-
Prsenz und Distanz: von diesem Verhltnis handelt die
Phnomenologie, wenn sie sich, behutsam beschreibend, der Lebenswelt
und dem Zeitbe-wutsein zuwendet. Lebensweltliches Leben ist
unmittelbare Anschauung am Anfang des bergangs zu begrifflichem
Denken und symbolischen Reprsentanten, ist ursprngliche Einheit und
beginnendes Auseinander von subjektivem Erlebnis und objektiver
Realitt. All unsere Erlebnisse aber kommen und gehen in der Zeit
des Bewutseins. Sie ist die Form eines Flieens, in dem uns der
Augenblick der Gegenwart erst nachtrg-lich fabar wird; er erweist
sich als der immer schon vergangene Anfang einer Nah-Erinnerung,
die beides zugleich ist: Noch-Gegenwart und Schon-Vergangenheit:
Prsenz gibt es erst im Abstand von ihr. - Mit dem, was unser
bewutes Leben zuunterst trgt und zuinnerst hlt, befas- | sen sich
die Beschreibungen und Interpretationen dieses Buches: mit dem
lebensweltlichen Grund und der zeitlichen Form. Manfred Sommer,
geboren 1945, ist Verfasser der Bcher Die Selbsterhal-tung der
Vernunft (1977), Husserl und der frhe Positivismus (1985), Evidenz
im Augenblick (1987), Identitt im bergang: Kant (1988).
-
Manfred Sommer Lebenswelt
und Zeitbewutsein
Suhrkamp
-
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Sommer, Manfred:
Lebenswelt und Zeitbewutsein / Manfred Sommer. - i. Aufl.
Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1990 (Suhrkamp-Taschenbuch
Wissenschaft ; 851)
ISBN 3-518-28451-7 NE: GT
suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 851 Erste Auflage 1990
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1990 Suhrkamp Taschenbuch
Verlag
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des ffentlichen
Vortrags, der bertragung
durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Ubersetzung, auch
einzelner Teile. Satz und Druck: Wagner GmbH, Nrdlingen
Printed in Germany Umschlag nach Entwrfen von
Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
2 3 4 5 6 - 95 94 9} 92 91 90
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Inhalt
Einleitung 7
ERSTER T E I L
LEBENSWELT: A N S C H A U U N G UND D I S T A N Z
1. Mhsame Liebe zur Geometrie 19 2. Husserls Gttinger Lebenswelt
59 3. Galilei in der Phnomenologie 91 4. Mystik und Aufklrung 1 1 1
J .Bewutlosigkeit 1 19
ZWEITER T E I L
ZEITBEWUSSTSEIN: A N F A N G UND E R I N N E R U N G
6. Fremderfahrung und Zeitbewutsein 131 7. Verlust der Gegenwart
und Evidenz der Erinnerung . . 15 1 8. Die Zeit am Schlawittel
gehalten? 167 9. Der Bewutseinsstrom: Beschreibung und Erzhlung .
176
10. Erinnerung zur Autonomie 200
Schlu: Nachtrglicher Anfang 219
Nachweise 237 Namenregister 238 Sachregister 240
Analytischeinhaltsbersicht 245
-
2 . K A P I T E L
Husserls Gttinger Lebenswelt
Husserls Abhandlung ber die Konstitution der geistigen Welt
beruht auf Manuskripten, die im wesentlichen zwischen 1913 und 19
17 entstanden sind. Und sie enthlt nicht weniger als eine erste
Phnomenologie der Lebenswelt. Gewi, hufiger verwendet hat Husserl
den Terminus Lebenswelt erst in den zwanziger Jah-ren; und erst in
den 1934 bis 1937 verfaten Texten des Krisis-Werkes wird dieser
Titel zur Klammer, die eine Vielzahl von Deskriptionen und
Spekulationen systematisch zusammenhlt.1
Und doch decken Husserls frhe Beschreibungen unter Namen wie
geistige Welt, personale Welt oder kommunikative Umwelt thematisch
das ab, was spter Lebenswelt oder Le-bensumwelt heien wird. Was
aber hat es zu bedeuten, da Husserl im engsten Zusammenhang mit
seinen Ideen 1 von 1913 und noch vor seinem Wechsel von der
Gttinger zur Freiburger Universitt ( 1916) die Lebenswelt zu seinem
Thema macht? Die Ideen zu einer reinen Phnomenologie und
phnomenologi-schen Philosophie, mit deren erstem Band Husserl das
von ihm herausgegebene Jahrbuch fr Philosophie und phnomenologische
Forschung erffnete, nehmen den cartesischen Anfang bei der Evidenz
des cogito zum Ausgangspunkt fr die Entfaltung einer
transzendentalen Phnomenologie. Als gut vierzig Jahre spter, nmlich
1954, Husserls Sptwerk Die Krisis der europischen Wissenschaften
und die transzendentale Phnomenologie als gan-zes zugnglich wurde -
nur ein Teil war 1936 an entlegener Stelle publiziert - , war die
Rezeption von dem Erstaunen darber be-stimmt, da nunmehr die
Wissenschaften nicht mehr in der Evi-denz des Bewutseins, sondern
in der Praxis der Lebenswelt ihre Begrndung finden sollten, in
einer Welt, zu der die Geschichte als konstitutives Moment
dazugehrt. Nur mhsam hat die ph-nomenologische Forschung
wiederentdeckt, da diese Lebens-welt-Theorie selbst integraler
Bestandteil einer Transzendental-philosophie ist. Nach dieser
Einsicht wird es allerdings schwierig,
; Zur Geschichte dieses Begrif fs : Rdiger Welter, Der Begriff
der Le-benswelt, Mnchen 1986.
59
-
den Gttinger Transzendentalphilosophen mit dem Freiburger
Lebenswelt-Husserl zu kontrastieren und den Weg von den Ideen zur
Krisis als einen Abschied vom Cartesianismus< zu begreifen.
Nein, der Cartesianer, der 1913 eine transzendentale Phnomenologie
entwirft, hat zeitlebens an dieser Form der Theoriebildung
festgehalten. Und doch gibt es bei ihm eine >Wende zur
Lebensweltc sie ist aber nicht eine Abkehr vom Cartesianismus,
sondern gerade des-sen Hinwendung zu etwas, dessen er aus inneren
Grnden be-darf. Die Lebenswelt-Theorie gehrt zum Cartesianismus als
des-sen Komplement dazu. Dies bezeugt - im Blick auf die Ideen /
-die >Gttinger LebensweltWende zur Lebenswelt< liegt, konnte
man in ihr eine spte Abkehr vom Cartesianismus erblicken. Der
Erluterung der Komplementaritt von Cartesianismus und Theorie der
Lebenswelt dienen die folgenden berlegungen: zu-erst ist zu zeigen,
wie Husserls Weg zur transzendentalen Phno-menologie zugleich ein
Weg zur Phnomenologie der Lebenswelt ist, wie sich also von den
Logischen Untersuchungen (1900/01) bis zu den Ideen 1 gleichsam
pari passu mit dem Cartesianismus ein
2 Vgl. dazu: Marly Biemel, Einleitung und Zur Textgestaltung,
in: Ideen zu einer reinen Phnomenologie und phnomenologischen
Phi-losopie , iv, S. xii-xx und 397-401 ; Roman Ingarden, Edith
Stein as an Assistant of Edmund Husserl, in: Philosophy and
Phenomenolo-gical Research 23 (1962/63) 1 5 5 - 1 7 5 .
60
-
Konzept der Verflechtung von Leib und Welt herausbildet, das in
der Gttinger Lebenswelt< seinen ersten Abschlu findet. Zwei-tens
sind diejenigen Strukturen der geistigen Welt zu verdeutli-chen, an
denen sie als Lebenswelt zu erkennen ist. Und drittens lt sich,
nach einem Blick auf die unbewltigten Schwierigkeiten der frhen
Lebenswelt-Theorie, der vermeintliche Abschied vom
Cartesianismus< begreifen als ein Wandel innerhalb des
Lebens-welt-Konzeptes: hier geht es also um die Differenz zwischen
der Gttinger< und der Freiburger Lebenswelt.
. Das Ich und sein Leib in der Welt
Was heit Cartesianismus? Zweierlei. Zum einen: das Bestehen auf
einem sicheren Anfang aller Erkenntnis. Descartes findet, nachdem
er alle Erkenntnis bezweifelt hat, im Akt des Zweifeins selbst den
Punkt, an dem er festhlt: das cogito - der Bewut-seinsakt - ist
gewi, was immer auch sein Gegenstand sein mag. Im Zweifel, so fhrt
der meditierende Philosoph fort, erfasse ich mich als denkendes
Wesen, als res cogitans, als Seele oder Be-wutsein. Aus dieser
Selbstzuwendung und Selbsterfassung er-gibt sich aber schon das,
was den Cartesianismus als zweites kennzeichnet: der Dualismus. Dem
Bewutsein steht, von ihm getrennt, die uere Wirklichkeit gegenber;
jeder Gegenstand dieser Wirklichkeit ist wesentlich durch
Ausdehnung charakteri-siert, er ist res extensa. Die Evidenz des
cogito und der Dualismus von res cogitans und res extensa hngen
also systematisch zusam-men. Der Dualismus ist der Preis der
Evidenz. Ein hoher Preis. Denn das groe Rtsel, das Descartes nicht
zu lsen verstand, war: wie knnen die Innenwelt des Bewutseins und
die Auenwelt der Krper, wie knnen Seele und Mechanik
zusammenkommen? Beziehen wir uns denn nicht, wenn wir er-kennen,
auf uere Gegenstnde, die wir erkennen? Und setzen wir denn nicht,
wenn wir tun, was wir wollen, uere Gegen-stnde so in Bewegung, wie
wir wollen? Indem Descartes den menschlichen Organismus zu den res
extensae zhlt - was dieser gewi auch ist - und den mechanischen
Gesetzen von Zug und Druck unterwirft, hat er sich den Blick auf
jenen Mittler verstellt, durch den wir - im Erkennen wie im Handeln
- unseren Geist und die Krperwelt zueinander in Beziehung setzen:
den
61
-
menschlichen Leib. Aber Descartes hat auch bemerkt, da sich das
Problem der Wechselwirkung zwischen Seele und Organis-mus, die
Schwierigkeit eines commercium, nur fr den stellt, der sich mit ihm
auf die strikt theoretische Perspektive einlt und keine Abstriche
am Anspruch hchster Evidenz vorzunehmen bereit ist; er hat ja sein
cogito entdeckt, indem er sich allein in eine Stube einschliet
(enferm seul dans un pole) und alles Ge-sprch, das ihn zerstreuen
knnte, flieht (conversation qui me divertt).3 In einem berhmten
Brief an die Prinzessin Elisabeth von der Pfalz jedoch formuliert
er die Einsicht, die man als seine >Wende zur Lebenswelt<
bezeichnen kann: In der bloen Erfah-rung des Lebens und des
persnlichen Umgangs, sowie in der Enthaltung vom Meditieren und
Studieren der Dinge, die die Einbildungskraft schulen, lernt man
schlielich die Vereinigung von Leib und Seele begreifen.4 - In dem
also, was man als le-bensweltliche Interaktion bezeichnen kann,
ergibt sich die L-sung des commercium-Problems. Der Nexus zwischen
der psy-chischen und der physischen Sphre lt sich nicht ablsen von
dem zwischen kommunizierenden Subjekten. Als meditierenden und
studierenden Cartesianer sehen wir Hus-serl bereits in den
Logischen Untersuchungen am Werk. Evidenz ist sein Ziel: alle
Ausdrcke, die wir verwenden, zumal die logi-schen, mssen in einen
Zustand der Klarheit und Deutlichkeit berfhrt und d. h. aus
unmittelbarer Einsicht neu gewonnen werden. Zu diesem Zweck
unterscheidet Husserl an jedem Aus-druck den Sinn von der
materiellen Realisation, den Begriff von der akustischen oder
optischen Gestalt, das Innere vom ueren. Die uere materielle Seite
des Ausdrucks ist das Medium, durch das die Subjekte, die sich
ausdrcken, ber das kommunizieren, was sie ausdrcken. Diese ganze
Auenseite unterwirft Husserl nun dem, was hier Reduktion noch nicht
heit, aber heien knnte.' Da aber Ausdruck nur heien darf, was innen
Begriff-lichkeit aufweist, lsen sich das Mienenspiel und die Geste
in Nichts auf. Sodann nimmt der rigorose Cartesianer seinem
ge-sichts- und leiblosen Sprecher auch noch die Stimme: es
bedarf
3 Descartes, Discours de la mthode, in: uvres (ed. Ch .
Adam/P.Tan-nery), Paris 1897 ff . , vi 1 1 .
4 Descartes, Brief vom 28. Juni 1643, ' n : uvres, 111 692.
5 Vgl. Jacques Derrida, Die Stimme und das Phnomen, Frankfurt
1979,
5*
62
-
zur Klrung des Sinnes von Ausdrcken gar nicht der physi-schen
Seite: die akustische Lautkomplexion und die Schrift-zeichen auf
dem Papier werden abgesondert und der Phnome-nologe begngt sich mit
dem phantasierten Wortklang, mit vorgestellten anstatt mit
wirklichen Worten. Damit verliert er freilich auch die soziale
Dimension des Ausdrucks: nicht wie der Ausdruck in kommunikativer
Rede fungiert, sondern was er in monologischer Rede bedeutet,
untersucht der Autor der Logi-schen Untersuchungen. Nach der
Reduktion all dessen, was der Ausdruck als Auenseite hat und durch
sie als kommunikatives Medium leistet, lautet Husserls Thema: Die
Ausdrcke im ein-samen Seelenleben.6
Im einsamen Seelenleben kommen gelegentlich Wrter vor,
vorgestellte, die die Eigentmlichkeit haben, da die in ihnen
liegenden Bedeutungen nur fabar sind, wenn sie, anstatt blo
vorgestellt, wirklich gesprochen werden. Diese Wrter sind die
okkasionellen Ausdrcke. Sie sind, im Gegensatz zu den ob-jektiven,
unvermeidbar vieldeutig. Um ihnen Eindeutigkeit zu verschaffen,
bedarf es des Hinblicks auf die sich uernde Per-son und auf die
Umstnde ihrer uerung; denn die Bedeutung richtet sich nach der
redenden Person und ihrer Lage. Zu die-sen Ausdrcken zhlen zuerst
die Personalpronomina: wer mit ich oder du oder wir gemeint ist,
wei man nur, wenn man sieht, wer spricht oder angesprochen wird;
und hnlich, wenn jemand sagt dies, hier, oben, jetzt, gestern . . .
, also bei Wrtern, die eine demonstrative Funktion haben oder eine
rela-tive Lage in Raum und Zeit angeben. Sie alle haben stndig
wech-selnde Bedeutungen; und welches ihre jeweilige Bedeutung ist,
kann nur aus der lebendigen Rede und den zu ihr gehrenden
anschaulichen Umstnden entnommen werden.7
Husserl notiert aber auch, da die okkasionellen Ausdrcke
die-jenigen sind, die einmal den praktischen Bedrfnissen des
ge-meinen Lebens dienen, zum anderen in den Wissenschaften zur
Vorbereitung der theoretischen Ergebnisse mithelfen.8 Damit werden
sie selbst zu dem, was Husserl sonst mit dem Epitheton vor- und
auerwissenschaftlich versieht und in seine Lebens-
6 Logische Untersuchungen, xix/i 37 f . , 41 (Bd. 1 1/ 1 3 1 ,
35 f.). 7 Ebd. 85-88 (Bd .u/ i 80-82). 8 Ebd. 87 (Bd.11/1 81).
63
-
welt-Theorie eingehen lassen wird. Die okkasionellen Ausdrcke
sind lebensweltliche Ausdrcke und die phnomenologische Kl-rung
dessen, wie sich ihre Bedeutung konstituiert, fhrt in die
Lebenswelt-Theorie hinein. An den Ausdrcken ich und hier wird
Husserl dies vorfhren. Whrend aber die Ausfhrungen ber die
okkasionellen Aus-drcke in den Logischen Untersuchungen nur den
Wert von Signalen fr die Grenze des cartesianischen Programms
haben, sehen wir Husserl in der Fnften Untersuchung bereits am
Pro-blem des commercium arbeiten. Husserls Konzept der
objekti-vierenden Auffassung lt sich begreifen als die Anstrengung,
mit dem, was im einsamen Seelenleben noch verfgbar ist, aus dieser
Einsamkeit herauszukommen. Objektivierende Auffas-sung ist der
Versuch, von den subjektiven Empfindungen ausge-hend, zwischen
ihnen und objektiven Qualitten diejenige Rela-tion herzustellen,
die es gestattet zu behaupten, ein Gegenstand sei wahrgenommen.
Intentionale Erlebnisse - in ihnen voll-zieht sich dieses
Objektivierung - bauen sich aus zwei ganz un-terschiedlichen
Komponenten auf, bei deren Beschreibung sich Husserl an der alten
Differenz von Perzeption und Apperzeption orientiert. Einmal kommen
im Bewutsein Empfindungen vor, die sich zu Empfindungskomplexen
verweben. Die zweite Komponente heit Intentionalitt. Durch sie
werden Empfin-dungen apperzipiert, also aufgefat nicht als sie
selbst, son-dern als das, wodurch uns objektive Qualitten gegeben
sind. Die objektivierende Auffassung ist dafr verantwortlich, da
wir nicht Empfindungen sehen, sondern Eigenschaften, nicht
Emp-findungskomplexe, sondern Gegenstnde; durch sie erfahren
Empfindungen eine gegenstndliche Deutung.9 Das so aufge-baute
intentionale Erlebnis nennt Husserl auch Bewutseins-akt. Indem die
Empfindungen als inneres Moment in die nach auen gewandte Struktur
des Aktes eingehen, reicht das Bewut-sein durch ihn ber sich
hinaus. Intentionalitt: das ist der Weg von innen nach auen, von
der res cogitans zur res extensa. Inten-tionalitt ist die Keimzelle
der Lebenswelt.
Sofern eine Theorie die Erfahrung von Objekten zurckfhrt aul
einen Proze der Objektivation, der vom Bewutsein initiiert
9 Ebd. 358, 406f . (Bd. 1 1/ 1 349, 392).
64
-
und reguliert wird, bleibt sie im Idealismus befangen: der
Gegen-stand ist stndig dabei, in die Immanenz des Bewutseins
zurck-zufallen. Da die Intentionalitt zu kurz greifen knnte, dessen
war sich Husserl schmerzlich bewut; und so sehen wir ihn als-bald
bei der Arbeit an der Bewltigung dieses Problems. Wichtigstes
Dokument hierfr ist die Vorlesung, die Husserl im Sommersemester
1907 gehalten hat. Jetzt sttzt er sich expressis verbis auf den
cartesischen Zweifel; dieser, passend modifi-ziert,10 wird zur
phnomenologischen Reduktion: sie legt eine Trennlinie zwischen die
Sphre der Erlebnisse auf der einen und die ganze Welt, die
physische und psychische Natur auf der anderen Seite; zur Welt aber
gehrt auch das Ich als Person, als Ding der Welt. Und so wird durch
die Reduktion das Bewut-sein von aller Beziehung auf das Ich
losgelst: es bleibt brig als reines Bewutsein." Husserls reduktiver
Rckzug in diese reine Immanenz ist dieselbe Bewegung, die ihn 1901
ins einsame Seelenleben gefhrt hat, nur zu noch deutlicherer
Artikulation gebracht. Dabei entdeckt Husserl nicht nur seinen
eigenen Carte-sianismus, sondern auch dessen Spezifitt: es ist ein
Cartesianis-mus ohne Ich. Ich war in den Logischen Untersuchungen
ein okkasioneller Ausdruck, und das, was dieser meint, war aus dem
Bewutsein ausgeschlossen. Dem Ich wurde, gegen die These des
Neukantianers Paul Natorp, die Wrde eines dem Be-wutsein
innewohnenden Beziehungszentrums abgesprochen: lediglich als ueres
empirisches Ich war es zugelassen: dieses aber wird erfat wie
irgendein ueres Ding.'2 Indem die ph-nomenologische Reduktion von
1907 das Bewutsein von diesem Ich-Ding'3 abtrennt, fhrt sie auf ein
ichloses Bewutsein. Da Husserl dies zu grerer Deutlichkeit bringen
konnte, das hilft ihm auch, in der Theorie der objektivierenden
Auffassung einen Schritt voranzukommen. Da die Phnomenologie alle
wahre uerlichkeit in der Innerlichkeit suchen mu,'4 mu sie auch,
paradox genug, der Inklination zum Idealismus mit den Mitteln
entgegenarbeiten, die in der Immanenz des Bewutseins
10 Die Idee der Phnomenologie, II 30. 11 Ebd. 28, 44. 12
Logische Untersuchungen, x ix/ i 373-375 (Bd. 11/1 360-362). 13
Ding und Raum, xvi 5 (1907). 14 Erste Philosophie (1923/24).
Zweiter Teil: Theorie der phnomenolo-
gischen Reduktion, vi 11 174.
65
-
bereitliegen. Dies tut Husserl, indem er neben den
Empfindun-gen, die nach geglckter objektivierender Auffassung zu
Re-prsentanten dinglicher Qualitten werden, einer neuen Sorte von
Erlebnissen, die in der empirischen Psychologie lngst beheimatet
waren, auch in der Phnomenologie einen systematischen Ort zuweist:
die kinsthetischen Empfindungen. Kinsthetisch hei-en diejenigen
Empfindungen, die wir erleben, wenn wir im Raum bewegte Dinge
wahrnehmen. Whrend aber qualitative Empfindungen problemlos in
einem reinen Bewutsein vor-kommen knnen, bedrfen die kinsthetischen
eines Leibes als ihres Trgers. Denn der Sachverhalt, fr den sie
stehen - da nmlich im Erlebnis der Selbstbewegung die Erfahrung der
Ob-jektbewegung grndet - , fordert (und da steckt ein deduktives
Element) ein Substrat von der Art eines organischen Systems. Zu
ihrem Leib kommen die kinsthetischen und durch sie die mit ihnen
verwobenen's qualitativen Empfindungen auf dem Wege ber einen
Vorgang, den zuerst der Zrcher Empiriokritizist Ri-chard Avenarius
beschrieben und mit dem Begriff Introjek-tion'6 bezeichnet hat. Es
ist die Einlegung von Erlebnissen in das Innere jenes Dings, das
dadurch zu einem belebten und erle-benden Leib wird. Introjektion
fat Husserl 1907 als eine subjektivierende Verge-genstndlichung,
weil sie ein Objekt zum Subjekt macht. Das zum Leib designierte
Objekt aber ist nicht schon vorher fertig da; vielmehr gehren
Introjektion und objektivierende Apperzeption zu einem einzigen, in
sich gegliederten Vorgang: die Auffassung der Empfindungen als
Erscheinungen dessen, was kraft dieser Auffassung zur Welt von
Dingen wird, und die Einlegung der Empfindungen in jenes Ding, das
kraft dieser Einlegung zum Leib wird, geschehen uno actu. Alle
Empfindungen erfahren nun-mehr eine doppelte Auffassung'7 : Die
auffassende Intention geht von den Empfindungen einmal zu den
objektiven Dingen, zum andern aber stets auch zu dem Ich-Ding
namens Leib. Es ist freilich nur eine Intention, die die
Empfindungen objektiviert: zum Leib und zum Ding, aber durch den
Leib zum Ding. Der Leib hat damit eine Zwischenstellung und eine
ihr entsprechende
15 Ding und Raum, xvi 161 (1907). 16 Richard Avenarius, Der
menschliche Weltbegriff, Leipzig 4 1927
( 8 9 1 ) , 25 f f . 17 Ding und Raum, xvi 163, 282.
66
-
mediale Funktion: als inkarnierte Intentionalitt vermittelt er
zwischen den Dingen der Auenwelt und der Innenwelt des Be-wutseins;
er ist uerlich: Ding unter Dingen; und er ist inner-lich: belebt
von Erlebnissen. Husserls wichtige Einsicht von 1907, da sich die
Konstitution physischer Dinglichkeit in merkwrdiger Korrelation mit
der Konstitution eines Ich-Leibes verflicht,'8 bedeutet keine
Abkehr vom Cartesianismus, sondern beruht gerade auf dessen
Zuspit-zung. Hand in Hand mit der Verschrfung der Anfangssituation
durch die phnomenologische Reduktion geht die Erhhung des Ziels,
das zu erreichen sich der Gttinger Philosoph zutraut: nicht nur,
wie noch in den Logischen Untersuchungen, zu Gegen-stnden generell,
sondern, spezifischer und schwieriger, zu den im Raum bewegten
Dingen will er gelangen. Dies fhrt zur Wie-derkehr des Leibes, zur
Wiederkehr des empirischen Ich. Der Leib ist aber nicht nur ein
irgendwo dazwischenliegendes Ding, das ntig ist, damit auch die
anderen Dinge Dinge sein knnen. Der Leib ist vielmehr Konstituens
jenes Raumes, der notwendig zur Mglichkeit bewegter Dinge
dazugehrt. Der Krper des wahrnehmenden Subjekts ist der leibliche
Bezie-hungspunkt, in Relation zu dem sich alles Nher und Ferner
bestimmt. Das Subjekt trgt ein absolutes Hier im Hinter-kopf; '9
und dieser imaginre Ich-Punkt ist zugleich die Deter-minante aller
lokalen okkasionellen Ausdrcke. Durch ihn ist das Zentrum eines
rumlichen Koordinatensystems, eines Ortssy-stems festgelegt20: Im
Ich-Zentrum2 ' laufen die Richtungen Links und Rechts, Oben und
Unten, Hinten und Vorne zusam-men. Husserl lt seine
Konstitutionstheorie auf ein Ziel zulau-fen: auf die Welt, so wie
sie sich der natrlichen Auffassung der vorwissenschaftlichen
Erfahrung darstellt. Und dies beschreibt er so: In der natrlichen
Geisteshaltung steht uns eine seiende Welt vor Augen, eine Welt,
die sich endlos im Raum ausbreitet, jetzt ist und vorher gewesen
ist und knftig sein wird; sie besteht aus einer unerschpflichen
Flle von Dingen, die bald dauern und bald sich verndern, sich
miteinander verknpfen und sich wieder trennen, aufeinander
Wirkungen ben und solche voneinander
18 Ebd. 163 f. 19 Ebd. 227 f. 20 Ebd. 231, 233. 21 Ebd. 156.
67
-
leiden. In diese Welt ordnen wir uns selbst ein, wie sie finden
wir uns selbst vor, und finden uns inmitten dieser Welt vor. Eine
ausgezeichnete Stellung eignet uns in dieser Welt: Wir finden uns
vor als ein Beziehungszentrum zu der brigen Welt als unserer
Umgebung.22
Mit dieser Beschreibung nimmt Husserl das auf - gleichfalls
pas-send modifiziert - , was Avenarius den natrlichen Weltbegriff
nennt: Ich mit all meinen Gedanken und Gefhlen fand mich inmitten
einer Umgebung.23 Die Pointe dieser Darstellung liegt in dem
Anspruch, den Avenarius mit ihr verbindet: dieser an-fngliche
Weltbegriff24 ist prdualistisch: Gedanken und Ge-fhle sind nichts
Inneres, die Umgebung nichts Aueres: beide sind vielmehr
Bestandteile der einen allumfassenden rei-nen Erfahrung. Die Mhe,
die der Theoretiker hat, diesen An-fang deskriptiv zu erfassen,
schlgt sich bei Avenarius in vielerlei Neologismen nieder: Das, was
traditionell Subjekt-Objekt-Be-ziehung heit, wird zur
empiriokritischen Prinzipialkoordina-tion, in die sich hier das
Zentralglied und dort das Gegen-glied einfgen - Termini, die
Husserl gelegentlich aufgreift. Es gibt also im natrlichen
Weltbegriff wohl eine Dualitt, aber keinen Dualismus.25 Der
Monismus der ursprnglichen reinen Erfahrung mu so sein, da
verstndlich wird, wie es von ihm zum metaphysischen Dualismus hat
kommen knnen. Mit diesem Ansatz erweist sich Avenarius als der
Anti-Cartesia-ner par excellence. Und als dieser ist er fr den
Cartesianer Hus-serl von Interesse. Da der Phnomenologe aber
dualistisch be-ginnt und an der berwindung des Dualismus arbeitet,
der Posi-tivist Avenarius indessen monistisch anfngt, um zu zeigen,
wie es zum Dualismus kommt: diese diffrente Ausgangslage macht auch
die Unterschiede in der Funktion, die der Introjektion
zuge-schrieben wird, verstndlich. Fr Avenarius ist nmlich
Introjek-tion das Ende des natrlichen Weltbegriffs: Durch
Introjek-tion ist die natrliche Einheit der empirischen Welt nach
zwei Richtungen gespalten worden: in eine Auenwelt und eine
In-nenwelt, in das Objekt und das Subjekt.26 Dabei wird zuerst
22 Ebd. 4. 23 Richard Avenarius, Der menschliche Weltbegriff
[Anm. 16], 4. 24 Ebd. 5. 25 Ebd. 13. 26 Ebd. 29.
68
-
dem Anderen ein Bewutsein eingelegt: ihm, nicht mir, wird eine
innere Welt durch die Introjektion geschaffen.27 Erst nach Analogie
mit dem Anderen erfasse ich mich selbst als Subjekt mit einem
Innenleben: erst durch Selbstverwechslung kommt es zur
Selbsteinlegung.2" Diesen Gedanken wird Husserl spter auch
aufnehmen, aber 1907 ist es nicht der Andere, sondern das Ich mit
seinem Leib, das durch Introjektion konstituiert wird. Sie, die bei
Avenarius den Abgrund zwischen res cogitans und res extensa erst
aufreit, soll ihn bei Husserl berbrcken helfen. Damit aber erweisen
sich Avenarius' Introjektion und Husserls Reduktion in einem Punkt
als quivalente Vollzge: sie bedeuten fr das sie vollziehende
Subjekt das Ende der natrlichen Welt-ansicht. Diese
wiederzugewinnen ist die Intention beider. Aber whrend die
Restitution des natrlichen Weltbegriffs bei Ave-narius nur einen
irrationalen Unglcksfall rckgngig macht, ist Husserls Weg der eines
Zugewinns: Nachher verstehen wir das, was wir vorher nur als
selbstverstndlich hinnehmen konnten: die Reduktion ist der Anfang
eines Prozesses der Aufklrung. Da innerhalb dieses Prozesses dann
eine Introjektion vorkommt, macht klar, da zu dem, was Husserl
Lebenswelt nennen wird, der Dualismus von Bewutsein und Auenwelt
bereits dazuge-hrt, obgleich im Zustand der berbrckung. Das
commercium setzt das, was es verbindet, als fr sich bestehend
voraus. Allein diese Voraussetzung wird es Husserl gestatten, eben
diese Welt, die der natrlichen Einstellung entspricht, gleichwohl
auch als geistige Welt zu bezeichnen.
Nicht zu bersehen ist, da die Perspektive, in der Husserl seine
Konstitutionstheorie entwickelt, als deren Ziel einen Zustand
er-kennen lt, der identisch ist mit dem, in dem sich der
Phnomc-nologe vor der Reduktion befand. In der natrlichen
Geisteshal-tung, die zu verlassen den Phnomenologen zum
Phnomenolo-gen macht, wird genau jene Welt >naiv<
wahrgenommen, die in der Reduktion vom Bewutsein abgeschnitten und
die durch das Nachzeichnen der sie aufbauenden Leistungen des
Bewutseins in ihrer Tiefe verstanden werden soll. Insofern gilt fr
die Theorie von 1907 bereits, was Husserl in den Cartesianischen
Meditatio-nen von 1929 so formuliert: Man mu die Welt erst durch
die
27 Ebd. 28. 28 Ebd. 30 f . , 57.
69
-
Epoch verlieren, um sie in universaler Selbstbesinnung
wieder-zugewinnen.29
Will man den Weg nachgehen, der Husserl zu seiner ersten
Le-benswelt fhrt, so mu man sein Augenmerk wenigstens kurz auf die
Vorlesung vom Wintersemester 19 10/ 1 1 richten: Husserl liest ein
Kolleg ber die Grundprobleme der Phnomenologie -eine Ankndigung,
unter der er beinah alles vortragen konnte, was er und was ihn in
seinen Forschungen bewegte. Im spteren Rckblick auf die hier
entfalteten Gedankengnge charakterisiert Husserl sie in zwei
Richtungen: Vorlesungen ber den natrli-chen Weltbegriff und
Vorlesungen ber Intersubjektivitt.30
Beide Titel nennen Themen, die wesentlich auf die >Gttinger
Lebenswelt< vorausweisen. Der Rekurs auf den natrlichen
Weltbegriff stellt sich dar als eine Ausweitung des
Anfangspro-blems: wie finde ich in natrlicher Einstellung die Welt
vor? Und was motiviert mich in ihr zur Reduktion auf das absolute
Bewutsein, zu einem Durchschneiden der Verbindung zwi-schen dem
Erlebnis und allem dinglichen Dasein3 '? Mit seinen Erwgungen ber
Voraussetzungen und Durchfhrung dieses re-duktiven Schnittes geht
Husserl nicht wesentlich ber das hinaus, was er bereits 1907
ausgefhrt hatte.
Anders bei der Thematik der Intersubjektivitt. Indem Husserl
jetzt konzediert, da das absolute Bewutsein nach und trotz der
Reduktion noch immer Bewutsein eines Ich ist - dieses heit nun
freilich nicht empirisches Ich oder Person, sondern
phnomenologisches Ich - , wird sogleich die Frage mglich und
dringlich, die 1907 noch gar nicht gestellt werden konnte: Gibt es
ein anderes phnomenologisches Ich32 und wie verhlt sich dessen
Bewutsein zu meinem? Fr seinen Mut, das Abso-lute im Plural zu
denken, mute Husserl mit den unendlichen Mhen bezahlen, die ihn das
Problem der transzendentalen Inter-subjektivitt gekostet hat. Die
Vorlesung von 1910/1 1 aber darf nur deshalb ber Intersubjektivitt
heien, weil in ihr das Pro-blem auftritt, nicht aber weil es einer
ersten Lsung oder auch nur
29 Cartesiamsche Meditationen, 1 183. 30 Zur Phnomenologie der
Intersubjektivitt. Texte aus dem Nachla.
Erster Teil: 190$-1920, xm S. xxxivf f . 31 Ebd. 144. 32 Ebd.
187.
70
-
einer breiteren Errterung zugefhrt wrde. Von Theodor Lipps, dem
Vater der >Mnchener Phnomenologie, borgt sich Husserl den
Gedanken der Einfhlung, um mit dessen Hilfe das com-mercium einer
Vielheit von phnomenologischen Ich33 zu er-lutern. Aber ihm entgeht
nicht, da Lipps' Einfhlung nur eine Form der empirischen Erfahrung
darstellt und da diese natrliche Einfhlung nur begreifen lt, da und
wie die Welt des natrlichen Weltbegriffs schon eine intersubjektiv
geteilte Welt ist: Vermge der natrlichen Einfhlung werden aber die
eingefhlten Ich gesetzt als zugehrig zu ihren Leibern, als
Mit-telpunkte dinglicher Umgebungen.34
Whrend also unklar bleibt, wie eine transzendentale Einfh-lung
aussehen mte, weil schon unklar blieb, worin das Ich-hafte dieses
phnomenologischen Ich liegt und wie weit sich sein Begriff aus
dessen ganz unspezifischer Verwendung in der zehn Jahre lteren
Gleichung Bewutsein = das phnomenolo-gische Ich3S emanzipiert hat,
erhlt doch diejenige Intersubjekti-vitt, die in der natrlichen Welt
zwischen leiblichen und insofern empirischen Subjekten besteht,
eine neue Virulenz. 1907 noch war zwar das andere Ich lediglich als
in der natrlichen Gei-steshaltung auch da zitiert,36 die
Konstitutionstheorie indessen ignorierte den Leib des anderen Ich
vllig. Von der Vorlesung ber den natrlichen Weltbegriff aber, von
der Welt mit ihrer Pluralitt von leiblichen Ich-Zentren, ist es nur
noch ein kleiner Schritt zur >Gttinger Lebenswelt
-
bringt, im ursprnglichen Bauplan der Ideen einen festumrisse-nen
Ort anzuweisen. Das erste Buch der Ideen will eine Allge-meine
Einfhrung in die reine Phnomenologie sein. Das Kern-stck bildet
darin die phnomenologische Fundamentalbetrach-tung, die erste
verffentlichte Darstellung der Reduktionslehre. Und der Paragraph,
der den Leser in die Fundamentalbetrach-tung schonend hineinzwingt,
trgt die Uberschrift: Die Welt der natrlichen Einstellung: Ich und
meine Umwelt.57 Hier je-doch breitet Husserl keine
Lebenswelt-Theorie aus, allenfalls prsentiert er denjenigen
winzigen Ausschnitt aus ihr, den er als skizzenhaften Hintergrund
bentigt, um davor das durch die Re-duktion thematisierte
>reine< oder >transzendentale< Bewut-sein sich ablieben
zu lassen. Vor allem aber bleibt diese Skizze selbst frei von allen
konstitutionstheoretischen Ambitionen. Der Theoretiker mchte selbst
das natrlich eingestellte Subjekt sein, dessen Welt als terminus a
quo beschrieben wird; aber dies will ihm nicht so recht glcken.
Immer wieder verrt er, da er so naiv nicht mehr ist, wie zu sein er
prtendiert. Er kann nicht verheh-len, da er in Krze Cartesianer und
dann gleich Phnomenologe sein wird. Was er dann aber, nach der
Epoch, an Strukturen und Funktionen des Bewutseins beschreibt,
geht, bei allen sonstigen Fortschritten, in der thematischen
Reichweite kaum ber die Lo-gischen Untersuchungen hinaus. Dies
blieb dem zweiten Band der Ideen vorbehalten. Er liefert eine
differenzierte Konstitutionstheorie, wie die berschriften der drei
Abschnitte dieses Bandes dartun: Die Konstitution der materiellen
Natur, Die Konstitution der animalischen Natur, Die Konstitution
der geistigen Welt. So schn sich dieser tria-dische Stufenbau von
Materie, Seele und Geist in vertraute Sche-mata platonischer oder
neuplatonischer Provenienz einfgt, er ist dennoch ein sptes und
mhsames Arrangement von Theorie-stcken, die Husserl ursprnglich gar
nicht in dieser Ordnung konzipiert hatte, ein nachtrglicher Versuch
zu einer Systematik, die stndig desavouiert wird von den nur
uerlich gebndigten Resultaten der deskriptiven Feinarbeit im
Inneren. Das Schicksal des Textes, der schlielich zur Konstitution
der geistigen Weh wurde, spiegelt die Zuordnungs- und
Einpassungsprobleme, die Husserl am Ende resignieren lieen.
37 Ideen ; 48, 111/1 56.
72
-
Im ersten Buch der Ideen stellt Husserl das zweite so in
Aussicht: Indessen wird uns im nchsten Buche die Errterung der die
Gegenwart so viel beschftigenden Streitfragen nach dem
wech-selseitigen Verhltnis der groen Wissenschaftsgruppen, welche
die Titel Naturwissenschaft, Psychologie und Geisteswissen-schaft
bezeichnen, und zumal nach ihrem Verhltnis zur Phno-menologie,
Gelegenheit geben, zugleich die Konstitutionspro-bleme in eine
greifbare Nhe zu rcken. 38 Diese drei Wissen-schaftsgruppen
korrespondieren genau der Gliederung der Ideen 11, eine
Korrespondenz, die den Eindruck erweckt, der Autor habe genau
gewut, was er will. Blickt aber der Historiker mit philologischer
Neugier dem schreibenden Phnomenologen ber die Schulter, so sieht
er ihn noch whrend der definitiven Ausarbeitung des Textes der
Ideen 1 an zwei weiteren Manu-skripten sitzen, von denen ihr
Verfasser noch nicht wei, da sie schlielich zu einem einzigen
zusammengelegt werden sollten. Zum einen bringt Husserl diejenigen
Beschreibungen zu Papier, die sich mit der Konstitution des
physischen Dings und mit der des beseelten Leibes befassen:
Grundlage dessen, woraus die er-sten beiden Abschnitte der Ideen 11
geworden sind. Materielle und animalische Natur variieren dabei nur
begrifflich, was im 19.Jahrhundert das Physische und das Psychische
hie; animalisch ist hier ein Synonym fr seelisch, Seele freilich
verstanden als Prinzip des Lebens, zu dem auch das Bewutsein als
Seelenleben gehrt. Mit diesem - natrlich cartesianischen -Dualismus
war Husserl also vertraut, nicht zuletzt auf Grund der
Anstrengungen seines Lehrers Franz Brentano, ein Merkmal der
Klassifikation der Phnomene in physische und psychische aufzufinden
und anzuwenden. Ein solches distinktives Merkmal scheidet dann auch
die Naturwissenschaften von der Psycholo-gie: Husserl hatte diese
wechselseitige Abgrenzung in der fnf-ten der Logischen
Untersuchungen errtert, den einschlgigen 7 aber in der zweiten
Auflage ersatzlos gestrichen. Das zweite Manuskript, mit dem sich
Husserl zwischen Januar und April 1913 beschftigte, hatte einen
anderen - natrlich auch cartesianischen - Dualismus zum Thema:
Natur und Geist. Die-sem Verhltnis widmete Husserl auch einen Teil
der Energie, die er fr seine Lehrttigkeit abzweigte: im Winter
1912/ 13 hielt er
38 Ideen 1 320, m / i 335.
73
-
Metaphysische und wissenschaftstheoretische bungen ber Natur und
Geist, im folgenden Semester Vorlesungen ber Na-tur und Geist sowie
bungen ber die Ideen der Naturwissen-schaft und
Geisteswissenschaft.39 Whrend die Unterscheidung des Physischen vom
Psychischen bei den Phnomenen ansetzt und zur
wissenschaftstheoretischen Grenzziehung fortschreitet, lebt der
Kontrast zwischen Natur und Geist weithin von dem der faktischen
Wissenschaften: Naturwissenschaft und Geisteswis-senschaft
bestimmen, was Natur und was Geist ist. Nicht zufllig verdanken
Husserls Erwgungen zu diesem Gegensatz denn auch dem Neukantianer
Heinrich Rickert, dessen Freiburger Lehr-stuhl samt Assistent
Martin Heidegger er 1916 bernehmen sollte, mannigfache Anregungen.
Dominierend aber fr Husserls Umgang mit diesem Dualismus ist der
>Einflu< von Wilhelm Diltheys Versuch einer philosophischen
Grundlegung der Gei-steswissenschaften. Dieses zweite Manuskript
ist die erste Fassung dessen, was wir heute als die Konstitution
der geistigen Welt der Ideen 11 ken-nen. Fr diesen Band aber war es
gar nicht vorgesehen! Husserl scheint eher daran gedacht zu haben,
den wissenschaftstheoreti-schen Dualismus noch in den Ideen 1 zur
Geltung zu bringen: Unser Ziel, die Idee der transzendentalen
Phnomenologie zu voller Klarheit herauszuarbeiten - der Ehrgeiz der
Ideen /! -fordert ein tiefes Studium des Verhltnisses zwischen
Naturwis-senschaften und Geisteswissenschaften40: so eine der
Motivatio-nen, mit denen Husserl das Thema Natur - Geist an die
Ideen / anschlieen will. Wird das eigentmliche Wesen der
Geisteswis-senschaft rein e r fat . . . , so ergibt sich ein neuer
Weg in die Ph-nomenologie und ein viel besserer, weiter reichender
als der von der Psychologie.4 ' Dieser neue Weg findet sich gut
markiert und befestigt erst in der Krisis, wo Husserl zwei Wege zur
Phno-menologie kennt: von der Psychologie aus und von der
vorge-gebenen Lebenswelt aus.4* Die Lebenswelt als die Welt, die
die Geisteswissenschaften zu ihrem Thema haben, interessierte
Hus-serl also zuerst als die Welt, wie sie dem Phnomenologen, ehe
er Phnomenologe wird, gegeben ist. Insofern laufen in diesem
ter-
39 Vgl. Karl Schuhmann, Husserl-Chromk, Den Haag 1977, 173, 178.
40 Ideen 7/, iv 3 1 1 . 41 Ebd. 3 14 . 42 Die Krisis der
europischen Wissenschaften, vi 194, 105.
74
-
minus a quo Avenarius' natrlicher Weltbegriff und Diltheys
geistige Welt zusammen - eine Konvergenz, die systematische
Verwerfungen und Brche nach sich zieht, aber nicht dort, wo man sie
prima facie vermutet. Denn zu dem, was fr Avenarius natrlich ist,
gehren eben auch die Gegebenheiten, die theore-tisch zu
durchdringen Aufgabe der Geisteswissenschaften ist. Avenarius und
Dilthey kommen berein in ihrer Aversion gegen die naturalistischen
Konstruktionen einer physiologischen Psy-chologie und in ihrer
Sehnsucht nach einem unbefangenen Blick, der eine getreue
Beschreibung des ursprnglich Vorgefundenen erlaubt.43 So nahe waren
sich der Protagonist des Positivismus und der Vater der
hermeneutischen Philosophie. Den Gedanken des neuen Weges hat
Husserl in den Ideen nicht mehr zur Geltung gebracht. Aber das, was
er hierzu an Beschreibungen ausgefhrt hatte, war auch dazu
geeignet, in eine Konstitutionstheorie einzugehen. Deren terminus
ad quem ist ja eben die Welt, die das Bewutsein in natrlicher
Einstellung vorfindet. Erst als 1918/19 Husserls Assistentin Edith
Stein aus den Manuskripten fr die Ideen 11 eine Ausarbeitung
anfer-tigte, wurde das, was fortan Die Konstitution der geistigen
Welt hie, als dritter Abschnitt an die Konstitution der
mate-riellen Natur und die der animalischen Natur angeschlossen.
Die Zuordnungsprobleme, die sich fr Husserl hier ergeben muten,
werden sogleich sichtbar, wenn man sich nur Diltheys Unterscheidung
von erklrend-konstruktiver und beschreibend-zergliedernder
Psychologie44 vor Augen fhrt: jene zhlt zu den Naturwissenschaften,
diese dagegen bildet die Grundlage der Geisteswissenschaften. Die
Grenze zwischen Natur und Geist geht mitten durch die Seele
hindurch; Geist steht nicht gegen Leben, im Gegenteil: Geist ist
Leben, sofern es zu sich selber kommt. Aus der Beschreibung der
Strukturen des Seelenlebens und seines Ausdrucks will Dilthey die
Geisteswissenschaften in ihrer Eigenart philosophisch begrnden.
Die sich fr Husserl hier ergebenden Inkonzinnitten im Verhlt-nis
von Seele und Geist sind berspielt in der grozgigen Drei-
43 Zur Affinitt von Phnomenologie, Positivismus und
Lebensphiloso-phie: Hermann Lbbe, Bewutsein in Geschichten. Studien
zur Ph-nomenologie der Subjektivitt, Freiburg 1972.
44 Wilhelm Dilthey, Ideen ber eine beschreibende und
zergliedernde Psychologie (1894), in: Gesammelte Schriften
139-240.
75
-
gliederung der Ideen ii. Sie entsteht, indem zwei Dichotomien
ineinander geschoben werden: Physisches versus Psychisches und
>Natur versus Geist. Ob nun die Natur in eine
physisch-materielle und eine psychisch-animalische zerfllt oder das
Psy-chische sich in ein naturhaft-animalisches und ein
geistig-perso-nales aufspaltet: das sind Etikettenfragen. Auf sie
hat Husserl sich nicht weiter eingelassen, sondern unbeirrt zu
beschreiben ver-sucht. Das macht den Wert seiner Philosophie aus -
auch wenn der Wille zur systematischen Ordnung bei ihm so gro war
wie die Unfhigkeit, sie herzustellen. Whrend die beiden ersten
Abschnitte der Ideen ii ber das, was die Vorlesung von 1907
darstellte, durch recht ausfhrliche und detaillierte Untersuchungen
zur Verfassung des physischen Din-ges und des menschlichen Leibes
weit hinausgehen, berschreiten sie deren thematischen Umfang
lediglich darin, da der Leib nicht nur in seiner Funktion fr die
Ding- und Raumkonstitution gese-hen, sondern die ihm innewohnende
Seele samt ihrem reinen Ich eigens thematisiert wird. Anders
dagegen der nun zum Dritten Abschnitt gewordene Text. Er bietet uns
Husserls erste ausgearbeitete Theorie der Lebenswelt.
Worin geht diese Theorie ber das hinaus, was Husserl 1907 und
1910/ 1 1 bereits an lebensweltlichen Komponenten beschrieben
hatte? Welches sind die Strukturen dieser Welt? - Husserl setzt mit
der Fortschreibung seiner Theorie bei der Instanz ein, die,
inkarnierte Intentionalitt, bereits als Medium zwischen res
cogi-tans und res extensa entdeckt und beschrieben war: beim Leib.
Dieser Leib ist weiterhin Zentrum der ihn umgebenden Wirklich-keit,
doch er fgt sich nun, sie bereichernd, auf solche Weise in sie ein,
da sie sich zur Lebenswelt konkretisiert. Die neuen Struktu-ren,
durch die der Leib in die Welt eingelassen und diese kraft dieser
Einlassung von ihm geprgt wird, kann man an zwei ausge-zeichneten
Momenten festmachen: Ausdruck und Motivation. Ausdruck ist
diejenige Kategorie, die in Diltheys Aufbau der geschichtlichen
Welt ( 1910) eine so prominente Rolle spielt; der Verfasser hatte
am 21 . 12. 1910 ein Exemplar seiner Abhandlung an Husserl
geschickt, der es im Herbst 191 1 eingehend stu-diert; kurz zuvor,
am 25.8. 1 9 1 1 , hatte der Mnchener Phnome-nologe Alexander
Pfnder seine Schrift Motive und Motivatio-nen dem Gttinger Kollegen
zukommen lassen, der sich so-
76
-
gleich ausfhrliche Exzerpte macht.45 Beide Konzepte, das des
Ausdrucks und das der Motivation, bringen Husserl voran auf einem
Weg, den er lngst eingeschlagen hatte: Dilthey und Pfn-der lassen
den Phnomenologen in der von Avenarius beschriebe-nen Welt des
natrlichen Weltbegriffs neue Strukturen erken-nen. Ausdruck ist
das, wodurch der Leib eine geistige Bedeutung? gewinnt.46 Hier also
kehrt das wieder, was Husserl in den Logi-schen Untersuchungen
wegen der Unfixierbarkeit einer zugehri-gen Bedeutung gar nicht als
Ausdruck zulassen wollte: Das Mie-nenspiel und die leibliche
Gestik, aber auch das in wirklichen Worten sich vollziehende
Sprechen. Der Ausdruck Ausdruck war 1901, wie auch sein Korrelat
Bedeutung, der Sprache der Mathematik und der Logik entnommen; die
daher rhrende Re-striktion hat Husserl mit Hilfe der
Lebensphilosophie berwun-den. Dasjenige Ich aber, dessen Leib
ausdrckender Leib ist, erweist sich als personales Ich, als Person.
Und mit ihr er-schliet sich der Phnomenologe den Zugang zu
lebensweltlichen Gegebenheiten wie Typus, Stil, Charakter,
Habitus.47
Doch nicht nur der ausdrckende Leib ist Trger von geistiger
Bedeutung; diese gibt es, abgelst vom Leib und seiner
Subjekti-vitt, auch in Geistesobjekten, Geisteswerken,
>Kultur
-
Solange der Leib nur als Konstituens der Natur, der er selbst
zugehrt, Thema der Phnomenologie war, war selbstverstnd-lich der
Ichleib zuerst da. Er wird bentigt als Trger der Emp-findungen,
vornehmlich der kinsthetischen. Den Ubergang von der
solipsistischen zur intersubjektiven Erfahrung motiviert der
Cartesianer Husserl noch im Ersten Abschnitt der Ideen 11 damit, da
im Falle eines vllig einstimmigen Erfahrungsverlaufes ein einsames
Subjekt zwischen Wirklichkeit und konsistentem Schein nicht
unterscheiden knnte.50 Der ausdrckende Leib in der geistigen Welt
dagegen ist zuerst einmal der Leib des ande-ren. Das andere Ich ist
die erste Person. Ich, noch nicht Person, fasse den Leib anderer
doppelschichtig auf: als mitkonstituieren-den Teil der physischen
Realitt und als Ausdruck des Gei-stes.5' Zu dieser meiner
Auffassung gehrt aber als konstitutives Bestandstck mein Wissen
davon, da die anderen mich und mei-nen Leib ebenso auffassen: Die
Geistesapperzeption bertrgt sich auf das eigene Ich,52 eine
Wendung, in der Husserl den von Avenarius vorgezeichneten Umweg der
Introjektion vom ande-ren Ich zum eigenen getreu nachgeht. Freilich
ist die an der Ein-legung orientierte Begrifflichkeit vielfltig
berlagert von Vor-stellungen, die sich anlehnen an Diltheys Begriff
des Verste-hens und, strker noch, an Lipps' Gedanken der Einfhlung:
Einfhlung vollziehen, das heit einen objektiven Geist
erfas-sen.53
Da Husserl sich und uns nicht klar genug macht, ob das
Hin-einverstehen in fremdes Ichleben54 reflexiv oder transitiv zu
le-sen ist, ob es also ein Vorgang ist, in dem sich, eher
mimetisch, jemand in einen anderen einlebt, fremdes Geistesleben
nach-lebt, oder ob jemand, eher projektiv, einem anderen etwas
ein-versteht, ihm etwas eindeutet, 55 diese Unklarheit erklrt sich
nicht nur aus der Kontamination begrifflicher Schemata
unter-schiedlicher Herkunft, sondern auch aus unbewltigten
deskripti-ven und systematischen Problemen, die Husserl hier noch
gar nicht richtig entdeckt, geschweige denn gelst hat: die
nachgelas-
50 Ebd. 78 f f . 51 Ebd. 96. 52 Ebd. 242. 53 Ebd. 244. 54 Ebd.
194. 55 Ebd. 182, 185, 194, 206; 166, 298.
78
-
scnen Manuskripte ber Intersubjektivitt sind hier beredtes
Zeugnis. Die mit ihrem ausdrckenden Leib in die Welt eingelassenen
und durch Einfhlung miteinander verbundenen Subjekte ma-chen die
Welt zu einer allen gemeinsamen Umwelt: die Lebens-welt ist soziale
Welt.'6 Intentionalitt geht nicht mehr nur von einem Bewutsein zum
welthaften Gegenstand, sondern durch ihn hindurch zu einem anderen
Bewutsein. In cartesianischer Terminologie: das commerdum zwischen
res cogitans und res ex-tensa erweitert sich zum intersubjektiven
commercium - ein Schritt, der mit einer Homogenisierung von res
cogitans und res extensa einhergeht: jene wird zur Person, diese
zum Kulturge-genstand: beide sind gleichermaen geistige Objekte.57
Und die Welt, in der sie vorkommen, ist eben die geistige Welt. Es
liegt gewi nicht nur an dem Hegelianismus, der in Dilthey steckt,
sondern auch an der >Tendenz< des Cartesianers, mit seinem
eige-nen Dualismus fertig zu werden, da Husserl gelegentlich den
Verbund individueller Subjekte zu einer Art Uber-Subjekt zu
verschmelzen scheint: aus der geistigen Gemeinschaft wird der eine
Gemeingeist, aus der allen gemeinsamen Welt die Um-welt des
Gemeinschaftsgeistes.'8 Nicht wie Subjekte zueinander, wie sie
auseinander kommen, wird dann zur Leitfrage der
Inter-subjektivittsthematik; und das Problem des commerdum kippt um
in ein Problem der Individuation.
Neben dem Ausdruck ist die Motivation ein Moment, an dem sich
die Strukturen festmachen lassen, die der Gttinger Phno-menologe in
seiner Lebenswelt freilegt. Motivation bezeichnet er ja geradezu
als Grundgesetz dieser Welt. Worin besteht nun der mit Motivation
bezeichnete Sachverhalt? Und welche wei-teren >geistigen<
Zusammenhnge lassen sich an ihn anknpfen? Husserl operiert, um dies
zu entfalten, wieder mit der fundamen-talen Opposition von Natur
und Geist. In der Natur herrscht zwischen den ihr zugehrigen
Objekten die Beziehung kausaler Wechselwirkung. Der Leib aber,
sofern er selbst Teil der Natur ist, ist in den groen Kausalnexus
eingespannt: er wirkt auf die
56 Ebd. 182, 185, 191 ; 175. 57 Ebd. 243. 58 Ebd. 196 f., 198
f., 208.
79
-
Dinge und sie auf ihn. In der geistigen Welt dagegen kommt zu
diesem Zusammenhang ein anderer hinzu: die Person wird von den
Dingen ihrer Umwelt gereizt. Der Reiz, der auf die Person ausgebt
wird, ist kein sinnesphysiologisches Ereignis - wiewohl er zumeist
ein solches zur Grundlage hat - , sondern eine Einla-dung,
Aufforderung, Lockung zu einem bestimmten Verhalten. Nicht das
Nervensystem, sondern die Person mit ihrem Ich kann ist Adressat
des Reizes. Sowohl der Reiz, den etwas hat, als auch das Verhalten,
das auf ihn antwortet, sind hier noch frei von den Restriktionen,
die ihnen der Behaviorismus auferlegt hat59: den Organismus
zwi-schen stimulus und response einzuschalten hiee, naturhafte
Kau-salitt in die Sphre der Personalitt hineinzutragen und so die
Eigengesetzlichkeit der Lebenswelt zu verkennen. Motivation
da-gegen besteht darin, da ein Ding - im weitesten Sinn des Wortes
- vom lebensweltlichen Subjekt erfahren wird als etwas, das zu
einem Verhalten veranlat. Kausalitt und Motivation stehen im
Kontrast, Motivation und Verhalten in Korrelation: Das Subjekt
verhlt sich zum Objekt, und das Objekt reizt, motiviert das
Subjekt.6" Kausalitt fhrt uns auf physikalische Ursachen,
Mo-tivation auf subjektive Grnde: dort erklren, hier verstehen wir.
Und die Bewegungen, die der Leib des motivierten und sich
ver-haltenden Subjekts ausfhrt, sind eben Handlungen. Das
lebens-weltliche Ich ist wollendes Subjekt und handelnde
Per-son.6'
Mit dem Konzept der Motivation erschliet sich Husserl aber nicht
nur die Dimension der Praxis, sondern auch das strukturell so
bedeutsame Phnomen der Reziprozitt. Noch in den Ideen ist Husserls
Konstitutionstheorie beides: egozentrisch und zen-trifugal. 1907
bereits hatte Husserl in Anlehnung an Pfnders Bild von einem
Aufmerksamkeitsstrahl62 die Intentionalitt zum er-sten Mal mit
Hilfe der Strahlenmetaphorik beschrieben. Der Be-wutseinsstrahl
geht von innen nach auen, der Blickstrahl vom reinen Ich zum
Gegenstand. Das Ich freilich, das motiviert
59 Zum phnomenologischen Begriff des Verhaltens vgl. Bernhard
Wal-denfels, Der Spielraum des Verhaltens, Frankfurt 1980, bes. 5 $
f f .
60 Ideen //, iv 219. 61 Ebd. 2 1 7 , 185 f . 62 Alexander
Pfnder, Einfhrung in die Psychologie, Leipzig 1904,
274 ff . , 3 50 ff., 366 ff .
80
-
wird, ist nun fr Husserl nicht mehr blo Ausstrahlungszen-trum,
es wird zum Einstrahlungszentrum: Oft, wo nicht gar immer, finden
wir hierbei eigentlich doppelte Strahlungen, Vor-lauf und Rcklauf:
vom Zentrum aus durch die Akte auf deren Objekte hin und wiederum
rcklufig Strahlen vom Objekte zum Zentrum hin.6' Der Leib ist somit
erst hier im vollen Sinne Medium: das Hin und Her von Verhalten und
Motivation geht stets durch ihn, der es mit ermglicht, auch
hindurch. Welches Gewicht der als Motivation bezeichnete
Sachverhalt bekommt, kann man daran ermessen, da Husserl ihn
weithin mit Intentionalitt gleichsetzt. So sieht er dasselbe
Prinzip, das zwischen Gegenstand und Bewutsein vermittelt, auch im
Innern des Bewutseins am Werke: Motivation stellt Beziehungen
zwi-schen frherem und spterem Bewutsein her, so da die durchgehende
Einheit des Bewutseinsstroms eine Einheit der Motivation ist.64
Doch nicht genug damit! Sie ist auch fr die Herstellung des
commercium zwischen Personen verantwortlich. Motiviert wird das Ich
in der Lebenswelt ja gleichermaen von natrlichen wie kulturellen
Gegenstnden, von leblosen, belebten und begeisteten Objekten; denn
die geistige Umwelt ist oh-nehin die Welt, die vor der Trennung von
Natur und Kultur liegt, eine Kulturwelt, die die Natur als von
Personen erlebte in sich schliet. Ein Kristall, eine Landschaft,
der Sternenhimmel, ein Gesicht, ein Wort: davon wird man nicht nur
mechanisch be-rhrt, nicht nur physiologisch affiziert. Zu den
begeisteten Ob-jekten, die uns motivieren, zhlen auch und gerade
die anderen Subjekte. Alles, was wir als deren Ausdruck oder
Verhalten ver-stehen Mimik, Sprechen, Handeln - , kann zum Motiv
eigenen Verhaltens werden und umgekehrt. Diese intersubjektive
Moti-vation6 ' begrndet die Mglichkeit einer sozialen Interaktion
und gehrt mit dieser konstitutiv zur Lebenswelt dazu. Diese Welt
hat somit viele Zentren, von denen jedes Strahlen aussendet und
empfngt; sie ist die uns sozial gemeinsame Welt, die Welt unserer
Wechselrede, unserer Praxis.66
Whrend sich im Moment des Ausdrucks das festmachen lt, was an
kognitiven Leistungen in die Verfassung lebensweltlicher
63 Ideen it, iv 105. 64 Ebd. 22, 228. 65 Ebd. 231 . 66 Ebd.
234.
81
-
Sozialitt eingeht, lassen sich deren praktische Komponenten im
Prinzip der Motivation verankern. Als Indiz fr das Ineinander
dieser beiden Dimensionen kann gelten, da sich die Handlung als
Ausdruck von Geist und die Theorie als ein Typus von Ver-halten
begreifen lassen. Und da wir uns durch das Verstehen auf beides
beziehen, auf den Ausdruck von Geist und die Motivation von
Verhalten, zeigt, in welchem Mae Husserl seine >Gttinger
Lebenswelt< im Anschlu an, aber auch in Konkurrenz mit Dil-theys
philosophischer Grundlegung der Geisteswissenschaften konzipiert. -
Diese Konkurrenz aber wird Husserls erster Le-benswelt zum
Verhngnis.
3. Von der Gtt inger zur Freiburger Lebenswelt
Da Husserl die Ideen 11 nicht in einen Zustand zu bringen
ver-mochte, der ihre Verffentlichung gestattet htte, liegt nicht
zu-letzt an den unbewltigten Schwierigkeiten, die der Geist
Dil-theys dem Phnomenologen bereiten mute. Wenn man im Auge behlt,
da sich die Gliederung der Ideen 11 aus einer Uberlage-rung zweier
Distinktionen ergibt - Physisches und Psychisches auf der einen,
Natur und Geist auf der anderen Seite - , dann wird deutlich, da
das Psychische, heie es nun noch Seele oder schon Bewutsein, als
hchst fragile Gelenkstelle fungiert. Das Physische ist zwar Natur,
das Psychische aber keineswegs einfach Geist oder auch nur
Grundlage fr die Entwicklung von Geist. Im Gegenteil. Noch die
Logischen Untersuchungen hatten die Reinheit der reinen Logik gegen
den Psychologismus dadurch zu sichern versucht, da sie von der
empirisch-naturhaften Seele eine reine Subjektivitt berhaupt67
abtrennten, um diese zum weltlosen Ort der Realisierung der idealen
logischen Gesetzm-igkeiten zu machen. Das Psychische wird in der
Kritik am Psy-chologismus selbst ein Stck Natur. Der Geist aber,
den Husserl 1913 mit Dilthey der Natur gegenberstellt, reklamiert
dann ge-nau die Stelle fr sich, die bereits seit 13 Jahren von der
Subjekti-vitt berhaupt besetzt war. Und da diese Subjektivitt sich
whrend dieser Jahre an ihrer so privilegierten Stelle zum tran-
67 Logische Untersuchungen, xviil 240 (Bd. 1 238).
82
-
szendentalen Ich fortentwickelt hat, wird nun der Geist dessen
rgster Rivale. Um diesen Streit, noch ehe er voll entbrennt, zu
schlichten, be-mht Husserl seine Vorstellung von wechselnden
Einstellungen, mit denen wir uns der Wirklichkeit und uns selbst
zuwenden. Noch in den Ideen kommt Husserl, wie schon 1907, mit dem
Paar natrliche Einstellung - phnomenologische Einstellung aus. Jene
verlassen und diese erreichen wir durch die phnomeno-logische
Reduktion. Sie ermglicht uns, diejenigen Leistungen des
transzendentalen Bewutseins zu untersuchen, denen es zu-zuschreiben
ist, da wir uns immer schon unvermerkt in der natrlichen
Einstellung befunden und eine Welt als selbstver-stndlich
vorgefunden haben. In dem Attribut der Natrlichkeit hat Husserl
indessen in den Ideen 1 zwei verschiedene Determi-nanten dieser
Einstellung zusammengedacht: die Art, wie etwas gegeben ist, und
das, was gegeben ist. Dieses ist die Natur, jenes aber die von
allem Zweifel unberhrte Selbstverstndlichkeit, mit der wir das, was
uns umgibt, fr wirklich halten. Beide Determinanten dissoziieren
sich in dem Augenblick, da der Phnomenologe zu sehen lernt, was die
Person Edmund Husserl natrlich immer schon wute, da nmlich
Kulturgegenstnde und Personen zwar selbstverstndlich da, aber
keinesfalls schlichtweg Natur sind. Die natrliche Einstellung wird
da-durch formal: sie beschrnkt sich auf das Wie der Gegebenheit;
ihre inhaltliche Fllung aber erfhrt sie, indem sie sich zur
na-turalistischen oder personalistischen Einstellung konkretisiert
- je nachdem, auf welche Sorte von Objekten wir uns richten.68
Durch den bergang in die phnomenologische Einstellung kann die
natrliche und a fortiori die naturalistische wie die
personali-stische zum Thema einer Konstitutionstheorie gemacht
werden. Die Konstitution der geistigen Welt wre so ein Stck
tran-szendentaler Phnomenologie.
Man kann zweifeln, ob sie dies ist. Weithin hat sie das Aussehen
einer mundanen Phnomenologie, die, ohne Reduktion, nur das Wissen
expliziert, das die lebensweltlichen Subjekte, also die Personen in
ihrer Umwelt, schon haben mssen, um sein zu knnen, was sie sind.
Insofern bleibt diese frhe Theorie der Lebenswelt zum einen dem
verhaftet, was Dilthey mit seinem
68 Ideen , iv 179 ff., 183, 2C4.
83
- Programm der Begrndung der Geisteswissenschaften inten-dierte,
zum andern aber ebnet sie den Weg fr Heideggers Kon-zept des
Daseins als In-der-Welt-Sein und der Hermeneutik des zum Dasein
gehrigen Seinsverstndnisses: Heidegger kannte das Manuskript der
Ideen 11 bereits vor der Abfassung von Sein und Zeit.69 Und da
Maurice Merleau-Ponty es im Lwener Husserl-Archiv studiert hat,70
ist fr seine Variante einer Theorie mensch-lichen Welt-Lebens nicht
ohne Wirkung geblieben. Da Husserl seine geistige Welt nicht
konsequent zum Thema einer transzendentalen Konstitutionstheorie
machen konnte, liegt an der unbeantworteten Frage nach dem Subjekt,
das zu den verschiedenen Einstellungen als ihr Trger dazugehrt. Das
reine oder transzendentale Ich der phnomenologischen und das
geistige oder personale Ich der personalistischen Einstel-lung
drohen in eins zu fallen, je mehr Intentionalitt mit Motiva-tion
zur Deckung kommt. Aber der Gegenverkehr, den Husserl auf der
intentionalen Einbahnstrae zwischen Ich und Gegen-stand zult, macht
das reine Ich affizierbar. Darf es, wenn es alle Konstitution, die
es aufklrt, auch selbst leistet, von den rck-lufigen Strahlen
getroffen werden? Darf es identisch sein mit dem Ich der
>TendenzenReize< >ein-wirkenweiunbewut
- um erst >voll bewut
-
Ein kurzer Bl ick auf Husser ls spte Freiburger Lebenswelt<
mag verdeutl ichen, wie dort die Schwierigkeiten umgangen sind, die
in der geistigen Welt so schwer zu umgehen waren. Obgle ich beide
Welten Umwel ten f r natrlich eingestellte Subjekte sind, Welten
der Sozialitt und der Praxis , dif ferieren sie doch grund-stzlich
in ihrer Verfassung. D i e Lebenswelt der Krisis baut sich nicht
nur in sich selbst aus A u s d r u c k und Verstehen, Motivat ion
und Interaktion auf ; sie hat vielmehr neben diesem
>patenten< Flchenleben ein latentes Tiefenleben. 7 6 N u n ,
eine A r t Tie-fenleben kennen die Gt t inger Texte auch: es ist
das des perso-nalen Ich, das sich erst aus einem
sinnlich-naturhaften Leben herausbildet und dieses als bleibenden G
r u n d bei sich hat: Die-ses spezif isch geistige Ich . . . f
indet sich abhngig von einem dunklen Untergrund von
Charakteranlagen, ursprnglichen und verborgenen Disposit ionen,
andererseits von der Natur . 7 7 In diesem Reich der Dunkelhei ten
ist das Ich sozusagen verbor-genes Ich, lebt es im Stadium des
spezif ischen Unbewut-seins, der Verborgenheit. 7 8 In der Krisis
wird dieser Platz des verborgenen Ich neu besetzt: an die Stelle
des dumpfen Ich7 9
tritt die transzendentale Subjektivitt.
Diese Umbesetzung aber bringt eine Funkt ionsausweitung mit
sich: die Lebenswelt und die in ihr lebenden Subjekte
konstitu-ieren sich durch eine Selbstobjektivation der
transzendentalen Subjektivitt.8 0 Dieser Proze ist ganz nach dem
Muster der objektivierenden A u f f a s s u n g der Logischen
Untersuchungen gedacht: v o m Bewutsein zum O b j e k t - und z w a
r ohne Gegen-strahlen.8 l N icht nur die Absolutheit des
transzendentalen Ich ist damit gewahrt , auch die Verteilung von
Wissen ist geregelt. Das personale Ich wei nichts von seinem
transzendentalen Untergrund, ist blind fr sein eigenes
unterweltliches Le-ben.8 2 Erst die phnomenologische Redukt ion
bringt Licht in jenes latente Tiefenleben, durch welches und als
welches das transzendentale Ich seine Selbstobjektivation
vollzieht.
76 Die Krisis der europischen Wissenschaften, vi 122. 77 Ideen
Ii, iv 276. 78 Ebd. 107; 100. 79 Ebd. 107. 80 Die Krisis der
europischen Wissenschaften, vi 155. 81 Ideen 11, iv 98. 82 Die
Krisis der europischen Wissenschaften, vi 471 ; 209; 522.
86
-
Noch immer vertritt Husserl das Programm der phnomenolo-gischen
Aufklrung: sie besteht darin, die Selbstverstndlichkeit der
Lebenswelt durch Einsicht in ihre Konstitution dem
lebens-weltlichen Subjekt verstndlich zu machen. Was durch
Phnome-nologie erkannt wird, das geht in das alltgliche Leben ein:
Jede neue transzendentale Entdeckung bereichert also im Rckgang in
die natrliche Einstellung mein . . . Seelenleben.83 Mit diesem,
Gedanken des Einstrmens des Transzendentalen in die Le-benswelt
kehrt als Grenzwert des Aufklrungsprozesses das wie-der, was dem
Phnomenologen in den Ideen Ii wegen der Un-klarheit der Verteilung
der Funktionen und der Wissensbestnde Kopfzerbrechen bereiten mute:
die Kongruenz von personalem und transzendentalem Ich. Die Idee
einer Selbstobjektivation macht die Untersuchung der Konstitution
der Lebenswelt iden-tisch mit der Tiefenanalyse des Ich.84 Die
Frage nach dem com-mercium wird durch die Explikation des cogito
beantwortet. Da-mit hat Husserl die Komplementaritt von
Cartesianismus und Lebenswelt-Theorie bis zur Koinzidenz weiter
vorangetrieben. Aufklrung bedarf - das lehrt schon Descartes'
Verhltnis zur mittelalterlichen Scholastik - immer auch einer
Theorie ber die Grnde, die sie ntig machen. Wie kommt es, so mute
sich Husserl fragen, zur Latenz des Tiefenlebens? Die Ignoranz an
der Oberflche mu selbst noch als Resultat dessen verstanden werden,
was sich im Untergrund abspielt. In den Vollzug der
Selbstobjektivation hat Husserl, wie er vor allem in spten
spe-kulationstrchtigen Manuskripten ausfhrt, einen Akt der
tran-szendentalen Selbstverhllung8' eingebaut, durch den das
tran-szendentale Ich, indem es das mundane konstituiert, sich vor
diesem in die Verborgenheit zurckzieht: daher die Blindheit der
natrlichen Einstellung. Indem das transzendentale ego zum
lebensweltlichen Subjekt wird, vergit es, was es war und latent
noch immer ist. In dieser Konstellation gewinnt die
ph-nomenologische Reduktion die Funktion einer Anamnesis:
Erin-nerung an ein Wissen, das >vor< der weltlichen Existenz
schon da war, aber mit deren Anfang verlorenging.
Husserls >Freiburger Lebenswelt< hat aber nicht nur ein
transzen-
83 Ebd. 214. 84 Ebd. 174. 85 Zur Phnomenologie der
Intersubjektivitt. Texte aus dem Nachla.
Dritter Teil: 1929-193;, xv 388.
87
-
dentales Tiefenleben, das sie trgt; sie selbst trgt ihrerseits
etwas anderes: die Wissenschaften; die unmittelbare
Anschau-lichkeit der Dinge und ihre Verflechtung in Zusammenhnge
all-tglicher Praxis gehren zu einem vortheoretischen,
untertheo-retischen Leben,86 auf dem wissenschaftliche Theorie
aufruht. Die Lebenswelt ist, so Husserls Lieblingsmetapher, der
Boden der Wissenschaften. Eine derartige Beziehung war dem Gttinger
Husserl bereits in der Unterscheidung der personalistischen von der
naturalistischen Einstellung gelufig: diese, die auch
natur-wissenschaftliche heit, steht nicht alternativ neben jener -
der geisteswissenschaftlichen Einstellung87 - , sondern sie ist
deren Derivat. Erst indem die Person das, was sie zur Person und
ihre Welt zur geistigen Welt macht, ignoriert, indem sie also
Kul-turobjekte als blo materielle Krper, den ausdrckenden Leib als
bloen Organismus auffat, kurz, erst durch eine Art
Selbst-vergessenheit des personalen Ich88 geht dieses Ich aus der
perso-nalistischen in die naturalistische Einstellung ber. Natur
als Reich der res extensae entsteht erst durch den geistlosen
Blick, den wir auf die Wirklichkeit werfen. Da Husserl dieses
Verhlt-nis in der Krisis wieder aufgreift, liegt nicht an
unaufgelsten Aporien,89 die ihn aus der Zeit der Ideen noch qulen
wrden. Gleichwohl verdient es unsere Aufmerksamkeit, weil es zu
einer der Pforten wird, durch die das Thema >Geschichte< in
die Phno-menologie Einla findet.
Das Verhltnis beider Einstellungen hat der spte Husserl als
Bruch interpretiert, auf die Zeitachse umgelegt und so in einen
historischen Ablauf bersetzt. Die neuzeitliche Wissenschaften
transformiert schon in ihren Anfngen - Galilei ist da Husserls
Protagonist - auf verhngnisvolle Weise all das, was den Dingen der
Lebenswelt an unmittelbarer Anschaulichkeit zukommt, in die
Formelsprache der Mathematik. Gegenstand der Wissen-
86 Die Krisis der europischen Wissenschaften, vi 498. 87 Ideen
//, iv 204. 88 Ebd. 183 f. 89 Eine Aufzhlung solcher Aporien und
sonstiger Schwierigkeiten gibt
Alfred Schtz in seiner Besprechung der Ideen 11: Edmund
Husserl's Ideas, Volume 11, in: Philosophy and Phenomenological
Research 13 ( 1952/53) 394-413 ; deutsch in: A .Schtz , Gesammelte
Aufstze 111, Den Haag 197 1 , 49-73, bes. 70 ff .
88
-
Schften ist eine abstrakt-universale Natur,90 die sich der
ma-thematischen Behandlung nicht nur fgt, sondern durch diese erst
entsteht. Die Wissenschaft wird zur Formelwelt, sie schwebt so wie
in einem leeren Raum ber der Lebenswelt.9 ' Die Phno-menologie aber
traut sich zu, die so entstandene >Lcke< zu schlieen, also zu
zeigen, wie die Wissenschaften aus dem Leben und aus der Lebenswelt
herauswachsen, ohne sich von ihnen ab-zutrennen. Zum Zwecke dieser
Therapie bemht Husserl eine Art eigentlicher, nmlich
transzendentaler Geschichte, in der die ursprngliche Sinnbildung
und Sinnsedimentierung92 stattfin-det und die als Basis fr die
Diagnose dient, die der faktischen Wissenschaftsgeschichte gestellt
wird. Die Geisteswissenschaften und das, womit sie sich
beschftigen, hat Husserl ber seiner Kritik an der Naturwissenschaft
fast vl-lig aus den Augen verloren. Und das, wie paradox, in dem
Mae, in dem er das Thema >Geschichte< entdeckt! Husserls
>Gttinger Lebenswelt< war keine geschichtliche Welt - wiewohl
doch gerade Dilthey das, was er, Husserl zum Vorbild, den Aufbau
der geistigen Welt nennt, als Stufenreich von Leistungen und dieses
wiederum als Resultat des Geschichtsprozesses gefat hatte.93 Nun,
trotz der allenfalls marginalen Rolle, die der Ge-schichte
zugewiesen wird, ist die Lebenswelt, die Husserl in der
Konstitution der geistigen Welt beschreibt, weit mehr Kultur-welt94
als seine sptere Lebenswelt; und die frheren Beschrei-bungen lehren
weit mehr ber die innere Verfassung der Geistes-wissenschaften und
ihrer Gegenstnde als die wissenschaftsthera-peutische
Sptphilosophie. Da sich dem Gttinger Phnomeno-logen seine
Lebenswelt zur Sackgasse verengt, ist vor allem eine Konsequenz
dessen, da er sich um seiner theoretischen Auto-
90 Die Krisis der europischen Wissenschaften, vi 230. 91 Ebd.
448. 92 Ebd. 380. 93 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der
geschichtlichen Welt in den Geistes-
wissenschaften ( 1910) , in: Gesammelte Schriften v u 120, 127.
94 Da sich die Konstitution der geistigen Welt als une phnomno-
logie de la culture lesen lt, zeigt Paul Ricceur in seiner
Wrdigung; Analyses et problmes dans Ideen 11 de Husserl, in: Revue
de Mta-physique et de Morale 56 ( 195 1 ) 357-394 und 57 ( 1952) 1
- 1 6 ; englisch in: P. Ricceur, Husserl: An Analysis of His
Phenomenology, Evanston 1 9 6 7 , 3 5 - 8 1 .
-
nomie willen verpflichtet wute, unbeirrt festzuhalten an dem
Projekt einer Transzendentalphilosophie. Die Deskriptionen in-des,
die er zur Erfllung des selbstgestellten Anspruchs produ-ziert,
behalten ihren Wert auch dann, wenn ihr Autor mit ihnen nicht
systematisch zu Rande kommen und so nie recht glcklich werden
konnte. Ja , wer ohnehin wie Heidegger und Merleau-Ponty - mit dem
transzendentalen Ansatz der phnomenologi-schen Philosophie nicht
viel anzufangen wei, der wird hier ge-ngend Vorarbeiten und
Anknpfungsmglichkeiten finden. Die >Gttinger Lebenswelt< ist
nicht nur eine lehrreiche Sackgasse fr die transzendentale, sie ist
auch Abzweigung eines Weges fr eine >mundane<
Phnomenologie.
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