
nische, sondern vor allem rechtliche Mittel angeführt.14 Bei den recht‐
lichen Mitteln sind insbesondere Schwellenwerte zentral. Da bei groß‐
flächigem Anbau von einer nicht zu vermeidenden Grundverunreini‐
gung durch gentechnisch veränderte Organismen ausgegangen wird
– worin sich sowohl kritische als auch befürwortende Positionen einig
sind –, werden Vermischungen von nicht‐gentechnisch veränderten
Organismen mit gentechnisch veränderten Organismen erst ab einem
bestimmten Prozentsatz kennzeichnungspflichtig. Abgesehen davon,
dass ein Großteil gentechnisch veränderter Organismen ohnehin nicht
der Kennzeichnungspflicht unterliegt, wird durch die Kennzeichnung
anhand eines Schwellenwertes die Unterscheidung zwischen gen‐
technisch verändert und gentechnikfrei trotz anteilmäßiger Verunrei‐
nigung möglich.15 Mittels der Schwellenwerte werden gesellschaftli‐
che Praktiken zur Trennung der Warenströme und zur Kontrolle der
Kennzeichnungspraxis etabliert, um den Vermischungsgrad mög‐
lichst gering zu halten. Sie dienen aber auch dazu, potentiell negative
Auswirkungen, wenn sie schon nicht zu vermeiden sind, zu ignorie‐
ren. Von der befürwortenden Position aus wird der Natur und der
14 Als technisches Mittel wird die so genannte Chloroplastentransformation er‐
wähnt, bei der die gentechnische Veränderung an den Chloroplasten vorge‐
nommen wird, womit sie nicht mehr durch den Pollen übertragen werden
kann. Ein weiteres Verfahren ist die Genetic Use Restriction Technology
(GURT), auch Terminatortechnologie genannt, da durch sie die Keimfähig‐
keitder Samen verhindert wird. Beide Techniken werden kommerziell noch
nicht verwertet. 15 So sind nach der EU‐Kennzeichnungsregelung vom 18. April 2004 mit der
Nahrungs‐ und Futtermittelverordnung (EU‐Verordnung Nr. 1829/2003) und
der Verordnung zur Rückverfolgbarkeit und zur Kennzeichnung (EU‐
Verordnung Nr. 1830/2003) Lebens‐ und Futtermittel, die Zutaten enthalten,
die mittels GVO hergestellt werden, von der Kennzeichnungspflicht ausge‐
nommen. Dies betrifft auch tierische Produkte wie Fleisch und Eier von Tieren,
die mit GVO gefüttert wurden.
Page 181
Birgit Peuker
180
Gesellschaft Aktivität zugestanden, aber nur insofern sie kontrollier‐
bar ist.16
Diese unterschiedlichen Sichtweisen auf die Kontrollmöglich‐
keiten von Technik sind mit unterschiedlichen Risikodefinitionen ver‐
bunden. Für die folgenden Ausführungen genügt es, Risiko als eine
Schadauswirkung aufzufassen.17 Für befürwortende Positionen signa‐
lisieren Risiken, dass die Kontrolle der Aktivität der Natur durch die
Technik gestört ist. Sie ziehen daraus den Schluss, dass die Kontrolle
weiter verstärkt werden müsse. Für kritische Positionen sind Risiken
hingegen ein Zeichen dafür, dass die Kontrolle durch die Technik
erfolgreich ist. Jedoch wird der Bereich dessen, was durch die Tech‐
nik, in diesem Fall die Gentechnik, kontrolliert werden soll, ausgewei‐
tet. Nicht nur die Aktivität der Natur, sondern auch die Aktivität der
sozialen Umwelt sollen kontrolliert werden. In der technikbefürwor‐
tenden Sichtweise liegen damit die Risiken in der Funktionstüchtig‐
keit der Technik, vergleichbar mit einem schlecht gebauten Haus, das
in sich zusammenfallen kann. In der technikkritischen Perspektive
liegen die Risiken eher in der Funktionstüchtigkeit der Technik, die
als Instrument einiger gesellschaftlicher Akteure gegen alternative
gesellschaftliche Interessen gewandt werden kann. In beiden Fällen
wird jedoch die Technik in Bezug zur Gesellschaft gesehen: In dem
einen Fall bringt die Kontrolle der Technik gesellschaftlichen Nutzen,
in dem anderen ist die Technik ein Instrument für die Kontrolle der
sozialen Umwelt. Es geht damit nicht nur um unterschiedliche Bilder
von Natur, sondern unterschiedliche Konzeptionen über das Verhält‐
nis zwischen Natur und Gesellschaft. Der Unterschied liegt darin, ob
sich eher auf der lokalen oder eher auf der globalen Ebene auf das
Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft bezogen wird.
16 Vgl. zu einer ähnlichen Einschätzung hinsichtlich der Verteilung von Passivität
und Aktivität im Hinblick auf die Kontrollgewalt Law 2002, insbesondere
121 ff. 17 Die Definition des Begriffs Risiko variiert sowohl in der sozialwissenschaftlichen
Literatur als auch im gesellschaftlichen Diskurs. Die versicherungstechnische
Variante definiert Risiko als Produkt von Eintrittswahrscheinlichkeit und Hö‐
he des Schadens; vgl. Krohn/Krücken 1993; Banse 1996.
Page 182
Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte
181
Jedoch lässt die Position der Technikkritiker eine Differenzie‐
rung zu. So ist auch in Bezug auf die Agrar‐Gentechnik eine Linie von
Kritikern auszumachen, die die Anwendung der Gentechnik in der
Landwirtschaft insgesamt ablehnen und dementsprechend eher als
Gentechnikgegner denn als Gentechnikkritiker bezeichnet werden
müssten. Es gibt aber auch eine Linie von Kritikern, die nicht die
Technik an sich, sondern die Richtung der Technikentwicklung der
Agrar‐Gentechnik kritisieren, die ihrer Meinung nach weder umwelt‐
noch sozialverträglich sei. Dies geht mit der Forderung einher, die
öffentliche Forschung zu fördern und die Technikentwicklung nicht in
privater Hand zu belassen.
In dem Konflikt um die Agrar‐Gentechnik geht es demnach
sowohl um die Herstellung und den Schutz öffentlicher Güter als
auch um das Recht auf Selbstbestimmung. Zu einem ähnlichen
Schluss kommen auch andere Autoren, die Technikkonflikte als eine
neue Form sozialer Konflikte beschreiben, bei denen es nicht mehr um
die Verteilung, sondern um die Herstellung öffentlicher Güter gehe
(vgl. Beck 1986; Lau 1989; Eder 1997).18 Ebenso haben empirische Stu‐
dien nachgewiesen, dass die fehlende Technikakzeptanz in der Bevöl‐
kerung weniger auf ein Unbehagen gegenüber der Technik selbst zu‐
rückzuführen sei als auf mangelndes Mitspracherecht und mangelnde
demokratische Kontrolle (vgl. Dolata 1996: 196 ff.; Albrecht 2000:
147 f.; Martinsen 2000: 66).
3. Schlussbemerkung
In der Debatte um die Agrar‐Gentechnik werden zumeist die Befür‐
worter als Sprecher der Interessen der Ökonomie angesehen, die Kri‐
tiker hingegen als Sprecher im Interesse der Natur. Diese Verbindung,
so haben die vorangegangenen Erörterungen gezeigt, beinhalten eine
Vereinfachung der jeweiligen Argumentationen, die jedes Mal miss‐
18 Auf die Schwierigkeiten bei Herstellung und Schutz öffentlicher Güter ver‐
weist das so genannte Allmendeproblem (engl. ‚tradegy of the commons’) oder
auch Trittbrettfahrerproblem; vgl. Hardin 1968.
Page 183
Birgit Peuker
182
achtet, dass das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft themati‐
siert wird. Die Kritiker beziehen sich nicht nur einseitig auf eine Na‐
tur, sondern sprechen auch im Interesse der Gesellschaft. Ebenso füh‐
ren Befürworter neben ökonomischen auch ökologische Argumente
an.
Die Vereinseitigung der Sprecherposition der Kritiker ist so‐
wohl für Befürworter als auch Kritiker funktional. Für die Befürwor‐
ter wird es so möglich, die Argumentation der Kritiker allein unter
den ökologischen Gesichtspunkten betrachten zu können. Die hier
aufgeführten Argumente beziehen sich auf die Natur, den Gegen‐
stand der Naturwissenschaften. Ihnen kann dementsprechend mit
wissenschaftlichen Argumenten begegnet werden. Die Diskussion
kann sich dann zum Beispiel darauf beziehen, wie weit die Auskreu‐
zung reicht und welche Kulturpflanzen betroffen sind etc. Dies er‐
laubt es, die ökonomischen und gesellschaftspolitischen Argumente
der Kritiker zu ignorieren und deren Position nicht als politische Posi‐
tion, die nach politischer Partizipation drängt, wahrzunehmen. Eben‐
so können auf Seiten der Kritiker die Möglichkeiten eines technischen
Naturschutzes ignoriert werden, um die Argumentation der Befür‐
worter allein auf die zugrunde liegenden ökonomischen Interessen
zurückzuführen und damit deren wissenschaftliche Argumente als
durch Interessen verzerrt darzustellen.
Damit wird Natur einseitig nur unter wissenschaftlichen As‐
pekten gesehen und ihre oben beschriebene Funktion als öffentliches
und damit politisch umstrittenes Gut nicht berücksichtigt. Der wis‐
senschaftliche Naturbegriff tendiert aber dazu, Unterschiede in den
Naturverhältnissen zu ignorieren und sie unter einer globalen Sicht‐
weise zu vereinheitlichen.19 Dadurch wird jedoch nicht nur die Natur
vereinheitlicht, sondern auch die Gesellschaft, da nur einer möglichen
Perspektive auf das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft der
Vorzug gegeben wird.
19 Zu einer Kritik an einem vereinheitlichenden Naturbegriff, der sich auf den
universalisierenden Diskurs in den Wissenschaften stützt, siehe die Beiträge in
Jasanoff/Long Martello 2004.
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Natur und Gesellschaft in der Agrar-Gentechnik-Debatte
183
Ziel des Artikels war es, zu zeigen, dass es eine Pluralität von Positio‐
nen in der Agrar‐Gentechnik‐Debatte gibt. Zwar lassen sich die unter‐
schiedlichen Lager von Befürwortern und Gegnern identifizieren, sie
stellen aber nur Bezugspunkte flexibler Positionierungen dar, die
durch Akteure mit unterschiedlichen Vorstellungen über das Verhält‐
nis zwischen Natur und Gesellschaft hervorgebracht werden. Neben
ihrer pauschalen Kennzeichnung als Gegenüberstellung der Interes‐
sen von Ökologie und Ökonomie sind differenziertere Argumentatio‐
nen zu erkennen, wie zum Beispiel die gentechnikkritische Position,
die auf eine sozial‐ und umweltverträgliche Technikgestaltung zielt.
Diese Ambiguitäten werden nur sichtbar, wenn nicht von festen Iden‐
titäten ausgegangen wird, die zum Beispiel auf kulturell vordefinierte
Praxisfelder zurückgeführt werden, sondern nur wenn die Positionie‐
rung sozialer Akteure untersucht wird, die Partei ergreift für eine be‐
stimmte gesellschaftliche Praxis. Identitäten sind hergestellt und kön‐
nen gewechselt werden. Dies könnte auch für andere Ökologiediskur‐
se oder gesellschaftliche Diskurse im Allgemeinen gelten.
Die Sozialwissenschaften dürfen nicht unreflektiert in solchen
Debattenfeldern Partei ergreifen. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, das
Debattenfeld zu kartieren, unterschiedliche Sichtweisen darzustellen
und es damit nicht nur sich selbst zu ermöglichen, reflektiert Position
zu beziehen, sondern vor allem auch ihren Rezipienten. Eine solche
Positionierung würde die Pluralität von Positionen anerkennen und
die eigene Position nicht pauschal als die universell gültige und rich‐
tige setzen. Darüber könnte auch die Rolle der Sozialwissenschaften
in interdisziplinären Zusammenhängen definiert werden, nämlich
indem sie die Positionierung anderer Disziplinen zugleich relativiert
und verdeutlicht.
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Birgit Peuker
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Page 190
Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung gesellschaftlicher Naturverhältnisse
Über die Bedeutung von Natur-, Ökonomie- und Politikverständnissen für nachhaltige Entwicklung
Daniela Gottschlich und Tanja Mölders
1. Einleitung
In der sozial‐ökologischen Krise zeigt sich, dass die sicher geglaubte
Grenze zwischen ‚Natur’ und Gesellschaft zunehmend verschwimmt.
Es sind die gesellschaftlichen Naturverhältnisse, d. h. die vielfältigen
materiellen und kulturellen Beziehungen zwischen Menschen und
‚Natur’1, die in die Krise geraten sind und sich z. B. in Form von Kli‐
mawandel, Lebens‐ und Futtermittelskandalen äußern (vgl.
Jahn/Wehling 1998; Becker/Jahn 2006; sowie den Beitrag von
C. Janowicz in diesem Band). In der Sozialen Ökologie wird die seit
den 1970er Jahren diskutierte ökologische Krise deshalb nicht als eine
Krise der ‚Natur da draußen’, sondern „mehrdimensional als eine
Krise des Politischen, der Geschlechterverhältnisse und der Wissen‐
schaft verstanden“ (Becker 2006: 53). Konstitutiv für das sozial‐
ökologische Krisenverständnis ist zudem der Bedeutungszusammen‐
hang von Krise und Kritik, weshalb jedes Krisenkonzept mit einem
Konzept von Kritik verbunden bleiben sollte (vgl. Becker/Jahn 1989:
6). Diese Problemorientierung der Sozialen Ökologie wird von uns
1 In Anlehnung an Kropp (2002: 23, Fußnote 8) setzen wir ‚Natur’ in einfache
Anführungszeichen und markieren damit den diskursiven Charakter des Beg‐
riffes, dessen alltagsweltliche sowie wissenschaftsimmanente Gewissheiten
wir hinterfragen. Mit ‚Natur’ sind stets unterschiedliche und vielfältige ‚Na‐
turwesen’, ‚Naturdinge’, ‚nicht menschliche Wesen’ etc. gemeint. In zusam‐
mengesetzten Begriffen verzichten wir der Lesbarkeit halber auf diese Anfüh‐
rungszeichen.
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Daniela Gottschlich und Tanja Mölders
190
geteilt und bildet den Ausgangspunkt unseres Forschungsvorhabens
„PoNa – Politiken der Naturgestaltung“, aus dem heraus dieser Bei‐
trag entstanden ist (vgl. Infokasten).
Die Nachwuchsgruppe „PoNa – Politiken der Naturgestaltung. Länd‐
liche Entwicklung und Agro‐Gentechnik zwischen Kritik und Vision“
wird vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung
(BMBF) im Förderschwerpunkt Sozial‐ökologische Forschung (SÖF)
gefördert und ist an der Leuphana Universität Lüneburg angesiedelt.
PoNa analysiert die wechselseitigen Beziehungen zwischen Politik
und ‚Natur’. Ziel ist es, einen theoretisch und empirisch begründeten
Beitrag zur Diskussion um nachhaltige Entwicklung zu leisten, in
dem ‚Natur’ stärker als bisher als mithergestelltes Resultat sozio‐
ökonomischer Entwicklungen angelegt ist. Ausgehend von einem
solchen Nachhaltigkeitsverständnis werden Empfehlungen zur inhalt‐
lichen, strukturellen und prozeduralen Gestaltung gesellschaftlicher
Naturverhältnisse abgeleitet. Am Beispiel der beiden Politikfelder
Ländliche Entwicklung und Agro‐Gentechnik werden zunächst die
der politischen Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse zu‐
grunde liegenden Rationalitäten in Natur‐, Ökonomie‐ und Politik‐
verständnissen analysiert. Die dabei identifizierten Potenziale und
Grenzen für Politiken nachhaltiger Naturgestaltung werden in einem
iterativen Prozess mit bereits existierenden theoretischen Ansätzen
(wie dem Konzept der (Re)Produktivität) ins Verhältnis gesetzt.
Durch den Ländervergleich Deutschland‐Polen wird sowohl das
Spektrum der Analyse als auch das möglicher Handlungsempfehlun‐
gen erweitert, indem unterschiedliche politische, wirtschaftliche, kul‐
turelle und naturräumliche Bedingungen untersucht werden.
Miteinbezogen werden u. a. Fragen danach, wie sich die Transforma‐
tionsprozesse des politischen und ökonomischen Systems auf Politi‐
ken der Naturgestaltung, Nachhaltigkeitsstrategien und auf Akteure
in den Politikfeldern auswirken. Die theoretischen und empirischen
Ergebnisse von PoNa sollen verschiedenen wissenschaftlichen und
anwendungsorientierten Verwertungen zugeführt werden (vgl. dazu
auch www.sozial‐oekologische‐forschung.org/de/1427.php).
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Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung
191
Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, die theoretischen Überlegun‐
gen, die dem Forschungsvorhaben zugrunde liegen, vorzustellen und
damit die Frage nach der Krise des Politischen als Frage nach den
Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung gesellschaftlicher Natur‐
verhältnisse in Richtung Nachhaltigkeit zu konkretisieren.
Im Forschungsprojekt PoNa gehen wir davon aus, dass die
vorfindbaren Strategien zur politischen Steuerung vielfach selbst Teil
der in die Krise geratenen gesellschaftlichen Naturverhältnisse sind
und dass sich auch in solchen Politikansätzen, die ihrem Selbstver‐
ständnis nach nachhaltige Strategien verfolgen, Denk‐ und Hand‐
lungsmuster identifizieren lassen, die sozial‐ökologische Krisen per‐
petuieren. Vor dem Hintergrund dieser kritischen Orientierung setzen
wir uns mit verschiedenen Ansätzen politischer Steuerung in den
beiden Politikfeldern Ländliche Entwicklung und Agro‐Gentechnik
auseinander (vgl. zum Politikfeld Agro‐Gentechnik auch den Beitrag
von B. Peuker in diesem Band).
Eine für das Forschungsvorhaben zentrale Annahme, die Re‐
sultat unserer bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit
dem Diskurs um nachhaltige Entwicklung ist (vgl. u. a. Gottschlich
2003; Gottschlich/Mölders 2006; Mölders 2009), lautet, dass eine nach‐
haltige Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse der Reflexion
und – in vielen Fällen – der Reformulierung von Natur‐, Ökonomie‐
und Politikverständnissen, die den unterschiedlichen Ansätzen politi‐
scher Steuerung zugrunde liegen, bedarf (vgl. für die betrachteten
Politikfelder auch Feindt u. a. 2008a). Diesen Gedanken werden wir
im Folgenden ausführen, indem wir die Bedeutung von Natur‐, Öko‐
nomie‐ und Politikverständnissen als zentrale Kategorien der Steue‐
rung gesellschaftlicher Naturverhältnisse herausarbeiten. Dazu wer‐
den wir in einem ersten Schritt Nachhaltigkeit als Transformationsziel
konkretisieren und unser Verständnis von nachhaltiger Entwicklung
und (politischer) Steuerung explizieren. In einem zweiten Schritt legen
wir den Fokus auf Natur‐, Ökonomie‐ und Politikverständnisse. Dabei
stellen wir jeweils dar, welche Natur‐, Ökonomie‐ und Politikver‐
ständnisse im Nachhaltigkeitsdiskurs vertreten sind, formulieren vor
dem Hintergrund unseres Nachhaltigkeitsverständnisses Kritik und
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Daniela Gottschlich und Tanja Mölders
192
leiten dann über zu weiterführenden theoretischen Konzepten. Um
unsere theoretischen Ausführungen zu exemplifizieren, stellen wir
jeweils abwechselnd Bezüge zu den im Forschungsprojekt PoNa be‐
trachteten Politikfeldern Ländliche Entwicklung und Agro‐
Gentechnik her. Im dritten und letzten Schritt fragen wir danach, wel‐
che Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung gesellschaftlicher Na‐
turverhältnisse hinsichtlich unterschiedlicher und in Teilen wider‐
sprüchlicher, d. h. nicht integrationsfähiger Natur‐, Ökonomie‐ und
Politikverständnisse erkennbar werden.
2. Nachhaltigkeit als Transformationsziel politischer Steuerung
Gesellschaftliche Naturverhältnisse verändern sich – sie unterliegen
Transformationsprozessen. Diese Transformation kann erstens
unintendiert erfolgen, und zwar sowohl als Resultat von Naturprozes‐
sen ohne anthropogene Ursachen (z. B. Vulkanausbrüche) als auch als
Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse, mit denen primär andere Ent‐
wicklungen verfolgt wurden und werden (bspw. ist der Klimawandel
ein unintendiertes Resultat fortschreitender Industrialisierung).2
Zweitens – und auf diese Form der Transformation konzentrieren wir
uns im Folgenden – können Veränderungen das intendierte Ergebnis
von Steuerung sein.
Wir verwenden den Begriff der Steuerung, um der Gestaltbar‐
keit gesellschaftlicher Naturverhältnisse Ausdruck zu verleihen, ohne
dabei einem Steuerungsoptimismus anheimzufallen. Unter Steuerung
– genauer: politischer Steuerung – verstehen wir die zielgerichtete
und zweckorientierte, d. h. absichtsvolle Gestaltung gesellschaftlicher
Bedingungen und Zustände. Doch politische Steuerung hat nicht nur
ihre Grenzen, auf die wir zu sprechen kommen werden, sie ist zudem
auch immer „intentionale Machtausübung“ (Göhler/Höppner/De La
2 Der Begriff der „unintendierten Nebenfolgen“ als Resultat von gesellschaftli‐
chen Modernisierungsprozessen wurde von Ulrich Beck (1986) in seinem Buch
„Risikogesellschaft“ in die umweltpolitische Debatte eingeführt.
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Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung
193
Rosa 2009: 13). Ausgehend von der Frage nach der demokratischen
Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse werden die Verfahren
und Formen der Steuerung selbst zum Gegenstand der Analyse: Wer
hat welche Möglichkeiten, sich wie einzubringen? Wer definiert die
Krisen und Probleme, die es zu gestalten gilt? Wo werden Reflexions‐
und Kommunikationsräume geschaffen (vgl. dazu auch Brand
2005: 157)?
Nachhaltigkeit zum Transformationsziel zu erklären, bedeutet
zwar, einer normativen Orientierung zu folgen, doch das Konzept
nachhaltige Entwicklung stellt ein „kontrovers strukturiertes Diskurs‐
feld“ (Brand/Fürst 2002: 92) dar, innerhalb dessen verschiedene Strö‐
mungen um die Deutung von Nachhaltigkeit konkurrieren. Wenn‐
gleich dabei sowohl das doppelte Gerechtigkeitspostulat für die heute
lebenden wie für die zukünftigen Generationen als auch die Forde‐
rung nach dem Erhalt der Reproduktions‐ und Entwicklungsfähigkeit
von ‚Natur’ und Gesellschaft weitgehend geteilte Grundorientierun‐
gen darstellen, sind die dafür einzuschlagenden Wege und Maßnah‐
men ebenso unterschiedlich wie umstritten. Entsprechend muss
Nachhaltigkeit jeweils gemäß der eigenen Zugänge und Vorstellun‐
gen konkretisiert werden.
Das Verständnis von nachhaltiger Entwicklung, das dem For‐
schungsprojekt PoNa als normative Orientierung zugrunde liegt,
schließt an Arbeiten an, die im Kontext des Vorsorgenden Wirtschaf‐
tens3 entstanden sind (vgl. Biesecker u. a. 2000; Forschungsverbund
3 Das Konzept des Vorsorgenden Wirtschaftens hat sich seit 1992 im deutsch‐
sprachigen europäischen Raum herausgebildet. Zu seinen Kernelementen ge‐
hören die Forderung nach bewusster Gestaltung der Einheit von Reprodukti‐
vität und Produktivität sowie das Ansetzen an lokalen Lebensbedingungen
und Alltagserfahrungen. Vorsorgendes Wirtschaften ist keine abstrakte Idee,
sondern heute schon Wirklichkeit. Das gleichnamige Netzwerk hat eine Viel‐
zahl von Praxisbeispielen untersucht, die vor allem auf lokaler bzw. regionaler
Ebene zu finden sind – sei es als nachhaltige Land‐ und Forstwirtschaft, als
Haus der Eigenarbeit, als Bank mit auf den Lebenserhalt gerichteten Kriterien
der Kreditvergabe oder als kooperative Nutzgartenwirtschaft. Vorsorgendes
Wirtschaften ist ein Weg zu einer nachhaltigen Ökonomie, der im Hier und
Heute ansetzt, sich im Gehen festigt und weiter herausbildet und in diesem
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Daniela Gottschlich und Tanja Mölders
194
„Blockierter Wandel?“ 2007). Für die angestrebte Integration von
Ökonomie, Ökologie und Sozialem bedeutet dies, diese Dimensionen
aufeinander bezogen neu zu denken und sie in ihren spezifischen
Qualitäten neu zu bestimmen: Das Ökonomieverständnis eines nachhal‐
tigen Wirtschaftens schließt bspw. die durch die Marktökonomie nicht
bewerteten Sorgearbeiten und ökologischen Leistungen von ‚Natur’ ein.
Die ökologischen Leistungen bilden nicht allein die Grundlage wirt‐
schaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung, sondern zugleich ihr
Ziel. Aus einer sozialen Perspektive geht es u. a. um die Entwicklung
umfassender partizipativer Beziehungsmuster zur Verwirklichung
intra‐ und intergenerationaler Gerechtigkeit (vgl. Forschungsverbund
„Blockierter Wandel?“ 2007: 85).
Diese Forderungen erscheinen uns umso dringlicher, da in
der bisherigen politischen Praxis die Beziehungen zwischen ökologi‐
schen, ökonomischen und sozialen Aspekten nach wie vor häufig
ausgeblendet bleiben, indem sich Projekte und Maßnahmen lediglich
sektoral auf eine Zieldimension konzentrieren. Auch in solchen Poli‐
tikfeldern, die sich ihrem Selbstverständnis nach an Ideen nachhalti‐
ger Entwicklung orientieren (z. B. Umweltpolitik), bleibt eine (Neu
)Bestimmung dessen, was unter ökologischen, ökonomischen und
sozialen Qualitäten jeweils zu verstehen ist und wie diese sich aufei‐
nander beziehen sollten, größtenteils aus. Wie die jeweiligen Krisen,
d. h. die jeweiligen zu bearbeitenden Probleme, wahrgenommen, ana‐
lysiert und bearbeitet werden, trägt unseres Erachtens deshalb teil‐
weise zur Stabilisierung, Reproduktion und Verschärfung dieser Kri‐
sen bei. Einen Ausweg aus dieser „Krise der Krisenwahrnehmung“
(Gottschlich/Mölders 2006) sehen wir darin, das „Ganze“ in den Blick
zu nehmen und bisher ausgeblendete Bereiche einzubeziehen sowie
neue und tatsächlich nachhaltige Verbindungen zwischen in der Regel
getrennten Sphären zu gestalten – etwa zwischen Konsum und Pro‐
duktion, zwischen Schützen und Nutzen, zwischen Produktion und
Reproduktion (vgl. ebd.).
Prozess die kapitalistische Ökonomie hinter sich lässt (vgl. Biese‐
cker/Gottschlich 2007: 248 f.).
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Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung
195
3. Natur-, Ökonomie- und Politikverständnisse im Nachhaltigkeitsdiskurs
3.1 Naturverständnisse
Die Analyse gesellschaftlicher Naturverhältnisse ist direkt verbunden
mit der Thematisierung von Naturverständnissen (vgl. Görg 1999: 15).
Durch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Naturverständ‐
nissen, wie sie bspw. durch die Umweltsoziologie geleistet wurde
(vgl. z. B. Brand 1998; Kropp 2002; Brand/Kropp 2004; Groß 2006),
wurden Vorschläge für die Analyse und Systematisierung von Erklä‐
rungsansätzen für die Beziehung zwischen ‚Natur’ und Gesellschaft
erarbeitet. So unterscheidet Kropp (2002) naturalistische und soziozent‐
rische Ansätze von vermittlungstheoretischen Positionen. Die ersten bei‐
den Ansätze folgen einer dichotomen Konzeption, d. h. ‚Natur’ und
Gesellschaft werden als getrennt voneinander betrachtet und dieses
Verhältnis wird jeweils zugunsten eines der beiden Pole aufgelöst. Die
Konsequenz sind Verzerrungen in die eine oder andere Richtung. Mit
dem Ansatz der vermittlungstheoretischen Positionen, zu denen
Kropp (ebd.: 164 ff.) auch das Konzept der gesellschaftlichen Natur‐
verhältnisse zählt, wird versucht, naturalistische wie soziozentrische
Reduktionismen zu vermeiden, indem die Frage nach ‚Natur’ zu‐
gleich als Frage nach einem Vermittlungsverhältnis zwischen ‚Natur’
und Gesellschaft formuliert wird.
Weder der naturalistische Imperativ, der versucht, Kriterien
und Maßstäbe des Handelns in der ‚Natur’ abzulesen, ohne sie abwä‐
genden und demokratisch legitimierten Entscheidungsfindungen un‐
terziehen zu wollen, noch dezidiert sozialkonstruktivistische Positio‐
nen, die bisweilen die Zusammenarbeit mit naturwissenschaftlichen
Expert/inn/en blockieren und der politischen Mobilisierung oftmals
die Möglichkeit der Begründung nehmen (ebd.: 119, 139), erscheinen
für politische Interventionen geeignet. Mit vermittlungstheoretischen
Positionen wird die gemeinsame Betrachtung von ‚Natur’ und Gesell‐
schaft auf der theoretischen Ebene explizit mit Prozessen der Politisie‐
rung verknüpft, um einen Beitrag zu leisten zur „Verantwortung und
Gestaltungskompetenz ‚for our common future’“ (ebd.: 147).
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Daniela Gottschlich und Tanja Mölders
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Gleichwohl vermag eine Annäherung über wissenschaftliche
Erklärungsversuche noch keine hinreichende Antwort darauf zu ge‐
ben, wie bzw. welche ‚Natur’ politisch hergestellt wird und welche
Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung gesellschaftlicher Natur‐
verhältnisse in Richtung Nachhaltigkeit sichtbar werden.
Tatsächlich zeigt sich mit Blick auf die politische Praxis in
Prozessen zur Implementierung von Nachhaltigkeit, dass die Frage
nach ‚Natur’ in Form der Thematisierung ökologischer Aspekte einer‐
seits zwar den (deutschen) Nachhaltigkeitsdiskurs zentral prägt, an‐
dererseits jedoch kaum eine theoretische Reflexion darüber stattfindet,
was mit dieser ‚Natur’ im Unterschied oder in Vermittlung mit Ge‐
sellschaft jeweils gemeint ist. Analytisch lassen sich in der politischen
Praxis im Wesentlichen zwei Verständnisse von ‚Natur’ unterschei‐
den: Das eine Verständnis von ‚Natur’ ist durch ökologische, das an‐
dere durch ökonomische Prämissen geprägt.
Das Verständnis von einer ökologischen ‚Natur’ ist dabei so‐
wohl von der naturwissenschaftlichen als auch von der politischen
Ökologie beeinflusst (vgl. Weber 2007). In einer – nicht immer trenn‐
scharf nachvollzogenen – Argumentation wird in diesen Diskursen
vor dem Hintergrund naturwissenschaftlich‐quantitativer sowie phi‐
losophisch‐qualitativer Begründungen das Schützenswerte definiert.
Es ist nicht zuletzt diese Vermengung von Ebenen, die dazu beiträgt,
dass sich solche Positionen beharrlich halten, die ‚Natur’ als Richt‐
schnur zukünftiger Entwicklungen ausweisen und einem naturalisti‐
schen Imperativ folgen, indem sie davon ausgehen, dass sich aus der
Beschreibung von ‚Natur’ bestimmen lässt, welche gesellschaftlichen
Arten des Umgangs mit ‚Natur’ (un)angemessen sind. Aufgrund der
mangelnden Reflexion des eigenen normativen Gehalts, wie sie den
Naturwissenschaften insbesondere von Seiten feministischer Natur‐
wissenschaftskritiker/innen vorgeworfen wird (vgl. z. B. Or‐
land/Scheich 1995), bleibt die damit verbundene Problematik – insbe‐
sondere naturalistische Fehlschlüsse, die das Sollen aus dem Sein ab‐
zuleiten suchen – jedoch weitestgehend unbearbeitet. Ausgehend von
einem ökologischen Verständnis von ‚Natur’ werden vielfach Um‐
gangsweisen mit ‚Natur’ gefordert, die auf als schützenswert katego‐
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risierte Naturzustände zielen. Dass gesellschaftliche Wertvorstellun‐
gen jedoch immer bedeutsam für die Bestimmung schützenswerter
‚Natur’ sind, zeigt sich bspw. bei den Diskussionen um die Entwick‐
lung von Natur‐ und Kulturlandschaften in ländlichen Räumen. Zu‐
nächst stellt sich die Frage, inwiefern sich in den Ländern des indus‐
trialisierten Nordens überhaupt von Naturlandschaften im Sinne von
unberührter, wilder ‚Natur’ sprechen lässt. Darüber hinaus werden
naturwissenschaftlich hergeleitete Argumente wie Ursprünglichkeit
und Seltenheit mit ästhetischen und teleologischen Argumenten ver‐
mischt und nicht offengelegt (vgl. Trepl 1998; Weber 2001).
Jungkeit u. a. (2002: 491) konstatieren in ihrer Studie zur Be‐
deutung ökologischer Wissenschaften im Nachhaltigkeitsdiskurs,
dass die Bedeutung der Ökologie abnimmt, „sei es, weil ihr die soziale
und die ökonomische Dimension als gleichwertige zur Seite gestellt
werden[,] oder sei es, weil die Ökologie sich von innen heraus öko‐
nomisiert“. Das Verständnis einer Ökonomisierung von (ökologischer)
‚Natur’ ist vor allem auf das Naturkapital4 konzentriert. ‚Natur’ er‐
scheint als Ressource, die es erstens (z. B. im Bereich der Artenvielfalt)
zugänglich zu machen und zweitens so zu erhalten gilt, dass sie auch
zukünftigen Nutzungen zur Verfügung steht. Dieses auf Verwertung
und Verwertbarkeit ausgerichtete Verständnis von ‚Natur’ nimmt im
Zuge von Konzeptualisierungs‐ und Implementierungsversuchen von
nachhaltiger Entwicklung eine zunehmend dominante Rolle ein (vgl.
4 Biesecker/Hofmeister (2001, 2009) setzen sich kritisch mit dem Begriff des
Naturkapitals im Nachhaltigkeitsdiskurs auseinander. Sie arbeiten heraus,
dass, trotz unterschiedlicher Verständnisse und inhaltlicher Erweiterungen
dieses Begriffs durch Vertreter der Ökologischen Ökonomie (vgl. z. B. Daly
1996; Costanza u. a. 2001) bis hin zu Vertretern starker Nachhaltigkeit (vgl.
Ott/Döring 2008), das Verständnis eines ökonomischen Kapitalbegriffs beste‐
hen bleibt. Die Trennung zwischen einerseits ‚Natur’ und andererseits Gesell‐
schaft wird nicht überwunden, weil davon ausgegangen wird, dass es eine von
Gesellschaft unterscheidbare ‚Natur’ gibt, die durch Maßnahmen des Schutzes
oder der Nutzung nachhaltig gestaltet werden kann. Außer Acht bleibt dabei
jenes kultivierte Naturkapital, das nicht als wertvolles Naturkapital, sondern
in Form von NaturKulturkatastrophen wirksam wird (vgl. Biesecker/Hofmeister
2009: 176 f.).
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kritisch dazu Brunnengräber 2002; Leff 2002; Ribeiro 2002). Hinsicht‐
lich einer nachhaltigen Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnis‐
se erscheint eine solche Ökonomisierung von (ökologischer) ‚Natur’
problematisch, weil sie einer „engen ökonomischen Rationalität“
(Biesecker/Kesting 2003: 196) folgt, die auf einer Kosten‐Nutzen‐
Rationalität beruht, die durch Trennungen, Abwertungen und Aus‐
grenzungen gekennzeichnet ist. Dabei geht in diese Kosten‐Nutzen‐
Rechnung nur ein, was in Geld bewertet wird.
So, wie das Verständnis einer ökologischen ‚Natur’ auf den
Schutz von ‚Natur’ gerichtet ist, wird mit der Ökonomisierung von
(ökologischer) ‚Natur’ die Nutzung von ‚Natur’ adressiert. Es ist ein
Verdienst von Nachhaltigkeitspolitik, diese Schutz‐Nutzen‐
Dichotomie als problematisch erkannt zu haben und Versuche ihrer
Überwindung zu unternehmen. Über die Entwicklung von Integrati‐
onsstrategien (wie sie bspw. in Biosphärenreservaten verfolgt wird;
vgl. dazu den Beitrag von J. Flemming in diesem Band) wird versucht,
den Schutz und die Nutzung von ‚Natur’ miteinander zu verbinden.
Eine Verbindung, die oftmals obligatorisch ist, weil der Schutz bzw.
der Erhalt bestimmter Naturzustände an die Durchführung bestimm‐
ter Nutzungen gebunden ist (z. B. beim Erhalt von Kulturlandschaf‐
ten). Tatsächlich erweisen sich solche Integrationsversuche häufig
jedoch als nicht konsequent, weil die Zusammenführung von Schüt‐
zen und Nutzen auf der einen Seite allzu oft mit Trennungen und
Ausgrenzungen auf der anderen Seite verbunden ist. Bspw. werden
durch das Instrument des Vertragsnaturschutzes Nutzungen unter
Schutz gestellt, ohne dass die daran beteiligten Landnutzer/innen an
der Dynamik jener ökonomischen Prozesse teilhätten, zu denen ihre
Tätigkeiten gehören (z. B. die Produktion von Fleisch und Wolle).
Indem Landnutzung entweder als ökonomisch rentabel oder als ökolo‐
gisch erscheint, bleibt die Dichotomie zwischen der Nutzung und
dem Schutz von ‚Natur’ bestehen (vgl. Hofmeister/Mölders 2007;
Mölders 2009): Es wird nicht bewusst gemacht, dass eine Gesellschaft
‚Natur’ immer (mit)herstellt und daher immer auf die Qualität dieses
gesellschaftlichen Naturprodukts achten muss (vgl.
Biesecker/Hofmeister 2009: 175). Dass oftmals Naturzustände herge‐
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199
stellt werden, die nicht als schützenswert gelten, zeigt sich insbeson‐
dere dann, wenn die gesellschaftlich hergestellte ‚Natur’ Naturzu‐
stände oder ‐prozesse produziert, die gesellschaftlich als bedrohlich
oder katastrophal erscheinen – z. B. wenn durch die Ausbringung von
gentechnisch manipuliertem Mais, der seine Versuchsfelder durch
Auskreuzung „verlässt“, das Prinzip der Rückholbarkeit und das
Prinzip der Vorsorge verletzt werden.
Dieser Blick auf ‚Natur’ verdeutlicht nicht nur die Verbindung
von ‚Natur’ und Gesellschaft als einen unaufhebbaren Zusammen‐
hang auf der materiellen Ebene (Veränderungen von ‚Natur’ auf der
stofflichen Ebene) und der erkenntnistheoretischen Ebene (Interpreta‐
tionen von ‚Natur’ als schützenswert oder bedrohlich), sondern macht
zugleich deutlich, dass ‚Natur’ selbsttätig ist. Wie diese „Aktanten“
(Latour 1995) oder „Cyborgs“ (Haraway 1995) in die Politiken der
Naturgestaltung einzubeziehen sind, ist weitestgehend unbeantwortet
(vgl. zum Akteursstatus von ‚Natur’ auch den Beitrag von B. Peuker
in diesem Band).
Im Verständnis von PoNa kann die Frage nach ‚Natur’ des‐
halb nicht losgelöst werden von der Frage danach, welche Wirt‐
schaftsweisen welche ‚Natur’ hervorbringen. ‚Natur’ nachhaltig zu
gestalten, macht es erforderlich, die Dichotomie von einerseits Schutz
und andererseits Nutzung zu überwinden und im Sinne eines erhal‐
tenden Gestaltens (vgl. Biesecker/Elsner 2004; Gottschlich/Mölders
2006) zusammenzuführen: Prozesse des Eingreifens und Veränderns
und Prozesse des Pflegens und Bewahrens werden eins. Ein solches
Verständnis, das die Einheit von Naturprodukt (natura naturata) und
Naturproduktivität (natura naturans) betont, macht Reflexions‐ und
Aushandlungsprozesse darüber notwendig, welche ‚Natur’ warum,
von wem und mit welchen Konsequenzen für gesellschaftliche Natur‐
verhältnisse gestaltet wird. Daraus werden zwangsläufig Verände‐
rungen im Wirtschaftsprozess resultieren, denn: „Das Ökonomische
wird in einer nachhaltigen Gesellschaft nicht mehr das sein (können),
was es noch ist“ (Biesecker/Hofmeister 2006: 169). Im Forschungspro‐
jekt PoNa fragen wir deshalb – ausgehend von der Frage nach ‚Natur’
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200
– nach den in Nachhaltigkeitspolitiken eingeschriebenen Ökonomie‐
verständnissen.
3.2 Ökonomieverständnisse
In der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Naturverständnis‐
sen ist deutlich geworden, dass die Frage nach den Möglichkeiten und
Grenzen der Steuerung gesellschaftlicher Naturverhältnisse immer
auch verbunden ist mit den Fragen danach, wie ‚Natur’ in Wirt‐
schaftsprozesse eingebunden ist und welche Verständnisse von ‚Na‐
tur’ durch unterschiedliche ökonomische Rationalitäten erzeugt wer‐
den.
Mit der Orientierung an Nachhaltigkeit als Postulat intra‐ und
intergenerationeller Gerechtigkeit werden die Krisen und Mängel der
herrschenden Art zu wirtschaften offensichtlich: Ernährungssicher‐
heit, um nur ein zentrales Bedürfnis herauszugreifen, das durch öko‐
nomische Tätigkeit befriedigt werden sollte, ist für Millionen von
Menschen nicht gewährleistet – und dies nicht nur in Ländern des
globalisierten Südens, sondern auch in „reichen“ Industrieländern5
(vgl. Bread for the World Institute 2009). Naturzerstörung als Folge
der weltweit wachsenden industriellen Ökonomie, die ‚Natur’ vor‐
rangig nur als Ressource und Senke identifiziert, schränkt nicht nur
die Handlungsoptionen heutiger und zukünftiger Generationen, son‐
dern auch die Lebendigkeit von ‚Natur’ ein. Somit vermindern die
sozial‐ökologischen Krisen die Produktivität von ‚Natur’ ebenso wie
die Produktivität von Gesellschaft. Dabei wird nicht bewusst nach‐
vollzogen, dass Eingriffe in ‚Natur’ auch solche Naturprodukte her‐
vorbringen können, die – z. B. als gentechnisch veränderte Organis‐
men – selbst ursächlich für sozial‐ökologische Krisen sind.
Vor dem Hintergrund dieser Krisen bestimmen die Ausei‐
nandersetzungen mit den Zielen und Methoden der herrschenden
5 Laut dem aktuellen Bericht des US‐Landwirtschaftsministeriums (vgl.
Nord/Andrews/Carlson 2008) sind 36 Millionen Amerikaner/innen von „food
insecurity“ betroffen. Zu Hunger und Armut in Deutschland vgl. die Armuts‐
und Reichtumsberichte der Bundesregierung (2001, 2005, 2008).
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201
Ökonomie sowie der sie tragenden Wissenschaften, insbesondere der
durch Neoklassik und Neoliberalismus geprägten Ökonomik, den
Diskurs um nachhaltige Entwicklung und die Suche nach alternativen
Ansätzen seit Jahren (vgl. z. B. Sachs 1993; Luks 2001;
Biesecker/Kesting 2003; Paech 2005; Lang/Busch‐Lüty/Kopfmüller
2007).
Im Forschungsprojekt PoNa schließen wir an diese Auseinan‐
dersetzungen an und bauen neben Arbeiten der Internationalen Politi‐
schen Ökonomie (vgl. z. B. Strange 1986, 1994, 1997; Altvater/Mahnkopf
1999; Scherrer 2000; Altvater 2005) vor allem auf den Ergebnissen der
Forschung zur Ökologischen Ökonomie (vgl. z. B. Hampicke 1992; Daly
1996; Luks 2000, 2007; Costanza u. a. 2001; Held/Nutzinger 2001) so‐
wie den mittlerweile umfangreich vorliegenden feministischen Arbeiten
zu alternativen Ökonomien auf (vgl. z. B. Biesecker u. a. 2000; Mertens
2001; Elson 2002; Baier/Bennholdt‐Thomsen/Holzer 2005;
Biesecker/Hofmeister 2006; Gottschlich/Mölders 2008; Gottschlich
2008).
Ausgehend von einer Analyse dieser im Nachhaltigkeitsdis‐
kurs diskutierten Ansätze ist unser Anliegen im Forschungsprojekt
PoNa erstens eine Dechiffrierung der herrschenden Ökonomieverständnisse
in den Politikfeldern Ländliche Entwicklung und Agro‐Gentechnik,
um zweitens Transformationswissen6 für die Gestaltung gesellschaftlicher
Naturverständnisse in Richtung Nachhaltigkeit abzuleiten:
(1) Indem wir die Ökonomieverständnisse, wie sie in den relevanten
Dokumenten und Maßnahmen der untersuchten Politikfelder sichtbar
werden, explizit machen, machen wir sie einer kritischen Analyse
zugänglich. Dabei fragen wir insbesondere nach den zentralen Prä‐
6 Transformationswissen beschreibt – in Abgrenzung zu den beiden anderen in
der Nachhaltigkeitsforschung unterschiedenen Wissensformen Systemwissen
(Faktenwissen über die kausalen Zusammenhänge in natürlichen und sozialen
Systemen) und Zielwissen (im gesellschaftlichen Dialog ausgehandelte norma‐
tive Zielvorgaben) – auf einer operativen Ebene Strategien, wie die im Zielwis‐
sen formulierten Zielvorgaben auf der Grundlage der gegenwärtig vorfindba‐
ren Bedingungen realisiert werden können (vgl. Pohl/Hirsch Hadorn 2006: 36).
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missen: Orientiert sich das ökonomische Verständnis am Menschen‐
bild des Homo oeconomicus (vgl. Biesecker/Kesting 2003; Habermann
2008)? Wird Wachstum als Indikator für wirtschaftlichen Erfolg ange‐
legt (vgl. Forum Umwelt & Entwicklung 1997; Luks 2001)? Wird Öko‐
nomie ausschließlich auf Marktprozesse begrenzt und rein monetär
definiert (vgl. Biesecker u. a. 2000)? Welche Fortschritts‐ und Effizi‐
enzvorstellungen werden mit ökonomischem Handeln verbunden
(vgl. Hofmeister 1999; Biesecker/Gottschlich 2005a)? Ist mit Arbeit nur
Erwerbsarbeit gemeint oder wird „das Ganze der Arbeit“ samt der
unbezahlten Sorgearbeiten, ehrenamtlicher Arbeit und Eigenarbeit
erfasst (vgl. Gorz 1980, 1983; Lucas/von Winterfeld 1998; Biesecker
2001; Wichterich 2003; Notz 2004; Biesecker/Gottschlich 2005b)? Wel‐
che Vorstellungen von Inhalt und Verteilung gesellschaftlicher (be‐
zahlter und unbezahlter) Arbeit lassen sich finden (vgl. Hirsch 1990;
Massarrat 2004; Bildungswerk ver.di 2004)?
Diese unsere Forschung strukturierenden Fragen spiegeln
sowohl die grundlegende Bedeutung der versorgungswirtschaftlichen
Bereiche für jedes Wirtschaftssystem als auch die Kritik an der Eindi‐
mensionalität des herrschenden Ökonomie‐ und Wohlfahrtsverständ‐
nisses wider. Wir gehen mit dem Konzept des Vorsorgenden Wirt‐
schaftens davon aus, dass Wirtschaften immer vielfältig und mehrdi‐
mensional ist: Noch vor der monetären hat es eine soziale und eine
physisch‐stoffliche Dimension (vgl. Biesecker u. a. 2000).
Wie schwierig es ist, diese Dimensionen des Wirtschaftens in
die Steuerung gesellschaftlicher Naturverhältnisse einzubeziehen,
zeigen z. B. die Diskussionen um „Lebensqualität“ in ländlichen
Räumen: Während die Debatten einerseits um Fragen nach der Brut‐
towertschöpfung und Möglichkeiten der Steigerung des Wirtschafts‐
wachstums „benachteiligter Räume“ kreisen, wird andererseits zu‐
nehmend betont, dass mit dem Leben auf dem Land Qualitäten ver‐
bunden sind, die sich gerade nicht monetär ausdrücken. Doch auch
hier erweist sich die enge ökonomische Rationalität als äußerst be‐
harrlich für die Steuerung gesellschaftlicher Naturverhältnisse: Die
Anerkennung von vielfältigen, nicht‐warenförmigen Leistungen aus
der Landwirtschaft durch das Konzept der Multifunktionalität (vgl.
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203
OECD 2001; Wüstemann/Mann/Müller 2008) ist direkt verbunden mit
der Frage nach Möglichkeiten einer Kommodifizierung, d. h. einer
monetären Inwertsetzung dieser Leistungen.
(2) Um inhaltliche, prozedurale und strukturelle Voraussetzungen für
Politiken nachhaltiger Naturgestaltung formulieren zu können, folgt
auf die Aufarbeitung der Ökonomieverständnisse die Ableitung von
Transformationswissen in Form einer inhaltlichen Bestimmung neuer
Bezogenheiten zwischen Sphären, die allzu oft getrennt gedacht und
behandelt werden.
Für eine solche Neubestimmung erweist sich die Kategorie
der (Re)Produktivität, wie sie Biesecker und Hofmeister im Kontext
der sozial‐ökologischen Nachhaltigkeitsforschung entwickelt haben,
als weiterführend (vgl. Biesecker/Hofmeister 2001, 2003, 2006): Diese
Neubestimmung gründet auf der Kritik an der Trennung von „Pro‐
duktion“ und „Reproduktion“, die als Ausdruck von Herrschaftsver‐
hältnissen in der bürgerlich‐kapitalistischen, patriarchalen Gesell‐
schaft identifiziert wird. Denn nicht Gleichwertiges wird hier vonei‐
nander getrennt, sondern es wird eine Hierarchie erzeugt zwischen
dem so genannten Produktiven als dem Wertvollen und Öffentlichen
und dem so genannten Reproduktiven als dem Wertlosen und Priva‐
ten (vgl. Biesecker/Hofmeister 2006: 10). Die Denk‐ und Handlungs‐
muster, die solcherart Dichotomisierung und Hierarchisierung legiti‐
mieren, lassen sich insbesondere mit Blick auf den Diskurs um „Ar‐
beit“ sowie den Diskurs um „Natur“ nachvollziehen (vgl. ebd.: 12 ff.).
Erwerbsarbeit gilt gemeinhin als richtige und eigentliche, mithin als
produktive Arbeit, während Sorge‐, Pflege‐ und Hausarbeit den Be‐
reich der im privaten verrichteten „reproduktiven“ Arbeiten darstel‐
len. ‚Natur’ wird als Ressource produktiv in Wert gesetzt, während
die „reproduktiven“ Leistungen der lebendigen ‚Natur’ abgespalten
werden. Dabei sind sowohl die soziale wie auch die natürliche
Reproduktivität obligate Voraussetzungen funktionierender Produk‐
tivität. Diese Produktivität des „Reproduktiven“ zum Ausdruck zu
bringen, ist das Anliegen der Kategorie (Re)Produktivität. Dazu wird
eine Sichtweise auf Arbeit und ‚Natur’ entwickelt, die nicht mehr zwi‐
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204
schen produktiv und reproduktiv unterscheidet, sondern „das Ganze
der Arbeit“ ebenso in den Blick zu nehmen vermag wie die „Natur‐
produktivität“. Eine solche Perspektive erfordert eine „Neuerfindung
des Ökonomischen“ (ebd.) in dem Sinne, dass die neoklassischen Vor‐
stellungen von Wachstum, Fortschritt und Effizienz überwunden und
vom Gedanken eines Vorsorgenden Wirtschaftens abgelöst werden,
wie er für das Nachhaltigkeitsverständnis von PoNa konstitutiv ist
(vgl. Biesecker u. a. 2000).
Zum vorläufigen Befund unserer Beobachtungen im Politik‐
feld Agro‐Gentechnik gehört, dass der Protest von Organisationen
und Netzwerken wie „Save our seeds“7, „Via Campesina“8 oder dem
Europäischen Netzwerk „Gentechnikfreie Regionen“9 gegen die bio‐
technische Industrialisierung der Landwirtschaft verbunden ist mit
der Infragestellung der Kommerzialisierung aller Lebensbereiche
(Stichwort: Patentierungsfragen10), die im Falle des sog. „Terminator‐
Gens“11 sogar die Reproduktionsfähigkeit von ‚Natur’ Kapitalinteres‐
sen unterordnet (vgl. Masood 1998; Hartmann 2002). Die Forderung
der Anti‐Agro‐Gentechnik‐Bewegung, sich am Prinzip der Vorsorge
auszurichten und auf die Ausbringung gentechnisch veränderter Or‐
7 http://www.saveourseeds.org (letzter Zugriff: 06.12.2009) 8 http://www.viacampesina.org/main_en/ (letzter Zugriff: 06.12.2009) 9 http://www.wien.gv.at/umwelt/natuerlich/europaeisches‐netzwerk.html (letz‐
ter Zugriff: 06.12.2009) 10 Nach wie vor bietet zum einen die Gentechnik für die Industrie eine hervorra‐
gende Möglichkeit, über Eigentumsrechte und Monopolisierung Kontrolle auf
den Saatgutmarkt auszuüben. Zum anderen zeigt sich im neuen Trend, der
(wieder) hin zu konventionellen Züchtungen geht, dass Konzerne die Vorteile
von Patenten auf Saatgut und Pflanzen nun auch ohne Gentechnik nutzen wol‐
len. Aktivist/inn/en u. a. von „Save our seeds“ warnen daher davor, dass mit
der Ausweitung der Patentansprüche auf konventionelles Saatgut Landwirte,
auch in Europa, zukünftig einem völlig neuen Saatgutmonopol gegenüberste‐
hen werden. 11 Terminator‐Pflanzen wird mit Hilfe der Gentechnik ein Mechanismus einge‐
baut, der Gene im Erbgut an‐ oder abschalten kann. Von den verschiedenen
Formen der „Genetic Use Restriction Technologies“ wird die Variante, die die
Vermehrungsfähigkeit der Pflanze „abschaltet“, am schärfsten kritisiert. Kriti‐
ker/innen bezeichnen dies als biologischen Patentschutz.
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Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung
205
ganismen zu verzichten, um Schäden sowohl für die konventionelle
als auch für die ökologische Landwirtschaft zu verhindern, weist Pa‐
rallelen zu Vorstellungen einer „moral economy“ (Mies 1994), des
Vorsorgenden Wirtschaftens (Biesecker u. a. 2000) im Sinne einer be‐
wussten Gestaltung der Einheit von Reproduktivität und Produktivi‐
tät auf, die im Laufe des Forschungsprozesses weiter ausgeleuchtet
werden sollen.
3.3 Politikverständnisse
Mit dem Konzept nachhaltige Entwicklung werden die etablierten
Problemanalysen, Zielsetzungen und Bearbeitungsverfahren des sozi‐
al‐ökologischen Wandels ins Zentrum der Kritik gerückt (vgl. Voß
2008: 232): In Anerkennung der zunehmenden Verflechtung globaler
ökologischer und sozial‐ökonomischer Krisenphänomene wird erstens
argumentiert, dass die verknüpften Problemlagen statt sektoraler Poli‐
tikstrategien integrative Problemlösungen erforderten, um systema‐
tisch ökologische, soziale, ökonomische und politische Entwicklungs‐
aspekte berücksichtigen zu können (vgl. Brand 1997; Brand/Fürst
2002). Zweitens sei eine Politik nachhaltiger Entwicklung, um dem
Postulat der intra‐ und intergenerativen Gerechtigkeit nachzukom‐
men, sowohl global als auch langfristig anzulegen. Grenzüberschrei‐
tende Krisen und Probleme seien nicht länger – wenn sie es denn je‐
mals waren – durch den Nationalstaat zu bewältigen, dessen alleinige
Steuerungsfähigkeit in zentralen Bereichen schwinde. Entsprechend
sei drittens die Umsetzung nachhaltiger Entwicklung auf eine kom‐
plexere Form des Regierens angewiesen, die sowohl der Relevanz
politischer Mehrebenensysteme als auch der steigenden Anzahl von
Akteuren Rechnung trage (Global Governance) (vgl. Mess‐
ner/Nuscheler 2003). Schließlich nimmt die Suche nach neuen Steue‐
rungsformen, nach neuen Politikansätzen ihren Ausgangspunkt auch
in der Kritik an politischer Steuerung als hierarchischem Verhältnis
(vgl. Göhler/Höppner/De La Rosa 2009): Nachdrücklich wird in den
zentralen politischen Dokumenten des Nachhaltigkeitsdiskurses – im
Brundtland‐Bericht (Hauff 1987) und in der Agenda 21 (BMU o. J.) –
ein kooperativer und partizipativer Ansatz gefordert.
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206
Diese Neuausrichtungen politischer Steuerung sind nicht un‐
umstritten und in verschiedener Hinsicht problematisiert worden:
Insbesondere die Forderung nach einer integrativen Problemanalyse und ‐
bearbeitung hat eine Reihe von Fragen und Kritiken ausgelöst. So zeigt
sich, dass die in der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft eingeleiteten
Reformprozesse größtenteils hinter den Anspruch einer Integration
von ökologischen, sozialen, ökonomischen und politischen Belangen
zurückfallen. Zu beobachten sind bspw. a) Hierarchisierungsprozesse:
Mitte der 1990er Jahre wurden umweltpolitische Fragen in den Vor‐
dergrund gerückt, die zunächst im Kontext von Ökosystemmanage‐
ment standen, später dann zunehmend in den Diskurs um ökologi‐
sche Modernisierung12 einmündeten; b) die weitestgehende Ausblen‐
dung von feministischen Erkenntnissen aus Forschung und Praxis
(vgl. Weller 1999); c) der Versuch, Integration primär als Optimie‐
rungsaufgabe von verschiedenen Nachhaltigkeitszielen zu konzeptua‐
lisieren, ohne deren Ziele selbst zum Gegenstand einer kritischen Re‐
flexion zu machen, um somit die Möglichkeiten und damit auch die
Grenzen der Integration (etwa bei Nichtkompatibilität von
Rationalitäten, Werten etc.) auszuloten (vgl. Gottschlich/Mölders
2006); d) ein starker Steuerungsoptimismus, der einerseits der Kom‐
plexität und der nur begrenzten Vorhersagbarkeit von nicht‐linearen
Entwicklungsdynamiken kaum gerecht wird (vgl. Voß 2008: 236) und
der andererseits den Staat als neutrale Instanz versteht und nicht als
institutionell verdichtetes Kräfteverhältnis, in dem dominante nicht‐
nachhaltige Kräfte eher repräsentiert sind als schwächere nachhaltige
Interessen (vgl. Hirsch 2007).
Der zweite Kritikkomplex betrifft die Frage nach Macht‐ und
Herrschaftsverhältnissen, die im Nachhaltigkeitsdiskurs durch die Fo‐
kussierung auf kooperative, dialogische Politikformen zu wenig Be‐
rücksichtigung fänden (vgl. Eblinghaus/Stickler 1996). Die hier postu‐
lierte Interessengleichheit, die sich auch in der emphatischen Varian‐
12 Zur Kritik an Nachhaltigkeit als ökologische Modernisierung vgl. ausführlich
Görg/Brand (2001).
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207
te13 der Global Governance ‐Debatte wiederfindet, differenziere nicht
(genügend) zwischen den extrem ungleichen sozio‐ökonomischen
Bedingungen der Akteure und übersehe, dass sozial‐ökologische
Probleme gerade nicht gleichermaßen „die“ Menschheit beträfen (vgl.
Ziai 2006; Wissen/Brand 2007). Brand und Wissen (2007: 8 f.) fordern
daher statt „abstraktem Normativismus“ „ein materialistisches, an
Menschenrechten ausgerichtetes Verständnis der Gestaltung gesell‐
schaftlicher Naturverhältnisse“. Gleichzeitig wird von anderen Auto‐
ren wie Brand und Fürst (2002: 84 ff.) die institutionelle Pfadabhän‐
gigkeit14 einer Politik der Nachhaltigkeit thematisiert. Veränderungs‐
potenziale seien im Kontext der konkreten institutionellen Strukturen
zu analysieren und nicht nur vor dem Hintergrund allgemeiner polit‐
ökonomischer oder systemtheoretischer Betrachtungen. Angesichts
der derzeitigen organisatorischen Gegebenheiten sei es eine offene
13 Das Wort emphatisch setzt sich zusammen aus phasis (Phase, Erscheinung von
Gestirnen) und der griechischen Vorsilbe em‐, die „in“ bedeutet. In Erschei‐
nung tritt jemand, dessen Auftreten nicht übersehen werden soll, der sich Ge‐
hör verschafft, indem er mit Nachdruck etwas zur Sprache bringt. Seiner Aus‐
sage liegt ein Engagement zugrunde. Als emphatische Global Governance‐
Variante wird jene bezeichnet, die Global Governance als politisches Leitbild
versteht, das Orientierung in Zeiten politischer Unübersichtlichkeit verspricht
und weit reichende Problemlösungskonzepte für globale sozial‐ökologische
Krisen und kosmopolitische Demokratieformen verspricht (vgl. Brand u. a.
2000: 22). 14 Pfadabhängigkeit ist die Anwendung eines alltäglichen Begriffs, des Pfades, in
den Wirtschafts‐ und Politikwissenschaften, um Prozesse zu beschreiben, de‐
ren zeitlicher Verlauf strukturell einem Pfad ähnelt, der Anfänge und Kreu‐
zungen bereithält, an denen mehrere Alternativen oder Wege zur Auswahl
stehen. Ist eine Auswahl erfolgt, ein Pfad eingeschlagen, wird ein Umschwen‐
ken auf eine der am Kreuzungspunkt noch mühelos erreichbaren Alternativen
zunehmend aufwendiger, wenn auch nicht unmöglich. Pfadabhängige Prozes‐
se sind nicht selbstkorrigierend, sondern im Gegenteil durchaus dazu prädes‐
tiniert, Fehler zu verfestigen, wenn es nicht eine dezidiert politische Entschei‐
dung gibt, einen anderen Weg einzuschlagen. Institutionen sind Gegenstand
des politischen Handelns und bilden zugleich dessen Rahmen. Die Pfadab‐
hängigkeit von Institutionen führt somit zur Pfadabhängigkeit der Politik ins‐
gesamt.
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208
Frage, wie der geforderten Querschnitts‐ und Langfristorientierung
politischen Handelns sowie den globalen Gerechtigkeitsaspekten hin‐
reichend Geltung verschafft werden könne. Insbesondere das Prinzip
der Langfristigkeit sei nur mangelhaft institutionell verankert und
stehe dem kurzfristigen Rhythmus von Wahlperioden und Unter‐
nehmensbilanzen (inklusive einer Shareholder‐Value‐Orientierung),
entgegen.
Diese knappe Kritik zeigt, dass die Suche nach neuen Politik‐
formen selbst den gesellschaftlichen Verhältnissen verhaftet bleibt
und im politischen System befangen ist. Im Folgenden stellen wir
zwei Ansätze vor, die diese Fallstricke zu umgehen suchen und die
daher Anknüpfungspunkte für PoNa bieten: (a) Reflexive Governance
(vgl. Voß/Kemp 2006; Voß 2008; Feindt 2008: 48 ff.) und (b) „radikaler
Reformismus“ (vgl. Hirsch 1990, 2007; Esser/Görg/Hirsch 1994; Brand
u. a. 2000).
(a) Ausgehend von den Phänomenen der Komplexität, der Unsicher‐
heit, der Ambivalenz der mit Nachhaltigkeit verbundenen Zielvorstel‐
lungen sowie der ungleich verteilten Einflussmöglichkeiten – und
damit der Bewusstmachung und Akzeptanz von Steuerungsgrenzen –
, ist von Voß und anderen im Rahmen der sozial‐ökologischen For‐
schung für ein „reflexives Steuerungsverständnis“ plädiert worden
(Voß 2008; vgl. auch Voß/Bauknecht 2004; Voß/Kemp 2006). Reflexive
Governance setzt bei den verschiedenen Steuerungsakteuren, ihren
Zielen, ihrem Wissen und ihren unterschiedlichen Machtressourcen
an, ohne dass es darum geht, einen Konsens herzustellen. Vielmehr
sollen im Verlauf von Verfahren wie etwa der Methode
„Sustainability Foresight“15 (Voß/Truffer/Konrad 2006) für die Gestal‐
tung von Innovationsprozessen die unterschiedlichen Perspektiven
15 Die Methode umfasst drei Phasen: 1. die Entwicklung explorativer Szenarien,
in denen Optionen zukünftiger Entwicklung sowie wesentliche Einflussfakto‐
ren benannt werden; 2. die Erhebung von Nachhaltigkeitskriterien, die Stake‐
holder zur Bewertung der Szenarien anlegen, samt der damit verbundenen
Identifikation von Konflikten, Problemen und Chancen; 3 die Erarbeitung von
Gestaltungsstrategien für sog. „Innovationsfelder“ (Voß 2008: 240 ff.).
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209
aufeinander bezogen werden, um „die Vielfalt des Wissens, der Werte
und Strategien konstruktiv zu nutzen“ (Voß 2008: 244). Diese Koordi‐
nierung von Zielorientierungen, Erwartungen und Strategien, die im
Prozess der Strategiebildung in der Absicht geleistet wird, dass die
Akteure ihre Erwartungen über die Teilnahme am Prozess wechselsei‐
tig anpassen, entspricht eher einem reflexiven Such‐ und Lernprozess
als politischer Steuerung.
Die Bedeutung eines reflexiven Vorgehens, das darauf ange‐
legt ist, gemeinsame Problemverständnisse und Lösungsmöglichkei‐
ten zu erarbeiten, wurde in verschiedenen sozial‐ökologischen For‐
schungsprojekten herausgestellt (vgl. z. B. Forschungsverbund „Blo‐
ckierter Wandel“ 2007: 139 ff.; Feindt u. a. 2008b). Feindt u. a. (2008b)
adressieren mit ihrem Brückenkonzept der „reflexiven Agrarpolitik“
ein Themenfeld, das für die Arbeiten von PoNa relevant ist. Ob und
inwieweit die hier vorgeschlagene Identifikation „agrarpolitischer
Verständigungsaufgaben“, die ausgehend von komplexen Kontrover‐
sen die Erarbeitung von systemischen Alternativen zum Ziel haben
(Feindt 2008: 58 ff.), politikwirksam sein wird, lässt sich schwer be‐
antworten. Allerdings könnte die Debatte um ein „neues Paradigma
für den ländlichen Raum“ (OECD 2006), das alle Regierungsebenen
sowie die verschiedenen lokalen Stakeholder anspricht, Anschluss‐
möglichkeiten für einen solchen verständigungsorientieren Ansatz
darstellen.
(b) Der staatskritische Ansatz des „radikalen Reformismus“ zielt auf die
Überwindung struktureller Macht‐ und Herrschaftsverhältnisse (etwa
von Formen der Arbeitsteilung, Produktionsbeziehungen,
Rationalitäten der Unterdrückung in Natur‐ und Geschlechterverhält‐
nissen). Wenngleich eine auf den Staat bezogene Politik nicht unwich‐
tig sei, um erkämpfte soziale Rechte zu erhalten und Einfluss auf die
strukturellen Rahmenbedingungen zu nehmen, so sei sie nicht der
Hauptansatzpunkt emanzipatorischen Handelns. Re‐Politisierung der
Gesellschaft und die Herstellung dauerhafter, selbst organisierter, von
den herrschenden politischen und ökonomischen Apparaten unab‐
hängiger politischer Zusammenhänge werden als Teil eines Prozesses
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zur Veränderung von Verhaltens‐ und Bewusstseinsformen gesehen.
Um neue gesellschaftliche Orientierungen und Praktiken durchzuset‐
zen und Erfahrungs‐, Lern‐ und Aufklärungsprozesse in Gang zu
setzen, bedürfe es (neuer) sozialer Bewegungen (vgl. Hirsch 2007 so‐
wie auch Esser/Görg/Hirsch 1994; Brand u. a. 2000; Hirsch 2005).
In engem Zusammenhang mit dem Konzept des „radikalen
Reformismus“ steht die Untersuchung von Protest und Protestbewe‐
gungen, der wir uns im Projekt PoNa am Beispiel der Konflikte um
den Einsatz von Agro‐Gentechnik z. B. auf der lokalen Ebene wid‐
men. Dabei wird insbesondere die Verzahnung von Politik und Öko‐
nomie sichtbar, denn durch die und in der Protestbewegung wird
Raum geschaffen, um über Ziele und Methoden der Produktion zu
reflektieren. Ausgangspunkt sind die Bedürfnisse und Wünsche von
Menschen, die sowohl als Produzent/inn/en als auch als Konsu‐
ment/inn/en entscheiden wollen, was auf ihre Teller und in ihre Tanks
kommt. Herrschende staatliche Steuerung gerät im Bereich von Agro‐
Gentechnik massiv unter Legitimierungsdruck. Konkrete Fragen wie
„Wer hat Nutzen von dieser Technologie?“ verweisen auf Fragen
nach der demokratischen Kontrolle darüber, was und für welche
Zwecke großindustriell produziert wird (vgl. Hirsch 1990), sowie auf
Fragen nach dem Allgemeinwohl, das nicht a priori als bekannt vo‐
rausgesetzt werden kann, sondern selbst als Gegenstand (und als Er‐
gebnis) sozialer Auseinandersetzungen und Kompromissbildungen
sichtbar wird.
4. Schlussfolgerungen
Sozial‐ökologische Transformation in Richtung Nachhaltigkeit birgt
vielfache Schwierigkeiten: Die Komplexität der Problemlagen, die
Unsicherheit in Bezug auf die Wissensbestände sowie die durch
Machtungleichgewichte verschärften Verteilungskonflikte sind nur
einige Beispiele. Welche Strategien jeweils gewählt werden, um einen
sozial‐ökologischen Transformationsprozess in Richtung nachhaltiger
Entwicklung einzuleiten, hängt entscheidend von den zugrunde lie‐
genden theoretischen Ausgangspunkten ab. Wir stimmen deshalb mit
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211
Brand und Fürst (2002: 61 f.) überein, dass „die gesellschaftstheoreti‐
schen und normativen Implikationen der jeweiligen Analysen institu‐
tioneller Reform‐ oder Transformationsstrategien bewusst zu ma‐
chen“ sind.
Unser Ausgangspunkt ist die Bedeutung von – zum Teil unterschied‐
lichen bzw. widersprüchlichen – Natur‐, Ökonomie‐ und Politikver‐
ständnissen in Prozessen politischer Steuerung für nachhaltige Ent‐
wicklung. Entsprechend haben wir danach gefragt, welche Verständ‐
nisse von ‚Natur’, Ökonomie und Politik im und für den Nachhaltig‐
keitsdiskurs relevant sind. In jeweils kursorischen Analysen haben
wir herausgearbeitet, dass Ansätze existieren, die die krisenverursa‐
chenden Verständnisse von z. B. ‚Natur’ als Ressource, Ökonomie als
Profitmaximierung oder Politik als ausschließlich staatliches Top‐
down‐Modell zu überwinden suchen, indem sie etwa auf die Grenzen
der Substituierbarkeit von ‚Natur’ verweisen, ‚Natur’ in die ökonomi‐
sche Theorie hineinholen oder partizipative Steuerungsansätze stark‐
machen.
Gleichwohl lassen sich auch bei vielen solcher im Kontext des
Nachhaltigkeitsdiskurses entstandener Ansätze eine Reihe von (Integ‐
rations‐)Problemen identifizieren: (a) Zielkonflikte zwischen ökologi‐
schen, ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Aspekten
können nicht über Integrationsappelle überwunden werden, solange
die mit ihnen verbundenen unterschiedlichen Interessen, Verständ‐
nisse und Rationalitäten nicht hinterfragt werden. So kollidiert eine
Rationalität der Bedachtsamkeit einer (re)produktiven Ökonomie, die
sich u. a. an den Prinzipien der Vorsorge und der Ernährungssicher‐
heit orientiert, mit einer Rationalität von transnational agierenden
Agro‐Konzernen, die auf eine Monopolisierung des weltweiten Saat‐
guts zielt und Nichtwissen mit Unbedenklichkeit gleichsetzt (vgl.
Moldenhauer 2009). (b) Vielmehr kann die Art und Weise, wie die
jeweiligen Krisen wahrgenommen, analysiert und bewertet werden,
selbst zur Stabilisierung, Reproduktion und Verschärfung dieser Kri‐
sen beitragen, wenn etwa die (neoklassische) Forderung „Wachse
oder weiche“ zur Maxime einer Agrarpolitik wird, die zugleich öko‐
logische und soziale Belange berücksichtigen soll (vgl.
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Baier/Bennholdt‐Thomsen/Holzer 2005). Schließlich überdecken die
auf Konsens und Optimierung angelegten Politiken bisweilen die
herrschaftsförmigen (Verwertungs‐)Interessen und verlagern den
Konflikt wie im Falle der politischen Überbrückungsformel von der
angestrebten Koexistenz gentechnisch veränderter und konventionel‐
ler sowie ökologischer Landwirtschaft auf die individuelle Ebene in
ländlichen Räumen (vgl. Wagner 2007).
Unsere Analyse hat gezeigt, dass Natur‐, Ökonomie‐ und Po‐
litikverständnisse nicht nebeneinander bzw. unabhängig voneinander
existieren, sondern aufeinander verweisen: ‚Natur’ als gesellschaftli‐
ches Produkt zu begreifen, bedeutet, nach der Herstellung dieses Na‐
turprodukts im Wirtschaftsprozess zu fragen und klarzumachen, dass
unterschiedliche Ökonomieverständnisse unterschiedliche ‚Naturen’
hervorbringen. Die Steuerung gesellschaftlicher Naturverhältnisse
schließt eine Reflexion dieses Herstellungsprozesses ein: Indem der
westliche Lebens‐ und Konsumstil einschließlich seiner energetischen
und stofflichen Grundlagen kritisch reflektiert wird, lassen sich Ziele
und Methoden der Produktion als politische Gestaltungsaufgabe
identifizieren. Diese Steuerung gesellschaftlicher Naturverhältnisse
obliegt nicht allein dem Staat. Vielmehr gilt es, den Blick auf ein diffe‐
renziertes Akteursfeld zu richten, in dem u. a. auch eine gesellschaft‐
lich hergestellte ‚Natur’ tätig ist.
Schließlich konnten wir sowohl im Bereich Naturverständnis‐
se als auch in den Bereichen Ökonomie‐ und Politikverständnisse An‐
sätze identifizieren, die diese Verquickungen berücksichtigen: Indem
‚Natur’ als mit hergestelltes Resultat sozio‐ökonomischer Entwicklun‐
gen anerkannt wird, wird das erhaltende Gestalten zum Ziel der Steu‐
erung gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Entlang der Kategorie der
(Re)Produktivität lässt sich ein solches Nachhaltigkeitsverständnis
theoretisch fundieren (vgl. Biesecker/Hofmeister 2006) und empirisch
erproben (vgl. Mölders 2008, 2009). Darüber werden nicht nur die
Verbindungen zwischen ‚Natur’ und Wirtschaften sichtbar gemacht,
sondern zugleich die Frage nach den „politics of nature“ (Krauß
2001: 31) gestellt, die in Anschluss an den „radikalen Reformismus“
und reflexiv angelegte Steuerungskonzepte zugespitzt werden kön‐
Page 214
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nen: Welche Machtkonzepte sind in den Wechselbeziehungen zwi‐
schen ‚Natur’ und Gesellschaft angelegt? Welche (politischen) Prozes‐
se und Strukturen bedingen welche Formen der Gestaltung gesell‐
schaftlicher Naturverhältnisse?
Anschließend an diese vor allem theoretisch motivierte Aus‐
einandersetzung mit Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung ge‐
sellschaftlicher Naturverhältnisse wird sich im Laufe des Forschungs‐
projektes PoNa zeigen, welche Potenziale und Grenzen für Politiken
nachhaltiger Naturgestaltung in den Politikfeldern Ländliche Ent‐
wicklung und Agro‐Gentechnik tatsächlich bestehen. Es wird sich
zeigen, wo und von wem solche Ansätze praktiziert werden, die sich
als nachhaltig qualifizieren lassen, und wie und durch wen ein solches
Denken und Handeln erschwert oder gar verhindert wird.
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Streit um Materie?
Eine kultur- und konfliktsoziologische Analyse von Auseinandersetzungen in Landwirtschaft und Naturschutz im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin
Jana Flemming
1. Einleitung
Dieser Beitrag versucht, im Naturschutz auftretende Konfliktfelder im
Spannungsfeld von politisiertem Naturverhältnis und soziologischer
Analyse zu bearbeiten. Aus konflikt‐ sowie kultursoziologischer Per‐
spektive werden soziale Konflikte um ‚Natur’ analysiert. Als Fallbei‐
spiel für die empirische Untersuchung dient das Biosphärenreservat
Schorfheide‐Chorin. Die kulturellen Rahmungen involvierter Akteure
aus Landwirtschaft und Naturschutz werden mittels qualitativer In‐
terviews rekonstruiert. Es wird dargestellt, wie Landwirte und Na‐
turwächter/innen Konflikte bezüglich des Biosphärenreservates
wahrnehmen und was sie unter ‚Natur’ in unterschiedlichen Kontex‐
ten verstehen. Die Ursachen von Konflikten werden erörtert, aber
auch nach ihren Funktionen wird gefragt. Weitergehend wird unter‐
sucht, inwiefern die Naturverständnisse der beteiligten Akteure in
Zusammenhang mit den Konfliktbearbeitungsmustern stehen.
Der Modus der Konfliktregulation gibt Aufschluss über die
Regulier‐ und Gestaltbarkeit der Beziehungen zwischen den Akteuren
selbst sowie zu ihrer natürlichen Umwelt. Damit schließt sich an die
soziologische Analyse eine politische Kritik an der Gestaltung gesell‐
schaftlicher Naturverhältnisse an, die über die üblichen Lösungsan‐
sätze in der Akzeptanzforschung des Naturschutzes hinausgehen soll.
Problematisiert wird das utilitaristische Naturverständnis, das sich im
Biosphärenreservatskonzept wiederfindet und auch in den Aussagen
der interviewten Akteure eine schwerwiegende Bedeutung einnimmt.
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Jana Flemming
228
In Anlehnung an das auf die kritische Theorie Theodor W. Adornos
zurückgehende Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse
(Görg 1999, 2003; Jahn/Wehling 1998) geht es darum, aus kritischer
Perspektive zu hinterfragen, wie die eingeforderte Zusammenarbeit
im Naturschutz konkret durchgeführt wird und in welcher Form
grundsätzliche Umgestaltungen gesellschaftlicher Naturverhältnisse
angedacht werden können.
Konflikte im Naturschutz sind immer eingebunden in eine
umfassende Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Die hier
diskutierte empirische Untersuchung beschränkt sich auf die symbo‐
lisch‐kulturellen Aspekte der Gestaltung gesellschaftlicher Naturver‐
hältnisse und hat damit einen konstruktivistischen Zugang. Um auf
eine umfassende Umgestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse
im Sinne des Konzeptes hinzuwirken, sollte über den Rahmen einer
analytisch auf die sozialen Beziehungen der Akteure sowie auf ihre
kulturellen Rahmungen begrenzten Betrachtung noch hinausgegan‐
gen werden. Dies betrifft gesamtgesellschaftliche Regulationsprozesse
sowie die Berücksichtigung einer Widerständigkeit der Natur, die als
‚Nichtidentität’ konzeptionalisiert wird.
Die konfliktsoziologische Betrachtung schwächt die Bedeu‐
tung oftmals hervorgehobener materieller Aspekte in Auseinander‐
setzungen ab und weist auf weitere bedeutende Mechanismen hin, die
in Konflikten eine Rolle spielen. Zudem macht sie, der an Georg Sim‐
mel anknüpfenden funktionalistischen Tradition folgend, darauf auf‐
merksam, dass Konflikte in dieser Hinsicht nicht per se als negativ zu
bewerten sind, sondern durchaus positive Effekte, z. B. für den Erhalt
des sozialen Systems, haben (Coser 1972; Simmel 1972).
Doch in Konflikten um Natur geht es um mehr, als den Streit
zwischen sozialen Akteuren. Etwas, das weitläufig als ‚Natur’ be‐
zeichnet wird, wird in diesen Konflikten verhandelt, bearbeitet, wirkt
aber auch auf diese Auseinandersetzungen ein. In vermittlungstheore‐
tischen Ansätzen wie z. B. der Akteur‐Netzwerk‐Theorie wird diese
‚außersoziale’ Komponente auch innerhalb sozialer Beziehungen als
ein eigenständiger und wirkmächtiger Faktor betrachtet. In dem Kon‐
zept gesellschaftlicher Naturverhältnisse wird damit einhergehend
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Streit um Materie?
229
eine grundlegende Umgestaltung des Verhältnisses zwischen Gesell‐
schaft und Natur eingefordert (Görg 2003: 141).
Solche theoretischen Überlegungen zu den wechselseitigen
Beziehungen von Natur und Gesellschaft sowie der Notwendigkeit
einer Änderung dieses Verhältnisses lassen sich auch im Konzept der
Biosphärenreservate wiederfinden. Bei diesem praxisorientierten
Konzept handelt es sich um eine Kategorie so genannter Großschutz‐
gebiete, die durch das ‚Man and Biosphere’‐Programm der UNESCO
ins Leben gerufen wurde, das inzwischen weltweit Anwendung ge‐
funden hat. In Biosphärenreservaten wird angestrebt, Schutz und
Nutzung der Natur zu vereinbaren und damit die Naturfrage und die
soziale Frage integriert zu bearbeiten (vgl. AGBR 1995). Diese Aufga‐
benstellung macht eine Zusammenarbeit zwischen Vertreterinnen
und Vertretern des Naturschutzes und den im Gebiet lebenden und
wirtschaftenden Menschen erforderlich. Der Landwirtschaft kommt
hierbei eine besondere Bedeutung hinsichtlich des Schutzes von
Biodiversität und Kulturlandschaft zu (vgl. Knauer 1993: 52; Bachin‐
ger 2002).
Biosphärenreservate können als exemplarische Versuchsfelder
einer sozial‐ökologischen Transformation betrachtet werden. In Groß‐
schutzgebieten wie dem hier untersuchten Biosphärenreservat
Schorfheide‐Chorin sind ökologische Belange rechtlich besser ge‐
schützt und haben zudem eine höhere diskursive Berechtigung als
außerhalb der Grenzen des Schutzgebietes. Umweltprobleme können
so nachdrücklicher angegangen werden. Großschutzgebiete dienen
häufig als Präzedenzfälle zur Analyse von Konflikten im Naturschutz.
Aufgrund der höheren Relevanz naturschutzfachlicher Aspekte in
solchen Gebieten kumulieren häufig Auseinandersetzungen zwischen
verschiedenen Gruppen mit Anspruch auf Landnutzung. Oft wird
dies auf konträre materielle Interessen der Parteien zurückgeführt
und damit als symptomatischer Konflikt zwischen Ökonomie und
Ökologie dargestellt (vgl. Kropp 2002). Diese Argumentation, so die
These, lässt sich durch eine kultur‐ und konfliktsoziologische Betrach‐
tung abschwächen. Diese Untersuchung berücksichtigt daher weniger
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Jana Flemming
230
materielle Ungleichheiten, sondern legt ihren Fokus auf Naturver‐
ständnisse und soziale Beziehungsmuster.
1.1 Hypothesen
Ein Ziel dieses Beitrages ist es, aufzuzeigen, dass Konflikte zwischen
Landwirtschaft und Naturschutz, die sich vermeintlich lediglich aus
dem beiderseitigen Anspruch auf Flächennutzungen ergeben, durch
weitere Faktoren bedingt sind. Um die These zuzuspitzen: Akteure
benutzen materielle Interessen als Grund für Konflikthandlungen und
verbergen damit andere – weitestgehend unbewusste – Motive wie
z. B. den Erhalt der Position im sozialen System (vgl. Giesen 1993;
Gould 2003). Die materiell definierten Anlässe sind damit oberflächli‐
cher Ausdruck, um die Bedingungen der Beziehungen zwischen den
Akteuren neu zu verhandeln (vgl. Gould 2003: 54).
Die Hervorhebung materieller Interessen in Konflikten um
Natur basiert zudem – so eine weitere These – auf unterschiedlichen
kulturellen Bewertungssystemen: den Verständnissen der beteiligten
Akteure von ‚Natur’ (vgl. Gill 2003; Kropp 2002). Streit entsteht auch,
weil implizite Werte, die sich auf verschiedene Naturverständnisse
beziehen, den Argumentationen zugrunde liegen (vgl. Bechmann
1998: 74). Wissen die verschiedenen Interessengruppen nicht, von
welchen grundsätzlichen Prämissen in Bezug auf die Natur die je‐
weils andere Gruppe ausgeht, kann dies den Aufbau von Kommuni‐
kations‐ und Kooperationsbarrieren forcieren (vgl. Stoll 1999: 130 ff.;
SRU 2002: 46).
1.2 Übersicht
Um die Fallstudie zu kontextualisieren, werden im Folgenden zu‐
nächst bisherige Konfliktdynamiken im Biosphärenreservat
Schorfheide‐Chorin rekonstruiert. Nachdem das Untersuchungsde‐
sign der Studie dargelegt worden ist, wird im ersten Analyseteil nach
den sozialen Funktionen von Konflikten gefragt. Theoretische Grund‐
lagen für diesen Teil bieten die Arbeiten von Georg Simmel (1972),
Lewis A. Coser (1972) und Roger Gould (2003). Simmel und Coser
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Streit um Materie?
231
analysierten die Rolle von Konflikten im sozialen Leben. Simmel sah
ein Nebeneinander von assoziativen und dissoziativen Prozessen als
notwendig für den Bestand sozialer Systeme an. Auch Lewis Coser
sah – aufbauend auf den Erörterungen Simmels – in Konflikten nicht
nur disruptive und auflösende Prozesse, sondern bezeichnete sie un‐
ter bestimmten Bedingungen als funktional für soziale Systeme1 (Gie‐
sen 1993: 90 f.). Weiterhin wurde Roger Gould (2003) für die Analyse
herangezogen, der in seiner Arbeit „Collision of Wills“ die Bedeutung
von Ehre und Anerkennung in Konflikten betont.
Im Anschluss werden die Naturverständnisse der befragten
Personen untersucht. Dabei wird die gruppenspezifische und situati‐
ve Gebundenheit von Naturverständnissen herausgestellt. Für diese
Analyse stellt die Typologie zu Naturvorstellungen von Bernhard Gill
(2003) den Hauptbezugspunkt dar.
Im letzten Abschnitt der empirischen Untersuchung wird
dargestellt, welche Mechanismen zur Konfliktregelung und
‐dämpfung zwischen den Akteuren beitragen und welche Rolle ein
strategischer Umgang mit Naturverständnissen darin spielt.
In den sich an die soziologische Analyse anschließenden Fol‐
gerungen für den Naturschutz wird bewusst nicht der Anspruch er‐
hoben, einen Kriterienkatalog mit Lösungsvorschlägen zu erstellen.
Dem theoretischen Hintergrund des Konzepts der gesellschaftlichen
Naturverhältnisse folgend, werden zunächst eine metatheoretische
Kritik am gegenwärtig hegemonialen – sich auch im
Biosphärenreservatskonzept sowie in den Äußerungen der untersuch‐
ten Akteure wiederfindenden – Naturverständnis formuliert und
normative Forderungen für eine Neugestaltung gesellschaftlicher Na‐
turverhältnisse gestellt. Dabei wird auch diskutiert, inwiefern Konflik‐
te nicht nur als zu vermeidendes disruptives Element im Natur‐
schutzmanagement anzusehen sind, sondern ein wichtiger Bestandteil
einer umfassenden Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse
sind.
1 Kritisch zur ungeklärten Bedeutung von „Funktion“ und „Dysfunktion“ und
die Abgrenzung dieser Begriffe: Nollmann (1997: 47 f.)
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Jana Flemming
232
2. Zur Konfliktdynamik im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin
Die Entstehung der Großschutzgebiete in den neuen Bundesländern
geht auf die politische Sondersituation „im zeitlichen Niemandsland
zwischen DDR und Bundesrepublik“ (Meyer 2007: 18) zurück. Die
Wendezeit brachte Bewegung in die Strukturen der gesellschaftlichen
Machtverteilung, sodass die bislang unterdrückte Opposition sich nun
aktiv in das Regierungsgeschehen einbringen konnte. In der letzten
Sitzung des DDR‐Ministerrats konnten noch vierzehn Gebiete unter
Schutz gestellt und dann mit dem Einigungsvertrag in bundesdeut‐
sches Recht überführt werden (Bader 2005: 8 f.; Meyer 2007: 18). Die
Großschutzgebiete wurden zu einem großen Teil in großräumigen,
wenig zerschnittenen, landschaftsökologisch sehr wertvollen, dünn
besiedelten und gleichzeitig sozioökonomisch strukturschwachen
Regionen ausgewiesen (Bader 2005: 8 f.), darunter auch das Biosphä‐
renreservat Schorfheide‐Chorin.
In anderen Untersuchungen, die sich bereits mit den sozialen
Verhältnissen im Biosphärenreservat Schorfheide‐Chorin auseinan‐
dergesetzt haben, wird hervorgehoben, dass dort bisher kaum öffent‐
liche Konflikte aufgetreten sind. Dies wird angesichts der wesentlich
konflikt¬beladeneren Situation in anderen deutschen Großschutzge‐
bieten als „bemerkenswert“ angesehen (Hofinger 2000: 127; vgl. Kühn
1998: 140).
Nach der Ausweisung des Biosphärenreservates wurde das
Schutzgebiet von der Bevölkerung in seiner Tragweite zunächst kaum
wahrgenommen. Doch ganz ohne Konflikte konnte sich auch das Bio‐
sphärenreservat Schorfheide‐Chorin nicht etablieren. Besonders das
Betretungsverbot von Kernzonen versetzte viele Einwohner/innen in
Aufruhr, denn schließlich waren erst vor kurzer Zeit die für die Öf‐
fentlichkeit teilweise gesperrten Staatsjagdgebiete der DDR‐
Prominenz aufgehoben worden. Es bildete sich eine Bürgerinitiative
von Einwohnerinnen und Einwohnern verschiedener Dörfer, die die
Wälder nicht mehr betreten durften, obwohl sich diese direkt vor ih‐
ren Fenstern befanden. Dennoch wurde, zur Reduktion der durch die
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Streit um Materie?
233
Staatsjagden künstlich überhöhten Wildbestände, weiterhin dort ge‐
jagt (Meyer 2007: 19 f.).
Weitere Proteste richteten sich gegen die Verhinderung der
Entwicklung der Infrastruktur, z. B. die Sperrung von Autobahnab‐
fahrten. Diese Verbote sind jedoch nicht auf die Verwaltung des Bio‐
sphärenreservates zurückzuführen, sondern wurden auf anderen po‐
litischen Ebenen entschieden. Dennoch wurden die zahlreichen neuen
Verbote der Nachwendezeit von den Anwohnenden häufig auf das
Handeln der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Biosphärenreser‐
vates projiziert. Auch aus den Interviews geht hervor, dass ein Ver‐
botsdiskurs im Biosphärenreservat herrscht, in dem die Reglementie‐
rungen der Behörde pauschal kritisiert werden und der sich an tat‐
sächlichen Einschränkungen häufig gar nicht orientiert. Durch diese
generelle Skepsis wurde auch die Naturwacht2 kritisch beäugt und in
den ersten Jahren teilweise als „grüne Stasi“ diffamiert.
Nach einer Studie von Hofinger (2000: 124) wandelte sich die
negative Einstellung der Bevölkerung ab Mitte der neunziger Jahre in
weitgehende Akzeptanz des Biosphärenreservates und schließlich bei
einem Großteil der Bevölkerung in Gleichgültigkeit (ebd.). Aus‐
schlaggebend dafür sind die schrumpfenden personellen und finanzi‐
ellen Ressourcen aufgrund zurückgehender Fördermittel. Die Au‐
ßenwirkung des Biosphärenreservates ging zurück und die gestiegene
Erwartungshaltung in der Bevölkerung an die finanzielle Unterstüt‐
zung bei Naturschutzmaßnahmen wurde enttäuscht (Meyer 2007:
26 f.).
3. Untersuchungsdesign
Die empirische Untersuchung wurde anhand qualitativer Leitfadenin‐
terviews mit je fünf Landwirten und Naturwächtern/‐wächterinnen
aus dem Biosphärenreservat durchgeführt. In der qualitativen Sozial‐
2 Die Naturwacht ist im Biosphärenreservat für den Schutz und die Pflege der
Naturausstattung sowie Aufgaben in den Bereichen Umweltbildung und Öf‐
fentlichkeitsarbeit zuständig (AGBR 1995: 53).
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234
forschung wird an die forschende Person häufig der Anspruch ge‐
stellt, möglichst unvoreingenommen in das Untersuchungsfeld zu
gehen. Aufgrund des bestehenden theoretischen und praktischen
Vorwissens in Bezug auf die Thematik wurde dieser Anspruch nur
teilweise erfüllt und, dem gegenüberstehend, deduktiv abgeleitete Ex‐
ante‐Hypothesen formuliert.
So sind auch für die Konstruktion des Leitfadens, trotz
größtmöglicher Offenheit, Kenntnisse des Untersuchungsbereichs
Voraussetzung. Die Fragen beziehen sich schließlich auf Themen‐
komplexe, die vorher als relevant ermittelt wurden (Marotzki
2003: 114). Der Leitfaden wurde in drei Blöcke zu den Themen Bio‐
graphie, Wahrnehmung der Akteursgruppen/Konflikte, Naturver‐
ständnis/Umweltschutz unterteilt. Zur vollständigen Beantwortung
einer Frage können ad hoc Nachfragen gestellt werden. Diese ermög‐
lichen es auch, vom Interviewten angestoßene, unerwartete Themen‐
bereiche weiterzuverfolgen und so dem Prinzip der Offenheit ansatz‐
weise gerecht zu werden (Lamnek 1995: 69; Hopf 2003: 351; Glä‐
ser/Laudel 2004: 39 f.).
Für die Datenauswertung wurden, aufgrund unterschiedlicher Unter‐
suchungsebenen, verschiedene Verfahren kombiniert. Zum Teil fin‐
den sich in den Interviews sachbezogene Inhalte, die sich gut zusam‐
menfassen lassen und daher nach dem Verfahren der qualitativen
Inhaltsanalyse auswertbar sind. Einige Inhalte sind jedoch nur im
Kontext des Interviews verständlich, sodass eine Zusammenfassung
den Inhalt verfälschen würde und eine Auswertung mit Codes ange‐
brachter erscheint.
Die qualitative Inhaltsanalyse ist zudem geeigneter für die
Beschreibung der sozialen Beziehungen zwischen den und innerhalb
der untersuchten Gruppen. Das Codieren kann hingegen für die Re‐
konstruktion subjektiver Deutungsmuster von ‚Natur’, aber auch sub‐
jektiven Beurteilungen der Interviewten gegenüber den untersuchten
Gruppen besser verwendet werden (vgl. Gläser/Laudel 2004: 44; Flick
et al. 2000: 21).
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Streit um Materie?
235
4. Konfliktsoziologische Analyse: Die Brisanz unspektakulärer Konflikte
Die in den Interviews thematisierten Konflikte, die alle mit Ansprü‐
chen auf die Nutzung von Flächen verbunden sind, verlieren bei ge‐
nauerer Betrachtung weit reichende Teile ihrer materiellen Basis. Als
Anlass wird in den Konflikten zwar häufig ein materieller Wert defi‐
niert, doch dahinter verbergen sich Uneinigkeiten über die Dominanz
in den Beziehungen zwischen Landwirten und Naturwächtern/‐
wächterinnen. Die Anlässe sind nur oberflächlicher Ausdruck dafür,
die Bedingungen der Beziehung zwischen den Akteuren neu verhan‐
deln zu wollen (vgl. Gould 2003: 54). Deshalb muss berücksichtigt
werden, dass die allgemeinen Interessen der Landwirte nicht nur auf
materielle Interessen wie Ertragssteigerung und Gewinnmaximierung
hinauslaufen. Auch die Interessen der Naturwächter/innen bestehen
nicht allein darin, Erfolge im Naturschutz zu erzielen.
Mindestens ebenso bedeutsam wie diese ökonomisch‐materiellen Fak‐
toren, die sich im Fall der Landwirtschaft häufig um Landbesitz und
Ertrag drehen, sind immaterielle Faktoren, z. B. Ehre oder das Bestre‐
ben, eine dominante Position im sozialen System zu behalten oder zu
erreichen. Für die Landwirte ist es schwierig, damit umzugehen, dass
plötzlich die Naturwächter/innen in dem Bereich über Machtpotenzial
verfügen, wo sie sich selbst in kulturell angestammter Entscheidungs‐
gewalt sehen.
Roger Gould konzeptionalisiert Ehre als eine Form von Inte‐
resse (Gould 2003: 6). Ist eine Person wegen einer Beleidigung verär‐
gert, fühlt sie sich „entehrt“ (ebd.). Ihre Reputation oder ihr persönli‐
cher Stolz wurde durch fehlenden Respekt verletzt. Ehre ist als genau‐
so wichtig anzusehen wie die (etwas konkreteren) Ressourcen Reich‐
tum, physikalische Stärke, formale und informale Autorität, soziale
Beziehungen, technisches Wissen usw. Der Hauptunterschied besteht
darin, dass Ehre eine vollständig symbolische Ressource darstellt. Der
Besitz von Ehre besteht in der Wahrnehmung derselben durch Ande‐
re, respektive bedeutet Ehre, zu glauben, von anderen geehrt zu wer‐
den (ebd.: 7).
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236
In Form solch einer kulturellen Repräsentation ist Ehre fähig,
Feindseligkeiten beim Gegenüber hervorzurufen (ebd.: 7, 56). So ge‐
schehen z. B. in der Auseinandersetzung zwischen einem Landwirt
und einem Naturwächter um den Verstoß gegen die
Düngeverordnung, durch dessen Konsequenzen der Landwirt seine
Reputation verletzt sah. Das Problem, dass der Landwirt unerlaub‐
terweise Getreideschlempe (ein landwirtschaftliches Abfallprodukt,
dass als Dünger verwendet werden kann) ausbringt, ist hier weniger
wichtig als das prozedurale Problem, wer über was entscheidet. Al‐
lein dieses Prinzip der Entscheidungsverfügung rechtfertigte zunächst
die Aufgebrachtheit des Naturwächters, da er nicht einbezogen wur‐
de, obwohl die Handlung seinen Befugnisbereich betraf, und später
auch die des Landwirtes, der über die Möglichkeit einer Anzeige nicht
informiert wurde (vgl. Giesen 1993: 106 f.).
Konflikte dieser Art können auch als „Rangordnungskonflik‐
te“ (ebd.: 104) interpretiert werden. Sie können eine Gelegenheit für
einen Konflikt darstellen, um auf der Interaktionsebene einen unter‐
schwelligen Kampf um die Überlegenheit in der Beziehung auszudrü‐
cken (Gould 2003: 82). Auch wenn das Wegschneiden von Bäumen
oder das Ausbringen von Schlempe nach außen als relativ unspekta‐
kuläre und materiell wenig gewichtige Handlungen erscheinen, ist es
in den Augen der beteiligten Parteien entscheidend, wer in diesen
Auseinandersetzungen die Oberhand gewinnt. Aus Angst vor zu‐
künftigen weiteren Einschränkungen werden Konflikte seitens der
Landwirte erst recht geschürt, damit ihre Position im sozialen System
erhalten bleibt (vgl. ebd.).
Verschiedene Faktoren tragen andererseits dazu bei, eine
grundlegende Spaltung zwischen den Parteien zu verhindern. So
überkreuzen sich z. B. mehrere Konfliktlinien im Biosphärenreservat.
Durch die vielschichtigen Verbindungen der Individuen in der Grup‐
pe sind sie an verschiedenen Gruppenkonflikten beteiligt (vgl. Coser
1972: 180). Die Naturwächter/innen müssen sich z. B. nicht nur mit
den Landwirten auseinandersetzen, sondern haben oft auch von den
Einstellungen der Biosphärenreservatsverwaltung abweichende Mei‐
nungen. Die „Präsenz der verschiedenen Facetten des multiplen
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Streit um Materie?
237
Selbst auf entgegengesetzten Seiten des Konflikts“ verhindert so eine
„eindeutige und konfliktverschärfende Zuordnung zu klar geschnit‐
tenen Konfliktfronten“ (Giegel 1998: 16). Einige Naturwächter/innen
haben die Rolle der Vermittlung zwischen Landnutzenden und Ver‐
waltung übernommen. Sie versuchen, eine realistische Behandlung
der infrage gestellten Forderungen zu ermöglichen.
Durch diese vermittelnde Rolle befinden sich die Naturwäch‐
ter/innen aber auch in einer tendenziell unsicheren Position, in der sie
von beiden Parteien – in diesem Fall Naturschutzbehörden und
Landwirten – abhängig sind. Gleichwohl fühlen sich die Landwirte in
die Entscheidungsprozesse unzureichend einbezogen, sodass von
einer Abwesenheit von Konflikten – einem Konsens – zwischen den
beteiligten Gruppen nicht gesprochen werden kann. Dazu trägt auch
der hierarchische Aufbau der Biosphärenreservatsverwaltung bei, der
diese sensiblen Beziehungsmuster nicht berücksichtigt.
5. Kultursoziologische Analyse: Gruppenspezifische und ambivalente Naturverständnisse
Zur Analyse der Naturverständnisse wurde eine von Bernhard Gill
(2003) übernommene Typologie herangezogen: die Unterscheidung
von utilitaritäts‐, alteritäts‐ und identitätsorientierten Naturverständ‐
nissen.
Das identitätsorientierte Naturverständnis leitet sich von vormo‐
dernen Weltbildern ab, die von einer alles durchwaltenden Schöp‐
fungsordnung ausgehen. Die Natur stellt einen moralischen Kosmos
dar, in der jedes Wesen seinen festen Platz und einen vorgeschriebe‐
nen Wirkungskreis hat. Die Wirkungen der Ordnung sind harmonisch
aufeinander abgestimmt und verbürgen damit die existenzielle Si‐
cherheit der Menschen, solange der Mensch die Erde gemäß dieser
Ordnung mitgestaltet und sie nicht verletzt (Gill 2003: 52, 56 ff.).
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238
Tabelle 1: Naturverständnisse nach Gill
Naturverständnis: Identitätsorientiert Utilitaritätsorientiert Alteritätsorientiert
Prinzip: „Natur als soziale
Ordnung und
gemeinsame Her‐
kunft“
„Natur als nützliche
Ressource und als
Bedrohung“
„Natur als Überra‐
schung, Abenteuer
und Sehnsucht“
Form der Wert‐
schätzung von
Natur:
Natur als Ordnung
der Dinge: mora‐
lisch gute Natur,
Natur als Idealbild
der eigenen We‐
sensart
Natur als Materialla‐
ger: soweit sie für
menschliche Zwecke
nützlich ist
Außeralltägliche
Natur: Ästhetisie‐
rung der Natur,
mit der nicht all‐
täglich verkehrt
wird
Schadenskonzept: Verlust der morali‐
schen Integrität
Tod, Krankheit und
ökonomischer Ver‐
lust
Geistlosigkeit,
Uniformität und
Langeweile
Grundmotiv: Ordnung in der
Natur
Befreiung von der
Natur
Befreiung der
Natur
Quelle: Gill (2003: 54)
Auf Basis des utilitaritätsorientierten Naturverständnisses hat Natur kei‐
nen besonderen Sinn oder Wert. Sie ist ein bloßes Sammelsurium teils
nützlicher und teils schädlicher Abläufe. Diese Abläufe sollte der
Mensch zwecks Nutzensteigerung zähmen, beherrschen und verbes‐
sern. Die permanente Obsession im utilitaritätsorientierten Denken ist
der Tod. Die Evolution ist ein Kampf ums Dasein. Statt in einer
prästabilisierten Ordnung aufgehoben zu sein, sind die Menschen
permanent von wilder, feindlicher Natur umstellt. Daher muss die
Welt unablässig technologisch kultiviert und kontrolliert werden
(ebd.: 14, 53, 73 f.).
Das alteritätsorientierte Denken hingegen fühlt sich vom Frem‐
den angezogen, gerade weil es alltagsenthoben und ‚anders’ ist. Es
richtet sich gegen die positivistische Festlegung und Kontrolle von
Subjekt und Objekt. Die Obsession ist hier die Ungewissheit. Gesucht
werden Erlebnisse und Erfahrungen, in denen die Natur zweck‐ und
moralfrei sinnlich wahrgenommen werden kann (ebd.: 54, 74 f.).
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Streit um Materie?
239
Im Gegensatz dazu steht das identitätsorientierte Naturver‐
ständnis dem Fremden tendenziell misstrauisch gegenüber, denn es
bringt Unordnung in den Alltag (ebd.). So spiegelt sich im Erhalt von
Kulturlandschaft häufig das identitätsorientierte Naturverständnis
wider, während der Schutz von Wildnis eher mit einer Alteritätsorien‐
tierung einhergeht.
Besonders im utilitaritätsorientierten Naturverständnis ist
wilde, unkultivierte Natur negativ konnotiert. Aus der Perspektive
des alteritätsorientierten Naturverständnisses kann Wildnis hingegen
zu ‚Ergriffenheit’ führen. Die Natur ist von sich aus weder böse noch
schädlich, sondern wird im Gegenteil durch die alles durchdringende
Industrie und Ökonomie an ihrer Entfaltung gehindert (ebd.).
Das Ergebnis der empirischen Untersuchung erscheint zunächst we‐
nig überraschend: Die befragten Landwirte sind eher utilitaritäts‐
orientiert, die Naturwächter/innen eher alterertitäts‐ und identitäts‐
orientiert. Gleichzeitig variieren jedoch die Naturverständnisse inner‐
halb der jeweiligen Akteursgruppen und können situativ wechseln.
Die Berufszugehörigkeit legt den Akteuren ein bestimmtes Naturver‐
ständnis nahe, das sich an ein weiteres individuelles bzw. durch an‐
dere Faktoren bestimmtes Naturverständnis koppelt.
So sind bei den Landwirten und auch bei einigen Naturwäch‐
tern/‐wächterinnen Mischtypen zwischen dem hegemonialen utilita‐
ristischen und dem entweder alteritäts‐ oder identitätsorientierten
Naturverständnis zu erkennen. Die Landwirte bewerten Natur eher
alteritätsorientiert, wenn zunächst kein Bezug zur landwirtschaftli‐
chen Nutzung hergestellt wird. So befürworten sie z. B. den Total‐
schutz in den Kernzonen des Biosphärenreservates, können aber die
Nicht‐Nutzung von landwirtschaftlichen Stilllegungsflächen viel
schwerer akzeptieren. Die Logik des Nutzens erhält emotionale Bezü‐
ge: Es „tut weh“, so ein interviewter Landwirt, wenn er auf den Flä‐
chen nichts ernten kann.
Die „Ambivalenz des modernen Naturverhältnisses“ (Eder
1992) spiegelt sich nicht nur zwischen den Gruppen wider oder kann
situativ wechseln, sondern besteht auch im Individuum selbst fort.
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Die individuell verschiedenen Mischtypen von Naturverständnissen
können auch zu inneren Konflikten führen. Dies wird bei einem
Landwirt sehr deutlich, der seine Hin‐ und Hergerissenheit zwischen
utilitaritäts‐ und alteritätsorientiertem Naturverständnis zeigt, indem
er eine ‚Irrationalität’ seinerseits aufführt: Er baut teuren Klee an, der
weder gut wächst noch genug Inhaltsstoffe für die Kühe bereithält.
Dennoch erfreut er ihn, da er gut riecht und eventuell der Artenviel‐
falt zugute kommt.
Das ist ja eigentlich das Entscheidende, dass die Kühe gutes
Futter haben und viel Milch geben. […] Ich, dummerweise,
säe immer [...] irgendwelche Kleearten mit rein, die keinen Er‐
trag haben. [...] Aber ich freue mich auch drüber, dass ich da
mal einen Hornschotenklee zu stehen habe. Ist aber eigentlich
völlig sinnlos. [...] Und ob da vielleicht auch mal ein anderes
Insekt ranfliegt, kann ja auch sein. [...] das Heu oder das Fut‐
ter, alles riecht besser, wenn du so über die Wiese gehst. [...]
Ja, man macht so’n Quatsch manchmal auch – aus Spaß. Denn
säe ich da ein paar hundert Kilo so’n sehr teures Saatgut mit
rein.
Sein eigenes Verhalten verwirrt und veranlasst ihn, sich als verrückt
darzustellen. Auch hier definiert der hegemoniale utilitaristische Dis‐
kurs, was mit ‚Verstand’ gemeint ist. Rationale Betriebsführung auf
der einen Seite sowie sein Bedürfnis, ‚Natur’ zu genießen, auf der an‐
deren Seite machen es ihm nicht möglich, eine klare Position für wirt‐
schaftliche Interessen gegenüber den Naturwächtern/‐wächterinnen
zu vertreten und damit konflikthafte Handlungen an den Tag zu le‐
gen.
Letztlich bleibt der Bezugspunkt für die Landwirte die mit
Nutzenbezügen aufgeladene Landwirtschaft. Andere Naturverständ‐
nisse, die häufig hinter dem dominanten utilitären Typ verborgen
bleiben, gelangen weitaus seltener an die Öffentlichkeit.
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Streit um Materie?
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6. Konfliktregulierung: Strategisches Vorschieben von Naturverständnissen
Die geringe Präsenz von manifesten oder eskalierenden Konflikten im
Biosphärenreservat hat möglicherweise ihre Ursache in der vermit‐
telnden Rolle der Naturwächter/innen. Hier verschränkt sich die Kon‐
fliktbewältigung mit der Rolle von Naturverständnissen. Die öffentli‐
che Diskreditierung in den Anfangsjahren des Biosphärenreservates
war für die Naturwächter/innen ein prägendes Erlebnis. Sie wollen
vermeiden, negativ – als „die Grünen“ – wahrgenommen zu werden.
Nach wie vor kämpfen sie beständig um ihre Anerkennung und Legi‐
timation als Naturwacht in der Öffentlichkeit.
Im Umgang mit den Landwirten haben die Naturwächter/innen spe‐
zifische Strategien entwickelt, um die oben dargestellten Konflikte zu
schlichten.
Hilfreich ist dabei der ähnliche kulturelle Hintergrund, den ein gro‐
ßer Teil der Naturwächter/innen mit den Landwirten teilt. Viele von
ihnen kommen ebenfalls aus der Region und waren zu einem frühe‐
ren Zeitpunkt selbst in der Landwirtschaft tätig. Eine wichtige Rolle
spielt auch das hohe Maß an Vertrauen und Verständnis, dass sie den
Landwirten entgegenbringen.
In die Konfliktlösungsstrategien spielen auch die verschiede‐
nen Naturverständnisse der Akteure hinein. So geraten die traditio‐
nellen Beziehungsstrukturen in Konflikt mit den Naturverständnissen
der Naturwächter/innen. In ihrer beruflichen Rolle vertreten sie ihre
typisch gruppenspezifischen Naturverständnisse und argumentieren
alteritäts‐ bzw. identitätsorientiert. Einigen gelingt es jedoch, die oben
beschriebene Ambivalenz, die mit den Naturverständnissen einher‐
gehen kann, zu umgehen und so zur Schlichtung von Konflikten zwi‐
schen den Landwirten beizutragen. Sie winden sich aus dem (ver‐
meintlichen) Dilemma der Unvereinbarkeit der jeweiligen Naturver‐
ständnisse, indem sie ihre alteritäts‐ und identitätsorientierten Vor‐
stellungen, oft aus taktischen Gründen, für sich behalten. In Ausei‐
nandersetzungen beziehen sie sich auf utilitaritätsorientierte Werte,
die im Bewusstsein der Bevölkerung fest verankert sind (vgl. Gill
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242
2003: 207), und führen auf dieser Grundlage häufig die Verhandlun‐
gen mit den Landwirten. Sie greifen jeweils den Aspekt ihres Natur‐
verständnisses heraus, der mit dem Gegenüber kompatibel ist. Das
muss nicht immer das utilitaritätsorientierte Naturverständnis sein,
wobei dieses die Argumentationen der Befragten in einem hegemo‐
nialen Sinn überlagert. Besonders deutlich wird dies bei einem Na‐
turwächter, der sich bewusst auf die Strategie des Verdeckens eigener
Denkweisen einlässt:
Aber ich denke, weil die Menschen da auch oft drüber disku‐
tieren und sagen, was soll das hier, immer die Grünen, die
wollen auch jeden Ast retten. Ich denke, dass man schon mit
Verstand damit umgehen sollte. (HMw: 10/44‐46)
Der hegemoniale utilitaristische Diskurs definiert, was mit ‚Verstand’
gemeint ist. Auf Basis dieses Diskurses wird ein Ergebniskonsens her‐
gestellt, bei dem die Beteiligten nicht die jeweilige Argumentationsba‐
sis wechselseitig übernehmen, sondern aus unterschiedlichen Grün‐
den zustimmen (vgl. Giegel 1992: 9) bzw. sich bestimmte Begrün‐
dungsmuster situativ aneignen.
7. Kritik moderner Naturverhältnisse
In der empirischen Analyse kristallisierte sich heraus, dass die unter‐
suchten Akteure zum Zweck der Konfliktschlichtung und
‐vermeidung in der Regel – und sei es auch ‚nur’ aus strategischen
Gründen – in Auseinandersetzungen auf der Grundlage des hegemo‐
nialen utilitaristischen Naturverständnisses argumentieren. Diese
Diskurslinie wird im Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnis‐
se aufgegriffen (Görg 2003). In Anknüpfung an die Kritische Theorie
thematisiert das Konzept die sozialen und ökologischen Folgewir‐
kungen unter dem Gesichtspunkt struktureller gesellschaftspolitischer
Machtverhältnisse. In der Nachfolge von Theodor W. Adorno wird
der utilitaristische Zugriff auf Natur mit dem Begriff der Naturbe‐
herrschung umschrieben. Im Kontext dieses Problemverständnisses
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Streit um Materie?
243
einer kritischen Gesellschaftstheorie erscheint es angebracht, das he‐
gemoniale utilitaristische Naturverhältnis3 bei der Suche nach Hand‐
lungsmöglichkeiten im Naturschutz aufzugreifen und zu hinterfra‐
gen.
Das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse stellt
den Zusammenhang konkreter, naturwissenschaftlich beschreibbarer
Probleme und kulturell‐symbolischer Aspekte der gesellschaftlichen
Naturverständnisse in den Mittelpunkt. Die Dialektik von Materie
und Gesellschaft wird mit Konflikten um die soziale Geltung des do‐
minanten utilitaristischen bzw. naturwissenschaftlich‐technischen
Naturverhältnisses verbunden. Die trotz der naturwissenschaftlichen
Vorherrschaft weiterhin bestehenden pluralen Naturverhältnisse
werden als jeweils spezifisch umkämpfte Felder aufgefasst (Schar‐
ping/Görg 1994: 190). Dies bedeutet für eine Gesellschaftstheorie, die
Dominanz des zentralen Musters der Naturbeherrschung in der Ge‐
sellschaft sowohl kritisch zu rekonstruieren als auch die
Umkämpftheit der verschiedenen Naturverhältnisse zu begreifen
(ebd.: 192).
Natur wurde erst in der Neuzeit auf eine frei verfügbare, au‐
ßergesellschaftliche Ressource reduziert, die für die Erfüllung
menschlicher bzw. industrieller Bedürfnisse relevant ist (Kropp 2002:
38). Sie wird als Materie, verfügbar für den menschlichen Gestal‐
tungswillen, angesehen (Bechmann 1998: 7). Mit dem Erfolg dieses
Naturverständnisses geraten die Interaktionsdynamik von naturab‐
hängiger Gesellschaft und vergesellschafteter Natur, von wechselsei‐
tigen Verknüpfungen und Vermischungen sowohl der Wirkungs‐ als
auch der Deutungsbeziehungen aus dem Blick. Gleichzeitig werden
alternative Naturverständnisse kaum berücksichtigt.
3 Die Begriffe Naturverhältnis und Naturverständnis sind voneinander abzu‐
grenzen. Das Naturverständnis bzw. der Naturbegriff ist auf rein geistiger
Ebene angesiedelt. Es bestimmt den direkten Umgang mit der Natur – das Na‐
turverhältnis (Raffelsiefer 1999: 86). Diese Unterscheidung zwischen Naturver‐
ständnis und Naturverhältnis ist insofern notwendig, als dass sich Naturbeg‐
riffe durch die Transformation gesellschaftlicher Naturverhältnisse ändern
(Görg 1999a: 15).
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Im Hinblick auf die Naturverhältnisse beinhalten diese Denkmuster
die Erwartung einer immer weiter wachsenden Beherrschbarkeit der
Natur und einer abnehmenden Relevanz der „Naturfrage“ im Laufe
gesellschaftlicher Modernisierung. Diese Erwartung ist im Kontext
der „ökologischen Krise“, angefangen mit der Ökologiebewegung,
herausgefordert und transformiert worden (Görg 2003: 143): Alte
Denkmuster spielten wieder stärker in den Vordergrund (Eder 1992).
Nicht‐rationale Elemente in Diskursen werden in der Öffentlichkeit
mit zunehmend weniger Erfolg denunziert und wieder diskursfähig
(Eder 2007: 12).
Doch führt die zunehmende Bedeutung der symbolisch‐
normativen Seite der ökologischen Krise keineswegs zu einer voll‐
ständigen Abkehr von der Idee der Naturbeherrschung. Einiges
spricht dafür, dass die Erfahrung des Scheiterns in der ökologischen
Krise in eine erneuerte, eine „reflektierte“ Form der Naturbeherr‐
schung übergeht (Görg 2003: 144). Der Versuch besteht lediglich da‐
rin, die Nebenfolgen der bestehenden Naturverhältnisse in den Griff
zu bekommen. Institutionell wird, u. a. auch durch die Einrichtung
von Biosphärenreservaten, versucht, die Nebenfolgen der gesellschaft‐
lichen Naturverhältnisse politisch zu regulieren. Die Regulation dieser
Nebenfolgen wird jedoch durch die Fortdauer fordistischer Naturver‐
hältnisse überlagert, sodass neben den Änderungen weiterhin Konti‐
nuitäten in den gesellschaftlichen Naturverhältnissen bestehen. So
werden die gesellschaftlichen Naturverhältnisse in den Ländern des
Nordens unter dem Leitbegriff der Nachhaltigen Entwicklung meist
auf die ökologische Modernisierung ihrer eigenen Gesellschaften re‐
duziert. Damit wird weiter am instrumentellen Naturbegriff festge‐
halten. In der Praxis führt dies zu einem pragmatischen Management
ökologischer Probleme, das sich auch im Biosphärenreservat
Schorfheide‐Chorin beobachten lässt. Globale Zusammenhänge und
soziale Ungleichheiten bleiben weitestgehend ausgeblendet (vgl. Görg
2003: 10). Die (in dem vorliegenden Fall latent gehaltenen) Naturkon‐
flikte unterliegen einem Problemlösungsdiskurs, der die gegebenen
Strukturen instrumenteller und kapitalistischer Naturnutzung un‐
hinterfragt voraussetzt. Im Biosphärenreservat angewandte Mecha‐
Page 246
Streit um Materie?
245
nismen wie der Vertragsnaturschutz basieren auf ökonomischen Aus‐
tauschprinzipien; um eine tatsächliche Informierung und Mitsprache
handelt es sich dabei nicht. Allerdings versuchen die Naturwäch‐
ter/innen, wie oben dargelegt, häufig den Landwirten diese Rechte
einzuräumen. Es geht lediglich um ein rationales Management der
gesellschaftlichen Naturverhältnisse (vgl. ebd.: 234).
Daraus lassen sich normative Forderungen für eine Neuge‐
staltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse ableiten. Maßstab sollte
sein, Natur nicht mehr unter beliebige menschliche Zwecksetzungen
zu subsumieren, sondern die Nicht‐Identität4 der Natur unreduziert
zu erfahren und damit alternative Naturverhältnisse zu stärken. Es
geht um einen permanenten Lernprozess, der über ein rein organisa‐
tionales Lernen im engeren Sinne hinausgeht und stattdessen die Ver‐
änderbarkeit der Strukturprinzipien gesellschaftlicher Entwicklung
aufzeigt (vgl. Görg 2003: 144).
Um der im Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse
problematisierten Naturbeherrschung entgegenzuwirken, bedarf es
eines umfassenderen Verständnisses gesellschaftlicher Emanzipation
und Selbstbestimmung (ebd.). Die Fähigkeit des Menschen zur freien
Selbstbestimmung sollte es ermöglichen, die oft implizit zugrunde
liegenden Naturverständnisse nach Maßgabe je eigener Reflexionen
zu beurteilen und zwischen ihnen begründet auszuwählen. Im Sinne
eines kritischen Zugangs zur Gestaltung gesellschaftlicher Naturver‐
hältnisse stellt sich die Frage nach einer Emanzipationsvorstellung,
die einerseits an der Fähigkeit zur gesellschaftlichen Selbstverände‐
rung festhält und andererseits für die Probleme der ökologischen Kri‐
se, insbesondere die bestehenden Abhängigkeiten im Rahmen der
Naturverhältnisse, angemessen ist. Die Urteilskraft sollte auf eine –
4 Der Begriff der Nicht‐Identität wird bei Adorno für die im Erkenntnisprozess
und seinen begrifflichen Konstruktionen enthaltenen nicht‐identischen Mo‐
mente verwendet: Das im Erkenntnisprozess vom Bewusstsein konstruierte
Objekt ist in seiner Existenz gleichzeitig Voraussetzung des Erkenntnisprozes‐
ses. Jede Existenz geht auf etwas – das Nicht‐Identische – zurück, das kon‐
struiert wird, dessen Existenz also immer schon unterstellt wird (Görg 1999:
129).
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Jana Flemming
246
wie auch in Biosphärenreservaten vorgesehen – praktisch gestaltete
Natur angewendet werden (vgl. Görg 1999a: 27).
8. Überlegungen zur Ausgestaltung des Naturschutzes
Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftskritischen Perspektive er‐
scheint es wenig angebracht, konkrete Handlungsanleitungen im Sin‐
ne des klassischen Naturschutzmanagements zu geben. Ein praxisori‐
entierter Lösungsvorschlag könnte bedeuten, dass sich beide Parteien
zunächst in reflexiven Auseinandersetzungen ihrer verschiedenen
Naturverständnisse gewahr werden. Begleitet werden sollten solche
Prozesse von institutionellen Umgestaltungen, die den Menschen vor
Ort die Möglichkeit geben, ihre Naturverhältnisse selbstbestimmt zu
gestalten.
Die folgenden Ausführungen sind daher zu verstehen als ein
Anstoß und Ausblick für weitere Überlegungen hinsichtlich einer
umfassenden Einbettung der Naturschutzproblematik in gesell‐
schaftspolitische Zusammenhänge sowie der emanzipatorischen Po‐
tenziale einer Umgestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Es
soll deutlich gemacht werden, dass das auch zwischen den Akteuren
im Biosphärenreservat Schorfheide‐Chorin hegemoniale utilitaristi‐
sche Naturverständnis nur in Verbindung mit der institutionellen
Rahmung der Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse, den
strukturell angelegten Machthierarchien sowie den formellen und
informellen Formen der Konfliktregelung zu verstehen ist. Dies sind
Prozesse, die in der empirischen Untersuchung nicht vollständig be‐
rücksichtigt wurden, die aber auf theoretischer Ebene hier noch ein‐
bezogen werden sollen.
Die politische Regulierung gesellschaftlicher Naturverhältnis‐
se ist ein konflikthafter, komplexer und voraussetzungsvoller Prozess.
Eine solche Regulierung ist immer auch in die allgemeine Regulation
gesellschaftlicher Verhältnisse eingeschlossen. Dies resultiert daraus,
dass die Gestaltung der Naturverhältnisse unmittelbar mit der histo‐
risch‐konkreten Regulation gesellschaftlicher Verhältnisse verbunden
ist (Görg 2003: 143). Gerade die etablierte administrative und politi‐
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Streit um Materie?
247
sche Krisenbearbeitung ist selbst Teil des Krisenzusammenhangs (Be‐
cker/Jahn 1989: 31 ff.). Die Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhält‐
nisse kann demzufolge nicht auf eine explizite Umweltpolitik redu‐
ziert werden. Neben politischen Steuerungsversuchen sind die
unintendierten Nebenwirkungen anderer Prozesse sowie die struktu‐
rellen Zwänge gesellschaftlicher Regulation zu berücksichtigen (Görg
2003: 143).
Bei der Diagnose eines Problems der Naturverhältnisse müs‐
sen daher auch die Regeln der Bedeutungszuweisungen berücksich‐
tigt werden: „Wer hat was mit welcher institutionellen Deutungs‐
macht und welchen Interessen im Rücken als Problem oder Krise
thematisiert und was wird damit bezweckt?“ (Görg 1999a: 11) Ver‐
schiedene Naturvorstellungen spiegeln sich auch in Machtverhältnis‐
sen wider, die wiederum ihren Teil zu Konflikten zwischen den ver‐
schiedenen Wissensformen beitragen (Görg 2003: 247). Dabei kann die
Definitionsmacht bestimmter Gruppen zur Zerstörung lokaler For‐
men von Naturverhältnissen führen (ebd.: 256).
Naturschutz benötigen letztlich nur Naturzerstörende, denn
die Erhaltung der Natur ist zur Verwertung derselben bis zu einem
gewissen Grad notwendig. Daher werden im Biosphärenreservats‐
konzept auch Ziele wie die Erhaltung der natürlichen Ressourcen
oder der genetischen Vielfalt gesetzt. Es ist zu hinterfragen, inwiefern
Biosphärenreservate Beispiele für eine solche ‚Inselerhaltungspolitik’
sind. Der Machtbereich politischer Entscheidungen ist in aller Regel
kleiner als der Wirkungsbereich. So führt der Schutz der Natur an
einer Stelle nicht selten zu ihrer umso hemmungsloseren Nutzung an
anderer Stelle (Kropp 2002: 311). Auch wenn in Biosphärenreservaten
konzeptionell vorgesehen ist, Produktions‐ und Verwertungsmodelle
zu ändern, und der Anspruch formuliert wird, Biosphärenreservate
als Modelle für andere Regionen zu betrachten, so ist doch nicht zu
erkennen, dass grundlegende institutionelle Veränderungen tatsäch‐
lich vollzogen werden. Zu problematisieren sind wissenschaftliche
Deutungshoheiten, die Top‐Down‐Implementierung von Institutionen
sowie bürokratische Entscheidungsstrukturen. Dies steht im Wider‐
spruch zu dem im Biosphärenreservatskonzept formulierten An‐
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Jana Flemming
248
spruch der Teilhabe der vor Ort lebenden Menschen an der Bearbei‐
tung der ‚Naturfrage’. Die bevollmächtigten Institutionen sind auf
staatlicher bzw. föderaler Ebene angesiedelt. Selbst der Naturschutz
ist hierarchisch organisiert und erlaubt den Naturwächtern/
‐wächterinnen, die die tatsächlichen diskursiven Auseinandersetzun‐
gen mit der lokalen Bevölkerung führen und diese auch nur in be‐
grenztem Rahmen durch spezifisches Expert/innen/wissen dominie‐
ren, nicht, verbindliche Vereinbarungen zu treffen.
Weiter ist die Frage nach der Notwendigkeit einer Schlichtung
von Konflikten zu stellen. Das Fallbeispiel hat gezeigt, dass die Abwe‐
senheit manifester Konflikte nicht bedeuten muss, dass Naturschutz‐
maßnahmen tatsächlich im Sinne der Naturschützenden umgesetzt
werden. Vielmehr ist hier die Frage zu stellen, ob Konflikte nicht – im
Anschluss an die konfliktsoziologische Tradition Georg Simmels
(1972) und Lewis A. Cosers (1972) – positive Funktionen haben kön‐
nen. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen sind wichtig, um die
meist nur implizite Bedeutung von Naturverständnissen in öffentli‐
chen Diskursen reflexiv betrachten und bewerten zu können und da‐
mit zu einer emanzipatorischen Bearbeitung von Naturkonflikten
beizutragen. Daher ist in Frage zu stellen, ob die Strategie einiger Na‐
turwächter/innen, die eigenen Ansichten zurückzustellen, langfristig
die richtige ist. Naturkonflikte sind Konfrontationen unterschiedlicher
und nicht ineinander übersetzbarer Rationalitäten, die sich auf ver‐
schiedene soziale Kontexte, kulturelle Diskurse, technische Bedingun‐
gen und normative Einbindungen zurückführen lassen. Eine argu‐
mentative Position, die aus einer bestimmten Perspektive heraus rati‐
onal ist, kann für die andere nicht anschlussfähig sein (z. B. Bio‐ und
konventionelle Landwirte, die jeweils überzeugt argumentieren, dass
ihre Anbauweise die lukrativere sei). Ein gelingender politischer Um‐
gang mit komplexen Alternativen setzt die Kompetenz zur reflexiven
und kooperativen Konzeptionalisierung von Verständigungsmöglich‐
keiten voraus (Kropp 2002: 306). Reflexivität hieße generell, sich die
teils unbewussten Grundlagen und Implikationen der eigenen Stand‐
punkte und der durch sie privilegierten Lösungsmodelle bewusst zu
machen, diesen Prozess bei allen Beteiligten zu fördern und zur Er‐
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Streit um Materie?
249
möglichung interperspektivischer Verständigungsprozesse gemein‐
same Bewertungs‐ und Beurteilungskriterien in einem geteilten Be‐
zugsrahmen konkret zu entwickeln (ebd.).
Bruno Latour (2001) weist darüber hinaus darauf hin, dass Verfahren,
Steuerungsmechanismen und Entscheidungsprozesse kritisch hinter‐
fragt und kontinuierlich neu ausgehandelt werden müssen. Dies soll
nicht zu einem umfassenderen Rationalitätsbegriff führen, sondern
eine Bereitschaft zur Selbstkritik und zum vorsichtigen Umgang mit
den Folgen menschlichen Handelns fördern (Pelfini 2006: 154). Refle‐
xivität besteht damit nicht nur aus dem Bewusstsein, dass eine absolu‐
te Beherrschung der Natur unmöglich ist. Es handelt sich um ein ra‐
dikales politisches Projekt der Infragestellung bisher erkannter Bezie‐
hungen zwischen Natur und Gesellschaft (ebd.: 160).
Das Problem der Gestaltung der Naturverhältnisse verweist
daher auf die Möglichkeiten und Grenzen einer demokratischen Ge‐
staltung sozialer Verhältnisse überhaupt: Wie kann nicht nur die tat‐
sächliche politische Teilhabe an Naturschutzprozessen, sondern auch
die Erfahrung der Nicht‐Identität der Natur, ihre Materialität und
Widerständigkeit bei dieser Gestaltung berücksichtigt werden (vgl.
Görg 2003: 144)? Ein weiterzuverfolgender Ausblick wäre daher,
Latours Vorschlag einer Auflösung des Gesellschafts‐Natur‐
Dualismus aufzunehmen und nach der Möglichkeit einer Einbezie‐
hung ‚nicht‐menschlicher’ Aktanten in gesellschaftliche Entschei‐
dungsprozesse zu fragen. Es sollte nicht nur darum gehen zu de‐
konstruieren, welche Bedeutungen hinter den materiellen Interessen
verborgen sind und welche gesellschaftlichen Machtverhältnisse da‐
mit verbunden sind, sondern auch aufgezeigt werden, dass ‚Materie’
in den Streit involviert ist.
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Teil 3: Ein Plädoyer zum Schluss
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Kein totes Pferd reiten!
Vier Plädoyers zur Erforschung von Mensch-Natur-Verhältnissen
Christine Katz
1. Wozu Wissenschaftstheorie?
In mir als Biologin, die nach einem mehrjährigen Ausflug in die Tech‐
nikfolgenabschätzung und wissenschaftliche Politikberatung seit
nunmehr 12 Jahren die eigenen „Herkunftsgebiete“ wie z. B. die Öko‐
logie oder die Umweltwissenschaften in Bezug auf ihre normativen
Implikationen kritisch in den Blick nimmt, personifiziert sich die
schwierige Herausforderung, Verbindungslinien und Vermittlungs‐
zusammenhänge zwischen natur‐ und sozialwissenschaftlichen Prob‐
lemanalysen von Natur‐Gesellschafts‐Kontexten und ihrer wissen‐
schaftlichen Bearbeitung herzustellen.
Ein derartiges Zwischenraum‐Dasein sieht sich oftmals dem
Vorwurf des Dilettantismus ausgesetzt. Dieser richtet sich nicht nur
auf einzelne Personen, sondern auch auf interdisziplinäre Forschun‐
gen oder eben auf zwischen Fachkulturen angesiedelte Programme.
Ohne an dieser Stelle in eine Rechtfertigungsargumentation zu verfal‐
len: Eine Position des Dazwischen kann disziplinäre Erkenntnis we‐
der ersetzen noch optimieren. Jemand, der sich thematisch zwischen
Fachkulturen aufhält, weiß mehr über Zusammenhänge und Bezüge
denn über disziplinäre Feinheiten und Erkenntnistiefen. Es geht hier
nicht um ein Entweder‐oder, sondern eher um ein Sowohl‐als‐auch,
um eine andere Perspektive auf das gleiche Phänomen. Beispielsweise
kann der Klimawandel und dessen Folgen für Ökosysteme aus einer
rein naturwissenschaftlichen Sicht über CO2‐Anstiegskurven analy‐
siert oder als Phänomen hochindustrialisierter Gesellschaften und
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Christine Katz
258
deren Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen sozialwissenschaftlich
untersucht werden. Um herauszufinden, wie, unter welchen Bedin‐
gungen und mit welchen gesellschaftlichen Bedeutungen die Klima‐
veränderungen soziokulturell verwoben sind, und im Hinblick auf die
dabei eine Rolle spielenden Herstellungsprozesse ist jedoch eine For‐
schungsperspektive notwendig, die auf die interagierenden Bezie‐
hungsmuster und Regulationskontexte fokussiert, d. h. stärker aus der
Perspektive der Relationen und Verbindungslinien heraus die Prob‐
leme beschreibt und analysiert denn aus dem Blickwinkel jeweils ei‐
ner, der Natur‐ oder Gesellschaftsseite (vgl. Rink/Wächter 2004; Be‐
cker/Jahn 2006).
Der folgende Beitrag versteht sich als Essay über einige Unge‐
reimtheiten, Dilemmata und Fallstricke bei der Erforschung von Na‐
tur‐Gesellschafts‐Beziehungen. Er bietet keine die vorhandenen wis‐
senschaftstheoretischen Kenntnisse umfassend reflektierende Analyse
der Ansätze zur Theoretisierung und der forschungsmethodischen
Erarbeitung von Mensch‐Natur‐Verhältnissen, sondern ist eher als
eine blitzlichtartige, an einigen Stellen vielleicht (oder besser: hoffent‐
lich?) irritierende Spurensuche anzusehen.
Am Anfang steht ein „scharfer“ Ritt durch ein paar essentielle
„Parcours“ der Wissenschaftstheorie. Dabei wird ein Blick auf solche
Konzepte geworfen, die Natur‐ und Gesellschaftsaspekte als vermit‐
telt verstehen und miteinander verbinden. Im Anschluss daran sollen
vier verschiedene, aber aufeinander verweisende Plädoyers dazu anre‐
gen, sich auf der Basis wissenschaftstheoretischer Überlegungen mit
interdisziplinären oder fachkulturübergreifenden und transdiszipli‐
nären Forschungen und Programmatiken zu Natur‐Kultur‐
Beziehungen kritisch auseinanderzusetzen.
2. „A Horse Is Not a Metaphor“
Seit ich mich mit Wissenschaftstheorie und ihrer „Anwendung“ auf
Gesellschafts‐Natur‐Kontexte befasse, ist mein Bewusstsein für die
Komplexität der Thematik und mein Unvermögen, mich auf das We‐
sentliche zu konzentrieren, gewachsen. Denn was nun genau das We‐
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Kein totes Pferd reiten!
259
sentliche ist, entgleitet einem in dem Maße, in dem das eigene
Involviertsein zu‐ und die Distanz zum Gegenstand der Betrachtung
abnimmt. Und damit sind wir bereits in der Mitte dessen gelandet,
was eines der Felder der Wissenschaftstheorie ausmacht und uns auch
bei der Untersuchung sozial‐ökologischer Zusammenhänge beschäf‐
tigt: das Verhältnis zwischen Betrachtendem und Betrachtetem sowie
zwischen Vorstellung und Realität.
A Horse Is Not a Metaphor war der wenig leichtgängige Titel
eines prämierten Kurzfilmes auf der Berlinale 2009. Die Botschaft des
Films war, dass ein Pferd erst mal für nichts steht, keine Bedeutung
überträgt und kein wirklich gutes Bild abgibt für die komplexen Din‐
ge und Geschehnisse in der Welt. Ein Pferd an sich stellt keine
brauchbare Metapher dar, aber die Perspektive des Reiters/der Reite‐
rin sehr wohl. Das wiederum hat mich für unser Thema hier inspi‐
riert: Reiten ist ein Ereignis, bei dem Natur und Kultur sich treffen,
reiben, verschmelzen, auf vielfältige Art und Weise interagieren,
wechselwirken und bei dem doch eine gehörige Portion dessen, was
bei wissenschaftstheoretischen Reflexionen von Gesellschaft‐Natur‐
Verhältnissen interessant ist, relevant wird. Denn wie lässt sich die
Wirklichkeit des Reitens als Verhältnis zwischen Pferd und Reiter
angemessen erklären oder beschreiben?
Handelt es sich beim Reiten um eine „dingliche“, reale Kör‐
pererfahrung meines Körpers oder des Pferdes? Bewege ich mich oder
nur das Pferd? Wer steuert oder kontrolliert wen und was? Welche
Bedeutung fällt der Umgebung und den Reitbedingungen zu? Ist es
egal für ein Verständnis dessen, was das Reiten ausmacht, ob es in der
Halle oder im Gelände stattfindet? Ist es für „gutes“ Reiten wichtig zu
wissen, woher das Pferd kommt und welchen sozialen Hintergrund
ich als Reiterin vorzuweisen habe? Werden Pferd und ich beim Reiten
zum Hybrid oder ist unser Verhältnis eher dialektisch, weil wir von‐
und miteinander lernend interagieren? Bin ich auch dann noch eine
Reiterin, wenn mich das Pferd abgeworfen hat?
Worum geht es also beim Natur‐Kultur‐Treffpunkt „Reiten“ –
wissenschaftstheoretisch gefragt? Es geht um die Konstitution des
Gegenstands „Reiten“ als Prozess und Ausdruck von Wechselwir‐
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Christine Katz
260
kungen, seine Erfassbarkeit sowie um die Bestimmung und Interakti‐
on seiner Elemente. Es geht darum, wer oder was die Wirklichkeit des
Reitens steuert oder reguliert, um die Bedeutung von Bedingungen,
Situationen, Hintergründen und Einflussfaktoren. Weiter geht es um
Fragen nach der Art des Wissens und der Erfahrung, die dabei zum
Tragen kommt, um ein Wissen, das nur in Bezug aufeinander, im ge‐
lebten Miteinander und Austausch entsteht.
Mein vielleicht etwas gewagter Versuch, über das Bild des
Reitens einen wissenschaftstheoretisch ausgerichteten Einblick in die
Struktur, Inhalte und Bedingungs‐/Bedeutungszusammenhänge von
Natur‐Kultur‐Ereignissen zu geben, sollte verdeutlichen, dass es sich
dabei immer um Verhältnisbestimmungen handelt – wie stets, wenn
Natur (verstanden als das Materiell‐Physische) und Gesellschaftli‐
ches/Kulturelles (gemeint als das Symbolisch‐Diskursiv‐Geistige)
sinnvoll zusammengedacht wird, um eine Wirklichkeit erklärende
Wirkung entfalten zu können. Dahinter stehen die allumfassenden
Lebensfragen nach der Relation von Materie und Geist – Ist das Sein
primär materiell oder primär geistig? Gibt es Geist nur dann, wenn
eine materielle Grundlage vorhanden ist, oder existiert Materie nur als
eine Vorstellung des Geistes? –, von Realität und sozialer Repräsenta‐
tion und, nicht zuletzt, nach dem Sinn. Sie beschäftigen seit Jahrtau‐
senden Philosophinnen und Philosophen und in unserer Zeit zusätz‐
lich Neurobiologinnen und Neurobiologen, Physiker/innen und Ge‐
sellschaftswissenschaftler/innen.
Übergeordnet dienen solcherart philosophische Erörterungen
dazu, sich in der Welt zurechtzufinden, indem man
Erkenntnisse über die substanziellen und geistigen Dinge in
und um einen herum generiert,
die Reichweite und Gültigkeit dieser Erkenntnisse einschätzt,
über das Gewordensein und das zukünftige Werden dieser
Dinge Aussagen treffen kann (Historizität und Prognose),
die eigene Rolle/Position z. B. bezüglich Abhängigkeiten oder
Beeinflussungsmöglichkeiten erkennen und gestalten kann
und sich darüber zu orientieren, positionieren bzw. Sinnhaf‐
tigkeit herzustellen vermag.
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3. Brücken und ihre Tücken: Integrationsansätze
Wissenschaftstheorie setzt sich also generell mit den Voraussetzun‐
gen, Methoden, den zentralen Begriffen und Zielen von Wissenschaft
auseinander, beschäftigt sich mit der Struktur und Entwicklung wis‐
senschaftlicher Kenntnisse und ihrer Geltungsansprüche. Dies ist be‐
reits für paradigmatisierte Wissenschaftsdisziplinen (vgl. Kuhn 1981)
herausforderungsreich und ambitioniert. Beispielsweise wurden bei
einer Umfrage der British Ecological Society von 1988 (zit. in
Valsangiacomo 1998) nach den innerhalb der ökologischen Wissen‐
schaften verwendeten ökologischen Schlüsselkonzepten bereits 200
Ansätze genannt – in Abhängigkeit dabei zugrunde gelegter unter‐
schiedlicher Natur‐ und Wissensvorstellungen. Umso komplexer und
schwieriger wird es, wenn es sich um die wissenschaftstheoretische
Fundierung problemorientierter Forschungen handelt, in denen ver‐
sucht wird, verschiedene Disziplinen oder sogar Fachkulturen unter
einem gemeinsamen „Dach“ zu bündeln, wie im Fall der interdiszip‐
linären Umweltforschung, der Humanökologie oder der Sozialen
Ökologie.
Dieser neue Typ an Wissensproduktion (auch „mode 2“ ge‐
nannt; vgl. Gibbons u. a. 1994) ist zum einen das Ergebnis der Kritik
an der fortschreitenden Spezialisierung und Partikularisierung der
Einzelwissenschaften, an der dahinter stehenden Rationalität des
technischen Verfügbarmachens und an ihrer zunehmenden
Ökonomisierung anstelle von konsequenter Problemorientierung (vgl.
Gräfrath u. a. 1991; Janich 1992; Mittelstraß 1998). Zum anderen ist
dieser neue Typ der als zu einseitig naturwissenschaftlich‐technisch
angelegten und dafür kritisierten Umweltforschung der 1980er Jahre
geschuldet, der das Erforschen und Lösen komplexer Zusammenhän‐
ge nicht zugetraut wird, weil sie das Gesellschaftliche, Kulturelle,
Ökonomische und Symbolische von Umweltproblemen entweder
ausklammert oder den materialen Regulations‐ und Stoffaustausch‐
prozessen unverbunden an die Seite stellt (vgl. Hayoz‐Kaufmann/Di
Guilio 1996; Balzer/Wächter 2002; Matschonat/Gerber 2003). Wesentli‐
che Merkmale dieses Forschungstyps sind Transdisziplinarität, Prob‐
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lem‐ und Akteursorientierung, organisatorische Heterogenität und
gesellschaftliche Verantwortlichkeit (vgl. Nowotny u. a. 2001; Jahn
2003, Becker/Jahn 2006; Hunecke 2006).
Einige sehen mit dem „mode 2“‐Typus grundlegende Verän‐
derungen auf die traditionellen Disziplinen‐ und Organisationsstruk‐
tur des Wissenschaftsbetriebs zukommen und prognostizieren damit
einhergehende epistemologische Umwälzungen (vgl. Gibbons u. a.
1994). Diese These ist allerdings umstritten (vgl. z. B. Weingart 1999).
Für Mittelstraß (2003) stellt Transdisziplinarität eher ein leitendes
Forschungsprinzip dar, das komplexe und disziplinär nicht
einordenbare Frage‐ und Problemstellungen sowie Lösungsansätze
und Handlungsstrategien entwickeln will. Wissenschaftliche Aufga‐
benfelder und Forschungsgegenstände können damit abgesteckt und
definiert werden, verfestigen sich jedoch nicht in einem Theorie‐ oder
Methodengebäude. Nicht vergessen werden sollte allerdings, dass
Transdisziplinarität nicht per se kritisch oder innovativ ist und die
hegemoniale Wissensproduktion ebenso stützen wie in Frage stellen
kann (vgl. Hark 2003). Bisher erscheinen die mit dieser wissenschaftli‐
chen Praxis einhergehenden organisatorischen und politischen Kon‐
sequenzen (beispielsweise die unscharfe Grenzziehung zwischen poli‐
tischen und wissenschaftlichen Zuständigkeiten) zu wenig durch‐
dacht bzw. problematisch in wissenschaftsferne Diskurse eingebun‐
den.
Nicht nur die konventionelle Umweltforschung wurde als zu
„gesellschaftsblind“ erachtet. Andersherum hielt man in den Sozial‐,
Gesellschafts‐ und Kulturwissenschaften Natur lange nicht für eine
angemessene sozialwissenschaftliche Untersuchungskategorie. Ent‐
sprechend wurde die ökologische Krise als originär natur‐ und um‐
weltwissenschaftliches Forschungsfeld angesehen und geriet in der
Regel damit auch nicht in den sozialwissenschaftlichen Fokus (vgl.
Brand/Kropp 2004: Rink u. a. 2004).
Mittlerweile existiert eine Reihe von Ansätzen zur Integration
der natur‐, sozial‐ und kulturwissenschaftlichen Perspektive, initiiert
von unterschiedlichen Disziplinen. Allerdings reichen solcherart Ver‐
suche schon bis in die Antike zurück. Insbesondere seit den 1920er
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Jahren gab es wechselnd erfolgreiche Aktivitäten, Mensch‐Natur‐
/Umweltbeziehungen sowohl in den gesellschaftswissenschaftlichen
als auch den ökologischen Wissenschaftszirkeln in den USA und Eu‐
ropa als festen Bestandteil im jeweiligen Fächerkanon zu verankern
bzw. als fachkulturübergreifenden eigenen Zugang entsprechend the‐
oretisch zu fassen (vgl. Groß 2001; Katz 2004). Viele dieser Ansätze
sehen sich bis heute entweder mit dem Vorwurf, naturreduktionis‐
tisch bzw. umweltdeterministisch zu sein, konfrontiert, oder ihnen
wurde/wird eine Naturvergessenheit unterstellt, d. h. die mangelhafte
Berücksichtigung der material‐physischen, biologischen Aspekte der
gesellschaftlichen Natur‐/Umweltbeziehungen kritisiert (vgl. z. B.
Glaeser 1992; Cittadino 1993; Brand 1998; Valsangiacomo 1998; Wein‐
garten/Janich 1999; Groß 2001; Kropp 2002). Mit sog. vermittlungsthe‐
oretischen Ansätzen (Kropp 2002), in denen Natur und Gesellschaft
dialektisch (wie im Ansatz der gesellschaftlichen Naturverhältnisse:
Jahn/Wehling 1998) oder als Hybrid (z. B. Haraway 1995; Latour 1995)
konzeptualisiert sind, wird die Hoffnung verbunden, diese Schwä‐
chen überwinden zu können.
Auf die unterschiedlichen Diskurse zur Reichweite und Gül‐
tigkeit verschiedener naturalistischer, kulturalistischer bzw. sozio‐
zentrischer sowie vermittlungstheoretischer Ansätze der Wirklich‐
keitserfassung kann hier nicht eingegangen werden (vgl. dazu z. B.
Janich 1996; Weingarten/Janich 1999; Keil/Schnädelbach 2000;
Karafyllis 2001; Kropp 2002; Rink/Wächter 2004; Becker/Jahn 2006;
Groß 2006). Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass mittlerweile weder
auf der Seite der Naturwissenschaften ernsthaft in Zweifel gezogen
wird, dass auch sog. „Naturtatsachen“ als soziale Konstrukte zu be‐
trachten sind (vgl. z. B. die Erkenntnisse der Neurobiologie und der
modernen Physik sowie Dürr/Zimmerli 1989; Dürr 2003), noch von
den meisten Vertreterinnen und Vertretern der Sozial‐ und Geistes‐
wissenschaften tatsächlich bestritten wird, dass eine materielle Wirk‐
lichkeit auch ohne Menschen existiert und von einem komplexen vor‐
strukturierten Entwicklungszusammenhang irdischer Lebensprozesse
mit autopoietischen Qualitäten auszugehen ist (vgl. Soper 1995; Janich
1996; Quine 2000). Distanziert wird sich von absolut naturreduktionis‐
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tischen bzw. ‐deterministischen Ansätzen, in denen ausschließlich
natürliche Faktoren als wirkmächtig gelten und einzig natürliche Pro‐
zesse für real gehalten werden (vgl. Wolf 2008: 867), genauso wie von
radikal‐konstruktivistischen postmodernen Vorstellungen jeder Wirk‐
lichkeit als Diskurs (vgl. Soper 1995; Becker/Jahn 2006).
Das bedeutet jedoch nicht, dass naturwissenschaftliche Erklä‐
rungsansätze über ökologische Zusammenhänge oder krisenhafte
Umweltprobleme frei von normativen, gesellschaftliche Wirkung ent‐
faltenden Einschreibungen sind – was bis heute im Übrigen weiterhin
wenig reflektiert wird (vgl. Trepl 1987; Valsangiacomo 1998; Weingar‐
ten/Janich 1999; Jax 2000; Jopp/Weigmann 2001; Jungkeit u. a 2001;
Fischer 2003; Potthast 2003; Rink/Wächter 2004; Katz/von Winterfeld
2006; Weber 2006).
Die bisherigen wissenschaftlichen Konzepte zur Verklamme‐
rung von Natur‐ und Gesellschaftsbezügen weisen einen unterschied‐
lichen Grad an „integrations¬theoretischer Reife“ auf. D. h. es beste‐
hen zahlreiche ungelöste Probleme bezüglich der Gegenstands‐ und
Begriffskonstitution, der Problemdefinition, des normativen Rahmens,
die Methoden und Verfahren der wissenschaftlichen Erkenntnispro‐
zesse betreffend und bezüglich geeigneter theoretischer „Brücken“
zur Verbindung der unterschiedlichen Perspektiven und Wissensfor‐
men (System‐, Kohärenz‐, Transformations‐ und Orientierungs‐ oder
Zielwissen; vgl. Becker/Jahn 2006; Hunecke 2006). Die Soziale Ökolo‐
gie will ebenso wie die Humanökologie mit ihrem ganzheitlichen An‐
spruch „den Zusammenhang von materialen Naturbeziehungen mit
den symbolischen Formen, in denen diese materialen Beziehungen
hergestellt und vorgestellt werden, d. h. individuell und gesellschaft‐
lich konstruiert werden“ (Jahn 1990: 29), aufzeigen (vgl. auch Be‐
cker/Jahn 2000). Gegenstandsbereich sind Relationen, Wechselwir‐
kungen und Verhältnisse zwischen Menschen bzw. gesellschaftlichen
Gruppen und ihrer Natur/Umwelt sowie deren Regulationsmuster
(vgl. Becker/Jahn 2003).
Bislang ist keine einheitliche theoretische Konzeptualisierung
und begrifflich konsistente Beschreibung des Verhältnisses zwischen
Mensch, Natur/Umwelt und Gesellschaft und damit keine Auflösung
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des Dualismus von Gesellschaft und Natur erreicht. Wichtig erscheint
es dennoch oder vor allem, „den Blick für die vielfältigen Formen von
Natur‐Gesellschafts‐Interaktionen offen zu halten und dabei unter‐
schiedliche Perspektiven und Ebenen der Analyse zuzulassen“
(Hunecke 2006: 37). Viele dieser neuen integrationsorientierten For‐
schungsrichtungen konzentrieren sich vielleicht auch aus diesem
Grund vor allem auf forschungsmethodische Überlegungen, die neue
Impulse für eine Heuristik und für (methodologische) Brückenkon‐
zepte zur Vereinigung unterschiedlicher Wissensformen liefern kön‐
nen.
In der inter‐/transdisziplinären Umweltforschung mangelt es
nicht an Appellen, die Wissenschaftstheorie als methodische Instanz
zu konsultieren. Letztlich handelt es sich dabei um die Aufforderung,
geeignete Methodologien, d.h. Verfahren und Regeln der Wissensge‐
nerierung wie auch zur Absicherung der Gültigkeit von wissenschaft‐
lichen Aussagen zu entwickeln (vgl. Hunecke 2006). Denn die auf
diesem Feld forschenden Wissenschaftler/innen haben unterschiedli‐
che disziplinäre Hintergründe, sie verwenden ihre eigenen Spezial‐
Methodologien und ihre eigene Fachsprache. Werden im transdiszip‐
linären Verständnis darüber hinaus Nicht‐Wissenschaftler/innen in
die Forschung einbezogen, kompliziert sich die Situation zusätzlich
(vgl. Hartmann 2005).
Marcel Hunecke (2006) hat einen ersten wissenschaftstheoreti‐
schen Beitrag zu einer Heuristik der Sozialen Ökologie geleistet, der
sich mit den theoretischen „Schwachstellen“ dieser Forschungsrich‐
tung ebenso auseinandersetzt wie mit möglichen Brückenkonzepten
zu ihrer methodologischen Fundierung. Er hat dazu 41 Kriterien zur
Beurteilung des Erklärungsgehaltes von Ansätzen der Selbstorganisa‐
tion, des Prinzips der methodischen Ordnung und des ökonomischen
Ansatzes für die sozial‐ökologische Forschung sowie 114 Leitfragen
zur Orientierung der Wissenschaftler/innen für das forschungsprakti‐
sche Arbeiten abgeleitet.
In den nachfolgenden Plädoyers wird es nicht darum gehen,
alles, was es an wissenschaftlichen Theorieansätzen zur Integration
sozial‐ und naturwissenschaftlicher Perspektiven, zur Vermittlung
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des Substanz/Materie‐Geist‐Dilemmas gibt, zu systematisieren, kri‐
tisch zu würdigen, auf die dabei eine Rolle spielenden Fallstricke bzw.
ungelösten Probleme hinzuweisen und so einen weiteren kleinen Bei‐
trag zur konstruktiven Weiterentwicklung dieser Integrationsaufgabe
zu leisten. Der hier verfolgte Anspruch ist wesentlich bescheidener:
Ausgehend von verschiedenen Kritiksträngen und Argumentations‐
zusammenhängen bei der Diskussion um die wissenschaftliche Bear‐
beitung von Gesellschaft‐Natur‐Beziehungen, von Reflexionen (inklu‐
sive eigener Erfahrungen) interdisziplinärer, fachkulturübergreifen‐
der Forschungsprozesse sowie von einigen Einsichten durch die Vor‐
träge und Diskussionen bei der Tagung, die diesem Sammelband vo‐
rausging, sollen diese vier Plädoyers dazu provozieren und vielleicht
auch motivieren, sich der wissenschaftstheoretischen Erkenntnisse bei
der Erforschung komplexer Mensch‐Umwelt‐Beziehungen zu bedie‐
nen – sei es als Analyseinstrument zur Schärfung von begrifflichen
Unklarheiten und zur Strukturierung des gesamten Ablaufs der Wis‐
sensgenerierung, zum Verständnis für den anderen Blick auf das glei‐
che Problem oder sei es zum Nachdenken über die Rationalitäten und
Geltungsgrenzen des eigenen Forschens und die Vielfalt an Perspek‐
tiven auf Wirklichkeiten und nicht zuletzt als Impuls für weiterfüh‐
rende Diskussionen.
Plädoyer 1: Für mehr Bescheidenheit im Anspruch der Forschungspro‐
grammatik und eine effektivere Nutzung des bereits Vor‐
handenen
Die Wissenschaftstheorie lehrt uns, dass jede Form von Erkenntnis in
ihrer Aussagekraft, Reichweite und Gültigkeit bestimmten Einschrän‐
kungen unterliegt. Diese jeweils und genau bei der Erforschung von
gesellschaftlichen Naturverhältnissen auszuloten, kann zum einen der
Zusammenarbeit zwischen Vertreterinnen und Vertretern der Natur‐
und Sozial‐/Geisteswissenschaften förderlich sein – z. B. über eine
dadurch erfolgende Konturierung der Differenzen und Gemeinsam‐
keiten der unterschiedlichen Perspektiven und Zugänge. Zum ande‐
ren unterstützt sie dabei, den Prozess der Wissensproduktion von
Beginn an so zu strukturieren, dass die Auswirkungen von Erkennt‐
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nisgrenzen und ‐möglichkeiten auf das Deutungs‐ und Regulations‐
potenzial von Natur‐Mensch‐Gesellschaft‐Verhältnissen sichtbar und
damit einer Diskussion zugänglich gemacht werden können.
Die Lektüre derzeitiger Förderprogramme im Bereich der
Nachhaltigkeitsforschung bzw. zur Erforschung globaler Umweltver‐
änderungen erweckt den Eindruck, dass die Untersuchungsbereiche
immer komplexer, die Anforderungen an die Forscher/innen‐
Gruppen trotz eher übersichtlicher Förderzeiträume immer vielfälti‐
ger und umfangreicher werden und die in den Programmen formu‐
lierten Erwartungen an das Problemlösungspotenzial dieser For‐
schung zunehmend steigen. Machbarkeitswahn, Umsetzungserfolg
und Innovationsdruck dominieren das Feld. Selten gibt es einen Be‐
zug auf wissenschafts‐ und gesellschaftstheoretische Debatten zur
Bedeutung und zum Wandel wissenschaftlich‐technischen Wissens in
Zeiten globaler Transformation (Kahlert 2001). Vor allem im Bereich
transdisziplinärer Wissensarbeit können die stärker werdende Ten‐
denz zur Ausweitung und Verdichtung von Aufgaben, ein andauernd
geforderter Kompetenzerwerb und eine überzogene Verantwortungs‐
zuweisung an die/den Einzelne/n beobachtet werden.
Eine solcherart kosten‐, zeit‐ und erfolgseffektiv orientierte
Förderlogik läuft Gefahr, professionell organisierten Forschungs‐
aktivismus zu bedienen, der stärker mit seinem Selbstmanagement
und der Erfüllung oben genannter Erwartungen beschäftigt ist, als
dass er zu umfassend analysierten, interpretierten und theoretisch
durchdrungenen Resultaten führen kann. Die bereits vorhandenen
umfangreichen Wissensbestände zu sichten und zu nutzen, sprich die
(stille) Beschäftigung mit dem Über‐, Quer‐ und Neudenken vorlie‐
gender wissenschafts¬theoretischer Erkenntnisse und Ansätze, könnte
jedoch überaus hilfreich bei der Aufgabe sein, Natur und Gesellschaft‐
liches konzeptionell zu verbinden und als Vermittlungszusammen‐
hang zu analysieren und zu beschreiben.
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Plädoyer 2: Für mehr fachkulturenübergreifende Forschungsteams
Wie bereits oben formuliert, ist es ein zentraler Anspruch inter‐
/transdisziplinärer oder fachkulturenüberschreitender (natur‐ und
sozialwissenschaftlicher) Forschung zu globalen Umweltproblemen,
sich auf die Interaktionen, Wechselwirkungen und Vermittlungszu‐
sammenhänge material‐stofflicher und symbolisch‐diskursiver As‐
pekte zu konzentrieren, statt die Bedingungs‐ und Bedeutungskontex‐
te jeweils separat aus der natur‐ bzw. gesellschafts‐
/kulturwissenschaftlichen Perspektive in den Blick zu nehmen.
Für die konkrete Forschungspraxis bedeutet dies, beide Di‐
mensionen integrativ in der Forschung anzulegen und damit eine
Auseinandersetzung über Begriffe, theoretische Konzepte und deren
normative Basis sowie über die kontextabhängige Gültigkeit bereits
vorhandener Daten zu initiieren und ein gemeinsames methodisches
Vorgehen für die Forschung zu erarbeiten. Dies gelingt am besten in
einem interdisziplinär aus Vertreterinnen und Vertretern der Natur‐
und Sozialwissenschaften zusammengesetzten Team, das sich von
Beginn an mit dem „In‐Beziehung‐Setzen“ der verschiedenen Wis‐
sensformen befasst. In der Tat bleibt die Unterscheidung zwischen
einer sozialwissenschaftlichen Forschungsarbeit, die für einen be‐
stimmten Kontext als problematisch skizzierte Gesellschaft‐Natur‐
Verhältnisse in ihren lebensweltlichen Bezügen und im Rahmen spe‐
zifischer stofflich‐materieller Bedingungen soziologisch oder politolo‐
gisch untersucht, von einer z. B. sozial‐ökologischen Analyse dessel‐
ben Zusammenhangs unscharf. Denn es kommt doch erheblich darauf
an, wie, d. h. auf welcher kategorialen Ebene, die Natur‐ und Gesell‐
schaftsseite zueinander in Beziehung gesetzt werden. Sich quasi welt‐
anschaulich auf ein theoretisches Gerüst (wie z. B. das der gesell‐
schaftlichen Naturverhältnisse des Frankfurter Instituts für sozial‐
ökologische Forschung) zu beziehen, natur‐gesellschaftliche Interakti‐
onen in lebensweltlichen Kontexten in den Blick zu nehmen und Pra‐
xisakteure als Expertinnen und Experten von Anfang an aktiv in das
Forschungsgeschehen einzubeziehen, ist völlig unbenommen eine
längst notwendige Erweiterung der konventionellen Umweltfor‐
schung. Bezieht sich „interdisziplinär“ dabei jedoch auf einen fachkul‐
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turellen, beispielsweise politik‐, kultur‐ und geschichtswissenschaftli‐
chen Zugang, bei dem materiell‐physische Aspekte von zu untersu‐
chenden gesellschaftlichen Naturverhältnissen zwar als Rahmen set‐
zende Bezugsgrößen (diskursiv) mit berücksichtigt werden – z. B. in
Form von Emissions‐ oder Immissionsausgangsdaten –, aber nicht mit
den sozialwissenschaftlichen Erhebungen begrifflich, methodologisch
oder konzeptionell verschränkt werden, erscheint es mir weniger
missverständlich, von einer sozialwissenschaftlichen Perspektive auf
Gesellschaft‐Natur‐Beziehungen statt von einem die stofflich‐
materielle und sozial‐diskursive Ebene verbindenden sozial‐
ökologischen Forschungsansatz zu sprechen. Dies gilt selbstverständ‐
lich umgekehrt ebenso für Forschungen, die – naturwissenschaftlich
angelegt – mit einem unbekümmerten Rekurs auf sozialwissenschaft‐
liche Theoriegebäude und Wissensbestände Gesellschaftliches ohne
Tiefenschärfe interpretatorisch einbeziehen.
Viele Projekte haben zwar den expliziten Anspruch, integrativ
zu arbeiten, in der Nachbetrachtung zeigt sich jedoch, dass dieser
nicht bzw. nur schleppend umgesetzt werden konnte (vgl. Hartmann
2005). Jede/r scheint weiterzuforschen wie zuvor, und die Zusammen‐
arbeit zwischen Forscherinnen und Forschern mit verschiedenen dis‐
ziplinären Hintergründen besteht oft nur auf dem Papier (vgl. Balsi‐
ger 2005). Integrativ angelegte natur‐ und sozialwissenschaftliche
Untersuchungsperspektiven bedürfen einer gemeinsam argumentativ
erzeugten dialogischen Aushandlung von Methoden und Arbeitswei‐
sen über die beteiligten Disziplinen hinweg und durch diese hin‐
durch, sodass eine neue (Trans‐)Disziplinarität entsteht (vgl. Mittel‐
straß 2005). Dies verlangt eine intensive Beschäftigung mit dem jewei‐
lig Unausgesprochenen, aber „machtvoll Mitgemeinten“, mit den je‐
weils anderen Wirklichkeitsdeutungen und Erklärungsansätzen und
bedarf notwendigerweise einer personalen Entsprechung.
Für die Förderpraxis würde das bedeuten, in Förderpro‐
grammen, die einen solchen Anspruch verfolgen, Antrags‐Vorphasen
finanziell zu unterstützen und Mittel für Workshops bereitzustellen.
So könnten fachkulturenübergreifende Teams auf effektive Weise
zusammengestellt und Verständigungsprozesse sowie forschungs‐
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praktische Überlegungen im Vorfeld initiiert werden. Des Weiteren
sollten forschungsbegleitend Weiterbildungsma߬nahmen zur Förde‐
rung einer sog. inter‐/transdisziplinären Kompetenz angeboten wer‐
den.1
Ausgeweitet auf den Gutachter/innen‐Kreis könnten solche Weiter‐
bildungsangebote auch der Begutachtungsqualität von Anträgen bis
hin zur Weiterentwicklung des Förderprogramms insgesamt dienlich
sein. Denn bislang ist die Beurteilung integrativ angelegter For‐
schungsprojekte noch immer eher multidisziplinär erfolgt – in Er‐
mangelung entsprechend inter‐/transdisziplinär kompetenter Exper‐
tinnen und Experten.
Plädoyer 3: Für eine Reflexion des Normativen
Bei der Erforschung gesellschaftlicher Naturverhältnisse spielt es eine
nicht unmaßgebliche Rolle, von welchem Modell von Natur und Ge‐
sellschaft jeweils ausgegangen wird, welche Begriffe und Bedeutun‐
gen den Erklärungsansätzen zugrunde liegen und wie diese normativ
Wirksames transportieren. Beispielsweise sind die gesellschaftlichen
Verhältnisse und Folgen einer Vorstellung von Natur als einer wilden,
gewaltigen, unberechenbaren, gleichermaßen jedoch fürsorglichen,
ernährenden, dem Menschen wesenhaft gegenübergestellten, andere
als die einer Natur, die als ein funktionales organismenloses Energie‐
und Stoffflusssystem (z. B. als CO2‐Senke, Luftfilter, Ressourcenlager)
konzeptualisiert ist (vgl. Katz/von Winterfeld 2006).
1 Eine solche „Schlüsselqualifikation“ beinhaltet Fähigkeiten wie (vgl. Baer
2005):
• den eigenen methodischen und theoretischen Zugang selbstkritisch zu hin‐
terfragen,
• disziplinäre Differenzen produktiv wahrzunehmen,
• die eigene disziplinäre Arbeit permanent wissenschaftskritisch zu reflek‐
tieren und auf Stärken und Schwächen hin zu relativieren,
• fragwürdige und problematische Positionen aushalten und konstruktiv
damit umgehen zu können,
• gegenseitige disziplinäre/außerdisziplinäre Anerkennung und Respekt.
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Die in Naturvorstellungen verborgenen Wertmaßstäbe und
Gesellschaftsbilder werden meist nicht bewusst, sondern stillschwei‐
gend mit der Beschreibung als allgemeingültig akzeptiert (vgl. Gloy
2005a, b). Jede Gesellschaftsform kennt solche in der sozialen Praxis,
in Sprache und Ausdruck unauffälligen, normativ wirksamen Setzun‐
gen. Sie finden sich auch in vermeintlich neutralen, objektiven natur‐
wissenschaftlich‐ökologischen Grundannahmen, Analysen und Lö‐
sungsvorschlägen und entfalten dabei Orientierung stiftende und
durchaus machtvolle gesellschaftliche Wirkungen: Man denke nur an
die in zahlreichen sog. ökologischen Positionen enthaltene Aufforde‐
rung nach einer gesellschaftlichen „Unterordnung“ unter die Gesetz‐
mäßigkeiten der Natur oder nach einem „Weiter so“, aufgrund einer
unerschöpflichen, weil sich selbst regulierenden, selbst heilenden Na‐
turkonzeption oder an die Allmachtsphantasie der beliebigen Gestalt‐
und Modifizierbarkeit einer anfälligen, verbesserungsbedürftigen
bzw. technisch ersetzbaren Natur (vgl. ebd.).
Die klassischen Wissenschaften über die Natur bzw. die Um‐
welt des Menschen verstehen sich bis heute als objektiv und wert‐
neutral. Es findet dort kaum eine Debatte über die verborgenen Be‐
wertungen und Wertzuschreibungen in den (Vor‐)Verständnissen
bzw. Festlegungen im Forschungsgegenstand und ‐geschehen statt
(vgl. Potthast 1999; Rink u. a. 2004). Auch im (noch immer) stark
„ökologielastig“ und naturwissenschaftlich geprägten Nachhaltig‐
keitsdiskurs werden normierende Setzungen (wie z. B. das, was als
ökologisch intakt oder natürlich gilt) als naturwissenschaftliche Tatsa‐
chen bzw. Wahrheiten – und damit als nicht mehr verhandelbar –
präsentiert. Eine Ausblendung normativer Implikationen ökologi‐
scher Grundannahmen, Problemsichten und ‐analysen ist für die ge‐
sellschaftliche Umsetzung des Leitbildes einer nachhaltigen Entwick‐
lung jedoch besonders folgenreich. Denn die unsichtbaren Bewertun‐
gen und Vorannahmen wirken auf die Argumentationen und Strate‐
gien der in diesem Kontext tätigen Akteurinnen und Akteure ein und
vermögen damit z. B. die Aufgaben‐ und Verantwortungsverteilung
für Natur‐ und Umweltschutz bzw. ‐nutzung zu beeinflussen und
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Christine Katz
272
darüber wiederum auch die Akzeptanz und Durchsetzungsstärke von
Konzepten zum gesellschaftlichen Umgang mit Natur.
Um diese normativen Wirkungen sichtbar zu machen, ist es
notwendig, den gesellschaftlich relevanten (symbolischen) Bedeu‐
tungsgehalt von Beschreibungen, Konzepten, Aussagen oder Begrif‐
fen von Natur in sozial‐ökologischen Forschungskontexten zu reflek‐
tieren. Denn wissenschaftliche und alltagsgebräuchliche Vorstellun‐
gen und Verständnisse von Natur und ihrer Gestaltung enthalten
Hinweise auf dahinter stehende Wertesysteme und gesellschaftliche
Ordnungsprinzipien (vgl. Orland/Scheich 1995; Gloy 2005a, b; Kirch‐
hoff 2006; von Winterfeld 2006)
Plädoyer 4: Für die Analyse von Macht
„Wissenschaft ist Politik mit anderen Mitteln“, heißt es u. a. bei Donna
Haraway (1995) und Ulrike Felt (2002). Damit ist einerseits die Defini‐
tionsmacht von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ange‐
sprochen, beispielsweise über das, was als ein gesellschaftlich relevan‐
tes Problem gilt und deswegen erforscht werden muss, sowie ande‐
rerseits über dessen Lösungsmöglichkeiten, die dazu erforderlichen
technologischen Schwerpunktsetzungen und die Grenzen der Mach‐
barkeit. Politik und Wissenschaft sind mittlerweile eng miteinander
verflochten. Wissenschaftliche Expertise ist ständig gefragt, dient der
Vorbereitung und häufig genug auch der Legitimation von politi‐
schen Entscheidungen. Wissenschaftler/innen, von Amts wegen der
Wahrheit, Sachlichkeit und Wertneutralität verpflichtet, sollen durch
ihre generierten Erkenntnisse einen Ausweg aus Angst und Unsicher‐
heit, den steten Begleiterinnen der Industriemoderne, weisen.
Wissenschaftler/innen bekleiden zunehmend machtvolle und
entscheidungsrelevante Positionen: Sie sitzen in Beratungsgremien, in
Bundestagskommissionen, werden als Gutachter/innen zu allen mög‐
lichen Themen befragt, veröffentlichen Berichte und Prognosen, die
wiederum für politische Weichenstellungen herangezogen werden.
Die „Vormachtstellung“ bei der Benennung von Grenzen der Res‐
sourcennutzung oder der Belastbarkeit von Ökosystemen sowie bei
der Prognose von Auswirkungen gesellschaftlichen Handelns auf
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Natur und Umwelt durch Naturwissenschaftler/innen beinhaltet
mindestens implizit die Aufforderung nach spezifischen Beschrän‐
kungen gesellschaftlicher Aktivitäten und Entwicklungen. Als kom‐
plexe und problematische Umweltzusammenhänge erklärende Exper‐
tinnen und Experten nehmen Wissenschaftler/innen heute eine zent‐
rale Stellung in der Gesellschaft und in politischen Gestaltungsprozes‐
sen ein, ohne jedoch für die Position des/ der politischen Entschei‐
dungsträgerin/Entscheidungsträgers demokratisch legitimiert zu sein.
Bezogen auf inter‐/transdisziplinäre Forschungen zur Analyse
und Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse leitet sich daraus
das unbedingte Erfordernis ab, die den Forschungskontexten einge‐
schriebenen Machtverhältnisse in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung
zu reflektieren. Denn: Auch das sog. Orientierungswissen ist ebenso
wie das „Wissen von“ (Substanz, Bestandteile) und „Wissen über“
(Struktur, Funktion, Prozesse, Zusammenhänge) nicht gesellschafts‐
und damit auch nicht „machtfrei“. In jeder dieser Wissensformen ste‐
cken normativ wirkende Annahmen und Aussagen über Natur, das
Leistungspotential von Wissenschaft und ihr Verhältnis zur Gesell‐
schaft. Um die machtförmige Verwobenheit von Wissenschaft und
Gesellschaft sichtbar machen zu können, wie es der Ansatz „Science
in Context“ vorsieht, sollten daher Machtanalysen inhärenter Bestand‐
teil jedes Förderprogramms zur Erforschung von Gesellschafts‐Natur‐
Beziehungen sein. Macht ist eine der wichtigsten Begrifflichkeiten und
Untersuchungskategorien der Soziologie. Auch wenn dabei oftmals
auf die klassische Definition nach Max Weber Bezug genommen wird
– sei es abgrenzend oder anschließend –, existiert mittlerweile eine
Fülle an recht unterschiedlichen theoretischen Machtkonzepten (vgl.
Inhetveen 2008). Diese Vielfalt kann hier weder kritisch einordnend
aufgezeigt, noch soll diskutiert werden, welche machtanalytischen
Zugänge im Kontext der Untersuchung von Natur‐
Gesellschaftsinteraktionen jeweils in den Blick zu nehmen sind. Mein
Plädoyer ist vielmehr ein generelles, nämlich dafür, die Reflexion von
Macht als eine auf die Problemkonstitution, Analyse, Gestaltung und
Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse einwirkende Dimen‐
sion in den entsprechenden Förderprogrammen und Forschungspro‐
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274
jekten als zu erfüllende Aufgabe verbindlich zu verankern und damit
die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Konzepten zur
Machtanalyse und ihrer „Passförmigkeit“ im jeweiligen Forschungs‐
kontext zu initiieren und zu etablieren.
Dies wäre darüber hinaus für die Bearbeitung der Frage nach
der Gültigkeit von Wissen, seiner gesellschaftlichen und politischen
Relevanz und damit auch nach einer transparenten, demokratisch‐
partizipatorischen Ausgestaltung des Prozesses der Wissensprodukti‐
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Autorinnen und Autoren
Bianca Baerlocher, lic. phil.
2001‐2006 Studium Soziologie, MGU (Mensch, Gesellschaft, Umwelt)
und Medienwissenschaften an der Universität Basel und Zürich. Seit
2006 Doktorandin am Programm Nachhaltigkeitsforschung an der
Universität Basel. Dissertationsprojekt des Schweizerischen National‐
fonds: Ökologische Regimes als theoretisch‐konzeptueller Beitrag zur
sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung. Forschungs‐
schwerpunkte: Sozialtheorie und Umwelt
Thomas Barth, M.A.
2001 bis 2007 Studium der Soziologie und Politikwissenschaft an der
Friedrich‐Schiller‐Universität Jena. 2007 bis 2008 wissenschaftliche
Hilfskraft und Mitarbeiter am Institut für Soziologie der FSU Jena. Seit
2008 Doktorand am Promotionskolleg »Demokratie und Kapitalis‐
mus« der Rosa‐Luxemburg‐Stiftung an der Universität Siegen und
Lehrbeauftragter an der FSU Jena. Thema der Dissertation: »Die Um‐
welt des kapitalistischen Staates. Metamorphosen bundesdeutscher
Umweltpolitik«. Forschungsschwerpunkte: Politische Soziologie und
Staatstheorie, Soziologische Theorie, Umweltsoziologie und Umwelt‐
politik.
Jana Flemming, Dipl.-Sozialwissenschaftlerin
2001 bis 2009 Studium der Sozialwissenschaften an der Humboldt‐
Universität zu Berlin und Moskauer Staatlichen Lomonossow‐
Universität (MGU), Russische Föderation. 2009‐2010 wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Fachgebiet Politikwissenschaftliche Umweltfor‐
schung der Universität Kassel. Gegenwärtig freie Mitarbeiterin der
Rosa‐Luxemburg‐Stiftung. Forschungsschwerpunkte: Gesellschaftli‐
che Naturverhältnisse, Klimawandel und ‐anpassung, Energiepolitik.
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Autorinnen und Autoren
282
Karsten Gäbler
2000‐2006 Studium der Geographie, Philosophie und Erziehungswis‐
senschaften (Lehramt) an der Friedrich‐Schiller‐Universität Jena. Seit
2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialgeogra‐
phie der FSU Jena. Forschungsschwerpunkte: sozialgeographische
Theorieentwicklung, Theorie(n) gesellschaftlicher Natur‐ und Raum‐
verhältnisse, Geographien der Moral und des Konsums.
Daniela Gottschlich, Politikwissenschaftlerin, M.A.
studierte von 1992‐2000 Politikwissenschaft und Germanistik an den
Universitäten Osnabrück und Göttingen. Seit 1995 Mitarbeit in zahl‐
reichen Agenda 21‐Projekten. Von 2007‐2008 wissenschaftliche Mitar‐
beiterin an der Universität Osnabrück am Fachbereich Sozialwissen‐
schaften. Promotion zu Gerechtigkeits‐, Politik‐ und Ökonomiever‐
ständnissen im Nachhaltigkeitsdiskurs. Leitet seit 2008 gemeinsam
mit Tanja Mölders die Forschungsnachwuchsgruppe „PoNa – Politi‐
ken der Naturgestaltung. Ländliche Entwicklung und Agro‐
Gentechnik zwischen Kritik und Vision“ an der Leuphana Universität
Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Gestaltung gesellschaftlicher
Naturverhältnisse als demokratietheoretische Frage, Internationale
Beziehungen, feministische Theorien und Nachhaltigkeit, Agro‐
Gentechnik.
Cedric Janowicz, Diplom-Soziologie, Dr. phil.
1993‐1998 Studium der Soziologie, der Sozialpsychologie und der
Politischen Theorie an der Ludwig‐Maximilians‐Universität München.
1999 bis 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sonderforschungsbe‐
reichs 536 ʺReflexive Modernisierungʺ, von 2004 bis 2009 wissen‐
schaftlicher Mitarbeiter am Institut für sozial‐ökologische Forschung
(ISOE) in Frankfurt a. Main. 2007 Promotion an der TU Darmstadt:
ʺZur Sozialen Ökologie urbaner Räume. Afrikanische Städte im Span‐
nungsfeld von demographischer Entwicklung und Nahrungsversor‐
gung.ʺ Seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Projektträger des
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Autorinnen und Autoren
283
Deutschen Zentrum für Luft‐ Raumfahrt e.V. (PT‐DLR). Forschungs‐
schwerpunkte: Sozial‐ökologische Forschung, Soziale Dimensionen
von Klimaschutz und Klimawandel, Raumentwicklung
Christine Katz, Dr. rer. nat.
Diplombiologin mit wissenschaftlicher Tätigkeit in der Ökosystemfor‐
schung (Promotion); langjährige wissenschaftliche Politikberatung
beim Deutschen Bundestag (Technikfolgenabschätzung); seit 2003
wiss. Mitarbeiterin an der Leuphana‐Univ. Lüneburg; Gastprofessorin
im Fachbereich Umweltwissenschaften im WS 2004/2005; For‐
schungsprojekte zu Naturverständnis bei Umweltakteuren, Ge‐
schlechterverhältnisse und Nachhaltigkeit; u.a. Leiterin eines For‐
schungsverbundes des BMBF zu den Natur‐, Professionsverständnis‐
sen und der Organisationskultur im Forstbereich; Studien und Exper‐
tisen im umwelt‐/nachhaltigkeitspolitischen Bereich; Forschungs‐
schwerpunkte: Geschlechter‐ und Naturverhältnisse, interkulturelle
Naturpraktiken, Klimawandel und Bildung.
Sylvia Kruse, Dipl.-Umweltwissenschaftlerin, Dr. soc.
1997 bis 2003 Studium der Umweltwissenschaften an der Universität
Lüneburg; 2003 bis 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei inter3,
Institut für Ressourcenmanagement, Berlin. 2009 Promotion an der
Leuphana Universität Lüneburg: „Vorsorgendes Hochwassermana‐
gement im Wandel – Ein sozial‐ökologisches Raumkonzept für den
Umgang mit Hochwasser“; seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin
an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und
Landschaft (WSL), Forschungseinheit Wirtschafts‐ und Sozialwissen‐
schaften Birmensdorf (Schweiz); Forschungsschwerpunkte: Naturge‐
fahren, Klimaanpassung, Raumentwicklung, adaptive governance,
sozial‐ökologische Forschung.
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Autorinnen und Autoren
284
Patrick Masius, M.A.
2001‐2005 Studium der Geographie, Ethnologie und Philosophie an
den Universitäten Bayreuth, Sussex und Greifswald. 2007‐2010 Mit‐
glied des Graduiertenkollegs ʺInterdisziplinäre Umweltgeschichteʺ;
2010 Fertigstellung der Dissertation an der Universiät Göttingen:
ʺChance und Risiko: Naturkatastrophen im Deutschen Kaiserreich
(1871‐1914). Eine umwelthistorische Betrachtung.ʺ Seit September
2010 Mitarbeiter am Institut für Agrarökonomie und Rurale Entwick‐
lung (Göttingen). Forschungsschwerpunkte: Umweltökonomie, Um‐
weltethik, Ökosystemmanagement, Ressourcenschutz, Naturkatastro‐
phen, Umweltgeschichte.
Tanja Mölders, Dipl.-Umweltwissenschaftlerin, Dr. soc.
1994‐2000 Studium der Umweltwissenschaften an der Universität
Lüneburg. Seit 2000 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universi‐
täten Lüneburg und Hamburg. 2009 Promotion an der Leuphana Uni‐
versität Lüneburg: „Gesellschaftliche Naturverhältnisse zwischen
Krise und Vision. Das Biosphärenreservat Mittelelbe“. Seit 2008 ge‐
meinsam mit Daniela Gottschlich Leiterin der Forschungsnachwuchs‐
gruppe „PoNa – Politiken der Naturgestaltung. Ländliche Entwick‐
lung und Agro‐Gentechnik zwischen Kritik und Vision“ an der
Leuphana Universität Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Natur‐
Gesellschaft‐Beziehungen, Soziale Ökologie, Geschlechterverhältnisse
und Nachhaltigkeit, Ländliche Entwicklung.
Birgit Peuker, Dipl.-Soziologin, Dr. phil.
Studium der Diplom‐Soziologie an der Technischen Universität Dres‐
den. 2009 Promotion ʺDer Streit um die Agrar‐Gentechnikʺ gefördert
durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU). Seit 2009 Förder‐
stipendium an der Technischen Universität Dresden. Forschungs‐
schwerpunkte: Gentechnik und Landwirtschaft, Technik‐ und Um‐
weltsoziologie, Akteur‐Netzwerk‐Theorie.
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Autorinnen und Autoren
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Henrike Rau, Ph.D. in Soziologie
1995 bis 1998 Studium der Psychologie und der Soziologie an der
Friedrich‐Schiller‐Universität Jena und am University College
Galway, Ireland. 1999‐2004 M.Litt./Ph.D. in Soziologie an der National
University of Ireland, Galway: „Time Perspectives and Temporal
Practices: A Cross‐cultural, Comparative Study of Time Cultures in
Ireland and Germany“. Seit 2003 Dozentin an der School of Political
Science and Sociology, NUI, Galway. 2008‐2009 achtmonatiger For‐
schungsaufenthalt am Institut für Soziale Ökologie der Alpen‐Adria‐
Universität Klagenfurt (Standort Wien). Forschungsschwerpunkte:
Umweltsoziologische Nachhaltigkeitsforschung, räumliche Mobilität,
nachhaltige Zeitperspektiven und Zeitnutzungsmuster, Interkulturali‐
tät, kulturelle Vielfalt und Nachhaltigkeit.