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MAURICE HALBWACHS
Das kollektive Gedchtnis Mit einem Geleitwort zur deutschen
Ausgabe von Heinz Maus Aus dem Franzsischen von Holde
Lhoest-Offermann FISCHER TASCHENBUCH VERLAG Zu diesem Buch Nach
Durkheim und Mauss ist Halbwachs der wichtigste und anregendste
Klassiker der modernen franzsischen Sozialwissenschaft. In seinen
Schriften verbindet sich ein hochwachsames Interesse an empirischer
Forschung mit einer bahnbrechenden Neugier fr die lautlosen
kulturellen Bestandteile individueller und gesellschaftlicher
Erfahrung: fr das menschliche Gedchtnis, fr die menschliche
Vorstellungskraft sowie deren wirkliche Zeitrechnung. Halbwachs
zeigt, wie das kollektive Gedchtnis einer Gesellschaft, einer
Gruppe das Bild der vergangenen Geschehnisse rekonstruiert, es
bewahrt und zugleich den Erwartungen eingliedert, die der
Vergangenheit und der Gegenwart jeweils entgegengebracht werden:
Das Neue ist im Vergangenen enthalten. Das Manuskript des
vorliegenden Buchs ist nach Halbwachs' Tod in seinem Nachla
entdeckt worden. Der Autor Maurice Halbwachs, 1877 in Reims
geboren, war Professor an der Sorbonne und am Collge de France. Am
16. Mrz 1945 wurde er im KZ Buchenwald ermordet. Sein Werk Das
Gedchtnis und seine sozialen Bedingungen (1925) ist vor mehreren
Jahren in deutscher bersetzung erschienen. FISCHER WISSENSCHAFT
4-5. Tausend: Juli 1991 Ungekrzte Ausgabe Verffentlicht im Fischer
Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, September 1985 Titel
der franzsischen Originalausgabe: >La Mmoire collectives
erschienen im Verlag Presses Universitaires de France, Paris Fr die
deutsche Ausgabe: Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart 1967 Alle Rechte
an dieser Ausgabe vorbehalten durch Fischer Taschenbuch Verlag
GmbH, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: Jan Buchholz/Reni
Hinsch Druck und Bindung: Wagner GmbH, Nrdlingen Printed in Germany
198;
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ISBN 3-596-V359-5
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Geleitwort Die Kenntnis der klassischen franzsischen Soziologie
ist in Deutschland noch immer wenig verbreitet. Zwar ist einmal die
allgemeine Vorstellung, was unter Soziologie zu verstehen sei,
durch sie bestimmt worden: durch A. Comte, auf den nicht nur ihr
Name, sondern auch ihr erster systematischer Entwurf zurckgeht, der
heute freilich als veraltet, ja, als hchst dubios gilt. Vllig
vergessen gar ist G. Tarde, dessen Ansicht, es gebe nur dort
Gesellschaft, wo seelische Wechselwirkung zwischen den Individuen
statthabe, gleichwohl inzwischen zum gngigen Glaubensgut der
Sozialpsychologie geworden ist, zu der sich mancherorts die
Soziologie verwandelt hat. Und auch E. Durkheim, mit dem neben Max
Weber manche Autoren erst die wissenschaftliche Phase der
Soziologie beginnen lassen mchten, ist hierzulande bis in die
jngste Zeit kaum beachtet worden. Die franzsische Schule" der
Soziologie, die sich um ihn scharte, hat indessen viele Jahrzehnte
hindurch nicht blo das geistige Leben der Dritten Republik, sondern
auch die Entwicklung der Soziologie in Nord- und Sdamerika, in
Japan und Vorderasien mitbestimmt; Juristen und Linguisten,
Ethnologen und Nationalkonomien, Psychologen und Moralphilosophen
standen unter ihrem Einflu, der in Frankreich auch heute noch nicht
erloschen ist, nicht zuletzt dank dem wohl selbstndigsten Schler
Durkheims, Maurice Halbwachs, dessen letzte, unvollendet gebliebene
Arbeit hier erstmals in deutscher Sprache vorgelegt wird. Die
Durkheim-Schule wehrte sich lange gegen die Psychologisierung
soziologischer Tatbestnde, aber das kollektive Bewutsein", das
zugleich das Gewissen der Gruppe" ist, da es sich, nach Durkheims
Einsicht, in den Normen und Regulierungen niederschlgt, die das
Verhalten der Einzel-Individuen und selbst ihre Gefhle, ihre
Glaubensvorstellungen und noch ihr Denken bestimmen, dieses
Generalthema der Durkheimschen Soziologie ist, wie wir heute
wissen, der Sozialpsychologie keineswegs so fremd, wie dies
Durkheims VI Argwohn gegenber der psychologischen Ausdeutung
sozialer Fakten und die schroffe Forderung, sich nicht der
Introspektion, sondern objektiver Verfahren zu bedienen, anfangs
wahrhaben wollte. Freilich geriet ihm dies kollektive Bewutsein,
mit dem er einen entscheidenden Sachverhalt sozialen Lebens
miverstndlich bezeichnete, unter der Hand gelegentlich zu einer
fast metaphysisch anmutenden Substanz; zu den Verdiensten von
Halbwachs zhlt, diesen Begriff entmythologisiert zu haben. Maurice
Halbwachs, 1877 in Reims geboren, war zunchst, wie seine Lehrer
Bergson und Durkheim auch, lange Jahre im hheren Schuldienst ttig,
begann whrenddessen jedoch mit einem neuen Studium der Rechts- und
Sozialwissenschaften und der Mathematik und lehrte danach in Caen,
Straburg und an der Sorbonne. Er gehrte der Acadmie des Sciences
morales et politiques und dem Institut international de Statistique
an, arbeitete am Internationalen Arbeitsamt in Genf und im
Vlkerbundausschu fr Fragen der Arbeiterernhrung mit, prsidierte
seit 1938 dem Institut franais de Sociologie, war Vizeprsident der
Socit de Psychologie und erhielt, wenige Tage, bevor er deportiert
wurde, am Collge de France eine Professur fr Sozialpsychologie. Am
16. Mrz 1945, fnf Tage nach seinem Geburtstage und unmittelbar vor
der Befreiung, wurde er in Buchenwald ermordet. Anfangs hatte er
sich literarischen und, vor allem, philosophischen Studien
hingegeben und ber Stendhal und Leibniz gearbeitet, aber zunehmend
erlangte die Soziologie sein Interesse; sie war im genauen Wortsinn
noch eine junge Wissenschaft, und es reizte ihn, die neuen Wege
mitzubahnen, die sie von der Spekulation, als die sie zu groem
Teile von den Zeitgenossen noch betrieben wurde, zur empirischen
Wissenschaft leiten sollten. Er sttzte
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sich hierbei auf die Statistik und diejenigen Arbeiten, in denen
er sich ihrer bedient hat die Untersuchung ber die Grundstckpreise
und die soziale Schichtung in Paris, ber die Moralstatistik
Quetelets, ber die soziale Morphologie, ber die Lebensverhltnisse
der Arbeiterklasse zum Beispiel sind Musterstcke frher empirischer
Forschung, die von der theoretischen Soziologie einst, was heute
nicht bersehen werden sollte, noch kaum bercksichtigt wurde.
Freilich hat Halbwachs davor gewarnt, die Statistik als diejenige
Form der Erfahrung aufzufassen, auf die die Soziologie sich allein
verlassen drfe; VII er ist zwar unter dem Einflu seines Freundes
Simiand anfangs durchaus dieser berzeugung gewesen, aber im
Fortgang seiner soziologischen Studien nahmen die Vorbehalte
gegenber dem allzu eng gefaten Begriff der Erfahrung zu, zu dem die
Statistik die Realitt des Sozialen verdnnt. Denn zu dieser Realitt
und zu ihrer Erfahrung zhlt auch, was sich nicht ohne weiteres
quantifizieren lt: das Gedchtnis und das Urteil der Individuen.
Aber zur gleichen Realitt zhlt auch, da Gedchtnis und Urteil
spezifischen sozialen Bedingungen unterliegen, die gleichsam den
Rahmen abgeben, in dessen Zusammenhang erinnert und gedacht wird:
innerhalb kollektiver Vorstellungen, die allerdings von
Gesellschaft zu Gesellschaft, von Klasse zu Klasse, Gruppe zu
Gruppe variieren und die dennoch jeweils fr eine Gesellschaft, eine
Klasse, eine Gruppe und sei es auch nur die einer Familie
bezeichnend sind. Glaubte Bergson die wirkliche Zeit" als ein
unablssig strmendes Bewutsein vom physikalischen, aus Raumpunkten
abstrahierten Zeitbegriff, wie ihn auch die Historiker bentzten,
ablsen zu knnen, so zeigte Halbwachs, da sie vielmehr vom
kollektiven Gedchtnis abhngt, das, unendlich vielfltig, das Bild
der vergangenen Geschehnisse rekonstruiert, es bewahrt und zugleich
den Vorstellungen und Erwartungen anpat und eingliedert, die der
Vergangenheit und der Gegenwart jeweils entgegengebracht werden:
Tradiertes bleibt sich nicht gleich und das Neue ist im Vergangenen
enthalten. Seit Halbwachs 1925 in den Sozialen Rahmen des
Gedchtnisses" nachzuweisen unternommen hatte, da die (datierbaren)
Erinnerungen der Individuen sich an einem sozialen Zusammenhang
orientieren, dank dessen sie der Erinnerung erst fhig sind, hat ihn
das Problem des sozialen Denkens nicht verlassen. Er fate es als
ein Gedchtnis, dessen Inhalt aus kollektiven Erinnerungen besteht,
durch die Vergangenes in einer Weise wiederhergestellt werde, da es
auf aktuelle Bedrfnisse zu antworten vermag; er fhrte es in der
Legendren Topographie der Evangelien im Heiligen Lande" 1941 aus.
Seine fr die Wissenssoziologie wie die Sozialpsychologie
gleichermaen bemerkenswerten Reflexionen ber die Beziehungen von
Gedchtnis und Gesellschaft wurden durch seine Ermordung
unterbrochen. Sie sind sein Vermchtnis an die Soziologie der
Gegenwart, sich ihrer selbst zu erinnern.
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Inhalt I. Kapitel Kollektives und individuelles Gedchtnis
......... l Gegenberstellung .............. l Das Vergessen durch
Loslsung von einer Gruppe ...... 3 Notwendigkeit einer gefhlsmigen
bereinstimmung ..... 11 Von der Mglichkeit eines strikt
individuellen Gedchtnisses ... 14 1. Kindheitserinnerungen
............ 16 2. Erinnerungen des Erwachsenen ......... 22 Die
individuelle Erinnerung als Grenze der kollektiven Interferenzen .
26 II. Kapitel Kollektives und historisches Gedchtnis ......... 34
Autobiographisches und historisches Gedchtnis : ihr scheinbarer
Widerstreit 34 Ihre reelle gegenseitige Durchdringung (Die
Geschichte der Gegenwart) 39 Die von der Kindheit an erlebte
Geschichte ........ 45 Das lebendige Band der Generationen
......... 48 Rekonstruierte Erinnerungen ............ 55 Verhllte
Erinnerungen ............. 58 Weitgefate Rahmen und nahehegende
Milieus ....... 64 Abschlieende Gegenberstellung des kollektiven
Gedchtnisses und der Geschichte ............... 66 Die Geschichte,
Bild der Ereignisse; die kollektiven Gedchtnisse, Sitz der
Traditionen .............. 71 III. Kapitel Das kollektive Gedchtnis
und die Zeit ......... 78 Die soziale Einteilung der Zeit
........... 78 Die reine (individuelle) Zeitdauer und die
gemeinsame Zeit" nach Bergson 80 Kritik des Bergsonschen
Subjektivismus ......... 85 Das Datum, Rahmen der Erinnerung
.......... 90 Abstrakte Zeit und reelle Zeit ........... 92 Die
universale Zeit" und die historischen Zeiten ....... 94 Historische
Chronologie und kollektive Tradition ....... 99 Vielfalt und
Heterogenitt der Arten der kollektiven Zeitdauer . . . 100
Undurchdringlichkeit der Arten der kollektiven Zeitdauer ..... 107
Langsamkeit und Schnelligkeit des sozialen Werdens ...... Hl Die
unpersnliche Substanz der dauerhaften Gruppen ..... 114 Permanenz
und Transformierung der Gruppen: ....... 117 Die Epochen der
Familie ........... 117 Das Weiterleben entschwundener Gruppen
....... 121 Die kollektive Zeitdauer, einzige Grundlage des
sogenannten individuellen Gedchtnisses ............... 123 IV.
Kapitel Das kollektive Gedchtnis und der Raum ....... 127 Die
Gruppe in ihrem rumlichen Rahmen. Macht des materiellen Milieus 127
Die Steine der Stadt ............. 130 Lagen und Verlagerungen.
Festhalten der Gruppe an ihrem Platz . . 134 Gruppierungen, die
scheinbar keine rumlichen Grundlagen haben: juristische,
wirtschaftliche und religise Gruppierungen ...... 130 Das
Sicheinfgen des kollektiven Gedchtnisses in den Raum .... 142
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Der juristische Raum und das Rechtsgedchtnis ..... 143 Der
wirtschaftliche Raum ........... 149 Der religise Raum
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Erstes Kapitel
Kollektives und individuelles Gedchtnis
Gegenberstellung Wir ziehen Zeugenaussagen heran, um zu erhrten
oder zu entkrften, aber auch um zu vervollstndigen, was wir von
einem Ereignis wissen, ber das wir schon in irgendeiner Weise
unterrichtet sind, von dem uns indessen mancherlei Umstnde unklar
bleiben. Der erste Zeuge, auf den wir uns stets berufen knnen, sind
jedoch wir selbst. Wenn jemand sagt: Ich traue meinen Augen nicht",
so fhlt er, da zwei Wesen in ihm sind: das eine, das wahrnehmende
Wesen, kommt einem Zeugen gleich, der ber das Gesehene vor jenem
Ich aussagt, das nicht gegenwrtig, sondern vielleicht frher gesehen
und sich vielleicht ebenfalls eine Meinung unter Zuhilfenahme der
Zeugnisse anderer gebildet hat. So hilft uns das, was wir
wahrnehmen, wenn wir in eine Stadt zurckkommen, in der wir schon
einmal gewesen sind, ein Bild zu rekonstruieren, von dem etliche
Teile vergessen waren. Wenn das, was wir heute sehen, sich in den
Rahmen unserer alten Erinnerungen einfgt, so passen sich umgekehrt
diese Erinnerungen der Gesamtheit unserer gegenwrtigen
Wahrnehmungen an. Es ist, als konfrontierten wir mehrere
Zeugenaussagen. Da diese trotz gewisser Divergenzen im
Grundlegenden bereinstimmen, knnen wir eine Gesamtheit von
Erinnerungen rekonstruieren, in der wir dies Wesentliche
wiedererkennen. Gewi, wenn sich unser Eindruck nicht nur auf unsere
Erinnerung, sondern auch auf die der anderen sttzt, wird unser
Vertrauen in seine Genauigkeit grer sein so als sei die gleiche
Erfahrung nicht nur von derselben Person, sondern von mehreren
Personen von neuem gemacht worden. Treffen wir einen Freund wieder,
von dem das Leben uns getrennt hat, bereitet es uns anfangs einige
Mhe, den Kontakt mit ihm wiederaufzunehmen. Aber beginnen wir
nicht, 2 gemeinsam zu denken und uns zu erinnern, sobald wir
gemeinsam verschiedene Umstnde haben lebendig werden lassen, an die
jeder von uns sich erinnert, und die nicht dieselben sind, obgleich
sie mit denselben Ereignissen zusammenhngen? Gewinnt das vergangene
Geschehen nicht an Gestalt, meinen wir nicht, es intensiver
wiederzuerleben, weil wir es uns nicht mehr allein vergegenwrtigen,
weil wir es jetzt so sehen wie wir es frher gesehen haben, als wir
es zugleich mit unseren Augen mit denen eines anderen betrachteten?
Aber unsere Erinnerungen bleiben kollektiv und werden uns von
anderen Menschen ins Gedchtnis zurckgerufen selbst dann, wenn es
sich um Ereignisse handelt, die allein wir durchlebt und um
Gegenstnde, die allein wir gesehen haben. Das bedeutet, da wir in
Wirklichkeit niemals allein sind. Es ist nicht notwendig, da andere
Menschen anwesend sind, die sich materiell von uns unterscheiden:
denn wir tragen stets eine Anzahl unverwechselbarer Personen mit
und in uns. Ich bin zum ersten Mal in London und gehe dort
wiederholt bald mit diesem, bald mit jenem Begleiter spazieren.
Einmal ist es ein Architekt, der mich auf die Bauten, ihre
Proportionen, auf ihre Lage aufmerksam macht; dann ist es ein
Historiker: ich erfahre, zu welcher Zeit eine bestimmte Strae
angelegt worden ist, da in jenem Haus ein berhmter Mann geboren
wurde, da hier oder dort bemerkenswerte Ereignisse stattgefunden
haben. Gemeinsam mit einem Maler bin ich fr die Farbtnung der
Parkanlagen empfnglich, fr die Linienfhrung der Palste, der
Kirchen, fr das Spiel von Licht und Schatten auf den Mauern und
Fassaden von Westminster, der Kathedrale, auf der Themse. Ein
Kaufmann, ein Geschftsmann fhrt
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mich durch die bevlkerten Straen der Innenstadt, lt mich vor den
Lden, den Buchhandlungen, den Kaufhusern innehalten. Aber selbst
wenn ich nicht gefhrt worden bin, gengt es, wenn ich aus all diesen
verschiedenen Betrachtungsweisen heraus verfate Stadtbeschreibungen
gelesen habe, wenn man mir geraten hat, diese oder jene
Stadtansicht zu betrachten einfacher noch, wenn ich den Stadtplan
studiert habe. Nehmen wir an, ich gehe allein spazieren. Kann man
sagen, da ich an diesen Spaziergang nur individuelle Erinnerungen,
die allein mir gehren, zurckbehalte? Ich bin indessen nur scheinbar
allein spazieren gegangen. Vor Westminster habe ich daran gedacht,
was mir mein Freund, der Historiker, darber gesagt 3 hatte (oder
was auf dasselbe hinausluft daran, was ich darber in einem
Geschichtsbuch gelesen hatte). Auf einer Brcke habe ich die Wirkung
der Perspektive betrachtet, auf die mein Freund, der Maler,
hingewiesen hatte (oder die mir auf einem Gemlde, auf einem Stich
aufgefallen war). Ich habe mich bei meinem Gang in Gedanken von
meinem Stadtplan leiten lassen. Als ich zum ersten Mal in London
war vor Saint Paul oder Mansion House, auf dem Strand" oder in der
Umgebung von Court's of Law brachten mir viele Eindrcke die Romane
von Dickens in Erinnerung, die ich in meiner Kindheit gelesen
hatte: so ging ich dort also mit Dickens spazieren. Von keinem
dieser Augenblicke, von keiner dieser Situationen kann ich sagen,
da ich allein war, da ich allein nachdachte; denn in Gedanken
versetzte ich mich in diese oder jene Gruppe in die, die ich mit
dem Architekten und darber hinaus mit jenen Menschen, deren
Interpret er nur fr mich war, oder in die, die ich mit dem Maler
(und seiner Gruppe) bildete, mit dem Geometer, der den Stadtplan
gezeichnet hatte, oder mit einem Romancier. Andere Menschen haben
diese Erinnerungen mit mir gemeinsam gehabt. Mehr noch, sie helfen,
mir diese ins Gedchtnis zurckzurufen: um mich besser zu erinnern,
wende ich mich ihnen zu, mache mir zeitweilig ihre Denkungsart zu
eigen; ich fge mich von neuem in ihre Gruppe ein, der ich auch
weiterhin angehre, da ich immer noch ihre Einwirkungen erfahre und
in mir manche Vorstellungen und Denkweisen wiederfinde, die ich
allein nicht htte entwickeln knnen und durch die ich mit diesen
Menschen in Verbindung bleibe.
Das Vergessen durch Loslsung von einer Gruppe So sind Zeugen im
gewhnlichen Sinne des Wortes, d. h. in materieller und fhlbarer
Form gegenwrtige Individuen, nicht notwendig, um eine Erinnerung zu
besttigen oder heraufzubeschwren. Sie wrden uns im brigen kaum
gengen. Tatschlich kommt es vor, da eine oder mehrere Personen, die
ihre Erinnerungen zusammentragen, sehr genau Geschehnisse und Dinge
beschreiben knnen, die wir mit ihnen zugleich erlebt und gesehen
haben ja, da sie selbst die gesamte Folge unserer Handlungen und
Worte unter bestimmten Umstnden wiedererstehen lassen knnen, ohne
da wir uns an irgendetwas erinnern knnten. Das beispielsweise ist
eine unbestreitbare Tatsache. Man bringt uns sichere Beweise, da
jenes 4 Ereignis stattgefunden hat, da wir anwesend und aktiv daran
beteiligt waren. Gleichwohl bleibt uns die Szene fremd, so als habe
ein anderer unsere Rolle gespielt. Um auf ein Beispiel
zurckzugreifen, das man uns entgegengehalten hat: es hat in unserem
Leben eine bestimmte Anzahl von Ereignissen gegeben, die
notwendigerweise stattgefunden haben mssen. Es ist gewi, da es
einen Tag gegeben hat, an dem ich zum ersten Mal auf dem Gymnasium
war, einen Tag, an dem ich ein Schuljahr begonnen habe, etwa das
dritte, das vierte usw. Obgleich
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eine solche Tatsache zeitlich und rumlich lokalisiert werden
kann und selbst wenn Verwandte und Freunde mir einen genauen
Bericht darber ablegen wrden , stehe ich einer abstrakten
Gegebenheit gegenber, der ich keinerlei lebendige Erinnerung
entsprechen lassen kann: ich erinnere mich an nichts. Ich erkenne
auch eine Gegend, durch die ich bestimmt ein oder mehrere Male
gekommen bin, nicht wieder, noch entsinne ich mich eines Menschen,
dem ich sicherlich begegnet bin. Gleichwohl sind die Zeugen da.
Verhlt es sich also so, da diese Zeugen eine vllig nebenschliche
und nur komplementre Rolle spielen, da sie mir zwar zweifellos dazu
dienen, meine Erinnerungen zu przisieren und zu vervollstndigen
jedoch nur unter der Voraussetzung, da diese Erinnerungen zuerst
wiederauftauchen, d. h. da sie in meinem Geist fortbestanden haben?
Nichts darf uns hieran jedoch erstaunen. Es gengt nicht, da ich
einem Ereignis, das andere als Zuschauer oder Handelnde erlebt
haben, beigewohnt oder an ihm teilgehabt habe, damit sich spter,
wenn jene anderen diese Ereignisse in meiner Gegenwart
heraufbeschwren, wenn sie ein Bild Stck fr Stck in meinem Geist neu
rstehen lassen, diese knstliche Konstruktion pltzlich belebt und
das Bild sich in Erinnerung umformt. Es ist wahr, da oft jene
Bilder, die uns durch unsere Umwelt aufgedrngt werden, den Eindruck
modifizieren, den wir von einem frheren Ereignis, von einem ehemals
gekannten Menschen haben zurckbehalten knnen. Es kann mglich sein,
da diese Bilder die Vergangenheit ungenau wiedergeben und da die
Spur von Erinnerung, die wir selber daran hatten, der Wirklichkeit
weit mehr entsprach: einigen wirklichen Erinnerungen wird auf diese
Weise eine kompakte Masse fiktiver Erinnerungen beigefgt. Umgekehrt
knnen allein die Zeugnisse anderer exakt sein, knnen unsere
Erinnerung korrigieren und sich mit ihr vereinen. Im einen wie im
anderen Falle heit das: wenn jene Bilder 5 so eng mit unseren
Erinnerungen verschmelzen und wenn sie von ihnen ihre Substanz zu
entlehnen scheinen, konnte unser Gedchtnis nicht vllig leer sein,
und wir fhlten uns fhig, aus eigener Kraft darin wie in einem trben
Spiegel einige Zge und (vielleicht illusorische) Konturen
wahrzunehmen, die uns das Bild der Vergangenheit wiederzugeben
vermchten. Ebenso wie man einen Keim, damit er Kristalle bilde, in
eine gesttigte Lsung einfhren mu, ist es notwendig, dieser
Gesamtheit uns fremder Zeugnisse so etwas wie den Samen eines
Erinnerns zuzufhren, damit sie sich zu einer konstanten Masse von
Erinnerungen festigt. Wenn dagegen jenes Ereignis sozusagen keine
Spur in unserem Gedchtnis hinterlassen zu haben scheint, d. h. wenn
wir uns mangels dieser Zeugen vllig unfhig fhlen, es auch nur
teilweise zu rekonstruieren, kann man uns eine lebensvolle
Beschreibung davon geben sie wird gleichwohl niemals eine
Erinnerung sein. Wenn wir behaupten, da eine Zeugenaussage uns
nichts ins Gedchtnis rufen wird, wenn nicht irgendeine Spur des
vergangenen Geschehens, das zu beschwren es gilt, in unserem Geist
haftet, so meinen wir im brigen damit nicht, da die Erinnerung oder
ein Teil dieser Erinnerung unverndert in uns hat fortbestehen
mssen, sondern nur, da wir von dem Zeitpunkt an, zu dem wir und die
Zeugen derselben Gruppe angehrten und in bestimmter Hinsicht
gemeinschaftlich dachten, mit dieser Gruppe in Verbindung und fhig
geblieben sind, uns mit ihr zu identifizieren und unsere
Vergangenheit mit der ihren zu vereinen. Ebensogut knnte man sagen:
seit diesem Augenblick drfen wir keinesfalls weder die Gewohnheit
noch das Vermgen verloren haben, als Mitglied dieser Gruppe, der
wir und ein bestimmter Zeuge angehrten, zu denken und uns zu
erinnern, das heit, die Dinge aus ihrer Sicht heraus zu sehen und
von allen Kenntnissen Gebrauch zu machen, die ihren Mitgliedern
gemeinsam sind. Nehmen wir den Fall eines Professors, der zehn oder
fnfzehn Jahre lang an einem Gymnasium unterrichtet hat. Er trifft
einen seiner frheren Schler und erkennt ihn kaum
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wieder. Dieser spricht von seinen damaligen Schulkameraden. Er
ruft sich ihre Pltze auf den verschiedenen Klassenbnken ins
Gedchtnis zurck. Er lt manchen Vorfall schulischer Art
Wiederaufleben, der sich in dieser Klasse in einem bestimmten Jahr
ereignet hatte, er erwhnt die Er- 6 folge dieses oder jenes
Kameraden, die Wunderlichkeiten und Streiche eines anderen,
bestimmte Abschnitte des Lehrstoffes, bestimmte Erklrungen, die den
Schlern besonders aufgefallen sind oder sie besonders interessiert
haben. Nun kann es sehr wohl mglich sein, da der Lehrer sich an
nichts von allem erinnert. Dennoch tuscht sich sein Schler nicht.
Es drfte im brigen gewi sein, da dem Lehrer in jenem Jahr, whrend
jedes einzelnen Tages, das Bild der Gesamtheit der Schler und die
Physiognomie eines jeden einzelnen stets gegenwrtig waren ebenso
wie all die Ereignisse und Zwischenflle, die den Rhythmus des
Klassenlebens verndern, beschleunigen, unterbrechen oder
verlangsamen und die bewirken, da diese Klasse eine Geschichte hat.
Wie hat er all dies vergessen knnen? Und woran liegt es, da die
Worte seines ehemaligen Schlers auer wenigen vagen Anklngen
keinerlei Echo in seinem Gedchtnis wachrufen? Der Grund liegt
darin, da die von einer Klasse gebildete Gruppe ihrem Wesen nach
ephemer ist zumindest wenn man die Klasse als gleichzeitig aus den
Schlern und dem Lehrer bestehend auffat und darin, da sie nicht
mehr dieselbe ist, sobald die Schler, dieselben vielleicht, von
einer Klasse in die andere kommen und sich auf anderen Bnken
wiederfinden. Zu Ende des Schuljahres zerstreuen sich die Schler
und diese bestimmte und besondere Klasse wird sich nie wieder neu
bilden. Jedenfalls mu eine Unterscheidung vorgenommen werden. Fr
die Schler wird die Klasse noch einige Zeit fortbestehen; zumindest
wird sich ihnen hufig die Gelegenheit bieten, an sie zurckzudenken,
sich an sie zu erinnern. Da sie etwa gleichaltrig sind, vielleicht
demselben sozialen Milieu angehren, werden sie nicht vergessen, da
sie unter demselben Lehrmeister einander nhergebracht wurden. Die
Lehren, die er ihnen bermittelt hat, tragen sein Geprge; oft, wenn
sie an diese Lehren und an manches, was mit ihnen zusammenhing,
zurckdenken werden, werden sie den Lehrer vor sich sehen, der sie
ihnen vermittelt hat, und auch ihre Klassenkameraden, die sie zur
gleichen Zeit wie sie empfangen haben. Fr den Lehrer selbst wird es
ganz anders sein. Als er in seiner Klasse war, bte er seine
Funktion aus; der technische Aspekt seiner Ttigkeit ist aber ebenso
unabhngig von dieser wie von irgendeiner anderen seiner Klassen.
Tatschlich unterscheidet sich fr den Lehrer, der alljhrlich
denselben Lehrstoff wiederholt, ein jedes dieser Unterrichtsjahre
nicht so deutlich von den anderen wie fr die 7 Schler jedes ihrer
auf dem Gymnasium verbrachten Schuljahre. Whrend fr die Schler
Unterricht, Ermahnungen, Verweise, ja selbst Gunstbezeigungen des
Lehrers, seine Gesten, seine Sprechweise, sogar seine Scherze neu
sind, bedeuten sie vielleicht fr den Lehrer nur eine Folge
gewohnter Handlungen und Verhaltensweisen, die sein Beruf mit sich
bringt. Nichts von alledem kann als Grundlage einer Gesamtheit von
Erinnerungen dienen, die sich eher auf diese Klasse als auf eine
andere beziehen wrden. Es besteht keine dauerhafte Gruppe, der der
Lehrer weiterhin angehren wrde, an die zurckzudenken er
Veranlassung htte, und deren Betrachtungsweise er sich wieder
zueigen machen knnte, um sich mit ihr der Vergangenheit zu
erinnern. Aber so ist es in allen Fllen, in denen andere fr uns
Ereignisse rekonstruieren, die wir mit ihnen erlebt haben, ohne da
wir in uns das Gefhl des Schn-Gesehenen wieder aufleben lassen
knnten. Es besteht in der Tat eine Diskontinuitt zwischen diesen
Ereignissen, den
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Menschen, die daran beteiligt waren und uns selbst nicht nur
weil die Gruppe, innerhalb derer wir die Ereignisse wahrgenommen
haben, materiell nicht mehr besteht, sondern auch weil wir nicht
mehr an sie gedacht haben und ber keine Mittel verfgen, ihr Bild zu
rekonstruieren. Jedes der Mitglieder dieser Gesellschaft wurde in
unseren Augen durch seinen Platz innerhalb der Gesamtheit der
anderen Mitglieder charakterisiert und nicht durch seine uns
unbekannten Beziehungen zu anderen Milieus. Alle Erinnerungen, die
innerhalb der Klasse entstehen konnten, sttzen sich aufeinander und
nicht auf auerhalb dieser Gruppe liegende Erinnerungen. Die Dauer
eines solchen Erinnerns war also zwangslufig auf die Existenzdauer
der Gruppe beschrnkt. Wenn trotzdem Zeugen fortbestehen, wenn
beispielsweise ehemalige Schler sich erinnern und versuchen knnen,
ihrem Lehrer Ereignisse zu vergegenwrtigen, an die dieser sich
nicht erinnert, so weil diese Schler innerhalb der Klasse mit
einigen Kameraden oder auerhalb der Klasse mit ihren Eltern kleine,
engere, auf jeden Fall aber dauerhaftere Gemeinschaften bildeten,
und weil das Klassengeschehen auch diese kleinen Gesellschaften
interessierte, sich in ihnen auswirkte und seine Spuren hinterlie.
Aber der Lehrer war von ihnen ausgeschlossen oder zumindest wute er
selbst nichts davon, wenn diese Gesellschaften ihn mit in sich
einbezogen. 8 Wie oft kommt es nicht tatschlich vor, da sich
innerhalb der verschiedenartigen Gesellschaften, die die Menschen
untereinander bilden, einer von ihnen eine falsche Vorstellung
davon macht, welchen Raum er im Denken des anderen einnimmt, und
die Quelle wievieler Miverstndnisse und Desillusionen ist nicht
diese Verschiedenheit der Betrachtungsweisen. Im Bereich der
gefhlsbedingten Beziehungen, in dem die Einbildung eine groe Rolle
spielt, erfhrt ein menschliches Wesen, das sehr geliebt wird und
nur mig liebt, oft erst sehr spt von der Bedeutung, die seinen
geringsten Schritten, seinen unbedeutendsten Worten beigemessen
wurde, oder wird sich ihrer niemals ganz bewut. Der Mensch, der am
strksten geliebt hat, wird dem anderen spter Erklrungen und
Versprechungen ins Gedchtnis rufen, an die dieser sich nicht
erinnert. Das kann nicht immer auf Unbestndigkeit, Untreue oder
Leichtsinn zurckgefhrt werden, sondern darauf, da der eine weit
weniger stark als der andere an dieser Gesellschaft beteiligt war,
die auf einem ungleich geteilten Gefhl beruhte. So wrde ein sehr
frommer Mann, dessen Leben schlicht erbaulich war und den man nach
seinem Tode heilig gesprochen hat, sehr erstaunt sein, wrde er ins
Leben zurckkehren und seine Legende lesen knnen; diese jedoch ist
an Hand sorgfltig aufbewahrter Erinnerungen zusammengestellt und
glubig niedergeschrieben worden, und zwar von jenen Menschen, in
deren Mitte der dargestellte Abschnitt seines Lebens gelebt wurde.
In diesem Falle ist es wahrscheinlich, da viele der
zusammengetragenen Ereignisse, die der Heilige nicht wiedererkennen
wrde, nicht stattgefunden haben; aber es gibt Begebenheiten, die
ihm mglicherweise nicht aufgefallen sind, weil er seine
Aufmerksamkeit auf das innere Bild Gottes konzentrierte, die aber
von den ihn umgebenden Menschen bemerkt wurden, da ihre
Aufmerksamkeit vor allem auf ihn gerichtet war. Jedoch ist es
mglich, da man sich zunchst ebensosehr wie andere und sogar noch
strker fr ein bestimmtes Ereignis interessiert und trotzdem nichts
davon in Erinnerung behlt, so da man es nicht wiedererkennt, wenn
die anderen es einem beschreiben, weil man seit dem Zeitpunkt, zu
dem es geschehen ist, die Gruppe, von der es bemerkt wurde,
verlassen hat und nicht wieder in sie zurckgekehrt ist. Es gibt
Menschen, von denen man sagt, da sie stndig in der Gegenwart leben,
das heit, da sie sich nur fr die Menschen und 9
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Dinge interessieren, in deren Mitte sie sich augenblicklich
befinden und die mit dem derzeitigen Gegenstand ihrer Ttigkeit,
Beschftigung oder Zerstreuung in Verbindung stehen. Sobald ein
Geschft abgeschlossen, eine Reise beendet ist, denken sie nicht
mehr an diejenigen zurck, die ihre Partner oder Gefhrten waren.
Sogleich werden sie von anderen Interessen erfat, in andere Gruppen
aufgenommen. Eine Art lebenswichtiger Instinkt befiehlt ihnen, ihr
Denken von allem abzuwenden, was sie von ihrer augenblicklichen
Beschftigung ablenken knnte. Manchmal ergeben die Umstnde, da diese
Menschen sich gleichsam im Kreise drehen und von einer Gruppe der
anderen zugefhrt werden so wie in jenen alten Tanzfiguren, bei
denen man, stndig den Partner wechselnd, gleichwohl denselben in
kurzen Intervallen wiederfindet. So verliert man sie nur, um sie
wiederzufinden, und da dieselbe Fhigkeit des Vergessens sich
abwechselnd zum Nachteil und zum Vorteil jeder der Gruppen, die sie
durchqueren, auswirkt, kann man sagen, da man sie ganz und gar
wiederfindet. Aber es kommt auch vor, da sie hinfort einen Weg
verfolgen, der nicht mehr jenen kreuzt, den sie verlassen haben,
einen Weg, der sie sogar mehr und mehr von diesem entfernt. Trifft
man dann spter Mitglieder der Gesellschaft wieder, die uns so sehr
fremd geworden ist, befindet man sich vergeblich erneut in ihrer
Mitte es gelingt einem nicht, die alte Gruppe mit ihnen
neuzubilden. Es ist, als gelange man von der Seite her an eine
Strae, die man frher entlanggegangen ist, so da man sie nun von
einem Punkt aus sieht, von dem aus man sie niemals betrachtet hat.
Man ordnet ihre verschiedenen Einzelheiten in eine andere, durch
unsere augenblicklichen Vorstellungen gebildete Gesamtheit ein. Es
scheint, als komme man auf eine neue Strae. Tatschlich nehmen jene
Einzelheiten ihren frheren Sinn nur im Zusammenhang mit einer ganz
anderen Gesamtheit an, die von unserem Denken nicht mehr umspannt
wird. Man wird uns alle Einzelheiten sowie ihre Anordnung ins
Gedchtnis rufen knnen. Man mte indessen von der Gesamtheit
ausgehen. Dies jedoch ist uns nicht mehr mglich, da wir uns seit
langem von ihr entfernt haben und zu weit in die Vergangenheit
zurckgehen mten. Alles geht hier vor sich wie im Fall jenes
pathologischen Gedchtnisschwundes, der einen ganz bestimmten und
begrenzten Komplex von Erinnerungen betrifft. Es ist festgestellt
worden, da man bis- 10 weilen infolge eines Gehirnschocks vergit,
was sich whrend eines gesamten, im allgemeinen vor dem Schock
liegenden und mit einem bestimmten Datum beginnenden Zeitraumes
zugetragen hat, whrend man sich an alles brige erinnern kann. Oder
man vergit eine ganze Kategorie gleichgearteter Erinnerungen,
welches auch der Zeitpunkt gewesen sein mag, zu dem man sie
erworben hat: so beispielsweise alles, was man von einer fremden
Sprache wute. Vom physiologischen Standpunkt aus scheint das leicht
erklrbar nicht etwa dadurch, da die Erinnerungen an denselben
Zeitraum oder die Erinnerungen gleicher Art in einen bestimmten,
allein verletzten Teil des Gehirns lokalisiert seien; sondern die
Gehirnfunktion des Erinnerns mu in ihrer Gesamtheit angegriffen
sein. Das Gehirn hrt daraufhin auf, bestimmte und nur diese
Ttigkeiten zu verrichten, ebenso wie ein geschwchter Organismus
whrend einiger Zeit unfhig ist, zu gehen oder zu sprechen oder
Nahrung zu verwerten, obgleich alle ndern Funktionen fortbestehen.
Jedoch knnte man ebensogut sagen, da die allgemeine Fhigkeit
angegriffen ist, mit den Gruppen in Verbindung zu treten, aus denen
sich die Gesellschaft zusammensetzt. Daraufhin lst man sich von
einer oder einigen unter ihnen los und von diesen allein. Die
Gesamtheit der Erinnerungen, die wir mit ihnen gemeinsam haben,
verschwindet jh. Einen Abschnitt seines Lebens vergessen heit: die
Verbindung zu jenen Menschen verlieren, die uns zu jener Zeit
umgaben. Eine fremde Sprache vergessen bedeutet: nicht mehr
imstande sein, jene Menschen zu verstehen, die uns in dieser
Sprache anredeten mochten sie im brigen lebendig und
-
gegenwrtig sein oder Autoren, deren Werke wir lasen. Wenn wir
uns ihnen zuwandten, nahmen wir eine bestimmte Haltung ein, ebenso
wie jedweder menschlichen Gesamtheit gegenber. Es hngt nun nicht
mehr von uns ab, diese Haltung einzunehmen und uns dieser Gruppe
zuzuwenden. Nun knnen wir jemanden treffen, der uns versichert, da
wir diese Sprache sehr wohl gelernt, knnen beim Durchblttern
unserer Bcher und Hefte auf jeder Seite sichere Beweise dafr
finden, da wir diesen Text bersetzt haben, da wir diese Regeln
anzuwenden wuten. Nichts von alledem wird gengen, den
unterbrochenen Kontakt zwischen uns und jenen Menschen
wiederherzustellen, die in dieser Sprache sprechen oder geschrieben
haben. Das bedeutet, da wir nicht mehr genug Aufmerksamkeit
aufzubringen vermgen, um 11 gleichzeitig mit dieser und mit anderen
Gruppen in Verbindung zu bleiben, an denen wir zweifellos enger und
unmittelbarer festhalten. Es ist im brigen nicht erstaunlich, da
diese Erinnerungen und ausschlielich sie auf diese Weise alle
zugleich ausgeschaltet werden. Es besagt, da sie ein unabhngiges
System bilden, da sie Erinnerungen derselben Gruppe, untereinander
verbunden und aufeinander gesttzt sind, und da diese Gruppe sich
deutlich von allen anderen unterscheidet, so deutlich, da man sich
zugleich innerhalb aller jener und auerhalb dieser einen befinden
kann. Liegen keine pathologischen Strungen vor, entfernen und
isolieren wir uns auf vielleicht weniger brske und brutale Weise
allmhlich von manchen Milieus, die uns nicht vergessen, die wir
selbst jedoch nur vage in Erinnerung behalten. Mit allgemeinen
Begriffen knnen wir die Gruppen, denen wir angehrt haben, noch
umschreiben. Aber sie interessieren uns nicht mehr, weil alles uns
gegenwrtig von ihnen entfernt.
Notwendigkeit einer gefhlsmigen bereinstimmung Nehmen wir
nunmehr an, wir haben eine Reise mit einer Gruppe von Begleitern
gemacht, die wir seitdem nicht wieder gesehen haben. Unsere
Gedanken waren ihnen damals zugleich sehr nahe und sehr fern. Wir
plauderten mit ihnen. Wir interessierten uns mit ihnen fr die
Einzelheiten der Fahrtroute und die verschiedenen Zwischenflle der
Reise. Aber gleichzeitig nahmen unsere Gedanken einen Lauf, der
sich ihrer Kenntnis entzog. Tatschlich brachten wir Gefhle und
Vorstellungen mit, deren Ursprung bei anderen wirklichen oder
imaginren Gruppen lag: innerlich unterhielten wir uns mit anderen
Menschen; whrend wir durch dieses Land fuhren, bevlkerten wir es in
Gedanken mit anderen Wesen: ein bestimmter Ort, ein bestimmter
Umstand nahm dann in unseren Augen eine Bedeutung an, die er nicht
fr jene haben konnte, die uns begleiteten. Spter werden wir
vielleicht einen von ihnen wiedertreffen und er wird Besonderheiten
dieser Reise erwhnen, an die er sich erinnert und auf die wir uns
mten besinnen knnen, wenn wir mit denen in Verbindung geblieben
wren, die die Reise mit uns gemacht und die seitdem oft zusammen
ber sie gesprochen haben. Aber uns ist alles entfallen, was er
berichtet und was uns ins Gedchtnis zurckzurufen er sich vergeblich
bemht. Dagegen werden wir uns an das 12 erinnern, was wir damals
ohne Wissen der anderen empfunden haben so als habe sich diese Art
Erinnerung unserem Gedchtnis tiefer eingeprgt, weil sie allein uns
anging. So vermgen in diesem Fall einerseits die Zeugenaussagen
anderer nicht, unsere verblate Erinnerung wieder aufzufrischen,
andererseits erinnern wir uns scheinbar ohne Beihilfe anderer an
Eindrcke, die wir niemandem mitgeteilt haben. Folgt daraus, da das
individuelle Gedchtnis in seiner Eigenschaft als Gegenteil des
-
kollektiven Gedchtnisses eine notwendige und hinreichende
Voraussetzung fr das Auffinden und Wiedererkennen einer Erinnerung
darstellt? In keiner Weise. Denn wenn diese erste Erinnerung
verblat ist, wenn es uns nicht mehr mglich ist, sie wieder
aufzufrischen, so deshalb, weil wir seit langem nicht mehr der
Gruppe angehren, in deren Gedchtnis sie aufbewahrt wurde. Soll
unser Gedchtnis das der anderen zuhilfe nehmen, gengt es nicht, da
diese uns ihre Zeugnisse liefern: unser Gedchtnis darf obendrein
nicht aufgehrt haben, mit dem ihren zu harmonieren, und es mssen
gengend Verbindungspunkte zwischen dem einen und dem anderen
bestehen, damit die neuerweckte Erinnerung auf einer gemeinsamen
Grundlage rekonstruiert werden kann. Um eine Erinnerung zu wecken,
gengt es nicht, Stck um Stck das Bild eines vergangenen Ereignisses
wiederherzustellen. Dieser Wiederaufbau mu von gemeinsamen
Gegebenheiten und Vorstellungen aus unternommen werden, die sowohl
in unserem Bewutsein als auch in dem der anderen enthalten sind, da
sie ununterbrochen vom einen zum anderen berwechseln und umgekehrt
, was nur mglich ist, wenn alle Individuen derselben Gesellschaft
angehrt haben und weiterhin angehren. So nur ist zu verstehen, da
eine Erinnerung zugleich wiedererkannt und rekonstruiert werden
kann. Was bedeutet es mir, da die anderen noch von einem Gefhl
beherrscht werden, das ich frher mit ihnen teilte und das ich heute
nicht mehr empfinde? Ich kann es nicht mehr in mir erwecken, da ich
seit langem nichts mehr mit meinen frheren Gefhrten gemeinsam habe.
Dafr kann weder mein noch ihr Gedchtnis verantwortlich gemacht
werden, sondern nur das Verlschen eines breiteren, kollektiven
Gedchtnisses, das beide zugleich umfate. So trennen sich bisweilen
Menschen, die durch die Notwendigkeit eines gemeinsamen
Unternehmens, durch die Verehrung eines unter ihnen, durch
verwandt- 13 schaftliche Bande, durch eine knstlerische
Beschftigung usw. zusammengehalten wurden, spter in mehrere
Gruppen: jede dieser Gruppen ist zu begrenzt, um alles beinhalten
zu knnen, was das Denken der Partei, des literarischen Kreises, der
religisen Versammlung, die sie frher alle zusammen umfaten,
beschftigt hat. Auch widmen sich die Gruppen nur einem Aspekt jenes
Denkens und bewahren ein Andenken allein an einen Teil jener
Ttigkeit. Daher mehrere Bilder einer gemeinsamen Vergangenheit, die
nicht bereinstimmen und von denen keines wirklich zutreffend ist.
Tatschlich kann von dem Augenblick an, in dem sich die Gruppen
getrennt haben, keine von ihnen den gesamten Inhalt des ehemaligen
Denkens wiedergeben. Wenn nur zwei dieser Gruppen von neuem
miteinander in Verbindung treten, fehlt ihnen zum gegenseitigen
Verstndnis und zum gegenseitigen Besttigen der Erinnerung an diese
gemeinsam gelebte Vergangenheit die Fhigkeit, die Schranken zu
vergessen, die sie gegenwrtig trennen. Ein Miverstndnis lastet auf
ihnen wie auf zwei Menschen, die sich wiederfinden und die
gleichsam nicht mehr dieselbe Sprache sprechen. Was die Tatsache
anbetrifft, da wir Erinnerungen an Eindrcke bewahren, um die keiner
unserer Gefhrten der damaligen Zeit hat wissen knnen, so stellt
auch sie keinen Beweis dafr dar, da unser Gedchtnis sich selbst
gengen kann und nicht stets der Untersttzung durch das der anderen
bedarf. Nehmen wir an, wir seien zum Zeitpunkt des Antritts unserer
Reise mit einer Gruppe von Freunden lebhaft mit Dingen beschftigt
gewesen, von denen diese nichts wuten; von einer Vorstellung oder
einem Gefhl vllig in Anspruch genommen, bezogen wir hierauf alles,
was wir sahen oder hrten: wir nhrten unser geheimes Denken mit
allem, was innerhalb unseres Wahrnehmungskreises mit diesen Dingen
verbunden werden konnte. Es war, als htten wir die Gruppe mehr oder
minder entfernter menschlicher Wesen, mit der wir durch unsere
berlegungen verknpft waren, nicht verlassen; wir fgten in sie alle
Elemente des neuen Milieus ein, die sie nur aufnehmen konnte;
diesem Milieu an sich und vom Standpunkt unserer Begleiter aus
betrachtet gehrten wir jedoch nur zum geringsten Teil unseres
Selbst an. Wenn wir spter an die Reise zurckdenken, kann man nicht
sagen, da wir
-
uns an die Stelle derer versetzen, die sie mit uns gemacht
haben. An sie selbst werden wir uns nur in dem Mae erinnern, als
sie in den Rahmen unserer 14 berlegungen eingeschlossen waren.
Ebenso bleiben, wenn man ein Zimmer zum ersten Male bei
einbrechender Nacht betreten und die Wnde, die Mbel und alle
Gegenstnde in einem Halbdunkel gesehen hat, diese phantastischen
und geheimnisvollen Formen in unserem Gedchtnis als der kaum
wirkliche Rahmen des Gefhls von Beunruhigung, berraschung oder
Trauer haften, das uns in dem Augenblick befiel, als wir sie
erblickten. Um sie uns ins Gedchtnis zurckzurufen, wrde es gengen,
das Zimmer bei hellem Tageslicht wiederzusehen: wir mten
gleichzeitig an unsere Trauer, an unsere berraschung und
Beunruhigung zurckdenken. Ist es demnach unsere persnliche Reaktion
in Gegenwart dieser Dinge, die sie fr uns in solchem Mae verndert?
Ja, wenn man so will aber unter der Voraussetzung, da man nicht
vergit, da unser persnliches Denken und Fhlen seinen Ursprung in
bestimmten sozialen Milieus und unter bestimmten sozialen Umstnden
hat, und da die Kontrastwirkung sich vor allem daraus ergibt, da
wir in diesen Gegenstnden nidit suchten, was die mit ihnen
vertrauten Menschen darin sahen, sondern was mit den Betrachtungen
anderer verbunden war, deren Denken sich wie das unsere zum ersten
Mal mit diesem Zimmer beschftigte.
Von der Mglichkeit eines strikt individuellen Gedchtnisses Wenn
diese Analyse exakt ist, wrde das Resultat, zu dem sie uns fhrt,
vielleicht erlauben, dem ernsthaftesten und im brigen natrlichsten
Einwand zu begegnen, dem man sich aussetzt, wenn man vorgibt, sich
nur unter der Bedingung zu erinnern, da man den Standpunkt einer
oder mehrerer Gruppen einnimmt und sich von neuem in eine oder
mehrere Strmungen kollektiven Denkens einfgt. Man wird uns
vielleicht zubilligen, da eine groe Anzahl von Erinnerungen wieder
auftaucht, weil andere Menschen sie uns ins Gedchtnis zurckrufen;
man wird selbst einrumen, da man sind diese Menschen materiell
nicht gegenwrtig von einem kollektiven Gedchtnis sprechen kann,
wenn wir ein Ereignis Wiederaufleben lassen, das einen bestimmten
Raum im Leben unserer Gruppe einnahm und das wir vom Standpunkt
dieser Gruppe aus sahen und auch augenblicklich, da wir es uns ins
Gedchtnis zurckrufen, noch so sehen. Wir haben sehr wohl das Recht,
zu verlangen, da man uns diesen zweiten Punkt zubilligt, da eine
derartige gei- 15 stige Haltung nur bei einem Menschen mglich ist,
der einer Gesellschaft angehrt oder ihr angehrt hat und, aus der
Ferne zumindest, noch ihren Einflu erfhrt. Es gengt, da wir an
einen bestimmten Gegenstand nur denken knnen, weil wir uns als
Mitglied einer Gruppe betragen, um das Bestehen der Gruppe offenbar
zur Voraussetzung dieses Gedankens werden zu lassen. Darum ist ein
Mensch, der ohne Begleitung nach Hause geht, zweifellos einige Zeit
lang allein gewesen", wie man sagt. Aber er war es nur scheinbar,
denn selbst whrend dieses Zeitraums erklrt sich sein Denken und
Handeln aus seiner Eigenschaft als soziales Wesen, hat er nicht
einen Augenblick aufgehrt, in irgendeine Gemeinschaft einbezogen zu
sein. Da liegt nicht die Schwierigkeit. Gibt es jedoch nicht
Erinnerungen, die wiederauftauchen, ohne da es irgendwie mglich
wre, sie mit einer Gruppe in Verbindung zu bringen, da das
Ereignis, das sie wiedergeben, von uns wahrgenommen wurde, als wir
allein waren nicht scheinbar, sondern wirklich allein ,
Erinnerungen, deren Bild sich in das Denken keiner menschlichen
Gemeinschaft
-
einfgt und die wir uns aus einer Sicht heraus ins Gedchtnis
zurckrufen, die nur die unsere sein kann? Selbst wenn Flle dieser
Art sehr selten und sogar auergewhnlich wren, wrde es gengen,
einige von ihnen beweisen zu knnen, um darzulegen, da das
kollektive Gedchtnis nicht alle unsere Erinnerungen erklrt und
vielleicht, da es nicht allein das Erwecken irgendeiner Erinnerung
ermglicht. Schlielich beweist nichts, da all die Kenntnisse und
Bilder, die den sozialen Milieus, denen wir angehren, entlehnt sind
und die im Gedchtnis wirksam werden, nicht wie ein Schirm eine
individuelle Erinnerung abdecken, selbst wenn wir dieser nicht im
geringsten gewahr werden. Die gesamte Frage besteht darin, ob es
eine solche Erinnerung geben kann, ob sie denkbar ist. Die
Tatsache, da sie vorgekommen ist wenn auch nur ein einziges Mal ,
wrde gengen, um zu beweisen, da nichts ihrem Wirksamwerden in allen
Fllen entgegensteht. Jeder Erinnerung lge dann das Zurckrufen eines
rein individuellen Bewutseinzustandes zugrunde, den wir um ihn von
den Wahrnehmungen zu unterscheiden, in die mannigfache Elemente des
sozialen Denkens mit eindringen als intuition sensible" bezeichnen
lassen wollen. Man empfindet einige Beunruhigung", sagte Charles
Blondel, 16 wenn man sieht, wie aus der Erinnerung aller Abglanz
dieser ,intuition sensible' eliminiert oder nahezu eliminiert wird,
die zweifellos nicht die gesamte Wahrnehmung bedeutet, die aber
gleichwohl offensichtlich deren unentbehrliche Einleitung und
Bedingung sine qua non ist... Damit wir nicht die Rekonstruierung
unserer eigenen Vergangenheit mit jener verwechseln, die wir von
der Vergangenheit unseres Nachbarn machen knnen, damit diese
empirisch, logisch und sozial mgliche Vergangenheit uns mit unserer
wirklichen Vergangenheit bereinzustimmen scheint, mu sie zumindest
in manchen ihrer Teile etwas mehr als eine an Hand entliehener
Elemente bewirkte Wiederherstellung sein" (Revue Philosophique,
1926, S. 296). Dsir Roustan seinerseits schrieb uns: Beschrnkten
Sie sich darauf zu sagen: ,Wenn man sich auf die Vergangenheit zu
besinnen glaubt, besteht dieser Vorgang zu 99 % aus Rekonstruierung
und zu l % aus wahrhaftem Sichbesinnen', gengte dieser Rckstand,
der sich von Ihnen nicht erklren lassen wrde, um das gesamte
Problem des Bewahrens der Erinnerung von neuem aufzuwerfen. Knnen
Sie indessen diesen Rckstand vermeiden?"
1. Kindheitserinnerungen Es ist schwierig, auf Erinnerungen zu
stoen, die uns an einen Zeitpunkt zurckversetzen, zu dem unsere
Empfindungen nur der Abglanz uerer Gegenstnde waren, zu dem wir
ihnen keines der Bilder, keinen der Gedanken beimischten, durch die
wir mit den uns umgebenden Menschen und Gruppen verbunden waren.
Wenn wir uns nicht an unsere frheste Kindheit erinnern, so weil
unsere Eindrcke tatschlich ber keinen Anhaltspunkt verfgen, solange
wir noch kein soziales Wesen sind. Meine frheste Erinnerung",
erzhlt Stendhal, ist, Frau Pinson-Dugalland, meine Cousine, eine
Frau von fnfundzwanzig Jahren, die beleibt war und viel Rouge trug,
in die Wange oder in die Stirn gebissen zu haben. Ich sehe die
Szene vor mir, jedoch zweifellos deshalb, weil man unverzglich ein
Verbrechen daraus gemacht hat und unaufhrlich ein Verbrechen daraus
machte." Ebenso erinnert er sich, eines Tages ein Maultier
gekniffen zu haben, das ihn daraufhin umstie. ,Ein wenig mehr, und
er war tot', sagte mein Grovater. Ich stelle mir das Geschehen vor,
aber wahrscheinlich ist dies keine direkte Erinnerung, sondern nur
die Erinnerung an das Bild, das ich mir sehr frh, zur Zeit der
ersten Schilderungen, 17
-
die man mir gab, von der Angelegenheit machte" (Vie de Henri
Brulard, S. 31 und 58). Ebenso verhlt es sich mit vielen der
sogenannten Kindheitserinnerungen. Die frheste, auf die zurckgehen
zu knnen ich lange Zeit geglaubt habe, war unsere Ankunft in Paris.
Ich war damals zweieinhalb Jahre alt. Wir stiegen abends die Treppe
hinauf (die Wohnung lag im vierten Stock), und wir Kinder bemerkten
ganz laut, da man in Paris auf dem Speicher wohne. Nun, da einer
von uns diese Bemerkung gemacht hat, ist mglich. Aber es war
natrlich, da unsere Eltern, die sie belustigt hat, sie behalten und
uns spter wiedererzhlt haben. Ich sehe noch unser erleuchtetes
Treppenhaus, aber ich habe es seitdem sehr oft gesehen. Hier nun
ein Kindheitsereignis, das Benvenuto Cellini zu Beginn seiner
Memoiren" erzhlt: es ist nicht sicher, ob es eine Erinnerung ist.
Wenn wir es dennoch wiedergeben, so weil es uns helfen wird, das
darauffolgende Beispiel, auf das wir besonderen Wert legen werden,
besser zu verstehen. Ich war ungefhr drei Jahre alt, mein Grovater
Andrea Cellini lebte noch und war schon ber hundert. Eines Tages
hatte man ein Rohr eines Splbeckens ausgewechselt, und heraus war
ein riesiger Skorpion gekommen, ohne da man es bemerkt hatte. Er
war auf den Fuboden hinuntergekrochen und hatte sich unter einer
Bank versteckt. Ich sah ihn, lief zu ihm und fing ihn ein. Er war
so gro, da auf der einen Seite meiner Hand sein Schwanz und auf der
anderen seine beiden Scheren herausschauten. Man hat mir erzhlt, da
ich hocherfreut auf meinen Grovater zusprang und rief: ,Schau,
Grovater, mein schner kleiner Krebs!' Er erkannte sofort, da es ein
Skorpion war und wre in seiner Liebe zu mir vor Schrecken fast tot
umgefallen. Er suchte, ihn mir abzuschmeicheln, aber ich prete ihn
nur noch strker und weinte, denn ich wollte ihn nicht hergeben.
Mein Vater, der noch im Hause war, kam bei dem Geschrei
herzugeeilt. In seinem Entsetzen wute er nicht, wie er es
verhindern sollte, da dieses giftige Tier mich tte, als ihm eine
Schere ins Auge fiel. Er bewaffnete sich mit ihr und schnitt, mich
gleichzeitig liebkosend, dem Skorpion Schwanz und Scheren ab.
Sobald er mich aus der Gefahr befreit hatte, betrachtete er dieses
Ereignis als ein gutes Vorzeichen." Diese bewegte und dramatische
Szene spielt sich gnzlich innerhalb der Familie ab. Als das Kind
nach dem Skorpion greift, kommt ihm nicht einen Augenblick lang der
Gedanke, dies sei ein gefhrliches Tier: es ist 18 ein kleiner
Krebs, wie die, die seine Eltern ihm gezeigt haben, die sie ihn wie
ein Spielzeug haben anfassen lassen. In Wirklichkeit ist ein
fremdes Element in das Haus eingedrungen, und der Grovater, der
Vater reagieren jeder auf seine Art. Trnen des Kindes, Flehen und
Schmeicheln der Eltern, ihre Angst, ihr Schrecken und der
darauffolgende Freudenausbruch: jede dieser Familienreaktionen
zeigt den Sinn des Ereignisses auf. Nehmen wir an, das Kind rufe
sich dieses ins Gedchtnis zurck: das Bild fgt sich in den Rahmen
der Familie ein, da es von Anfang an darin einbezogen war und ihn
niemals verlassen hat. Hren wir nun Charles Blondel: Ich erinnere
mich", erzhlt er, da ich als Kind einmal beim Durchforschen eines
verlassenen Hauses unvermittelt mitten in einem dunklen Zimmer bis
zum Grtel in ein Loch eingebrochen bin, auf dessen Grund Wasser
stand, und ich entsinne mich mehr oder weniger mhelos, wo und wann
dies passiert ist; aber hier ist es mein Wissen, das vllig meiner
Erinnerung untergeordnet ist." Nehmen wir an, da die Erinnerung wie
ein nicht lokalisiertes Bild erschienen ist. Man hat sie also nicht
dadurch zurckrufen knnen, da man zuerst an das Haus dachte, das
heit, aus der Sicht der Familie heraus, die dort wohnte dies um so
weniger, hat Blondel uns gesagt, als er diesen Vorfall niemals
irgendeinem seiner Verwandten erzhlt hat und als er sicher ist,
seitdem nicht wieder an ihn gedacht zu haben. In diesem Fall", fgt
er hinzu, mu ich die Umgebung meiner Erinnerung konstruieren, ich
brauche keineswegs sie selbst wiederherzustellen. Es scheint
wirklich, als htten wir bei Erinnerungen dieser Art einen direkten
Kontakt mit der
-
Vergangenheit, der der historischen Rekonstruierung vorausgeht
und sie bedingt" (a. a. O., S. 297). Diese Schilderung
unterscheidet sich deutlich von der vorhergehenden vor allem
dadurch, da Benvenuto Cellini uns als erstes angibt, zu welchem
Zeitpunkt und an welchem Ort sich die Szene, die er wachruft,
abgespielt hat, was Blondel keineswegs wute, als er seinen Sturz in
ein halb mit Wasser geflltes Loch beschrieb. Er hebt das selbst
nachdrcklich hervor. Aber vielleicht ist dies dennoch nicht der
grundlegende Unterschied zwischen den beiden. Die Gruppe, der das
Kind in diesem Alter am engsten zugehrt und die es unaufhrlich
umgibt, ist die Familie. Dieses Mal indessen hat das Kind sie
verlassen. Es sieht nicht nur seine Eltern nicht mehr, sondern es
mag scheinen, als seien 19 sie ihm auch geistig nicht mehr
gegenwrtig. Jedenfalls nehmen sie in keiner Weise an der Geschichte
teil, da sie nicht einmal von ihr in Kenntnis gesetzt worden sind
oder ihr nicht gengend Bedeutung beigemessen haben, um sie in
Erinnerung zu behalten und sie spter dem zu erzhlen, der ihr Held
gewesen ist. Aber gengt dies, um behaupten zu knnen, er sei
wirklich allein gewesen? Erklren die Neuheit und die Lebhaftigkeit
seines Eindruckes eines schmerzlichen Eindruckes der Verlassenheit,
eines eigenartigen Eindruckes der berraschung ber das Unerwartete
und das nie Gesehene oder Gefhlte , da sein Denken sich von den
Eltern abgewandt hat? Hat er sich nicht im Gegenteil pltzlich in
Not befunden, eben weil er ein Kind war, das heit, ein im Netzwerk
des huslichen Denkens und Fhlens den Erwachsenen eng verbundenes
Wesen? Dann aber dachte er an die Seinen und war nur scheinbar
allein. Infolgedessen bedeutet es wenig, da er sich nicht erinnern
kann, zu welchem genauen Zeitpunkt und an welchem bestimmten Ort er
sich befand, da er auf keinen rumlichen oder zeitlichen Rahmen
Bezug nehmen kann. Es ist der Gedanke an die abwesende Familie, der
den Rahmen liefert, und das Kind braucht nicht, wie Blondel sagt,
die Umgebung seiner Erinnerung zu rekonstruieren", da die
Erinnerung sich innerhalb dieser Umgebung einstellt. Da das Kind
dies nicht bemerkt hat, da seine Aufmerksamkeit in diesem
Augenblick durchaus nicht auf diesen Aspekt seines Denkens
gerichtet war, da spter, wenn der Mann diese Kindheitserinnerung
wachruft, er ihn ebenfalls nicht bemerkt, darf uns in keiner Weise
erstaunen. Eine soziale Denkstrmung" ist gewhnlich ebenso
unsichtbar wie die Luft, die wir einatmen. Im normalen Leben sprt
man ihre Existenz nur, wenn man ihr Widerstand leistet aber das
Kind, das die Seinen herbeiruft und das ihre Hilfe braucht,
widersetzt sich ihnen nicht. Blondel knnte uns sehr richtig
entgegenhalten, die Tatsache, da er sich an eine Gesamtheit von
Einzelheiten erinnert, stehe in keiner Beziehung zu irgendeinem
Aspekt seiner Familie. Ein dunkles Zimmer erkundend, ist er in ein
halb mit Wasser geflltes Loch gefallen. Nehmen wir an, es habe ihn
gleichzeitig erschreckt, sich weit entfernt von den Seinen zu
fhlen. Das Grundlegende, hinter das womglich alles brige
zurcktritt, ist dieses Bild, das in sich selbst als vllig losgelst
von dem huslichen Milieu erscheint. Dieses Bild indessen, seine
Aufbewahrung mte erklrt werden. So wie es ist, unter- 20 scheidet
es sich tatschlich von jeglicher anderen Lage, in der ich mich
befand, wenn ich bemerkte, da ich fern von den Meinen war, in der
ich mich demselben Milieu und derselben .Umgebung' zuwandte, um
dort Hilfe zu finden. Mit anderen Worten, es ist nicht ersichtlich,
wie ein so allgemeiner Rahmen wie die Familie eine derart besondere
Begebenheit wieder hervorbringen knnte." Diese Formen, die von den
durch die Gesellschaft bedingten kollektiven Rahmen gebildet
werden", sagt weiterhin Blondel, bedrfen wohl einer Materie". Warum
nicht einfach behaupten, da diese Materie in der Tat existiert und
nichts anderes ist
-
als eben all das, was in unserer Erinnerung keine Beziehung zu
dem Rahmen hat, das heit die Empfindungen und intuitions
sensibles", die in diesem Bild Wiederaufleben wrden? Als der kleine
Dumling von seinen Eltern im Wald verlassen worden ist, hat er
sicherlich an seine Eltern gedacht; aber viele andere Dinge haben
sich ihm dargeboten: er ist einem oder mehreren Pfaden gefolgt, er
ist auf einen Baum geklettert, er hat einen Lichtschein entdeckt,
er hat sich einem einsam gelegenen Haus genhert usw. Wie kann man
das alles in der einfachen Bemerkung zusammenfassen: er hat sich
verirrt und hat seine Eltern nicht wiedergefunden? Wenn er einem
anderen Weg gefolgt wre, andere Begegnungen gehabt htte, wre das
Gefhl der Verlassenheit dasselbe gewesen, jedoch htte er ganz
andere Erinnerungen zurckbehalten. Dem antworten wir, da, wenn ein
Kind sich in einem Wald oder einem Haus verirrt, alles so vor sich
geht, als werde es das bis dahin der Denk- und Gefhlsstrmung
gefolgt ist, die es mit den Seinen verbindet gleichzeitig von einer
anderen Strmung erfat, die es von jener entfernt. Vom kleinen
Dumling kann man sagen, da er innerhalb der Familiengruppe bleibt,
da er seine Brder bei sich hat. Aber er setzt sich an ihre Spitze,
er nimmt sie alle in seine Obhut, er fhrt sie das heit, er wechselt
von der des Kindes zur Vaterstelle ber, er tritt in die Gruppe der
Erwachsenen ein und bleibt nichtsdestoweniger ein Kind. Dies aber
trifft auch auf jene von Blondel erwhnte Erinnerung zu, die
gleichzeitig eine Kindheitserinnerung und die Erinnerung eines
Erwachsenen ist, da das Kind sich zum ersten Male in der Lage eines
Erwachsenen befunden hat. Als Kind war sein Denken dem eines Kindes
gem. Gewohnt, die ueren Gegenstnde mit Hilfe von Kenntnissen zu
beurteilen, die 21 es seinen Eltern verdankte, rhren sein Erstaunen
und seine Furcht von der Mhe her, die es ihm bereitete, das, was er
jetzt sah, in seine kleine Welt einzuordnen. Erwachsen wurde er
insofern, als er sich da die Seinen nicht mehr in seiner Reichweite
waren ihm neuen und beunruhigenden Dingen gegenber fand, die dies
jedoch zweifellos nicht fr einen Erwachsenen waren, zumindest nicht
in demselben Mae. Er hat nicht lange auf dem Grunde dieses dunklen
Schachtes bleiben knnen. Nichtsdestoweniger hat er Verbindung mit
einer Welt aufgenommen, die er spter wiederfinden wird, wenn er
mehr sich selbst berlassen sein wird. Es gibt im brigen im Laufe
der Kindheit viele Augenblicke, in denen man so dem entgegentritt,
was nicht mehr dem Familienbereich angehrt sei es, da man sich bei
der Berhrung mit den Dingen stt oder verletzt, sei es, da man sich
ihrem Zwang unterwerfen und beugen mu, so da man unweigerlich eine
ganze Reihe kleiner Prfungen durchluft, die einer Vorbereitung auf
das Erwachsenenleben gleichkommen: dies ist der Schatten, den die
Gesellschaft der Erwachsenen auf die Kindheit wirft und mehr noch
als ein Schatten, da das Kind dazu berufen werden kann, an Sorgen
und Verantwortungen teilzuhaben, deren Gewicht gewhnlich auf
strkeren Schultern als den seinen lastet, und da es dann zeitweise
zumindest und nur mit einem Teil seiner selbst in die Gruppe der
lteren aufgenommen wird. Daher sagt man bisweilen manchen Menschen
nach, sie haben keine Kindheit gehabt, weil die Notwendigkeit des
Brotverdienens sie zu frhzeitig gezwungen hat, in jene Bereiche der
Gesellschaft einzutreten, in denen die Menschen um ihr Leben kmpfen
whrend die Mehrzahl der Kinder nicht einmal wei, da diese Bereiche
existieren oder weil sie infolge eines Trauerfalles eine Art von
Leiden kennengelernt haben, das gewhnlich Erwachsenen vorbehalten
ist und dem sie in gleicher Weise wie diese die Stirn bieten mssen.
Der besondere Inhalt solcher Erinnerungen, der sie von allen
anderen abhebt, wrde sich also dadurch erklren, da sie sich an
einem berschneidungspunkt zweier oder mehrerer Gedankenfolgen
befinden, durch die sie mit ebenso vielen Gruppen verbunden sind.
Es wrde nicht gengen, zu sagen: am Kreuzungspunkt einer
Gedankenfolge, die uns an eine Gruppe bindet hier die Familie , und
der einer anderen, die nur Empfindungen enthlt, die in uns
-
durch die Dinge ausgelst werden; alles wrde dann von neuem in
Frage 22 gestellt werden, denn da dieses Bild der Dinge nur fr uns
existiert, wrde sich ein Teil unserer Erinnerungen auf kein
kollektives Gedchtnis sttzen. Aber ein Kind hat Angst im Dunklen
oder wenn es sich an einem verlassenen Ort verirrt, weil es diesen
Ort mit eingebildeten Feinden bevlkert, weil es sich in dieser
Dunkelheit an wer wei welch gefhrlichen Wesen zu stoen frchtet.
Rousseau erzhlt, da Monsieur Lambercier ihm an einem sehr dunklen
Herbstabend den Kirchenschlssel gab und ihn von der Kanzel die
Bibel holen hie, die dort liegengeblieben war. Als ich das Portal
ffnete", sagt er, hrte ich im Gewlbe einen unbestimmten Widerhall,
der Stimmen zu gleichen schien und der anfing, meine rmische
Entschlossenheit wanken zu machen. Ich wollte durch das geffnete
Portal eintreten, aber kaum hatte ich einige Schritte getan, als
ich innehielt. Die tiefe Dunkelheit wahrnehmend, die in diesem
weiten Raum herrschte, wurde ich von einem Entsetzen ergriffen, das
mir die Haare zu Berge stehen lie. Ich verhedderte mich in den
Bnken, ich wute nicht mehr, wo ich war, und da ich weder die Kanzel
noch das Portal finden konnte, wurde ich in eine unaussprechliche
Verwirrung gestrzt." Wre die Kirche erhellt gewesen, so htte er
gesehen, da niemand da war und htte sich nicht gefrchtet. Die Welt
ist fr das Kind niemals leer von menschlichen Wesen, von wohlttigen
und bsartigen Einflssen. Den Punkten, in denen diese Einflsse sich
treffen und berschneiden, entsprechen in der Vorstellung von seiner
Vergangenheit vielleicht deutlichere Bilder, denn ein Gegenstand,
den wir von zwei Seiten und mit zwei Lichtquellen beleuchten,
bietet uns mehr Einzelheiten dar und zieht unsere Aufmerksamkeit
strker auf sich.
2. Erinnerungen des Erwachsenen
Beschftigen wir uns nicht weiter mit den Kindheitserinnerungen.
Man knnte eine groe Anzahl von Erinnerungen aus dem
Erwachsenendasein anfhren, die so ursprnglich sind und so festgefgt
wirken, da sie durchaus unzerlegbar erscheinen. Aber bei diesen
Beispielen wrde es uns immer mglich sein, die gleiche Illusion
aufzuzeigen. Da ein bestimmtes Mitglied einer Gruppe zufllig auch
einer anderen Gruppe angehrt, da die Denkweisen, die der einen und
der anderen entstammen, pltzlich in seinem Geist
aufeinandertreffen; vermutlich nimmt es allein diesen Kontrast
wahr. 23 Wie sollte es also nicht glauben, da in ihm seine
Empfindung entsteht, die nicht im geringsten dem gleichkommt, was
die anderen Mitglieder dieser beiden Gruppen verspren knnen, wenn
diese keine anderen Berhrungspunkte mit ihm haben? Diese Erinnerung
ist in zwei Rahmen zugleich enthalten; aber einer dieser Rahmen
hindert es, den anderen wahrzunehmen, und umgekehrt: es
verschwendet seine Aufmerksamkeit auf den Punkt, in dem sie
aufeinandertreffen, und kann so ihrer selbst nicht mehr gewahr
werden. So bildet man sich gerne ein, da, wenn man am Himmel zwei
verschiedenen Konstellationen zugehrige Sterne wiederzufinden sucht
und befriedigt ist, vom einen zum anderen eine imaginre Linie
gezogen zu haben, allein die Tatsache, sie so aufzureihen, ihrem
Ganzen eine Art Einheit verleiht; gleichwohl ist jeder nur ein in
einer Gruppe enthaltenes Element, und wenn wir sie haben
wiederfinden knnen, so weil keines der Sternbilder in diesem
Augenblick von einer Wolke verdeckt war. Ebenso glauben wir, da
zwei Denkweisen, einmal gegeneinandergestellt, sich gegenseitig zu
verstrken scheinen, weil sie kontrastieren, ein Ganzes bilden, das
aus sich selbst heraus existiert, unabhngig von den Gesamtheiten,
denen sie entnommen sind und wir bemerken nicht, da wir in
Wirklichkeit zugleich die beiden
-
Gruppen betrachten, jedoch jede aus der Sicht der anderen.
Greifen wir nun die Annahme wieder auf, die wir zuvor entwickelt
haben. Ich habe eine Reise mit Menschen gemacht, die ich seit
kurzem kenne und die wiederzusehen mir spter nur in groen
Zeitabstnden bestimmt war. Wir reisten zu unserem Vergngen. Aber
ich sprach wenig, ich hrte kaum zu. Mein Sinn war angefllt mit
Gedanken und Bildern, die die anderen nicht interessieren konnten
und von denen sie nichts wuten, weil sie mit meinen Eltern, meinen
Freunden zusammenhingen, von denen ich im Augenblick entfernt war.
So fanden sich Menschen, die ich liebte, die die gleichen
Interessen hatten wie ich eine ganze Gemeinschaft, die mir eng
verbunden war , ohne es zu wissen in ein Milieu eingefhrt, in
Ereignisse verwickelt, Landschaften zugesellt, die ihnen vollkommen
fremd oder gleichgltig waren. Betrachten wir daraufhin unsere
Eindrcke. Sie lassen sich zweifellos durch das erklren, was im
Mittelpunkt unseres Gefhls- und Geisteslebens stand. Aber sie haben
sich gleichwohl innerhalb eines zeitlichen und rumlichen 24 Rahmens
und inmitten von Umstnden entfaltet, auf die unser damaliges
inneres Beschftigtsein seine Schatten warf, die jedoch ihrerseits
dessen Hergang und Geprge modifizierten, so wie am Fue eines
antiken Monumentes erbaute Huser, die nicht seines Alters sind.
Wenn wir uns diese Reise ins Gedchtnis zurckrufen, so tun wir dies
selbstverstndlich nicht aus derselben Sicht wie unsere Begleiter,
da sie sich in unseren Augen letztlich aus einer Reihe allein uns
bekannter Eindrcke zusammensetzt. Aber man kann auch nicht sagen,
da wir ausschlielich die Betrachtungsweise unserer Freunde, unserer
Eltern, unserer bevorzugten Autoren annehmen, deren Andenken uns
begleitete. Whrend wir auf einer Bergstrae neben Menschen von
bestimmtem Aussehen, von bestimmtem Charakter wanderten, uns
zerstreut in ihre Unterhaltung einmischten, unsere Gedanken
indessen innerhalb unseres frheren Milieus weilten, kamen die
verschiedenen Eindrcke, die in uns einander folgten, einer
bestimmten Anzahl besonderer, origineller und neuer Arten gleich,
die Menschen, die uns teuer waren und die Bande, die uns mit ihnen
verknpften, zu sehen. Aber andererseits sind diese Eindrcke gerade
weil sie neu sind und weil sie viele Elemente enthalten, die
unseren frheren und zutiefst unseren gegenwrtigen Gedankengngen
fremd sind ebenso fremd fr die Gruppen, die uns am innigsten
umfassen. Sie bringen diese zum Ausdruck, aber zugleich auf diese
Weise nur unter der Voraussetzung, da sie materiell nicht mehr da
sind, da alle Gegenstnde, die wir sehen, alle Menschen, die wir
hren, uns vielleicht allein in dem Mae auffallen, wie sie uns die
Abwesenheit der ersteren fhlen lassen. Diese Sicht, die weder die
unserer augenblicklichen Begleiter ist noch vollkommen und
unvermischt die unserer Freunde von gestern und morgen wie sollten
wir sie nicht von den einen wie von den anderen loslsen, um sie uns
selber zuzuschreiben? Stimmt es nicht, da das, was uns auffllt,
wenn wir uns auf diesen Eindruck besinnen, jene Elemente in ihm
sind, die sich nicht durch unsere Beziehungen zu dieser oder jener
Gruppe erklren lassen, die von deren Denkweise und Erfahrung
abweichen? Ich wei, da dieser Eindruck von meinen Begleitern nicht
geteilt werden, nicht einmal erraten werden konnte. Ich wei
ebenfalls, da er mir in dieser Form und in diesem Rahmen nicht von
jenen Freunden und Verwandten htte eingegeben werden knnen, an die
ich in dem Augenblick dachte, in den ich mich 25 jetzt erinnernd
zurckversetzte. Besteht nicht in meinem Gedchtnis etwas wie ein
Rckstand eines Eindruckes, der sich dem Denken und dem Gedchtnis
sowohl der einen wie der anderen entzieht und der nur fr mich
existiert? Im Vordergrund des Gedchtnisses einer Gruppe stehen die
Erinnerungen an Ereignisse und
-
Erfahrungen, die die grte Anzahl ihrer Mitglieder betreffen und
die sich entweder aus ihrem Eigenleben oder aus ihren Beziehungen
zu den ihr nchsten, am hufigsten mit ihr in Berhrung kommenden
Gruppen ergeben. Was jene anbelangt, die eine sehr geringe Anzahl
und bisweilen ein einziges ihrer Mitglieder betreffen, so treten
sie in den Hintergrund, obgleich sie im Gedchtnis der Gruppe
enthalten sind, da sie zumindest teilweise innerhalb ihrer Grenzen
entstanden sind. Zwei Wesen knnen sich eng aneinander gebunden
fhlen und alle ihre Gedanken gegenseitig austauschen. Wenn sie zu
manchen Zeitpunkten innerhalb verschiedener Milieus leben, mten sie
sich obgleich sie durch Briefe, Beschreibungen, durch ihre Berichte
bei ihrem Wiedersehen gegenseitig in allen Einzelheiten die Umstnde
wissen lassen knnen, in denen sie sich befanden, als sie nicht mehr
miteinander in Berhrung waren einer mit dem anderen identifizieren,
um alles, was von ihren Erfahrungen dem einen oder dem anderen
fremd war, in ihr gemeinsames Denken eingehen zu lassen. Wenn Mlle
de Lespinnasse an Graf Guibert schreibt, kann sie ihm annhernd
verstndlich machen, was sie fern von ihm, aber innerhalb der ihm
bekannten Gesellschaften und mondnen Kreise empfindet, weil auch er
ihnen zugehrt. Er kann seine Geliebte so sehen, wie sie sich aus
der Sicht jener Mnner und Frauen sehen kann, die nichts von ihrem
romanhaften Leben wissen und er kann sie ebenso sehen, wie sie sich
selbst sieht, aus der Sicht der geheimen und geschlossenen Gruppe
heraus, die sie zu zweit bilden. Gleichwohl ist er fern, und ohne
da er es wei, knnen innerhalb der Gesellschaft, in der sie
verkehrt, etliche Vernderungen eintreten, von denen ihm ihre Briefe
keine hinreichende Vorstellung geben, so da ihm manches in ihrer
Haltung diesen mondnen Kreisen gegenber entgehen und immer entgehen
wird: es gengt nicht, da er sie liebt, so wie er sie liebt, um
diese Verhaltensweisen zu erraten. Eine Gruppe tritt gewhnlich mit
anderen Gruppen in Verbindung. Es gibt etliche Ereignisse, die sich
aus hnlichen Kontakten 26 ergeben, und ebenso manches Gedankengut,
dem allein sie zugrunde liegen. Zuweilen sind diese Beziehungen
oder Kontakte permanent oder wiederholen sich jedenfalls recht
hufig, werden whrend einer recht ausgedehnten Zeitspanne
fortgesetzt. Wenn beispielsweise eine Familie lange Zeit in
derselben Stadt oder in der Nhe derselben Freunde lebt, bilden
Stadt und Familie, Freunde und Familie gleichsam komplexe
Gesellschaften. Alsdann entstehen Erinnerungen, die in zwei den
Mitgliedern der beiden Gruppen gemeinsamen Denkbereichen enthalten
sind. Um eine derartige Erinnerung wiederzuerkennen, mu man
zugleich an der einen und an der anderen teilhaben. Diese
Voraussetzung wird eine Zeitlang von einem Teil der
Familienmitglieder erfllt, jedoch in unterschiedlicher Weise zu
verschiedenen Zeitpunkten je nachdem ob das Interesse dieser
letzteren auf die Stadt oder auf ihre Familie gerichtet ist. Und es
gengt im brigen, da einige der Familienmitglieder diese Stadt
verlassen, in eine andere ziehen, um sich weniger mhelos an das
erinnern zu knnen, was sie nur behielten, weil sie gleichzeitig in
zwei konvergierende Strmungen kollektiven Denkens einbezogen waren,
whrend sie gegenwrtig fast ausschlielich den Einflu einer dieser
Strmungen erfahren. Da nur ein Teil der Mitglieder einer dieser
Gruppen in der anderen enthalten ist und umgekehrt , ist zudem
jeder dieser beiden kollektiven Einflsse schwcher als wenn er sich
allein auswirken wrde. Tatschlich ist es nicht die gesamte Gruppe
die Familie beispielsweise , sondern nur ein Teil von ihr, der
einem der Ihren helfen kann, sich diese Art von Erinnerungen ins
Gedchtnis zurckzurufen. Man mu sich in Verhltnissen befinden oder
sich in Verhltnisse versetzen, die diesen beiden Einflssen
erlauben, ihre Aktion aufs gnstigste zu verbinden, damit die
Erinnerung wieder auftaucht und wiedererkannt wird. Daraus ergibt
sich, da sie weniger vertraut erscheint, da man sogar deutlich die
kollektiven Faktoren wahrnimmt, die sie bestimmen, und da man die
Illusion
-
hat, sie sei weniger als die anderen der Kraft unseres Willens
unterworfen.
Die individuelle Erinnerung als Grenze der kollektiven
Interferenzen Es kommt recht hufig vor, da wir uns selbst
Vorstellungen und berlegungen oder Gefhle und Leidenschaften
zuschreiben so als sei ihre Quelle nirgendwo als nur in uns selbst
, die uns von 27 unserer Gruppe eingegeben worden sind. Dann sind
wir so gut auf unsere Mitmenschen abgestimmt, da wir mit ihnen im
Gleichtakt schwingen" und nicht mehr wissen, wo der Ausgangspunkt
der Schwingungen liegt, ob in uns oder in den anderen. Wie oft
bringt man dann nicht mit einer ganz persnlich scheinenden
berzeugung berlegungen zum Ausdruck, die man einer Zeitung, einem
Buch oder einer Unterhaltung entnommen hat? Sie passen so gut zu
unserer Betrachtungsweise, da man uns in Erstaunen versetzen wrde,
entdeckte man uns, wer ihr Urheber ist, und da nicht wir es sind.
Wir hatten schon daran gedacht" : wir bemerken nicht, da wir
indessen nur ein Echo sind. Die gesamte Kunst des Redners besteht
vielleicht darin, seinen Zuhrern die Illusion zu verschaffen, da
die berzeugungen und Gefhle, die er in ihnen wachruft, ihnen nicht
von auen her eingegeben worden sind, da sie sie von sich selbst aus
entwickelt haben, da er lediglich erraten hat, was im geheimen
ihres Bewutseins entstand, und da er ihnen nur seine Stimme
geliehen hat. Auf die eine oder andere Art bemht sich jede soziale
Gruppe, in ihren Mitgliedern eine hnliche berzeugung zu
unterhalten. Wieviele Menschen haben gengend kritischen Sinn, um in
dem, was sie denken, den Anteil der anderen zu unterscheiden und um
sich selbst einzugestehen, da sie meist nichts von sich aus dazu
getan haben? Bisweilen erweitert man den Kreis der Menschen, mit
denen man verkehrt, und der Bcher, die man liest; man rechnet sich
seinen Eklektizismus, der uns erlaubt, die verschiedenen Aspekte
der Fragen und Dinge zu erkennen und zu vergleichen, als Verdienst
an; selbst dann kommt es oft vor, da die Dosierung unserer
Meinungen, die Komplexitt unserer Gefhle und Neigungen nur der
Ausdruck des Zufalls ist, der uns mit verschiedenartigen oder
selbst gegenstzlichen Gruppen in Berhrung gebracht hat, und da der
Teil, den wir von jeder ihrer Betrachtensweisen bernehmen, durch
die ungleiche Intensitt der Einflsse bestimmt wird, die sie auf uns
ausgebt haben. Jedenfalls meinen wir, in dem Mae, in dem wir
widerstandslos einer Beeinflussung von auen her nachgeben, frei zu
denken und zu fhlen. So bleibt die Mehrzahl der sozialen Einflsse,
denen wir am hufigsten gehorchen, von uns unbemerkt. Dies aber
trifft ebenso und vielleicht in noch strkerem Mae zu, wenn am
Treffpunkt mehrerer sich in uns kreuzender Strmungen kollektiven
Denkens einer dieser komplexen Zustnde entsteht, in denen 28 man
ein einzigartiges Ereignis hat sehen wollen, das nur fr uns
existieren wird. Da ist ein Reisender, der sich pltzlich erneut von
Einflssen erfat fhlt, die einem seinen Begleitern fremden Milieu
entstammen. Da ist ein Kind, das sich durch ein unerwartetes
Zusammentreffen von Umstnden in einer Situation befindet, die
seinem Alter nicht angemessen ist, und dessen Denken sich Gefhlen
und Besorgnissen eines Erwachsenen aufschliet. Da ist ein Orts-,
Berufs-, Familienwechsel, der noch nicht vllig die Bande zerreit,
die uns an unsere alten Gruppen binden. Indessen kommt es vor, da
in einem solchen Fall die sozialen Einflsse komplexer, weil
zahlreicher, verworrener werden. Aus diesem Grunde ermit und
unterscheidet man sie weniger deutlich. Man nimmt jedes Milieu zur
gleichen Zeit wie in dem seines eigenen im Lichte des oder der
anderen wahr und hat den
-
Eindruck, da man sich seiner Einflunahme widersetzt. Zweifellos
mte bei diesem Konflikt oder dieser Kombination der Einflsse jeder
von ihnen deutlicher hervortreten. Aber da diese Milieus einander
entgegenwirken, meint man, weder an dem einen noch an dem anderen
beteiligt zu sein. Besonders das, was in den Vordergrund tritt die
Fremdheit der Situation, in der man sich befindet , gengt, um das
individuelle Denken zu absorbieren. Dieser Vorgang schiebt sich wie
ein Schirm zwischen dies letztere und die sozialen Denkweisen, aus
deren Verbindung es hervorgegangen ist. Er kann von keinem der
Mitglieder dieser Milieus auer von mir voll und ganz verstanden
werden. In diesem Sinne gehrt er mir, und schon in dem Augenblick,
in dem er in Erscheinung tritt, wrde ich versucht sein, ihn durch
mich, und durch mich allein, zu erklren. Ich wrde hchstens zugeben,
da die Umstnde, das heit das Aufeinandertreffen dieser Milieus, zum
Anla gedient haben da sie das Sicheinstellen eines seit langem in
meinem persnlichen Schicksal beschlossenen Ereignisses, das
Zutagetreten eines Gefhls, das potentiell in mir persnlich
vorhanden war, erlaubt haben. Da die anderen es nicht gekannt und
in keiner Weise zu seinem Entstehen beigetragen haben (zumindest
bilde ich mir dies ein), werde ich spter, wenn es in meinem
Gedchtnis wieder aufleben wird, nur ein Mittel haben, mir seine
Wiederkehr zu erklren: weil es auf die eine oder andere Weise
unverndert in meinem Sinn bewahrt worden ist. Dem ist jedoch
keineswegs so. Diese Erinnerungen, die uns rein persnlich und nur
fr uns kenntlich und auffindbar scheinen, 29 unterscheiden sich von
den anderen durch die grere Komplexitt der zu ihrer Wiederbelebung
notwendigen Umstnde; dies aber ist nur ein gradmiger Unterschied.
Bisweilen beschrnkt man sich darauf, zu behaupten, da unsere
Vergangenheit zwei Arten von Elementen enthlt: jene, die
wachzurufen uns mglich ist, wann immer wir es wnschen, und jene,
die dagegen unserem Ruf nicht gehorchen, so da es scheint, als stoe
sich unser Wille an einem Hindernis, wenn wir sie in der
Vergangenheit suchen. In Wirklichkeit kann man von den ersten
sagen, da sie der Allgemeinheit angehren in dem Sinn, da das, was
uns derart vertraut oder leicht zugnglich ist, es ebenfalls fr die
anderen ist. Die Vorstellung, die wir uns am mhelosesten machen,
die aus beliebig persnlichen und besonderen Elementen
zusammengesetzt ist, ist die Vorstellung, die die anderen von uns
haben; und die Ereignisse unseres Lebens, die uns stets am
gegenwrtigsten sind, haben auch das Gedchtnis der uns enger
verbundenen Gruppen gezeichnet. So gehren die Begebenheiten und
Kenntnisse, die wir uns am mhelosesten ins Gedchtnis zurckrufen,
dem Gemeingut zumindest eines oder einiger Milieus an. In diesem
Mae sind diese Erinnerungen also aller Welt" zu eigen; und weil wir
uns auf das Gedchtnis der anderen sttzen knnen, sind wir jederzeit
und wann immer wir wollen fllig, sie zurckzurufen. Von den zweiten,
von denen, die wir nicht beliebig zurckrufen knnen, wird man gerne
sagen, da sie nicht den anderen, sondern uns gehren, weil allein
wir sie haben kennen knnen. So seltsam und paradox es scheinen mag
die Erinnerungen, die zu erwecken uns am schwersten fllt, sind
jene, die nur uns angehen, die unser ausschlieliches Eigentum
darstellen, so als knnten sie der Kenntnis der anderen nur unter
der Voraussetzung entgehen, auch uns selbst zu entfallen. Wird man
sagen, da es uns ebenso ergeht wie jemandem, der seinen Schatz in
einem Panzerschrank eingeschlossen hat, dessen Schlo so kompliziert
ist, da es ihm nicht mehr gelingt, es zu ffnen, da er sich nicht
mehr auf die Schlsselzahlen besinnen kann und es dem Zufall
berlassen mu, ob es ihm wieder einfllt? Aber es gibt eine zugleich
natrlichere und einfachere Erklrung. Zwischen den Erinnerungen, die
wir beliebig heraufbeschwren und jenen, die sich unserem Zugriff
entzogen zu haben scheinen, wrde man in Wirklichkeit alle
Abstufungen finden. Die Voraussetzungen, die not-
-
30 wendig sind, um die einen und die anderen wiedererstehen zu
lassen, unterscheiden sich nur dem Grad der Komplexitt nach. Die
ersteren sind immer fr uns erreichbar, weil sie innerhalb von
Gruppen fortbestehen, in die einzudringen uns jederzeit freisteht
innerhalb eines kollektiven Gedankengutes, mit dem wir stets so eng
in Berhrung bleiben, da alle seine Elemente, alle Verbindungen
zwischen diesen Elementen sowie ihre unmittelbaren gegenseitigen
bergnge uns vertraut sind. Die zweiten sind uns weniger und
seltener zugnglich, da die Gruppen, die sie uns nahebringen knnten,
weiter entfernt sind, weil wir mit ihnen nur gelegentlich in
Berhrung kommen. Es gibt Gruppen, die sich zusammenschlieen oder
hufig zusammentreffen, so da wir von der einen in die andere
bergehen, gleichzeitig in der einen und der anderen sein knnen;
zwischen anderen Gruppen sind die Beziehungen so begrenzt, da wir
weder die Gelegenheit haben noch auf den Gedanken kommen, die
verwischten Bahnen zu verfolgen, auf denen sie miteinander
verkehren. Dabei wrden wir auf solchen Bahnen, auf solchen
verborgenen Wegen die Erinnerungen wiederfinden, die uns zu eigen
sind ebenso wie ein Reisender eine Quelle, eine Felsengruppe, eine
Landschaft als allein ihm gehrig betrachten kann, zu denen man nur
unter der Bedingung gelangt, von der Strae abzuweichen und ber
einen schlecht gebahnten und unbegangenen Weg eine andere
einzuschlagen. Die Anstze dieses Querweges befinden sich wohl an
den beiden Straen, und sie sind einem bekannt: aber es bedarf
einiger Aufmerksamkeit und vielleicht eines Zufalls, um sie
wiederzufinden und man kann etliche Male die eine wie die andere
Strae entlanggehen, ohne auf den Gedanken zu kommen, sie zu suchen;
besonders dann, wenn man nicht damit rechnen kann, durch die
Passanten auf einer dieser Straen auf sie aufmerksam gemacht zu
werden, da diese nicht dorthin zu gehen suchen, wo die andere Strae
sie hinfhren wrde. Scheuen wir uns nicht, nochmals auf die
Beispiele zurckzukommen, die wir gegeben haben. Wir werden sehen,
da die Ansatzpunkte oder Elemente dieser persnlichen Erinnerungen,
die niemandem als nur uns zu gehren scheinen, sich durchaus in
bestimmten sozialen Milieus befinden und dort fortbestehen knnen,
und da die Mitglieder dieser Gruppen (denen wir selbst anzugehren
nicht aufhren), fragten wir sie gehrig aus, sie dort entdecken und
31 uns zeigen knnten. Unsere Reisegefhrten kennen die Eltern und
die Freunde nicht, die wir daheim gelassen haben. Aber sie haben
bemerken knnen, da wir uns ihnen selbst nicht vllig angeschlossen
haben. In bestimmten Augenblicken haben sie gefhlt, da wir eine Art
fremdes Element in ihrer Gruppe waren. Wenn wir sie spter
wiedertreffen, werden sie uns ins Gedchtnis rufen knnen, da wir
whrend eines bestimmten Teils der Reise zerstreut waren, oder da
wir eine berlegung angestellt, Worte ausgesprochen haben, die
zeigten, da nicht alle unsere Gedanken bei ihnen waren. Das Kind,
das sich im Wald verirrt oder sich in einer Gefahr befunden hat,
die in ihm Gefhle eines Erwachsenen wachgerufen hat, hat nichts
davon seinen Eltern erzhlt. Diese aber haben bemerken knnen, da es
daraufhin nicht mehr so sorglos wie gewhnlich war so als sei ein
Schatten ber es hinweggegangen , und da es eine Wiedersehensfreude
bezeigte, die nicht vllig die eines Kindes war. Bin ich von einer
Stadt in eine andere umgezogen, wuten die Einwohner dieser
letzteren nicht, woher ich kam; aber bevor ich mich meinem neuen
Milieu angepat habe, sind mein Erstaunen, meine Neugierde, mein
Unwissen einem ganzen Teil ihrer Gruppe gewi nicht entgangen.
Zweifellos haben diese kaum sichtbaren Spuren von Vorgngen, die
ohne groe Bedeutung fr das Milieu selbst waren, dessen
Aufmerksamkeit nicht lange angezogen. Ein Teil seiner
-
Mitglieder wrde sie jedoch wiederfinden oder wte zumindest, wo
sie zu suchen sind, wenn ich ihnen den Vorgang erzhlen wrde, der
sie hat hinterlassen knnen. Wenn berdies das kollektive Gedchtnis
seine Kraft und seine Bestndigkeit daraus herleitet, da es auf
einer Gesamtheit von Menschen beruht, so sind es indessen die
Individuen, die sich als Mitglieder der Gruppe erinnern. In dieser
Masse gemeinsamer, sich aufeinander sttzender Erinnerungen sind es
nicht dieselben, die jedem von ihnen am deutlichsten erscheinen.
Wir wrden sagen, jedes individuelle Gedchtnis ist ein
Ausblickspunkt" auf das kollektive Gedchtnis; dieser Ausblickspunkt
wechselt je nach der Stelle, die wir darin einnehmen, und diese
Stelle selbst wechselt den Beziehungen zufolge, die ich mit anderen
Milieus unterhalte. Es ist demnach nicht erstaunlich, da nicht alle
das gemeinsame Werkzeug mit dem gleichen Nutzen anwenden. Will man
diese Verschiedenheit 32 erklren, so stt man indessen immer wieder
auf eine Kombination von Einflssen, die alle sozialer Natur sind.
Von diesen Kombinationen sind manche beraus komplex. Deshalb hngt
es nicht von uns ab, sie wiedererscheinen zu lassen. Man mu sich
dem Zufall anvertrauen, mu darauf warten, da sich innerhalb der
sozialen Milieus, in denen wir uns materiell oder gedanklich
bewegen, mehrere Wellensysteme erneut berschneiden und in gleicher
Weise wie frher das Registriergert, das unser individuelles
Gedchtnis ist, in Schwingungen versetzen. Aber die Art der
Kausalitt ist hier dieselbe und knnte nur dieselbe wie frher sein.
Die Folge der Erinnerungen, selbst der allerpersnlichsten, erklrt
sich immer aus den Vernderungen, die in unseren Beziehungen zu den
verschiedenen kollektiven Milieus entstehen, das heit, letztlich
aus den Vernderungen jedes einzelnen dieser Milieus und ihrer
Gesamtheit. Man wird sagen, es sei seltsam, da Zustnde, die einen
so auffallenden Charakter unwiderlegbarer Einheit aufweisen, da
unsere persnlichsten Erinnerungen sich aus der Verschmelzung so
vieler verschiedenartiger und getrennter Elemente ergeben. Zuerst
einmal lst sich bei nherer berlegung diese Einheit durchaus in eine
Vielheit auf. Man hat bisweilen behauptet, da man in einem wahrhaft
persnlichen Bewutseinszustand bei genauerer Untersuchung den
gesamten Geistesinhalt, von einem gewissen Gesichtspunkt aus
betrachtet, wiederfindet. Aber unter Geistesinhalt sind alle
Elemente zu verstehen, die die Beziehungen zu den verschiedenen
Milieus kennzeichnen. Ein persnlicher Bewutseinszustand enthllt so
die Komplexitt der Kombination, aus der er hervorgegangen ist. Was
seine scheinbare Einheit anbetrifft, so erklrt sie sich aus einer
ganz natrlichen Illusion. Philosophen haben gelehrt, das Gefhl der
Freiheit erklre sich aus der Vielfalt der kausalen Folgen, die sich
verbinden, um eine Handlung hervorzubringen. Wir kommen berein, da
jedem dieser Einflsse ein anderer entgegenwirken kann; wir glauben
dann, da unser Handeln von allen diesen Einflssen unabhngig ist, da
es von keinem von ihnen ausschlielich abhngt, und wir bemerken
nicht, da es sich in Wirklichkeit aus ihrer Gesamtheit ergibt und
stets vom Gesetz der Kausalitt beherrscht wird. Da die Erinnerung
durch die Auswirkung mehrerer Folgen ineinander verflochtener
kollektiver Denkweisen 33 wiederersteht, und wir sie keiner von
ihnen ausschlielich zuschreiben knnen, meinen wir auch hier, sie
sei unabhngig und stellen ihre Einheit deren Vielfalt gegenber.
Ebensogut kann man annehmen, ein schwerer, an einer Anzahl gekreuzt
gespannter Fden in der Luft aufgehngter Gegenstand schwebe frei im
Leeren. Kollektives und historisches Gedchtnis
-
35
Zweites Kapitel Kollektives und historisches Gedchtnis
Autobiographisches und historisches Gedchtnis: ihr scheinbarer
Widerstreit Man ist noch nicht daran gewhnt, vom Gedchtnis einer
Gruppe zu sprechen, selbst bildlich nicht. Es scheint, als knne die
Fhigkeit des Sicherinnerns nur in dem Mae existieren und
fortdauern, als sie mit einem individuellen Krper oder Geist
verbunden ist. Nehmen wir jedoch an, da die Erinnerungen auf
zweierlei Art in Erscheinung treten da sie sich bald einem
bestimmten Menschen zugesellen knnen, der sie aus seiner Sicht
betrachtet, bald sich innerhalb einer groen oder kleinen
Gesellschaft verteilen knnen, von der sie eine bestimmte Anzahl von
Teilbildern sind. Es wrde also individuelle und, wenn man so will,
kollektive Gedchtnisse" geben. Mit anderen Worten, das Individuum
wrde an zwei Arten von Gedchtnissen teilhaben. Aber je nachdem, ob
es an dem einen oder dem anderen teilhat, wrde es zwei sehr
verschiedene und selbst gegenstzliche Haltungen einnehmen.
Einerseits wrden seine Erinnerungen sich in den Rahmen seiner
Persnlichkeit oder seines persnlichen Lebens einfgen sogar die, die
es mit anderen gemeinsam hat, wrden von ihm allein unter dem Aspekt
betrachtet, der es selber als sich von den anderen unterscheidendes
Individuum interessiert. Andererseits wrde es zu bestimmten
Zeitpunkten fhig sein, einfach als Mitglied einer Gruppe
aufzutreten, das dazu beitrgt, unpersnliche Erinnerungen
wachzurufen und zu unterhalten in dem Mae, als diese die Gruppe
interessieren. Wenn diese beiden Gedchtnisse einander hufig
durchdringen, wenn im besonderen das individuelle Gedchtnis um
bestimmte Erinnerungen zu besttigen, um sie zu przisieren und
selbst um einige seiner Lcken zu schlieen sich auf das kollektive
Gedchtnis sttzen, sich in es hineinversetzen, zeitweise mit ihm
verschmelzen kann, folgt es nichtsdestoweniger seiner eigenen Bahn,
und dieser gesamte uere Beitrag wird allmhlich seiner Substanz
angeglichen und in sie aufgenommen. Das kollektive Gedchtnis
andererseits umfat die individuellen Gedchtnisse, aber verschmilzt
nicht mit ihnen. Es entwickelt sich seinen Gesetzen gem, und
dringen auch zuwei