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P ETER Š TIH Slowenisch, Alpenslawisch oder Slawisch zwischen Donau und Adria im Frühmittelalter Die Frage nach der von den frühmittelalterlichen Slawen im Gebiet zwischen der österreichischen Donau und der Nordadria gesprochenen Sprache ist eine doppelte. Einerseits geht es darum, wie die moderne Wissenschaft diese Frage sieht, wobei in erster Linie auf die Sprachwissenschaft hinzuwei- sen ist, aber auch darum, wie die Frage der zeitlich weit zurückliegenden Sprachpraxis und Sprachi- dentität in heutigen Geschichtsvorstellungen wahrgenommen wird, die auf kollektiver Ebene oft nati- onal determiniert und (schon allein deshalb) auch ziemlich vereinfacht sind. Andererseits drängt sich die für den Historiker noch wichtigere Frage auf, welche Vorstellungen, Wahrnehmungen und Deu- tungen die damaligen Menschen von der von ihnen und ihren Nachbarn oder auch von etwas weiter entfernten Gemeinschaften gesprochenen Sprache hatten. Daran knüpft auch die Frage nach dem Ver- hältnis zwischen Sprache und ethnischer Identität an. Die schon sehr alte Auffassung, die zum Bei- spiel in der biblischen Geschichte vom Turmbau zu Babel, 1 bei Isidor von Sevilla 2 oder im Altkirchen- slawischen 3 zum Ausdruck kommt, dass sprachliche Gemeinschaften identisch mit ethnischen seien und dass jedem Volk eine eigene Sprache zugehöre, hat jedenfalls auch die Welt der modernen Natio- nen entscheidend mitgeprägt und sie in hohem Maße überhaupt formiert. FUNDAMENTE DER MODERNEN PERZEPTION ALTER SPRACHPRAXEN Zu jenen europäischen Nationen, bei denen der Zusammenhang zwischen Sprache und Nationaliden- tität noch besonders ausgeprägt ist, gehören auch die Slowenen. Der Begriff Slowenen, Slovenci, des- sen heutiger nationaler Inhalt im 19. Jahrhundert geprägt worden ist, 4 stand zur Zeit seines Aufkom- mens im 16. Jahrhundert für die Sprachgemeinschaft jener Menschen, die zwar in verschiedenen Län- dern lebten, sich auch in ihren Sitten und Gebräuchen voneinander unterschieden und auch unter- schiedliche Dialekte sprachen, aber einander trotzdem verstehen und Bücher lesen konnten, die von den protestantischen Autoren mit Primus Truber an der Spitze für sie in die slowenische Sprache (slo- venski jezik) – noch ein neuer Begriff in jener Zeit – übersetzt und in dieser Sprache gedruckt wur- den. 5 Nach deutschem Vorbild eines ,Kulturvolkes‘ und unter dem Eindruck der Herderschen Auffas- 1 Zum enormen Einfluss der Bibelgeschichten von der Sintflut und dem Turmbau zu Babel (Gen 6–11) auf die Vorstel- lungen des mittelalterlichen Menschen über den Ursprung von Sprachen und Völkern siehe das monumentale Werk von Arno Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, 1–4 (München 2 1995). 2 Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive Originum libri XX, IX 1, 2 (ed. Wallis Martin Lindsay, Oxford 1911). 3 Im Altkirchenslawischen konnte das Wort językъ (deutsch: Zunge, Sprache) die Sprache bedeuten, es hatte jedoch auch die Bedeutung des griechischen ethnos und des lateinischen gens. Diese zweite Bedeutung ist erstmals bereits in den Griffelglossen in clm 14009 um 870 belegt: Erwin Herrmann, Slawisch-germanische Beziehungen im südostdeutschen Raum von der Spätantike bis zum Ungarnsturm. Ein Quellenbuch mit Erläuterungen (Veröffentlichungen des Collegi- um Carolinum 17, München 1965) 143–145. Vgl. František Graus, Die Nationenbildung der Westslawen im Mittelalter (Nationes 3, Sigmaringen 1980) 21; Radoslav Katičić, Die Ethnogenesen in der Avaria, in: Typen der Ethnogenese unter besonderer Berücksichtigung der Bayern 1, ed. Herwig Wolfram/Walter Pohl (Veröffentlichungen der Kommis- sion für Frühmittelalterforschung 12, ÖAW, phil.-hist. Kl., Denkschriften 201, Wien 1990) 125–128, hier 127. 4 Siehe Joachim Hösler, Von Krain zu Slowenien. Die Anfänge der nationalen Differenzierungsprozesse in Krain und der Untersteiermark von der Aufklärung bis zur Revolution 1768 bis 1848 (Südosteuropäische Arbeiten 126, München 2006). 5 Zum Inhalt des Ausdrucks Slovenci (Slowenen) und des Adjektivs slovenski ( jezik) (slowenische [Sprache]) im 16. Jahrhundert vgl. Jakob Müller, Raba imena Slovenci v 16. stoletju, in: Škrabčeva misel 4 (2002) 21–41; ders., Temelji
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Štih - Slowenisch, Alpenslawisch oder Slawisch zwischen Donau und Adria im Frühmittelalter

Jan 21, 2023

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Tanja Spanic
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P e t e r Š t i h

Slowenisch, Alpenslawisch oder Slawisch zwischen Donau und Adria im Frühmittelalter

Die Frage nach der von den frühmittelalterlichen Slawen im Gebiet zwischen der österreichischen Donau und der Nordadria gesprochenen Sprache ist eine doppelte. Einerseits geht es darum, wie die moderne Wissenschaft diese Frage sieht, wobei in erster Linie auf die Sprachwissenschaft hinzuwei-sen ist, aber auch darum, wie die Frage der zeitlich weit zurückliegenden Sprachpraxis und Sprachi-dentität in heutigen Geschichtsvorstellungen wahrgenommen wird, die auf kollektiver Ebene oft nati-onal determiniert und (schon allein deshalb) auch ziemlich vereinfacht sind. Andererseits drängt sich die für den Historiker noch wichtigere Frage auf, welche Vorstellungen, Wahrnehmungen und Deu-tungen die damaligen Menschen von der von ihnen und ihren Nachbarn oder auch von etwas weiter entfernten Gemeinschaften gesprochenen Sprache hatten. Daran knüpft auch die Frage nach dem Ver-hältnis zwischen Sprache und ethnischer Identität an. Die schon sehr alte Auffassung, die zum Bei-spiel in der biblischen Geschichte vom Turmbau zu Babel,1 bei Isidor von Sevilla2 oder im Altkirchen-slawischen3 zum Ausdruck kommt, dass sprachliche Gemeinschaften identisch mit ethnischen seien und dass jedem Volk eine eigene Sprache zugehöre, hat jedenfalls auch die Welt der modernen Natio-nen entscheidend mitgeprägt und sie in hohem Maße überhaupt formiert.

FuNDAMENTE DEr MoDErNEN PErzEPTIoN ALTEr SPrAcHPrAxEN

zu jenen europäischen Nationen, bei denen der zusammenhang zwischen Sprache und Nationaliden-tität noch besonders ausgeprägt ist, gehören auch die Slowenen. Der Begriff Slowenen, Slovenci, des-sen heutiger nationaler Inhalt im 19. Jahrhundert geprägt worden ist,4 stand zur zeit seines Aufkom-mens im 16. Jahrhundert für die Sprachgemeinschaft jener Menschen, die zwar in verschiedenen Län-dern lebten, sich auch in ihren Sitten und Gebräuchen voneinander unterschieden und auch unter-schiedliche Dialekte sprachen, aber einander trotzdem verstehen und Bücher lesen konnten, die von den protestantischen Autoren mit Primus Truber an der Spitze für sie in die slowenische Sprache (slo-venski jezik) – noch ein neuer Begriff in jener zeit – übersetzt und in dieser Sprache gedruckt wur-den.5 Nach deutschem Vorbild eines ,Kulturvolkes‘ und unter dem Eindruck der Herderschen Auffas-

1 Zum enormen Einfluss der Bibelgeschichten von der Sintflut und dem Turmbau zu Babel (Gen 6–11) auf die Vorstel-lungen des mittelalterlichen Menschen über den ursprung von Sprachen und Völkern siehe das monumentale Werk von Arno Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, 1–4 (München 21995).

2 Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri xx, Ix 1, 2 (ed. Wallis Martin Lindsay, oxford 1911). 3 Im Altkirchenslawischen konnte das Wort językъ (deutsch: zunge, Sprache) die Sprache bedeuten, es hatte jedoch auch

die Bedeutung des griechischen ethnos und des lateinischen gens. Diese zweite Bedeutung ist erstmals bereits in den Griffelglossen in clm 14009 um 870 belegt: Erwin Herrmann, Slawisch-germanische Beziehungen im südostdeutschen raum von der Spätantike bis zum ungarnsturm. Ein Quellenbuch mit Erläuterungen (Veröffentlichungen des collegi-um carolinum 17, München 1965) 143–145. Vgl. František Graus, Die Nationenbildung der Westslawen im Mittelalter (Nationes 3, Sigmaringen 1980) 21; Radoslav Katičić, Die Ethnogenesen in der Avaria, in: Typen der Ethnogenese unter besonderer Berücksichtigung der Bayern 1, ed. Herwig Wolfram/Walter Pohl (Veröffentlichungen der Kommis-sion für Frühmittelalterforschung 12, ÖAW, phil.-hist. Kl., Denkschriften 201, Wien 1990) 125–128, hier 127.

4 Siehe Joachim Hösler, Von Krain zu Slowenien. Die Anfänge der nationalen Differenzierungsprozesse in Krain und der untersteiermark von der Aufklärung bis zur revolution 1768 bis 1848 (Südosteuropäische Arbeiten 126, München 2006).

5 zum Inhalt des Ausdrucks Slovenci (Slowenen) und des Adjektivs slovenski ( jezik) (slowenische [Sprache]) im 16. Jahrhundert vgl. Jakob Müller, Raba imena Slovenci v 16. stoletju, in: Škrabčeva misel 4 (2002) 21–41; ders., Temelji

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sung des Volkes, durch welche die nationalen Bewegungen bei den Slawen sehr stark beeinflusst6 und die Vorstellung von der Sprache als lebendigem zeugen einer fernen Volksvergangenheit und der mächtigsten einigenden und gestaltenden Kraft des Volkes in den Vordergrund gerückt wurden, avan-cierte die Sprache zum wichtigsten Identitätsanker der sich national herausbildenden Slowenen und zugleich zu ihrem wichtigsten Identifikationscode. Slowene ist derjenige, der slowenisch spricht. Und umgekehrt: Wer die slowenische Sprache spricht, ist ein Slowene.

Die Herdersche Idee von der Sprache als Grundlage der Volkskultur und als Spiegel der Volksge-schichte hatte im zusammenhang mit der damals aufkommenden philologisch-komparativen Metho-de, nach der die Slowenen schon vor dem Ende des 18. Jahrhunderts in der damaligen Welt der Wis-senschaft als slawisches Volk galten,7 noch eine weitere sehr wichtige Folge: Die ,Sprachgeschichte‘ wurde als ,Volksgeschichte‘ aufgefasst, die Sprachkontinuität zugleich als Volkskontinuität betrachtet, und aufgrund der Sprachkontinuität, die einen zusammenhang zwischen der Sprache der Alpensla-wen und der Sprache der modernen Slowenen herstellte, konnte Anton Linhart († 1795) die National-geschichte der Slowenen in das Frühmittel-alter zurück verlängern und ihre Anfänge mit der slawi-schen Niederlassung in den Tälern der Ostalpenflüsse und dem slawischen Karantanien verbinden.8 Damit erhielten die Slowenen ihre gemeinsame und ununterbrochene Volksgeschichte, die in eine zeit zurückreichte, die von anderen Völkern als Wiege ihrer eigenen Geschichte betrachtet wurde, was ihnen – nicht weniger wichtig – die geschichtliche Legitimation ihrer Nationwerdung und ihrer nationalen Existenz lieferte. Eine Folge dieser neuen nationalen Geschichtsauffassung, die wegen ihrer legitimierenden Bedeutung für die Nationalideologie in slowenischen Vergangenheitsperzeptio-nen nach wie vor dominiert, war eine rückwirkende Nationalisierung der Geschichte, die keine slowe-nische Besonderheit, sondern eine allgemeine Erscheinung der mythisierten Geschichte darstellt.

Aber der Blick durch die nationale Brille projizierte nicht nur die Volksgeschichte in die Vergan-genheit, sondern auch die Sprache, die so wie die Geschichte nationalisiert wurde.9 So soll es bereits im Frühmittelalter oder noch früher jene Dialekte und Sprachen gegeben haben, die im 19. Jahrhun-dert eine nationsbildende rolle innehatten.10 und so wie der Geschichte durch die rückwirkende Nati-onalisierung ein nationales Korsett übergezogen wurde, um sie nach den Vorstellungen der Nationali-deologien umzugestalten, wurde durch die Projektion von mehr oder weniger arbiträr standardisierten und homogenisierten Schriftsprachen in die Vergangenheit eine uniformierte und äußerst vereinfach-te Behandlung der Vielzahl von Idiomen verursacht, die tatsächlich gesprochen wurden und bei denen es schwer fällt, mit philologischen Methoden und Werkzeugen zwischen Sprachen und Dialekten zu unterscheiden und (als Konsequenz) auch Sprach- und Dialektgrenzen zu ermitteln und sie damit in der heute gängigen Weise zu klassifizieren. Vor der Einführung der allgemeinen Schulpflicht im 18. Jahrhundert kann es eine mehr oder weniger einheitliche gesprochene ,Nationalsprache‘, die eben etwas anderes als die Schriftsprache ist, einfach nicht gegeben haben.11

Aufgrund dieses kurz skizzierten ideellen und gedanklichen Hintergrundes des europäischen Nati-onalismus, der von der slowenischen intellektuellen Elite in der Donaumonarchie sehr schnell wahr-

slovenskega knjižnega jezika v 16. stoletju, in: Slavistična revija 56–57 (Trubarjeva številka) (2008–2009) 165–187, hier 166–171; Gorazd Makarovič, Ko še nismo bili Slovenci in Slovenke. Novoveške etnične identitete pred slovensko narodno zavestjo (Ljubljana 2008) 48–64.

6 Holm Sundhaußen, Der Einfluß der Herderschen Ideen auf die Nationsbildung bei den Völkern der Habsburger Mon-archie (Buchreihe der Südostdeutschen Historischen Kommission 27, München 1973); Peter Drews, Herder und die Slaven. Materialien zur Wirkungsgeschichte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (Slavistische Beiträge 267, München 1990).

7 Siehe Bartholomäus Kopitar, Grammatik der Slavischen Sprache in Krain, Kärnten und Steiermark 6 (Laibach 1808) (in der Einleitung, mit Berufung auf August Ludwig Schlözer, Vorstellung seiner universalhistorie [Göttingen 1771]).

8 Anton Linhart, Versuch einer Geschichte von Krain und den übrigen Ländern der südlichen Slaven Österreichs, 1–2 (Laibach 1788–1791); siehe dazu Peter Štih, Linhart kot zgodovinar, in: Anton Tomaž Linhart. Jubilejna monogra-fija ob 250-letnici rojstva, ed. Ivo Svetina (Ljubljana/Radovljica 2005) 291–310; Hösler, Von Krain zu Slowenien 98–102.

9 Peter Burke, Wörter machen Leute. Gesellschaft und Sprachen im Europa der frühen Neuzeit (Berlin 2006) 185. 10 Miroslav Hroch, Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich (Synthesen. Prob-

leme europäischer Geschichte 2, Göttingen 2005) 60. 11 Ausführlicher dazu Eric J. Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, reality (cambridge

21992) 52–54.

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genommen und auf die eigenen Verhältnisse angewandt wurde, konnten die Alpenslawen mühelos in Einklang mit den damals aufkommenden wissenschaftlichen Methoden als Slowenen und ihre Spra-che als Slowenisch aufgefasst werden. In der außerhalb jedes zweifels aufgebauten wissenschaftli-chen Überzeugung, die bereits im Frühmittelalter in den Slowenen eine klar eingegrenzte, sich von den anderen unterscheidende geschichtliche, ethnische, sprachliche und kulturelle Gemeinschaft mit unbestreitbarer Kontinuität sah, erschien es wissenschaftlich völlig opportun, dieselben Begriffe unterschiedlich aufzufassen und zu übersetzen. Wo aus dem zusammenhang hervorging, dass sich die Begriffe Sclavi oder lingua Sclavanisca auf den ostalpenraum bezogen, wurden die Begriffe als Slowenen und slowenische Sprache übersetzt, anderswo als Slawen und slawische Sprache.

Am konsequentesten ist dieser Ansatz in der Quellensammlung zur Geschichte der ,Slowenen‘ im Mittel-alter angewandt worden,12 die zu den klassischen und fundamentalen Werken der slowenischen Geschichts-schreibung gehört und deren Einfluss auf das Verständnis der slowenischen mittelalterli-chen Geschichte dementsprechend war. Im Wunsch, die Vorstellung von der Nationalgeschichte auf verlässliche und überprüfbare Quellen zu stützen und sie dadurch endgültig wissenschaftlich zu legi-timieren, hatte diese Quellensammlung für die Slowenen eine ähnliche Bedeutung wie die Monumen-ta Germaniae Historica für die Deutschen.13 Sie hat die Möglichkeit geschaffen, die Geschichte „mit slowenischen Augen” zu betrachten und in der Folge dazu eine „slowenische Antwort“ zu erhalten.14 Für die Veröffentlichung wurde sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Franc Kos vorbereitet, der übrigens in Wien bei Theodor Sickel und ottokar Lorenz Geschichte und bei Franz Miklosich Slawis-tik studiert hatte. In den parallelen Übersetzungen von Kos wurden zum Beispiel von Paulus Diaco-nus erwähnte Sclavi, die Ende des 6. und zu Beginn des 7. Jahrhunderts im Drautal mit den Bayern kämpften, zu Slowenen, während die Sclavi desselben Verfassers im selben Werk, die um 642 von der ostadriaküste über die Adria nach Benevent in Italien gekommen waren, Slawen geblieben sind.15 So wurden zum Beispiel auch die Sclavi, bis zu deren Grenze der bayrische Herzog Tassilo III. im Jahre 769 dem neugegründeten Kloster Innichen Besitztungen schenkte, als Slowenen übersetzt, die in der Gründungsurkunde desselben Herzogs für das Kloster Kremsmünster aus dem Jahre 777 erwähnten Sclavi jedoch als Slawen.16 In derselben Art und Weise wurde die lingua Sclavanisca in einer Schen-kungsurkunde ottos I., mit der der Kaiser der Kirche von Salzburg 970 umfangreiche Besitztümer in der umgebung von Leibnitz in der Steiermark überließ, als slowenische Sprache verstanden, die Scla-vinica lingua, in der Methodius von Papst Johannes VIII. im Jahre 880 der slawische Gottesdienst genehmigt wurde, hingegen als slawische Sprache übersetzt.17

Es darf deshalb nicht verwundern, dass sich in der slowenischen geschichtlichen Erinnerung und teilweise auch in der Geschichtsschreibung die Vorstellung festgesetzt hat, Karantanien sei ein Staat der Slowenen, die Fürsten von Karantanien seien Fürsten der Slowenen gewesen und die Herzogsein-setzungszeremonie Ausdruck der slowenischen und nicht der karantanischen Staatlichkeit. Dement-sprechend wurde auch der in den ostalpen von den Slawen besiedelte raum, der im Norden bis zur Donau und noch darüber hinaus reichte, als Siedlungsgebiet der Slowenen aufgefasst und die von ihnen gesprochene Sprache natürlich als Slowenisch.

12 Gradivo za zgodovino Slovencev v srednjem veku, 1–5, ed. Franc Kos [5 gemeinsam mit Milko Kos] (Ljubljana 1902–1928).

13 zu den MGH siehe Patrick J. Geary, Europäische Völker im frühen Mittelalter. zur Legende vom Werden der Nationen (Frankfurt am Main 2002) 36–39.

14 So wurde die Bedeutung der Quellensammlung von Kos durch Ljudmil Hauptmann, rez.: Milko Kos, zgodovina Slo-vencev od naselitve do reformacije (Ljubljana 1933), in: Jugoslovenski istoriski časopis 1 (1935) 506, bezeichnet.

15 Gradivo 1, nn. 112, 116, 147, 170, ed. Kos 144f., 148, 189, 213f.; Paulus Diaconus, Historia Langobardorum IV 7, 10, 39, 44 (ed. Ludwig Bethmann/Georg Waitz, MGH SS rer. Langob., Hannover 1878,) 12–187, hier 118, 120, 134f.

16 Gradivo 1, nn. 239, 256, ed. Kos 274f., 289–291; Die Traditionen des Hochstifts Freising 1, ed. Theodor Bitterauf 34 (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte NF 4, München 1905) 61f.; Gründungs- und Dotationsurkunde Tassilos III. für das Kloster Kremsmünster, ed. Herwig Wolfram, in: Salzburg, Bayern, Österreich. Die conversio Bagoariorum et carantanorum und die Quellen ihrer zeit (MIÖG, Erg. Bd. 31, Wien/München 1995) 373–378.

17 Gradivo 2, nn. 260, 436, ed. Kos 195–197, 332f.; Iohannis VIII. papae registrum 255 (ed. Erich caspar, MGH EE 7, Epistolae Karolini aevi 5, Berlin 1928) 1–272, hier 222–224; D. o. I. 389, ed. Sickel 530f.

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MoDErNE SPrAcHWISSENScHAFT zur SPrAcHE DEr SLAWEN zWIScHEN DoNAu uND ADrIA

Wenn man nun orts- und Personennamen beiseite lässt, gelten als bedeutendstes und zugleich ältestes zeugnis dieser Sprache die berühmten Freisinger Denkmäler (slowenisch Brižinski spomeniki). Bekanntlich handelt es sich um drei Texte, die um das Jahr 1000 in karolingischer Minuskel in einen Codex eingetragen wurden, der sozusagen ein bischöfliches Vademecum war und den – zumindest im Grundstock – der Frei-singer Bischof Abraham († 994) für sein persönliches kirchliches Wirken zusammenstellen ließ.18 Abraham war mit dem im ostalpenraum, in erster Linie in Kärtnen, von den Slawen besiedelten Gebiet eng verbunden; er hat für sein Bistum im Jahre 973 in Krain auch umfang-reichen Grundbesitz gewonnen (die spätere Grundherrschaft Bischoflack/Škofja Loka).19 Die Freisin-ger Denkmäler sind die ältesten überlieferten slawischen Texte in lateinischer Schrift.20 Sie werden heute in der Bayerischen Staatsbibliothek in München aufbewahrt (clm 6426), wohin sie nach der Säkularisierung von 1803 aus Freising gekommen sind. Sie waren zur liturgischen Verwendung gedacht. Es handelt sich wahrscheinlich teilweise um Abschriften und teilweise um Diktatnieder-schriften, während die ursprünglichen Texte wohl bereits aus dem 9. Jahrhundert stammten. Ihre Ent-stehung wird mit der Tradition der karolingischen Missionspolitik in Verbindung gebracht, welche die Sprache des neugewonnenen Gottesvolks berücksichtigte.21

In fast genau zweihundert Jahren, seit sie 1806 der wissenschaftlichen Welt erstmals bekannt geworden sind, ist über die Freisinger Denkmäler eine fast unübersichtliche Bibliographie entstanden, in der Forscher zu stark voneinander abweichenden Schlüssen gekommen sind.22 Ihr ursprung wurde im kärntnerischen, pannonischen, mährischen, slowakischen und im slowenisch-kroatischen raum des Patriarchats von Aquileia gesucht, sie wurden mit der Missionstätigkeit von Salzburg, Freising, Aquileia, mit den kroatischen Glagoliten und dem Wirken von Konstantin und Method in Pannonien und Mähren in zusammenhang gebracht.23 Dementsprechend versuchte man, die Sprache der Freisin-ger Denkmäler zumindest mittelbar mit der einen oder anderen der heutigen slawischen Sprachen dieses raumes in Verbindung zu bringen, wobei man sich des Gefühls kaum erwehren kann, dass viele Deutungen in diesen Forschungsarbeiten als Folge der Nationalzugehörigkeit oder der nationa-listischen Motivation einzelner Forscher zu interpretieren sind. Trotzdem sollte die Tatsache, dass die Freisinger Denkmäler der sogenannten altslowenischen, altslowakischen, altböhmischen, altkroati-schen und altbulgarischen (bzw. der altkirchenslawischen) Sprache zugeordnet worden sind, doch nahelegen, dass es sich bei diesen Texten um einen Sprachzustand handelt, der eine reihe von unter-schiedlichen sprachlichen zuordnungen zulässt.24

18 Natalia Daniel, Handschriften des zehnten Jahrhunderts aus der Freisinger Dombibliothek. Studien über Schriftcha-rakter und Herkunft der nachkarolingischen und ottonischen Handschriften einer bayerischen Bibliothek (Münchener Beiträge zur Mediävistik und renaissance-Forschung 11, München 1973) 114–139; Dieter Kurdorfer, zgodovinski in literarni pomen rokopisa z ,Brižinskimi spomeniki‘, in: Zgodovinski časopis 59 (2005) 7–21, hier 14–20.

19 Milko Kos, Paleografske in historične študije k freisinškim spomenikom, in: ders., Srednjeveška kulturna, družbena in politična zgodovina Slovencev. Izbrane razprave (Ljubljana 1985) 53–87, hier 79–87; Sergij Vilfan, Zur Struktur der freisingischen Herrschaften südlich der Tauern im Frühmittelalter, in: Karantanien und der Alpen-Adria-raum im Frühmittelalter, ed. Günther Hödl/Johannes Grabmayer (2. St. Veiter Historikergespräche, Wien/Köln/Weimar 1993) 209–222; Peter Štih, Diplomatične in paleografske opombe k listinama Otona II. o podelitvi loškega ozemlja škofiji v Freisingu (DO II 47 in DO II 66), in: Zgodovinski časopis 51 (1997) 301–321; Kurdorfer, Zgodovinski in literarni pomen 14f.

20 Außer vier kurzen Glossen, die um 870 mit einem Griffel in clm 14008 blind eingetragen wurden. Siehe Anm. 3. 21 Beste Ausgabe: Brižinski spomeniki/Monumenta Frisingensia. Znanstvenokritična izdaja (ed. Darko Dolinar/Jože

Faganel 3. dopolnjena izdaja, Ljubljana 2004). 22 Die gesamte Bibliographie bis 2004 in: Brižinski spomeniki/Monumenta Frisingensia 162–191. 23 Übersicht der Forschungsgeschichte zu den Freisinger Denkmälern: Jože Pogačnik, Das Schicksal der Freisinger

Denk mäler in der Slawistik, in: Freisinger Denkmäler/Brižinski spomeniki/Monumenta Frisingensia. Literatur – Geschichte – Sprache – Stilart – Texte – Bibliographie, ed. Jože Pogačnik (Geschichte, Kultur und Geisteswelt der Slo-wenen 2, München 1968) 3–17; Igor Grdina, Oris raziskav, in: Brižinski spomeniki/Monumenta Frisingensia. Znanstvenokritična izdaja (ed. Darko Dolinar/Jože Faganel 3. dopolnjena izdaja, Ljubljana 2004) 154–161.

24 otto Kronsteiner, zur Slowenizität der Freisinger Denkmäler und der alpenslawischen orts- und Personennamen, in: Die Slawischen Sprachen 21 (1990) 105–114, hier 107.

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Der Forschungsstand zu den Freisinger Denkmälern lässt heute noch zahlreiche Fragen offen, es gibt auch stark divergierende Ansichten. Trotz dieses wenig zufriedenstellenden Sachverhalts spre-chen jedoch die meisten Argumente – und zwar philologische wie geschichtliche – für eine Verbin-dung der Freisinger Denkmäler mit dem kärntnerischen raum und damit mit der christianisierung der Karantanen beziehungsweise mit der kirchlichen Praxis bei den Karantanen und mit der damals von ihnen gesprochenen Sprache. Ausgehend von der jeder Sprache eigenen sprachlichen Kontinuität erscheint die zuordnung der Freisinger Denkmäler zur slowenischen Sprachtradition und der Ent-wicklungslinie der slowenischen Sprache berechtigt; letzteres hat als Erster kein geringerer als Josef Dobrovský festgestellt, der 1812 den für den Anfang der wissenschaftlichen Slawistik kaum weniger bedeutenden Bartholomäus Kopitar über die Auffindung der Denkmäler informierte und ihm die Erstveröffentlichung anbot, denn „Es geziemet sich besser, dass sich geborene Krainer mit der Bekanntmachung des ältesten Fragments ihrer Literatur sich befassen, als dass ich Böhme es thäte.“25

Aber das heißt noch nicht, dass die Sprache der Freisinger Denkmäler die slowenische Sprache ist und dass die Karantanen slowenisch gesprochen haben. Der führende slowenische Sprachwissen-schaftler des 20. Jahrhunderts, Fran ramovš, Verfasser der bisher einzigen Geschichte der sloweni-schen Sprache, fasste seine untersuchungen der Freisinger Denkmäler zur Feststellung zusammen, dass ihre Sprache neben aus dem urslawischen stammenden Formen auch schon einige für die slowe-nische Sprache typische Sprachneuheiten aufweise.26 Konkret betrachtete er die Sprache der Alpen-slawen, für die er den Ausdruck Alpenslawisch prägte, „noch immer als urslawischen Dialekt, der sich nicht besonders stark von der damaligen rede der Slawen an der Donau, hinter den Karpaten und in ostgermanien“ unterschied, allerdings sei auch er in sich nicht konsistent, wie es keine Sprache je irgendwo ist. Die einzige mehr oder weniger einheitliche gemeinsame Ausgangsform für den heuti-gen slowenischen Dialekt sei dieser urslawische Dialekt; zwischen ihm und der Ausgangsform gebe es keine jüngere gemeinsame Form, kein ,urslowenisch‘.27 Dabei stellte ramovš auch fest, dass kein wesentlicher sprachlicher unterschied zwischen dem Alpenslawischen und dem Slawischen auf dem Westbalkan spürbar sei, dass beide Bereiche dieselben charakteristischen sprachlichen züge aufwie-sen und dass es sich um ein und denselben urslawischen Dialekt handle, der von den Alpen über den Karst tief auf die Balkanhalbinsel hinunter reichte. Kurz und gut, die „slawische Sprache in den Alpen, auf dem Karst und auf dem Balkan [war] ein einziger organismus, nicht nur zur zeit der Landnahme durch die Slawen in dieser neuen südlichen Heimat, sondern auch noch etliche Jahrhun-derte später.“28 Ebenfalls nicht festzustellen war seines Erachtens der unterschied zwischen diesem Dialekt und jenen urslawischen Dialekten, aus denen sich später die bulgarische, russische und west-slawische Sprache entwickelt haben.29

Die Sprache der Freisinger Denkmäler und damit die von den karantanischen und anderen Slawen des ostalpenraumes gesprochene Sprache war folglich nach kompetenter sprachwissenschaftlicher Meinung im Grunde noch eine allgemeinslawische Sprache, die allerdings einige dialektale Beson-derheiten phonetischer, morphologischer und lexikalischer Natur aufwies. Die über siebzig Jahre zurückliegende Feststellung von ramovš entspricht den Feststellungen der neueren slawischen Sprachwissenschaft, vorzüglich zusammengefasst von Hanna Popowska-Taborska, laut der die slawi-sche Sprache überraschend lange eine einheitliche Erscheinung beibehalten habe. Diese Einheitlich-keit habe sich sowohl auf morphologischem als auch auf phonetischem Gebiet bemerkbar gemacht, wo erst in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends in der zeit der slawischen Dispersion lautliche Innovationen einsetzten, während es lexikalische unterschiede schon davor gegeben habe; dieser frü-

25 Pis‘ma Dobrovskago i Kopitara v‘ povremennom porjadkě 51 (ed. Vatroslav Jagić, Istočnik dlja istorii slavjanskoj filo-logii 1, St. Petersburg 1885) 300; Jože Toporišič, Prva slovenska izdaja Brižinskih spomenikov (Ob korespondenci Kopitar–Dobrovski–Köppen), in: Obdobje srednjega veka v slovenskem jeziku, književnosti in literaturi (Obdobja 10, Ljubljana 1989) 11–34, hier 11, 15.

26 Fran Ramovš/Milko Kos, Brižinski spomeniki. Uvod, paleografski in fonetični prepis, prevod v knjižno slovenščino, faksimile pergamentov (Ljubljana 1937) 11f.

27 Fran ramovš, Kratka zgodovina slovenskega jezika 1 (Ljubljana 21995) 22. 28 ramovš, Kratka zgodovina 69. 29 ramovš, Kratka zgodovina 58, 69.

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he lexikalische Dialektalismus sei wohl durch Kontakte des urslawischen mit verschiedenen indoeu-ropäischen Sprachen zu erklären.30

Ähnlich konnte auch otto Kronsteiner nach einer eingehenden Analyse der alpenslawischen Per-sonennamen feststellen, dass im Slawischen des ostalpenraumes bis zum 11. Jahrhundert kaum Ele-mente zu erkennen sind, die als slowenisch bezeichnet werden können. zugleich stellt er fest, der ost-alpenraum sei in jener zeit sprachlich heterogen gewesen in dem Sinne, dass darin in der Sprachwis-senschaft als westslawisch und als südslawisch definierte Elemente aufeinandertrafen und ohne klare Abgrenzungen ineinanderflossen. Ferner stellt er in der Sprache dieses Raumes anderswo unbekannte phonetische, morphologische und namentypologische Merkmale fest. Nur in dieser Hinsicht erkannte er den ostalpenraum als eigenständigen, also einen alpenslawischen Sprachraum.31

Auch Georg Holzer weist darauf hin, dass die Grenzen der in den ostalpen im Frühmittelalter gesprochenen Sprache aus sprachwissenschaftlicher Sicht nicht feststellbar sind, dass gegenüber den im böhmisch-mährisch-slowakischen oder im pannonisch-kroatischen raum gesprochenen slawi-schen Sprachen bzw. Dialekten keine Grenzziehung möglich sei. Die einzige Möglichkeit dazu sieht er nur auf soziolinguistischer Ebene, und zwar in dem Sinne, dass die slawische Sprache innerhalb des bairischen Ostlandes als besondere politische Einheit unter dem Einfluss des Bairischen und der bairisch-fränkischen rechts- und Wirtschaftsordnung einige Besonderheiten im Bereich der Lexik und Semantik angenommen habe. Die Einführung der bairischen Grundherrschaften soll einen Kul-turraum geschaffen haben, „der sich von Nieder-österreich bis Istrien spannt, der slavischen Sprache in ihm seinen eigenen, charakteristischen Stempel aufgedrückt und sich in einer wortsemantischen Isoglosse niedergeschlagen hat“.32 Nur auf dieser Ebene kann laut Holzer angenommen werden, dass die Slawen zwischen dem Waldviertel und dem Hinterland der istrischen Städte dieselbe Sprache bzw. Dialekte derselben Sprache gesprochen haben. – Dieses ,Slawische des bairischen ostlandes‘, könne angesichts der Tatsache, dass die moderne slowenische Sprache ihr einziger und letzter Über-rest ist, auch als Altslowenisch bezeichnet werden kann.33 obwohl der Ansatz sehr interessant ist, gilt es hier doch anzumerken, dass Holzers methodologischer Ausgangspunkt der Gleichsetzung der poli-tischen Grenzen mit den sprachlichen sehr fragwürdig ist. Diese Grenzen sind nämlich in der regel nicht einmal heute, in der zeit von Nationalstaaten, identisch, umso weniger ist das für das Frühmit-telalter wahrscheinlich. Es trifft auch nicht zu, dass das moderne Slowenische der einzige und letzte Überrest des innerhalb des bairischen ostlandes gesprochenen Slawischen ist. Darin einbezogen war nämlich auch Slawonien und sogar das kroatische Gebiet südlich der Save,34 sodass auch das moderne Kroatische zumindest teilweise unmittelbar an das Slawische des bayrischen ostlandes anknüpft. Außerdem reichen einige wenige lexikalische und semantische Besonderheiten, die sich nicht zuletzt auch in Phonetik und Morphologie bemerkbar machen, wohl nicht aus, um dieses Slawische schon als besondere (selbstständige) Sprache zu definieren. Zudem ist diese ,Sprache‘ nicht in sich selbst begründet, sondern im Hinblick auf das Bairische.

Hier ist noch die Auffassung von France Bezlaj zu erwähnen, der sich als Etymologe in erster Linie auf die Lexik und onomastik konzentrierte, also jene beiden Bereiche, aus denen auch Kronst-einer und Holzer ihre Schlussfolgerungen ableiten. Aufgrund von lexikalischen unterschieden zwi-schen einzelnen slawischen Sprachen folgert Bezlaj, dass es bereits in der urheimat zu einer gewissen

30 Hanna Popowska-Taborska, Zgodnja zgodovina Slovanov v luči njihovega jezika (Ljubljana 2005) 88, 102f., 105f., 119, 136, 158; dies., The Slavs in the early middle ages from the viewpoint of the contemporary linguistics, in: origins of Central Europe, ed. Przemysław Urbańczyk (Warsaw 1997) 91–96. Siehe auch Georg Holzer, Die Einheitlichkeit des Slavischen um 600 n. chr. und ihr zerfall, in: Wiener Slavistisches Jahrbuch 41 (1995) 55–89. Holzer (S. 57) unter-scheidet zwischen dem urslavischen und dem Gemeinslavischen; die Einheitlichkeit des ersteren habe sich um 600 aufgelöst, die Einheitlichkeit des letzteren erst um 1200.

31 otto Kronsteiner, Die alpenslawischen Personennamen (Österreichische Namensforschung, Sonderreihe 2, Wien 1975) 191f.; ders., zur Slowenizität der Freisinger Denkmäler 106.

32 Georg Holzer, Zur Sprache des mittelalterlichen Slaventums in Österreich. Slavisch unter bairischem Einfluss, in: Wie-ner Slavistisches Jahrbuch 48 (2002) 53–73, hier 61.

33 Georg Holzer, zur Frage der Nordgrenze des slowenischen Sprachgebiets im Mittelalter, in: Wiener Slavistisches Jahr-buch 53 (2007) 27–35, hier 32.

34 Herwig Wolfram, Grenzen und räume. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung. Österreichische Geschichte 378–907 (Wien 1995) 218–224.

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Slowenisch, Alpenslawisch oder Slawisch 161

Dialektdifferenzierung gekommen sei und dass es vom Standpunkt der Lexikologie aus fast nicht zu bezweifeln sei, dass das sogenannte Alpenslawische kein einheitlicher urslawischer Dialekt gewesen sei, sondern eine Mischung von verschiedenen Schichten, die allerdings ständig dem südslawischen Einfluss ausgesetzt gewesen seien.35 Bezlaj behauptet zwar an einer anderen Stelle, die Geburtsstunde der slowenischen Sprache sei in der zeit der slawischen Landnahme in den Alpen anzusetzen, doch meint er damit nur, dass der von den Slawen mitgebrachte Ausdrucksbestand Grundstein der späteren slowenischen Sprache geblieben sei.36 obwohl diese Deduktion völlig logisch ist, folgt daraus nicht notwendigerweise auch die Schlussfolgerung von Bezlaj (die auf allgemeiner Ebene als Vorstellung vorherrscht), dass die Geschichte der slowenischen Sprache mit der Landnahme der Slawen in den ostalpen Ende des 6. Jahrhunderts beginne: Der von den Slawen in den ostalpenraum mitgebrachte Wortschatz setzt voraus – und zweifellos war dem auch so – , dass es ihn schon vor ihrer Landnahme gegeben hat. Vom Standpunkt der von den slawischen Gruppen zur zeit ihrer Niederlassung in den ostalpen gesprochenen Sprache hat sich im Vergleich zum vorherigen zustand überhaupt nichts geän-dert. Den slawischen Ausdrucksbestand, der in die ostalpen mitgebracht wurde, muss es schon frü-her gegeben haben, sonst hätte er ja nicht importiert werden können, und unter Berufung darauf hätte die Geburtsstunde der slowenischen Sprache noch viel weiter zurück in die Vergangenheit gerückt werden können, nur wäre ihre Kontinuität dann nicht auf einen einzigen, mehr oder weniger genau definierten Raum beschränkt. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass diese Betrachtungsweise sehr schnell zur absurden Situation führen würde, dass wir, so wie die Befürworter veschiedener autochthonistischer Theorien, die Anfänge der slowenischen Sprache in urgeschichtlichen zeiten zu suchen hätten. Auf diese Art und Weise können die Anfänge der slowenischen Sprache weder defi-niert noch gesucht werden.

zusammenfassend kann man feststellen, dass die Vorstellung, im Frühmittelalter sei in den ostal-pen schon eine besondere slawische Sprache gesprochen worden, ob sie nun als Slowenisch, urslowe-nisch, Altslowenisch oder als Alpenslawisch bezeichnet wird, sprachwissenschaftlich nicht zu begründen ist. Im Grunde genommen werden von solchen Ansichten einerseits moderne Sprachvor-stellungen in ältere zeitabschnitte projiziert, die vom Modell der einheitlichen und geographisch klar eingegrenzten ,Schrift-‘ oder ,Nationalsprache‘ ausgehen, die aber erst durch deren Standardisierung, mehr oder weniger seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, aufgekommen sind.37 Andererseits geht es bei diesen Anwendungen von späteren zuständen und Verhältnissen auf frühere zeitabschnitte darum, dass die ersten Anzeichen des Aufkommens von einzelnen Sprachinnovationen, die später als Teil des systematischen Ganzen eine bestimmte Sprache bzw. ihre Dialekte prägten, bereits als Anzeichen des Aufkommens einer neuen Sprache aufgefasst wurden. In diesem Sinne konnten die Freisinger Denkmäler als ältestes Denkmal der slowenischen Sprache aufgefasst werden,38 obwohl die Sprache ihrer Niederschrift mit Sicherheit noch nicht slowenisch ist.

Vom sprachwissenschaftlichen Standpunkt aus kann also im besten Fall als gesichert gelten, dass die Slawen des ostalpenraumes einen besonderen Dialekt der slawischen Sprache sprachen, obwohl auch eine solche Erklärung wohl mit dem Hinweis zu relativieren ist, dass dieser Dialekt keineswegs gegenüber anderen slawischen Dialekten abgegrenzt werden kann und dass er auch in sich selbst nicht einheitlich gewesen ist. Vielmehr unterschieden sich – wie dem Verlauf von einzelnen Isoglossen zu entnehmen ist, die den ost-alpenraum in sehr unterschiedlicher Weise zerschneiden – Sprachbeson-

35 France Bezlaj, Slovenščina v krogu slovanskih jezikov, in: ders., Zbrani jezikoslovni spisi 1, ed. Metka Furlan (Ljublja-na 2003) 305–312, hier 308.

36 France Bezlaj, Predslovanski ostanki v slovanščini, in: ders., Zbrani jezikoslovni spisi 1, ed. Metka Furlan (Ljubljana 2003) 128–147, hier 132.

37 Zur Standardisierung der südslawischen Sprachen siehe die vorzügliche Monographie von Anita Peti-Stantić, Jezik naš i/ili njihov. Vježbe iz poredbene povijesti južnoslavenskih standardizacijskih procesa (Zagreb 2008).

38 Siehe zum Beispiel Varja Cvetko Orešnik, K Isačenkovemu poskusu zavrnitve Ramovševih argumentov za slovenskost Brižinskih spomenikov, in: Zbornik Brižinski spomeniki, ed. Janko Kos/Franc Jakopin/Jože Faganel (Dela II. razreda SAzu 45, Ljubljana 1996) 193–202, hier 199: „Die Freisinger Denkmäler in ihrer überlieferten redaktion stellen slo-wenische Texte dar“; Rojstni list slovenske kulture. Razstava slovenskih srednjeveških spomenikov ob pridružitvi republike Slovenije Evropski uniji. razstavni katalog, ed. Mihael Glavan (Ljubljana 2004) 8 („Die Ausstellung … wird erstmals der Öffentlichkeit die vier ältesten originaldokumente in der slowenischen Sprache vorstellen: die Frei-singer Denkmäler ...“), 9 („Die Freisinger Denkmäler … sind die älteste Niederschrift der slowenischen Sprache ...“).

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derheiten und damit auch typische Merkmale von region zu region, um nicht zu sagen, von ort zu ort. Es geht um eine, in der Sprachwissenschaft als Dialektkontinuum bezeichnete Erscheinung, das heißt einen kontinuierlichen, weichen und nicht durch klare Grenzen festzulegenden Übergang eines Dialekts in den anderen. und das heißt wiederum, dass jeder slawische Dialekt ein Übergangsdialekt zwischen ihm benachbarten, einander aber gegenüberliegenden Dialekten gewesen ist.39

Moderne Vorstellungen, in denen sich nach wie vor der aus dem europäischen Nationalismus erwachsene ideelle und gedankliche Hintergrund bemerkbar macht, und moderne sprachwissen-schaftliche Ansichten, die ihre oft stark divergierenden Schlussfolgerungen aus Postulaten der moder-nen Wissenschaft herleiten, berühren die im Titel aufgezeigte Frage und Auffassung der Sprachver-hälnisse und der Sprachpraxis jeweils in der eigenen spezifischen Art und Weise. Für eine ganzheitli-chere Betrachtung der behandelten Proble-matik ist jedoch auch die Frage wichtig, wie die Sprachsi-tuation von den in der zeit Karantaniens oder der Freisinger Denkmäler lebenden Menschen begrif-fen wurde. Die Sprachwissenschaft allein kann die Frage nach den damals gesprochenen Sprachen nicht eindeutig beantworten, weil die Frage nicht rein philologisch, sondern auch oder sogar in erster Linie (kultur-)geschichtlich ist. Es geht dabei nämlich nicht nur um die Feststellung und Evidentie-rung sprachwissenschaftlicher Sachverhalte, um sie aufgrund eines modern konzipierten Begriffsap-parats in Kategorien wie zum Beispiel Sprachen und Dialekte einzuteilen, die übrigens erst in neuerer zeit entstanden sind oder ihren festgelegten Inhalt erhalten haben und deshalb für die mittelalterliche Weltwahrnehmung irrelevant sind.40 Will man die frühmittelalterliche Sprachsituation besser verste-hen, muss man sich die Frage stellen, welche Vorstellungen der frühmittelalterliche Mensch von der ihn umgebenden Sprachenlandschaft hatte, wie er sie wahrnahm und was das für seine Identität bedeutete. Die Frage, die uns besonders interessiert, ist also, was geschichtliche und nicht philologi-sche Quellen darüber sagen.

DIE zEITGENÖSSIScHE WAHrNEHMuNG DEr SPrAcHVErHÄLTNISSE uNTEr DEN MITTELALTErLIcHEN SLAWEN

An erster Stelle ist an die in der Literatur wiederholt zitierte Stelle aus der altkirchenslawisch geschriebenen Vita Methodii (Žitije Methodija) zu erinnern, in der von den Anfängen der byzantini-schen Gesandt-schaft bei den Mährern die rede ist. Nachdem im Jahre 862 der mährische Fürst ras-tislav Kaiser Michael III. um die Entsendung eines Bischofs und Lehrers gebeten hatte, der „uns in unserer Sprache den rechten Glauben erklären wird“,41 entsandte der byzantinische Kaiser Konstantin und Method mit der Begründung: „Denn ihr seid ja Thessaloniker, und alle Thessaloniker sprechen rein slawisch.“42 Diese Begründung setzt eine sprachliche Einheitlichkeit der Slawen voraus, eine der Hauptgrundlagen der Missionstätigkeit der beiden Brüder aus Thessalonike und ihrer geschichtlichen rolle, denn sie ermöglichte die Entstehung einer slawischen Schriftsprache. Diese Aussage in der Vita Methodii, einem bald nach dem Tod des Method 885 noch in Mähren entstandenen Text, geschrieben von einem seiner Schüler, möglicherweise von clemens von ohrid († 916),43 ist insbeson-dere deshalb wichtig, weil es sich um eine Art Selbstaussage und Eigenbezeichnung handelt, die aus dem Kreis jener Menschen stammt, die dieser Sprache angehörten, sie sprachen, im Altkirchenslawi-schen schrieben und sie deshalb bestens kannten. Es ist folglich eine hoch qualifizierte Aussage, eine Wiedergabe der Wahrnehmung der Menschen, die die zustände unter verschiedenen Slawengruppen

39 Georg Holzer, zum gemeinslavischen Dialektkontinuum, in: Wiener Slavistisches Jahrbuch 43 (1997) 87–102. Die Illustration dieser Erscheinung am ,slowenischen‘ Beispiel siehe in: ders., zur Frage der Nordgrenze 28f.

40 Burke, Wörter machen Leute 24. Dasselbe gilt auch für die heute kanonische Gliederung der slawischen Sprachen in drei Hauptgruppen, die sich in einem längeren Klassifizierungsprozess erst im 20. Jahrhundert endgültig durchgesetzt hat; siehe Tomasz Kamusella, The Triple Division of the Slavic Languages. A linguistic finding, a product of politics, or an accident? (IWM Working Paper 1, Vienna 2005) 23–33.

41 Vita Constantini XIV, 3 (ed. Franc Grivec/Franc Tomšič, Constantinus et Methodius Thessalonicenses, Fontes [Radovi Staroslovenskog instituta 4], zagreb 1960) 95–143, hier 129.

42 Vita Methodii V, 8 (ed. Franc Grivec/Franc Tomšič, Constantinus et Methodius Thessalonicenses, Fontes [Radovi Sta-roslovenskog instituta 4], zagreb 1960) 147–167, hier 155. Deutsche Übersetzung nach Franz Grivec, Konstantin und Method. Lehrer der Slaven (Wiesbaden 1960) 58.

43 Grivec, Konstantin und Method 250f.

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aus eigener Erfahrung kannten. In der Aussage schlägt sich die damalige Wahrnehmung der Sprach-verhältnisse in der slawischen Welt nieder, nämlich, dass die Slawen eine und dieselbe Sprache spre-chen und sich untereinander mühelos verständigen können.

Dieselbe Wahrnehmung gibt auch die nur wenig jüngere Schrift O pismenechь (Über die Buchsta-ben) wieder. zur Verteidigung der Legitimität der slawischen Liturgiesprache (gegenüber den drei heiligen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein) wurde sie zu Beginn der regierungszeit des bulgarischen Fürsten Simeon (um 893) vom Mönch chrabr verfasst, der ebenfalls die Sprachsituation von innen kannte. Er schreibt, die Slawen hätten anfangs keine Bücher gehabt, sie hätten als Heiden mit Hilfe von Strichen und Einschnitten gelesen, dann hätten sie als christen die slawischen Worte mit den dafür nicht geeigneten lateinischen und griechischen Buchstaben geschrieben, bis Gott ihnen den heiligen Konstantin schickte, der ein für die slawische rede geeignetes Alphabet schuf. Da diese slawischen Buchstaben die Erfindung eines Heiligen seien, seien sie heiliger als die von den heidni-schen Griechen erfundenen griechischen. Bekanntlich sei es dazu in der zeit des griechischen Kai-sers Michael, des bulgarischen Fürsten Boris, des mährischen Fürsten rastislav und des Fürsten cho-zil von Moosburg im Jahre 863 gekommen. Es gebe noch immer Leute, die Konstantin und seinen Bruder Method, die in diesen Buchstaben die slawischen Bücher übersetzten, gesehen hätten.44 In den slawischen Buchstaben, den slawischen Büchern und der slawischen Sprache sieht Hrabr etwas allen Slawen Gemeinsames, ungeachtet ihrer politischen Divergenzen.

Auch das große Denkmal der altrussischen chronistik Povest’ vremennych let (Erzählung der ver-gangenen Jahre), dessen erste redaktion Anfang des 12. Jahrhunderts vom Kiewer Mönch Nestor kompiliert wurde, betont an etlichen Stellen, die Slawen hätten, auch wenn sie sich unterschiedlich nennen, eine gemeinsame Sprache. Wenn zu Beginn der Erzählung von der Abstammung der Slawen von Noahs Sohn Japhet die rede ist, liefert die chronik eine eingehende Beschreibung, wie die Sla-wen aus dem Donauraum sich in der Welt zerstreut und sich unterschiedliche Namen zugelegt haben, aber trotzdem eine einheitliche slawische Sprache behielten.45 Im umfangreichen Bericht über das Jahr 6406 nach der Schöpfung der Welt (898 n. chr.) schreibt die chronik auch über den Apostel Paulus, der in Illyrien gewirkt habe, wo ursprünglich Slawen ansässig waren. Daraus schließt sie, der Apostel Paulus sei so auch ein Lehrer der russen gewesen, denn die russen seien auch Slawen. „Aber die sla-wische Sprache und die russische Sprache ist dasselbe. Die Varjagen bezeichneten sie als russen, doch waren sie zuerst Slawen gewesen. Sie hießen auch Poljane, doch sprachen sie Slawisch. Sie hießen Pol-jane, weil sie auf dem Feld (polje) lebten, sie hatten allerdings eine Sprache – die Slawische.“46

Der eineinhalb Jahrhunderte ältere Konstantinos Porphyrogennetos unterscheidet dagegen um die Mitte des 10. Jahrhunderts noch immer zwischen den Russen und den ihnen tributpflichtigen Slawen. In seiner zeit war der Name der normannischen Herren aus Skandinavien noch nicht auf die Slawen übergegangen, über die sie seit der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts herrschten und von denen danach die russen in einem längeren, bis zu Nestors zeit, zu Beginn des 12. Jahrhunderts, offensicht-lich schon abgeschlossenen Prozess slawisiert worden sind. Im 9. Kapitel von De administrando imperio berichtet er über die russen, die mit Einbäumen auf dem Dnjepr und über das Schwarze Meer aus Kiew nach Konstantinopel kamen; dabei unterscheidet er klar die ihnen tributpflichtigen Slawen, die verschiedene Namen führten. Er unterscheidet auch zwischen der russischen und der sla-wischen Sprache: die Namen der Stromschnellen auf der Dnjepr-Wasserstraße, die es unterwegs zum Schwarzen Meer zu überwinden galt, gibt er in russischer und in slawischer Sprache an. Dabei gehö-ren die russischen Namen den nordischen Sprachen (in diesem zusammenhang noch am ehesten dem Schwedischen) an, jene Namen, die er als slawisch bezeichnet, dagegen der slawischen Sprache.47

44 O pismeneh‘ črnorizca Hrabra (ed. Kujo M. Kuev Černorizec Hrabъr, Sofija 1967) 188–191. Vgl. John V. A. Fine Jr., The Early Medieval Balkans. A critical Survey from the Sixth to the Late Twelfth century (Ann Arbor-Michigan 1991) 134–136 (englische Übersetzung).

45 Povest‘ vremennych let (= Die Nestor-Chronik, ed. Dmitrij Tschižewskij, Slawistische Studienbücher 6, Wiesbaden 1969) 6.

46 Povest‘ vremennych let zum Jahr 898, ed. Tschižewskij 24–28. 47 constantin Porphyrogenitus, De administrando imperio 9 (ed. Gyula Moravcsik/romilly J. H. Jenkins [English trans-

lation], corpus fontium historiae Byzantinae 1, Dumbarton oaks-Washington Dc 21967) 56–63. Für die Erklärung der Stromschnellennamen vgl. den Kommentar zur deutschen Übersetzung von De administrando imperio in: Die Byzan-tiner und ihre Nachbarn. Die De administrando imperio genannte Lehrschrift des Kaisers Konstantinos Porphyrogen-

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Dagegen betrachtet er die von den Slawen am Dnjepr gesprochene Sprache als identisch mit der Spra-che der Sklavinien an der ostadriatischen Küste, wo Slawen mit unterschiedlichen Namen lebten: Bei-de bezeichnet er als Sprache der Slawen und erklärt in seiner Neigung zum Etymologisieren damit sowohl die Bedeutung der Namen der Dnjepr-Stromschnellen wie auch jene der ostadriatischen Skla-vinien.48 So wie bei slawischen Schreibern war auch in den ohren eines externen griechischen Beob-achters die slawische Sprache eine und einheitlich.

Dieselbe Wahrnehmung der Sprachsituation bei verschiedenen slawischen Völkern kann auch bei Autoren des lateinischen Westens beobachtet werden. Einer der frühesten zeugen, Paulus Diaconus, erzählt vor dem Ende des 8. Jahrhunderts, anlässlich des Angriffs dalmatinischer Slawen auf die beneventanische Küste um 642, dass sich der Langobarde radoald mit ihnen in ihrer Sprache unter-halten habe.49 radoald, ein Sohn des langobardischen Herzogs Gisulf II., der 611 beim Angriff der Awaren auf cividale in Friaul umgekommen war, hatte einige zeit als awarischer Gefangener in Pan-nonien gelebt, bevor es ihm gelang, sich zu retten.50 Die slawische Sprache, in der er sich später in Süditalien mit den von der ostadriatischen Küste mit Schiffen angekommenen Slawen unterhielt, konnte er im heimischen cividale erlernt haben, dem sich das slawische Siedlungsgebiet auf wenige Kilometer angenähert hatte, obwohl es auch nicht auszuschließen ist, dass er sie in der awarischen Gefangenschaft erlernt haben kann.51 Auf jeden Fall belegt auch diese Geschichte die einfache Ver-ständigung zwischen geographisch sehr entfernten Slawengruppen: sie sprachen dieselbe Sprache oder zumindest waren die unterschiede zwischen ihren reden nicht gravierend.

Eine im Grunde gleiche Wahrnehmung liegt auch in Einhards Vita Karoli Magni aus den dreißi-ger Jahren des 9. Jahrhunderts vor. Für barbarische und wilde Völker Germaniens zwischen dem rhein und der Weichsel, der ostsee und der Donau (womit Einhard offensichtlich die Slawen meinte, denn als die wichtigsten unter ihnen zählt er die Welataben, Soraben, Abodriten und Böhmen auf), sagt er, dass sie ziemlich die gleiche Sprache reden, sich in Sitten und Lebensweise allerdings stark unterscheiden (lingua quidem poene similes, moribus vero atque habitu valde dissimiles).52 Ein wenig anders sah im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts Adam von Bremen die Dinge. Wenn er sagte, zur Sclavania, die zehnmal größer sei als Sachsen, müsse man auch Böhmen zählen und die östlich der oder lebenden Polanen, begründet er das mit der Feststellung, sie würden sich voneinander weder in der Lebensweise noch in der Sprache unterscheiden: nec habitu nec lingua discrepant.53 Auf die sprachliche Einheitlichkeit der verschiedenen slawischen Völker weist auch Helmold von Bosau in seiner cronica Slavorum aus den sechziger Jahren des 12. Jahrhunderts hin. Bei der Aufzählung ver-schiedener slawischer Völker von den russen und Polen bis zu den Mährern und Kärntnern fügt er hinzu, wenn man zu Sklavinien noch ungarn dazurechne (das sich weder in der Lebensweise noch in der Sprache unterscheide), dann umfasse die slawische Sprache ein so weites Gebiet, dass es fast nicht abzuschätzen ist.54 und auch noch der sieben Jahrzehnte jüngere Bartholomaeus Anglicus, ein engli-scher Minorit, der 1231 nach Magdeburg kam, wo er seine Enzyklopädie De proprietatibus rerum fer-tigstellte, schreibt darin, die Slawen (er zählt die Böhmen, Polen, Mährer, Elbslawen, russen, Dalma-

netos für seinen Sohn romanos (ed. Klaus Belke/Peter Soustal, Byzantinische Geschichtsschreiber 19, Wien 1995) 79–83.

48 De administrando imperio 29, 33, 34, 36, ed. Moravcsik/Jenkins 122–139, 160–163, 164f. 49 Paulus Diaconus, Historia Langobardorum IV, 44, ed. Bethmann/Waitz 134f. 50 Paulus Diaconus, Historia Langobardorum IV, 37, ed. Bethmann/Waitz 128–132; siehe Harald Krahwinkler, Friaul im

Frühmit-telalter. Geschichte einer region vom Ende des fünften bis zum Ende des zehnten Jahrhunderts (VIÖG 30, Wien/Köln/Weimar) 39–46.

51 Entweder unter den Slawen, die im Machtbereich des awarischen Kagans lebten oder von den Awaren selber, wenn die These richtig ist, dass die slawische Sprache lingua franca im awarischen Kaganat gewesen sei. Siehe Florin curta, The Slavic lingua franca (Lingustic notes of an archeologist turned historian), in: East central Europe 31 (2004) 125–148.

52 Einhard, Vita Karoli Magni 15 (ed. Georg Heinrich Pertz/Georg Waitz/oswald Holder-Egger, MGH SS rer. Germ. in us. schol. [25], Hannover/Leipzig 61911) 17f.

53 Adam von Bremen, Gesta Hammenburgensis ecclesiae pontificum II, 21 (18) (ed. Bernhard Schmeidler, MGH SS rer. Germ. in us. schol, Hannover/Leipzig 31917, ND 1993) 76.

54 Helmold von Bosau, chronica Slavorum I, 1 (ed. Johann Martin Lappenberg/Bernhard Schmeidler, MGH SS rer. Germ. in us. schol. [32], Hannover 31937) 5: Quod si adieceris Ungariam in partem Slavaniae, ut quidam volunt, quia nec habitu nec lingua discrepat, eo usque latitudo Slavicae linguae succrescit, ut pene careat estimatione.

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tiner und Kärntner auf) würden sich untereinander alle verstehen und seien sich in mancher Hinsicht ähnlich, sowohl hinsichtlich ihrer Sprache als auch der Bräuche (qui omnes mutuo se intelligunt et in multis sunt similes quo ad linguam et quo ad mores); sie unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der religion, denn einige seien Heiden geblieben, andere beachteten den griechischen und wieder andere den römischen ritus.55

Das in historiographischen Quellen vermittelte Bild wird sehr gut durch Papstbriefe aus dem 9. Jahrhundert (im zusammenhang mit dem Wirken von Method in Mähren)56 und Herrscherurkunden aus dem 10. und 11. Jahrhundert ergänzt.57 Darin wird die in Mähren oder anderswo in der slawischen Welt gesprochene Sprache mit dem allgemeinen Begriff lingua Sclavorum, lingua Sclavanisca, Scla-vinice usw. gekennzeichnet. So genehmigt zum Beispiel Papst Johannes VIII. im berühmten, im Jah-re 880 an Svatopluk I. adressierten Schreiben Industrię tuę ausdrücklich den Gottesdienst in der sla-wischen Sprache (Sclavinica lingua); zugleich wird vorgeschrieben, das Evangelium solle zuerst in der lateinischen und dann in die slawische Sprache übersetzt dem Volk, das die lateinische Sprache nicht versteht, verkündet werden.58 Als otto I. im Jahre 945 dem Markgrafen Gero I., einer der mar-kantesten Figuren an der östlichen reichsgrenze, ein Besitztum östlich der Saale im Gebiet der Sora-ben schenkte, wurde dieses in der urkunde in pago lingua Sclavorum Zitice nominato lokalisiert.59 56 Jahre später, im Jahre 1001, schenkte otto III. dem Patriarchen Johannes von Aquileia umfangreiche Besitztungen am Mittellauf des Isonzo, an der heutigen italienisch-slowenischen Grenze, unter ande-rem auch die Hälfte einer villa, die in Sclavorum lingua vocatur Goriza.60 Diese und andere Beispiele legen die Feststellung nahe, dass in den Wahrnehmungen und Vorstellungen der päpstlichen Kurie und der Herrscherkanzlei verschiedene, sozusagen von der ostsee bis zur Adria siedelnde Gruppen von Slawen eine und dieselbe Sprache sprachen.

Historiographische Texte verschiedener Gattungen, teilweise in der (altkirchen-)slawischen Spra-che verfasst von jenen, die als Slawen betrachtet werden können, teilweise von ihren westlichen und griechischen Nachbarn – also von internen und externen Beobachtern – ergeben zusammen mit modernen philologischen Feststellungen eine ziemlich eindeutige Antwort auf die Frage, welche Spra-che die Karantanen und andere Slawen zwischen der Donau und der Adria im Frühmittelalter gespro-chen haben. Es war die slawische Sprache, und mit diesem Ausdruck muss man auch die entsprechen-den Begriffe in den Quellen übersetzen. Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass die Sprache ein-heitlich war, dass sie am Dnjepr und in den ostalpen oder an der ostseeküste und den Küsten der Ägeis gleich gesprochen wurde. Der von der modernen Philologie auf phonetischer, morphologischer und lexikalischer Ebene festgestellten sprachlichen unterschiede waren sich auch schon einige zeit-genossen bewusst. Sie berichten von der Ähnlichkeit – und nicht Gleichheit – der Sprachen von ver-schiedenen Slawengruppen, allerdings einer so großen Ähnlichkeit, dass die Verständigung unterein-ander möglich war. In moderner Sprache und aufgrund des modernen Kategorienapparats würde man diese unterschiede heute noch am zutreffendsten als unterschiede zwischen Dialekten ein und dersel-ben Sprache bezeichnen. In einer zeit, die solche unterscheidungen noch nicht kannte,61 war es aller-dings in den Vorstellungen und Wahrnehmungen der damaligen Menschen vornehmlich ein und die-

55 Bartholomaeus Anglicus, De proprietatibus rerum xV 140 (teilweise ed. Anton E. Schönbach, Des Bartholomaeus Anglicus Beschreibung Deutschlands gegen 1240, in: MIÖG 27 [1906]) 69–80, hier 77.

56 Iohannis VIII. papae registrum 201, 255, ed. caspar 160f., 222–224; Stephani papae V. fragmenta registri 33, ed. Erich caspar (MGH EE 7, Epistolae Karolini aevi 5, Berlin 1928) 334–353, hier 352f.; Stephani papae V. epistolae passim collectae, quotquot ad res Germanicas spectant 1 (ed. Gerhard Laehr, ebd.) 354–365, hier 354–358.

57 zum Beispiel DD. o. I. 65, 389, 455, ed. Sickel 146, 530f., 617f. ; DD. o. II. 174, 185, ed. Sickel 198f., 209–211; D. o. III. 402, ed. Sickel 835f.; D. H. IV. 184, ed. Gladiss 240f.

58 Iohannis VIII. papae registrum 255, ed. caspar 222–224. 59 D. o. I. 65, ed. Sickel 146. 60 D. o. III. 402, ed. Sickel 835f. Siehe dazu Peter Štih, ,Villa quae Sclavorum lingua vocatur Goriza‘. Studie über zwei

urkunden Kaiser ottos III. aus dem Jahre 1001 für den Patriarchen Johannes von Aquileia und den Grafen Werihen von Friaul (DD. o. III. 402 und 412) (Nova Gorica 1999).

61 Siehe zum Beispiel Isidor von Sevilla, Etymologiae Ix I, ed. Lindsay. Im deutschen raum kommt erst um 1300 die Ansicht auf, dass die deutsche Sprache aus mehreren gleichwertigen lantsprâchen bestehe: Peter Wiesinger, regionale und überregionale Sprachausformung im Deutschen vom 12. bis 15. Jahrhundert unter dem Aspekt der Nationsbildung, in: Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter, ed. Joachim Ehlers (Nationes 8, Sigmaringen 1989) 321–343, hier 332–334.

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selbe Sprache, językъ slověnskij, lingua Sclavanisca. Ein Begriff also, der so wie der Begriff lingua Teutonica alle real bestehenden unterschiede überdeckte, die unter den deutschen Dialekten noch größer gewesen sein dürften als unter den slawischen,62 und gleichzeitig den Eindruck einer sprachli-chen Gleichheit und Einheitlichkeit entstehen ließ. Jedenfalls war die Dialektdivergenz keine Hürde für ein sprachliches Einheitsbewusstsein.63

DIE BEDEuTuNG DEr SPrAcHE FÜr DIE ETHNIScHE IDENTITÄT DEr SLAWEN

Wie wichtig für die slawische Identität diese eine und einheitliche slawische Sprache war, die mit der zeit aus einer anfangs reell existierenen Kategorie immer mehr in den Bereich der Vorstellungswelt hinüberwechselte, legt schon die Tatsache nahe, dass der Ausdruck slawische Sprache ein Synonym für das slawische Volk sein konnte. Wie schon Radoslav Katičić betonte, macht sich das besonders im Povest’ vremennych let bemerkbar.64 Da den antiken Begriffen ethnos und gens im Altkirchenslawi-schen das Wort językъ (deutsch: zunge, Sprache) entsprach,65 kommt die Bedeutung der Sprache bei den Slawen für die zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk zum Ausdruck. Gens Sclavorum wurde als gentiles Kollektivum, innerhalb dessen es bereits seit dem 7. Jahrhundert verschiedene Stammes-herrschaften gab, in höchstem Maße gerade durch die slawische Sprache definiert, die sich einzelne slawische Völkerschaften oder zumindest ihre herrschenden Schichten teilten. Darauf weist wohl auch die Etymologie des Namens Slověnin (Plural Slověne) hin. Der Stamm slov- wird zwar unter-schiedlich gedeutet, bedeutungsmäßig (nicht jedoch wortbildungsmäßig) am besten begründet erscheint die Ansicht, dass es sich um die Wurzel des Appellativs slovo (Wort) handelt. Das würde heißen, dass der Slověnin derjenige ist, der ,dieses Wort spricht‘ beziehungsweise, dass die Slověne Menschen sind, die einander verstehen und dieselbe Sprache sprechen. Nach dieser Deutung stammt das Wort ,Slawen‘ aus der Bestimmung der Gruppe als sprachliche Gemeinschaft.66

Aber für die gemeinsame slawische Identität nicht weniger wichtig sind die rechtsordnung und die Bräuche, wo sich dasselbe Muster zeigt wie bei der Sprache: ihre Kenntnis bei einer slawischen Gruppe setzte zugleich ihre Kenntnis bei einer oder den anderen slawischen Gruppen voraus, denn rechtsordnung und Bräuche galten – so wie die Sprache – als etwas Gemeinsames und bei allen Sla-wen Gleiches. Nach den Annales Fuldenses waren 849 die Gesetze und Bräuche der Böhmen mit denen der Soraben identisch, denn wer die einen kannte, kannte auch die anderen, denn beide lebten nach den leges et consuetudines Sclavicae gentis.67 Der fränkische Annalist fasste damit nicht nur die Vorstellung der Nichtslawen über die Slawen zusammen, sondern gab, wie Radoslav Katičić zeigte, die Ansichten der Slawen selbst getreu wieder.68 Als der Kaiser dem jungen Method knaženie slověnsko gab, was als Herrschaft über eine der Sklavinien der makedonischen Slawen zu verstehen ist, nahm er das in den Augen des Verfassers der Vita Methodii in der Absicht vor, der künftige Leh-rer und Erzbischof der Slawen würde alle slawischen Bräuche (vsěm običaem slověnskim) kennenler-nen und sich allmählich daran gewöhnen.69 Hier kommt die Ansicht zum Tragen, dass Method bei

62 Auf den unterschied zwischen den deutschen Dialekten hat zu Beginn des 14. Jahrhunderts sehr radikal Peter von zit-tau hingewiesen mit der Feststellung: Der Sachse verdreht den Mund, der Bayer brüllt wie ein ochse – denn jener ver-steht ebensowenig die sächsische Sprache wie die Eule eine Elster – obwohl beide sehr wohl als Deutsche bezeichnet werden können: Saxo recolligit os, Bavarus loquens boat, ut bos, – quia non intelligit ille linguam Saxonicam sicut nec noctua picam, quamvis Teutonici possunt ambo dici (Die Königsaaler Geschichts-Quellen mit den zusätzen und der Fortsetzung des Domherrn Franz von Prag [ed. Johann Loserth, Fontes rerum Austriacarum 1/8, Wien 1875] 52). Siehe auch Wiesinger, regionale und überregionale Sprachausformung 335f.

63 František Graus, Kontinuität und Diskontinuität des Bewußtseins nationaler Eigenständigkeit im Mittelalter, in: ders., Ausgewählte Aufsätze (1959–1989), ed. Hans-Jörg Gilomen/Peter Moraw/reiner c. Schwinges (Vorträge und For-schungen 55, Stuttgart 2002) 65–72, hier 67.

64 Katičić, Ethnogenesen in der Avaria 128. 65 Siehe Anm. 3. 66 Popowska-Taborska, zgodnja zgodovina 72–76. 67 Annales Fuldenses sive Annales regni Francorum orientalis a. 849 (ed. Georg Heinrich Pertz/Friedrich Kurze, Scripto-

res rerum Germanicarum in usum scholarum ex Monumentis Germaniae historicis recusi [7], Hannover 1891) 38. 68 Katičić, Ethnogenesen in der Avaria 127. 69 Vita Methodii II, 5, ed. Franc Grivec/Franc Tomšič 153; siehe dazu Evangelos Chrysos, Settlements of Slavs and

Byzantine sovereignty in the Balkans, in: Byzantina Mediterranea. FS Johannes Koder zum 65. Geburtstag, ed. Klaus

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einem der slawischen Stämme im Territorium des byzantinischen reiches jene Verfassung kennenge-lernt hatte, mit der er es bei den Slawen nördlich der mittleren Donau zu tun bekommen würde.

Sowohl die leges et consuetudines Sclavicae gentis der Fuldaer Annalen als auch običai slověnskij der Vita Methodii setzen voraus, dass die Verfassung bei allen Slawen gleich war. Bei mittelalterli-chen Verfassern wie zum Beispiel Adam von Bremen, Helmold von Bosau oder Bartholomaeus Anglicus wird wiederholt darauf hingewiesen, dass sich die Slawen untereinander nicht unterschei-den, weder in Sprache noch in Bräuchen, noch durch die Verfassung, nach der sie leben.70 Die slawi-sche Identität und das Bewusstsein von der überregionalen slawischen Gemeinschaft, die ein beson-deres Ganzes bildet, gründeten gerade auf der Wahrnehmung, dass verschiedene Völkerschaften, die sich als slawisch begriffen, eine gemeinsame Sprache hatten und nach einer gemeinsamen Lebens-weise leben. Die Verwandtschaft von Sprache und Bräuchen waren die Kriterien dafür, dass sich eine Person oder eine Gruppe als den Slawen zugehörig betrachtete bzw. betrachtet wurde. Mit anderen Worten: im Ausdruck Slověne beziehungsweise Sclavica gens wurde die Vorstellung von der sprach-lichen Verbundenheit ihrer Angehörigen und der Vergleichbarkeit ihrer Lebensweise subsumiert.

Als Mittel der Abgrenzung gegen andere, als unterscheidungsmerkmal zwischen dem, was ,uns‘ gehört, und dem Fremden, hatte die slawische Sprache allerdings eine ambivalente Stellung inne. Sie spielte eine rolle, wenn es um die Abgrenzung der gesamten slawischen Gemeinschaft nach außen ging, und eine andere, wenn es um die gegenseitige Abgrenzung einzelner slawischer Gruppen inner-halb der slawischen Welt ging.71 Im ersten Fall bildete sie ein klares Abgrenzungsmerkmal der Slawen von ihren Nachbarn. Wie wir bereits gesehen haben, wurde die Sprache sowohl von slawischen Ver-fassern als auch von nichtslawischen Beobachtern als eines der primären Kriterien für die Trennung der Slawen von den anderen betrachtet. Im Fall ihrer deutschsprachigen Nachbarn im Westen war dieser auf sprachlicher Ebene definierte Unterschied besonders augenfällig. Für die Slawen waren diese Nachbarn Němcy (von nem, stumm), also Menschen, welche sie nicht verstehen konnten.72 Dabei ist es nicht weniger wichtig, dass nicht alle slawischen Nachbarn, die ,unverständlich‘ gesprochen haben – zum Beispiel die ungarn, die romanischen Nachbarn in Italien, die Griechen oder die ost-seevölker – als ,stumm‘ begriffen wurden. In ihrem Fall war Differenz auf einer anderen, offensicht-lich nichtsprachlichen Ebene definiert.73

Ganz anders war die Stellung der slawischen Sprache bei den gegenseitigen Abgrenzungen von zahlreichen größeren oder kleineren slawischen Gruppen und Völkerschaften innerhalb der slawi-schen Welt, die sich voneinander auch in den verwendeten Eigenbenennungen unterschieden, die eine bestimmte Identität und ein Wir-Gefühl zum Ausdruck brachten. Hier ist eine rolle der Sprache als unterscheidungsmerkmal nicht festzustellen. Die Polen und die Böhmen bildeten um das Jahr 1000 schon sehr klar ausgeformte Identitätsgemeinschaften, von denen jede im Nachbarn sogar schon den ärgsten Feind sah, allerdings gab es kaum sprachliche unterschiede, und die Sprache war keineswegs ein Grenzziehungsfaktor.74 Sprachliche unterschiede sind auch nicht feststellbar zwischen Karanta-nen und Karniolensern, oder Serben und Kroaten, Mährern und Böhmen, ganz zu schweigen von den verschiedenen slawischen Gruppen zwischen der Elbe, Saale und oder oder bei den ostslawen. Inner-halb desselben oder weitgehend ziemlich homogenen Sprachraumes konnte die Sprache verständli-cherweise kein Abgrenzungsmittel darstellen und die Grenzen zwischen einzelnen slawisch definier-ten gentes wurden aufgrund von anderen Kriterien und Gegebenheiten gezogen. Hier ist an den Satz von František Graus zu erinnern: „Jede Gemeinschaft wird auch durch ihre Sprache konstituiert; eine weitere Frage lautet jedoch, inwieweit sie bereits dadurch determiniert wird.“75

Belke/Ewald Kislinger/Andreas Külzer/Maria A. Stassinopoulou (Wien/Köln/Weimar 2007) 123–135, hier 126. 70 Siehe Anm. 53–55. Eine bedeutende Ausnahme bildete Einhard, der meinte, dass die Slawen fast dieselbe Sprache

sprechen, sich jedoch in den moribus atque habitu unterscheiden (siehe Anm. 52). 71 Ähnliches stellt Wiesinger, regionale und überregionale Sprachausformung 340f., auch für die deutsche Sprache fest. 72 Siehe zum Beispiel Petar Skok, Etimologijski rječnik hrvatskoga ili srpskoga jezika 2 (Zagreb 1972) 516; France Bez-

laj, Etimološki slovar slovenskega jezika 2 (Ljubljana 1982) 219. 73 Graus, Nationenbildung 26 und Anm. 59. 74 Graus, Nationenbildung 55. 75 Graus, Nationenbildung 26.

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