18. November 2015 Rechtsstaat und Demokratie – Was die Gesellschaft zusammenhält Schriftenreihe zu Grundlagen, Zielen und Ergebnissen der parlamentarischen Arbeit der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages Im Rahmen der Vortragsreihe „Forum Frauenkirche“
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JACC | 18. November 2015 | Bundestagspräsident Norbert Lammert | Rechtsstaat und Demokratie
Was die Gesellschaft zusammen hält? Dieser Frage ging am 18. November 2015 in der Dresdner Frauenkirche Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert nach
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18. November 2015
Rechtsstaat und Demokratie –
Was die Gesellschaft zusammenhält
Schriftenreihe zu Grundlagen, Zielenund Ergebnissen der parlamentarischen
Arbeit der CDU-Fraktiondes Sächsischen Landtages
Im Rahmen der Vortragsreihe „Forum Frauenkirche“
cdu-fraktion-sachsen.de
twitter.com/CDU_SLT
facebook.com/cdulandtagsfraktionsachsen
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Inhaltsverzeichnis
cdu-fraktion-sachsen.de
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GrußwortFrank Kupfer MdLVorsitzender der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages Staatsminister a.D.
BegrüßungSebastian FeydtPfarrer der Frauenkirche
„Rechtsstaat und Demokratie – Was die Gesellschaft zusammenhält“Prof. Dr. Norbert Lammert MdB Präsident des Deutschen Bundestages
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SchlusswortSteffen FlathEhemaliger Vorsitzender der CDU-Fraktion des Sächsischen LandtagesStaatsminister a.D.
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Pfarrer Sebastian Feydt
Begrüßung
Wir leben in stürmischen Zeiten. Heute
Vormittag war das in dieser Kirche nicht
nur zu spüren, sondern auch zu hören. Der
Druck ist groß und wie gehen wir damit
um, wie gehe ich damit um? Weiche ich
dem Druck? Gehe ich zurück? Kehre ich
um? Oder lasse ich mich in diesen stürmi-
schen Zeiten neu orientieren; mir neu die
Basis für das, was mich ausrichtet, bauen?
Die Frauenkirche ist ein Ort, an dem das
geschieht. Und sie ist der Ort, an dem der
Beweis geführt wurde, dass schier Un-
mögliches möglich ist.
„Das schafft ihr nie!“ Wie oft ist dieser
Satz im Umfeld des Wiederaufbaus die-
ser Kirche zu hören gewesen. Und heute?
Heute finden wir seit 10 Jahren unter der
Kuppel dieser Kirche unseren Platz. Und
werden aufgerichtet und orientiert und
motiviert, weil von der Kuppel dieser Kir-
che Werte in die Welt strahlen: Barmher-
zigkeit, Liebe, Vertrauen, Glauben. Das
gehört zu dem, was uns zusammenhält.
Aber Sie wussten schon, warum Sie heute
in die Frauenkirche kommen …
Sehr geehrte Damen und Herren, Buß- und
Bettag 2015: ein Feiertag in Sachsen und
eine Einladung des Johann Amos Come-
nius-Clubs in die Frauenkirche – so ist
der Buß- und Bettag in Sachsen und in
Dresden. Diese Einladung galt zuerst Ih-
nen, sehr geehrter Herr Bundestagsprä-
sident, Prof. Lammert. Seien Sie herzlich
willkommen.
Die Einladung galt auch Ihnen, die Sie
sich in der Kommunal- und Landespoli-
tik um das Gemeinwohl in diesem Land
bemühen, die Sie sich für Demokratie
und Rechtsstaat und das, was die Gesell-
schaft zusammenhält, interessieren oder
sorgen und engagiert sind. Sie alle kom-
men am Buß- und Bettag unter die Kup-
pel dieser Kirche. Das hat nicht nur Tradi-
tion, das ist auch eine Herausforderung.
Tag und Ort sprechen für sich. Hier und
heute verbietet es sich, bei dem zu blei-
ben, was wir täglich sagen oder tun. Wer
am Bußtag einlädt und wer sich eingela-
den weiß, darf mehr erwarten. Darf er-
warten, an diesem Tag hinterfragt zu wer-
den, nicht zuerst eine Bestätigung dessen
zu erfahren, was er eh für richtig und für
angemessen erachtet, sondern selbst in-
frage gestellt zu werden. Das ist die Tra-
dition des Bußtages.
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Frank Kupfer MdL
Grußwort
sen unschuldige Menschen in den Tod
zu treiben. Diese Anschläge sind ein An-
griff auf unsere Wertegemeinschaft, sind
ein Angriff auf die europäische Kultur. Sie
sind Angriff auf die demokratische Grund-
ordnung und unsere Wertegemeinschaft.
Und das hat gerade 70 Jahre nach dem
Ende des verheerenden Zweiten Welt-
kriegs eine besondere Bedeutung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
vor 86 Jahren wurde der Pfarrer Dr. Karl
Ludwig Hoch geboren, er ist im August
Meine sehr geehrten Damen und Herren, sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete der Parlamente, sehr geehrte Damen und Herren! Der Buß- und Bettag in diesem
Rechtsstaat und Demokratie – Was die Gesellschaft zusammenhält
Prof. Dr. Norbert Lammert MdBPräsident des Deutschen Bundestages
zer Kontinent durch Mauern und Stachel-
drahtzäune abgeschottet. Von zwei Bünd-
nissystemen begleitet, die sich bis an die
Zähne bewaffnet gegenüberstanden.
Als wir vor wenigen Wochen den 25. Jah-
restag der deutschen Einheit gefeiert ha-
ben, war die erste Generation in Deutsch-
land erwachsen geworden, die in ihrer
Lebenszeit nie andere Verhältnisse ken-
nengelernt hat als die, die wir jetzt in
Deutschland haben. Ein vereintes Land
mitten in Europa, das immer mehr zusam-
menwächst, in dem sich 28 selbststän-
dige Staaten durch Verträge freiwillig ver-
pflichtet haben, immer enger miteinander
zusammenzuarbeiten und immer mehr
Aufgaben gemeinsam wahrzunehmen.
Und ausnahmslos alle diese 28 Staaten in
Europa sind demokratisch verfasst und re-
giert. Einen solchen Zustand hatten wir in
Europa nie. Wir halten diesen Zustand in-
zwischen für eine schiere Selbstverständ-
lichkeit. Als sei es nie anders gewesen.
Wenn es übrigens, meine Damen und
Herren, so etwas wie eine herausragende
deutsche Begabung gibt, dann ist das ge-
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nau diese, Entwicklungen und Ereignisse,
die wir jahrzehntelang für völlig ausge-
schlossen gehalten haben, in dem Augen-
blick, wo sie dennoch Realität geworden
sind, für eine Selbstverständlichkeit zu
halten.
Jedenfalls ist unsere parallele Begabung,
von der einen Begeisterung zum nächs-
ten Kleinmut zu wechseln, kaum weniger
ausgeprägt als der souveräne Umgang
mit außergewöhnlichen historischen
Errungenschaften. Das runde Jubiläum
unseres vereinten Landes und der Buß-
und Bettag sind eine doppelt gute Ge-
legenheit, das gemeinsam zu tun, was
offenkundig ja auch Zweck dieser Ver-
anstaltungsreihe ist: ein bisschen dar-
über nachzudenken, was uns eigentlich
miteinander verbindet, was wir auch an
gemeinsamen Herausforderungen zu be-
wältigen haben und auf welcher Grund-
lage wir dazu bereit und hoffentlich in
der Lage sind.
Solche Diskussionen über die Grundla-
gen, über das Selbstverständnis unserer
Staats- und Gesellschaftsordnung wer-
den ausgerechnet im – ich neige fast zu
sagen – ehemaligen Land der Dichter und
Denker eher gemieden als mit besonderer
Freude geführt. Solche Debatten erspart
man sich lieber. Weil sie vielleicht auch
Klärungen erfordern, die man vermeiden
möchte. Weil sie Standpunkte vorausset-
zen, die man beziehen muss.
Wir haben aus vielen Gründen am Ende
dieses Jahres unter dem Eindruck von er-
staunlich vielen Menschen, die ihre Hei-
mat verlassen haben und nach Deutsch-
land kommen, einen weiteren Grund,
darüber nachzudenken, wie wir eigent-
lich mit diesem neuen, ganz außeror-
dentlichen Ansehen Deutschlands im
Rest der Welt und den sich daraus erge-
benden praktischen Auswirkungen um-
gehen wollen.
Ich will dazu ein paar hoffentlich orien-
tierende Bemerkungen machen und bitte
um Nachsicht, dass das natürlich keine
vollständige oder gar abschließende Be-
schreibung, weder der Probleme noch der
damit verbundenen Lösungswege sein
kann und soll, aber vielleicht ein bisschen
dazu beiträgt, uns auf das zu verständi-
gen, was vielleicht auch die gemeinsame
Grundlage auf diesem Weg im Umgang
mit gestellten Aufgaben und Herausfor-
derungen sein könnte und sollte.
Es gibt schon einen besonderen Grund,
daran zu erinnern, auf welchem Wege ei-
gentlich am Ende die deutsche Einheit
zustande gekommen und vollzogen wor-
den ist. Zumal sich dieser Weg zur Wie-
derherstellung der deutschen Einheit von
allen staatsrechtlichen, politischen, histo-
rischen Veränderungsprozessen, die es
in der deutschen und europäischen Ge-
schichte bislang gegeben hat, fundamen-
tal unterscheidet.
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Zustande gekommen ist die Wiederher-
stellung der deutschen Einheit durch
den denkwürdigen Beschluss des ersten
und einzigen frei gewählten Parlaments
der Deutschen Demokratischen Repub-
lik, „dem Geltungsbereich des Grundge-
setzes beizutreten“. Der Vorgang ist bei-
spiellos. Dafür gab's kein Vorbild. Dass
dieser Beschluss seinerseits Vorausset-
zungen hatte, setze ich jetzt mal als hin-
reichend offenkundig voraus, so dass ich
diese jetzt wiederum nicht im Einzelnen
schildern will und muss.
Aber mich hat insbesondere als West-
deutschen damals sehr beeindruckt, dass
ausgerechnet ein erstes frei gewähltes
Parlament der DDR, ermutigt und legi-
timiert durch eine wiederum beispiellos
hohe Wahlbeteiligung – fast 94 Prozent
am 18. März 1990 – nicht den mehr als ver-
ständlichen Ehrgeiz entwickelt hat, nun
den Westdeutschen zu erklären, jetzt
können wir zum ersten Mal in Augenhöhe
miteinander reden und jetzt lasst uns mal
einen sorgfältigen und gründlichen Pro-
zess darüber beginnen, wie denn eine ge-
meinsame deutsche Verfassung aussehen
könnte, die wir vermutlich heute noch
diskutieren würden. Sondern in einer, ja,
faszinierenden Verbindung von Einsicht
und Souveränität im wörtlichen und über-
tragenen Sinne des Wortes zu sagen: wir
haben in Deutschland seit einigen Jahr-
zehnten eine Verfassung, die sich nicht
nur auf dem Papier glänzend liest, son-
dern die auch offenkundig mehr als or-
dentlich funktioniert. Und lasst uns auf
dieser Basis gemeinsam in die Zukunft
gehen. Das war aus der Sicht der dama-
ligen Volksvertreter ja mehr als die Ent-
scheidung für einen Verfassungstext, es
war die bewusste Entscheidung, einer
Werteordnung beizutreten, die in die-
sem Land Geltung beansprucht und auf
deren Grundlage ein Rechtssystem ent-
wickelt worden war, das sich für die aller-
meisten, um nicht zu sagen alle in diesem
Land lebenden Menschen als ganz zurück-
haltend formuliert, jedenfalls zumutbar in
vielerlei Hinsicht außerordentlich nütz-
lich, erträglich herausgestellt hatte.
Heute am Ende dieses Jahres, in dem viele
Menschen nach Deutschland gekommen
sind mit der Absicht, hier zu bleiben, und
wir uns völlig zu Recht mit der Frage be-
schäftigen, wie viele eigentlich noch kom-
men könnten und in welchem Zeitraum,
und ob die eigentlich auch alle bleiben
wollen, und bleiben sollen und dürfen, be-
schäftigt uns aus gutem Grund die Frage
noch intensiver, ob wir das eigentlich be-
wältigen können, wenn wir es wollen.
Mich irritiert gelegentlich die Neigung,
diese beiden Aspekte, die ich in der For-
mulierung gerade angesprochen habe, da-
durch zu vereinfachen, dass man sich ganz
auf das Wollen oder ganz auf das Können
konzentriert. Tatsächlich sind die beiden
Fragen gar nicht unabhängig voneinander
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zu beantworten. Das gilt übrigens nicht
nur für die hohe Politik, das gilt fürs prak-
tische Leben ganz genauso.
Die Frage, was ich will, ist nie völlig un-
abhängig von der Frage, ob das, was ich
gerne hätte, denn auch möglich ist. Der
Maßstab der Möglichkeit limitiert inso-
fern meinen Willen. So wie nun allerdings
umgekehrt die Frage, ob etwas möglich
ist, ganz offenkundig nicht unabhängig
von der Frage ist, ob man es will.
Der Hinweis auf diese Kirche ist einschlä-
gig. Da war die Frage, ob ihr Wiederauf-
bau möglich sei, schon hinreichend kom-
pliziert. Sie hätte sich gar nicht gestellt,
wenn man nicht gewollt hätte. Das Wol-
len ist die Voraussetzung des Könnens.
Und das gilt natürlich auch und gerade
für das große Thema, das uns in diesen
Wochen und Monaten beschäftigt. Wie
können wir, wenn wir wollen, mit der
großen Herausforderung umgehen, die
uns durch die Zuwanderung von vielen
tausenden Menschen erreicht. Und da-
bei ist den meisten bewusst, dass es sich
hier nicht nur und auch nicht in erster
Linie um ein statistisches Problem der
Zahlen selbst handelt, sondern der Ori-
entierungen, der Vorstellungen, der Ge-
wohnheiten, der Verhaltensmuster, die
die Menschen mitbringen, insbesondere
dann, wenn sie nicht aus der unmittel-
baren Nachbarschaft kommen, sondern
zum Teil aus Ländern, die zu einem ande-
ren Kulturkreis gehören und in denen eine
ganz andere Sozialisation stattgefunden
hat, regelmäßig unter Bedingungen, die
mit unseren für selbstverständlich gehal-
tenen demokratischen Formen der Ent-
scheidungsfindung nichts zu tun haben.
Das ist schon eine anspruchsvolle Auf-
gabenstellung. Keine Frage. Und ich will
versuchen, das mal ein wenig zu sortieren
und auch deutlich zu machen, warum wir
dabei etwas anspruchsvoller miteinander
sein müssen, als das gelegentlich der Fall
ist. Ich will es mit einem Begriff gleich
zu Beginn versuchen, der die deutsche
Diskussion, soweit sie überhaupt statt-
gefunden hat, seit geraumer Zeit beglei-
tet, nämlich der Begriff von der multikul-
turellen Gesellschaft.
Es gibt nach meiner Beobachtung zwei
Fluchtversuche aus der Wirklichkeit. Der
eine Fluchtversuch ist die tapfere Behaup-
tung, wir leben in einer multikulturellen
Gesellschaft und die damit verbundene
Treuherzigkeit, dass das Bekenntnis zu
einer multikulturellen Gesellschaft be-
reits ein Konzept sei. Es ist zunächst mal
ein Befund. Aber kein Konzept. Und ge-
genüber dieser Vereinfachung hat sich
dann ziemlich parallel und ähnlich stur die
spiegelbildliche Vereinfachung aufgebaut,
dass man mal vorsichtshalber bestreitet,
dass wir in einer multikulturellen Gesell-
schaft leben, denn ein Problem, das man
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bestreitet, hat man ja auch nicht. Auch das
ist eine Form von Eskapismus, die besten-
falls, und das auch nur vorübergehend,
das eigene Gemüt beruhigt, aber sicher
keines der Probleme löst.
Betrachten wir uns mal die Sachver-
halte. In Deutschland leben etwas mehr
als 8 Millionen Bürger mit anderer als
deutscher Staatsangehörigkeit. Und es
leben mehr als 16 Millionen Menschen
mit einem Einwanderungshintergrund.
Das sind 10, wenn wir die ausländischen
Staatsbürger nehmen, bzw. 20 Prozent
unserer Bevölkerung. Dieser Anteil ist,
je jünger die Jahrgänge sind, die wir be-
trachten, umso größer, und er wird in
den nächsten Jahren mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit weiter
steigen. Wir reden also alleine was die
Zahlen angeht, nicht über Petitessen,
sondern über beachtliche Größenord-
nungen. Wobei allerdings auch oft zu
schnell und zu vordergründig in diese 16
Millionen mit Einwanderungsgeschichte,
die dann doch ganz unterschiedlichen
Lebenserfahrungen und Verhältnisse zu
diesen und zu ihrem Herkunftsland in ei-
nen großen Topf verrührt werden, als ob
es keinen Unterschied mache, ob jemand
als Kind ausländischer Eltern in Deutsch-
land aufwächst, hier zur Schule geht, hier
seinen Freundeskreis entwickelt, hier ei-
nen Beruf ergreift oder ob jemand, aus
welchen Gründen auch immer, seit kur-
zem nach Deutschland gekommen, noch
ohne klare Vorstellungen, was aus sei-
ner Zukunft werden soll, hier vorüber-
gehend oder auch nicht, Unterkunft fin-
det. All das sind höchst unterschiedliche
Sachverhalte.
Dass wir längst, rein zahlenmäßig betrach-
tet, in einer multikulturellen Gesellschaft
leben, in der es nicht eine einzige von al-
len anerkannte, homogene Kultur gibt, ist
offenkundig. Wie geht man damit um? Für
die Welt, in der wir leben, hat sich ja längst
als so eine Art heimliche Überschrift der
Begriff Globalisierung eingebürgert, eine
Welt, die so groß geworden ist, wie nie zu-
vor, nie haben so viele Menschen auf die-
ser Welt gelebt, wie heute, und gleichzei-
tig ist sie kleiner geworden als die Welt
jemals war, denn niemals konnten sich so
viele Menschen in so kurzer Zeit so unmit-
telbar begegnen, physisch wie virtuell, wie
das heute der Fall ist.
In einer solchen Zeit der Globalisierung
ist aus vielerlei Gründen das Bedürfnis, so
etwas wie einen festen Platz in einer im-
mer schneller sich verändernden Welt zu
finden, eher größer als kleiner geworden.
Das Bedürfnis nach Identifikation, mit was
auch immer, ist in modernen Gesellschaf-
ten erkennbarerweise nicht kleiner als in
sogenannten vormodernen Gesellschaf-
ten, es ist tendenziell vielleicht sogar grö-
ßer als früher. Und gleichzeitig wird es
mit der Identitätsfindung und Identitäts-
bestimmung immer komplizierter.
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Ein besonderes Beispiel ist der in diesem
Jahr mit dem Friedenspreis des Deut-
schen Buchhandels ausgezeichnete Au-
tor Navid Kermani. In Siegen in Westfa-
len als Kind irakischer Eltern geboren,
bekennender Muslim, habilitierter Is-
lamwissenschaftler, Träger vieler bedeu-
tender deutscher Literaturpreise. Navid
Kermani hat sich schon vor ein paar Jah-
ren in seiner außerordentlich lesenswer-
ten kleinen Schrift "Wer ist wir" mit der
Frage beschäftigt, wen meinen wir eigent-
lich, wenn wir sagen, wir müssen das und
das tun, wir müssen uns um den oder je-
nen kümmern. Er hat also in dieser Schrift
"Wer ist wir" schon vor ein paar Jahren ge-
schrieben: ich bin Kölner, in Siegen gebo-
ren, bekennender Muslim und Fan des 1.
FC Köln. Ich weigere mich, meine Identi-
tät auf einen einzelnen Aspekt reduzie-
ren zu lassen.
Das macht, glaube ich, eine Befindlich-
keit sehr schön deutlich, die im Übrigen
ja nicht nur Menschen mit Migrations-
hintergrund haben, sondern beinahe je-
der von uns, wenn er sich selbst kritisch
befragt, auch. Möchten Sie allein auf Ihre
Identität als Deutscher reduziert werden?
Ich nicht. Ich finde die Zugehörigkeit zu
diesem Land, zu diesem Volk einen ganz
wichtigen Teil meiner Identität, aber der
einzige ist es doch sicher nicht. Und das
im Übrigen in unterschiedlichen Kons-
tellationen, auch verschiedene Aspekte
der eigenen Identität, jung oder alt, Mann
oder Frau, Christ oder Moslem oder Ag-
nostiker, je nach Versuchsanordnung eine
unterschiedliche Rolle spielen, ja das ist
doch bitteschön normal.
Identitätsfindung und Identifikation wird
in Zeiten der Globalisierung dringlicher
und gleichzeitig komplizierter. Und für
multikulturelle Gesellschaften gilt das in
genau der gleichen Weise. Der Bedarf an
Identifikation wird größer, aber das Zu-
standekommen von Identifikation und
von Identität wird komplizierter. Des-
wegen hätten wir eigentlich die Debatte
über die geistigen Grundlagen unserer
Gesellschaft, über unser Selbstverständ-
nis, über das, was diese Gesellschaft nach
unserer Überzeugung zusammenhält,
schon seit 10, 20 Jahren viel gründlicher
führen müssen, als wir das getan haben.
Wir haben sie gewissermaßen in der Eu-
phorie der Einheit mit der schlichten ge-
nialen Entscheidung für das Grundgesetz
abgeheftet und haben sie bei der ersten
großen Flüchtlingswelle in den 90er-Jah-
ren nach dem Zerfall Jugoslawiens und
den sich daraus ergebenden Flüchtlings-
strömen in den Balkankriegen vermieden
oder verweigert.
Und zu dieser Verweigerung hat schon
erheblich ein Begriff beigetragen, der
damals die Diskussion sowohl befördert
wie behindert hat, nämlich der Begriff der
Leitkultur. Ob es so etwas in einer moder-
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nen Gesellschaft überhaupt geben könne
und geben dürfe, ob nicht der Anspruch
auf Verbindlichkeiten, der damit rekla-
miert wird, mit dem Anspruch auf Freiheit
prinzipiell unvereinbar sei. Ich beobachte
mit einer Mischung aus Erleichterung und
Amüsement, dass diese Debatte nun in
einer eher unauffälligeren Weise nach-
geholt wird, die wir schon vor 20 Jahren
hätten führen sollen.
Und einer meiner ganz unverdächti-
gen Zeugen in diesem Zusammenhang
ist Jakob Augstein, der in einer der gro-
ßen Sonntagszeitungen dieses Landes
vor 4 oder 5 Wochen in einem Leitarti-
kel zu meiner und vieler Leute Verblüf-
fung schreibt: Nun sind wir ein Einwan-
derungsland geworden. Nun brauchen wir
eine Leitkultur.
Das ist in der Tat genau der Zusammen-
hang. In einem Einwanderungsland ist
die Klärung der Frage, was die geistigen
Grundlagen dieser Gesellschaft sind,
noch dringlicher als in einer vermeint-
lich homogenen Gesellschaft. Weil in ei-
ner Gesellschaft klar sein muss, was gilt,
wenn sie ihren inneren Frieden bewahren
will. Denn der innere Friede ist wiederum
kein Naturzustand. Der Naturzustand ist
vielmehr, dass verschiedene Menschen
verschiedene Interessen haben, auch ver-
schiedene Auffassungen haben, verschie-
dene Meinungen haben. Daraus ergeben
sich natürlicherweise Konflikte, die eine
Gesellschaft nur aushalten kann, wenn
für alle klar ist, was gilt.
Was gilt. Da bin ich dann wieder beim
Grundgesetz. Da haben die Clevereren
unter den Diskussionsverweigerern ge-
sagt, die Leitkulturdebatte ist schon
deswegen überflüssig, weil für uns ge-
nau diese Fragen entschieden sind. Ent-
schieden im Grundgesetz. Das Grundge-
setz klärt, was in dieser Gesellschaft gilt.
Und zwar für alle, die hier leben. Auch
unabhängig von ihrer Staatsangehörig-
keit. Unabhängig, ob es sich um Einheimi-
sche oder um Zugewanderte handelt. Das
Grundgesetz regelt die Ansprüche, die
man in dieser Gesellschaft an den Staat
richten kann, und es regelt die Verpflich-
tungen, die jeder hat, wenn er hier lebt.
Damit ist vermeintlich alles geklärt. Nein,
es ist damit eben nicht alles geklärt. Weil
dieses Verständnis des Grundgeset-
zes von dem gut gemeinten Irrtum aus-
geht, eine Verfassung erkläre sich aus sich
selbst. Wenn das so ist, wäre es übrigens
extrem erstaunlich, dass alle existieren-
den Staaten auf dieser Welt jeweils eigene
Verfassungen haben. Viel naheliegender
wäre doch, dass man die erfolgreichen
Verfassungen überall da importiert, wo es
bislang keine erfolgreichen gab.
Deutschland ist dafür ein besonders
schöner Anwendungsfall gewesen. Wir
hatten nach dem Zweiten Weltkrieg er-
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kennbar keine funktionierende, schon
gar keine erfolgreiche Verfassung. Es wa-
ren aber ein paar im Angebot. Es haben
aus guten Gründen die Verfassungsvä-
ter und Verfassungsmütter damals, unter
übrigens erbärmlichen Bedingungen im
vorgenannten „Parlamentarischen Rat“
nicht die französische Verfassung über-
nommen. Auch nicht die Italienische.
Die Englische konnten sie nicht über-
nehmen, weil die bis heute keine haben.
Sondern sie haben sich daran gemacht,
eine Verfassung für dieses Land zu ent-
wickeln, die die Erfahrungen aufarbeitet,
die dieses Land mit sich selbst gemacht
hat. So liest sich diese Verfassung. Und
damit ist das Grundgesetz vielleicht so-
gar noch mehr als andere Verfassungen
der Welt ein besonders gutes Beispiel
für das, worauf es in diesem Zusammen-
hang am meisten ankommt, nämlich sich
klarzumachen, dass Verfassungen nicht
aus sich selbst heraus ihre Legitimation
beziehen.
Dass Verfassungen nie Ersatz für die
Kultur einer Gesellschaft sind, sondern
immer Ausdruck der Kultur einer Ge-
sellschaft. Eine Verfassung bringt zum
Ausdruck, welche Erfahrungen ein Land
mit sich selbst gemacht hat. Welche Ori-
entierungen in diesem Land Geltung be-
anspruchen. Welche Überzeugungen sich
über Jahrhunderte hinweg in diesem Land
entwickelt und durchgesetzt haben. Wel-
che Traditionen darauf auch begründet
worden sind. Und indem sie das formu-
liert und zur Grundlage einer Verfassung
macht, schafft sie den Orientierungszu-
sammenhang, auf den sich mit Erfolgs-
aussicht die Rechtsnormen einer Ge-
sellschaft gründen können. Deswegen
müssen wir über Kultur reden und nicht
über Politik, wenn wir über den inneren
Zusammenhalt einer Gesellschaft reden.
Dass der innere Zusammenhalt einer Ge-
sellschaft nicht durch Politik zu wahren
ist, dafür ist wiederum die deutsche Ge-
schichte ein mehr als dramatisches Bei-
spiel, in der westdeutschen wie der ost-
deutschen Variante. Dass Gesellschaften
nicht durch Wirtschaft zusammengehal-
ten werden, auch nicht durch Geld, ist
eine hinreichend stabile Lebenserfah-
rung. Das, was Gesellschaften zusam-
menhält, wenn es überhaupt etwas gibt,
was sie zusammenhält, sind die Überzeu-
gungen, die Menschen miteinander tei-
len, unabhängig von den konkreten Inte-
ressen, die sie im Einzelnen haben und
das Bewusstsein, im Rahmen dieser ge-
meinsamen Überzeugungen ihre alltägli-
chen Interessen verfolgen zu dürfen und
die sich daraus ergebenden Konflikte lö-
sen zu können.
Und deswegen kann und darf genau diese
Werteordnung nicht zur Disposition ste-
hen, wenn eine Gesellschaft, schon gar
eine multikulturelle Gesellschaft, ihren in-
neren Frieden bewahren will.
14
Kurt Biedenkopf, den ich hier nicht vor-
stellen muss, hat vor ungefähr 10 Jahren
schon einmal in einem Interview gesagt,
wenn eine Gesellschaft multikulturell sein
und zugleich ihre Identität nicht verlieren
will, dann braucht sie einen gemeinsa-
men roten Faden, nämlich eine Leitkultur.
Leitkultur heißt ja nicht, wir oder wer
auch immer, beansprucht die Überlegen-
heit der eigenen Kultur gegenüber ande-
ren. Es gibt viele Hochkulturen in der Ge-
schichte der Menschheit. Diese großen
Kulturen in der Menschheitsgeschichte
lassen sich mühelos in eine zeitliche Rei-
henfolge bringen, es lassen sich auch er-
staunliche Zusammenhänge zwischen
diesen Kulturen aufzeigen, es lassen sich
ebenso beachtliche Rivalitäten zwischen
diesen Kulturen zeigen. Aber die Vorstel-
lung, man könne eine Rangfolge der Be-
deutung dieser Kulturen aufstellen, ist er-
kennbar abwegig. Das kann mit Leitkultur
nicht gemeint sein. Aber mit Leitkultur
kann gemeint sein und muss gemeint
sein, dass in ein und derselben konkre-
ten Gesellschaft nicht verschiedene, sich
wechselseitig ausschließende kulturelle
Orientierungen gleichzeitig gelten kön-
nen. Leitkultur bedeutet, dass nicht alles,
was man sicher kulturell erklären und be-
gründen kann, deshalb in einer konkreten
Gesellschaft Geltung haben kann.
Ich will das an drei oder vier Beispielen
verdeutlichen: Der kulturell begründete
Anspruch auf Vorrang des Mannes ge-
genüber der Frau, der übrigens über viele
Jahrhunderte weg in vielen Hochkultu-
ren völlig unstreitig war, ist jedenfalls mit
dem Anspruch auf Gleichberechtigung
von Mann und Frau in ein und derselben
Gesellschaft erkennbar unvereinbar. Das
heißt, wir brauchen jetzt gar nicht die ex-
trem ungemütliche Frage zu entscheiden,
ob es ein Verlust an kultureller Präsenz
oder eine Errungenschaft im Fortschritt
der Zivilisation ist, dass wir uns von die-
ser jahrhundertelangen Vorstellung ge-
löst haben. Es reicht die simple Einsicht,
dass diese beiden Orientierungen gleich-
zeitig in der gleichen Gesellschaft nicht
gelten können.
Auch die Vorstellung, dass es ein Recht
auf Freiheit der Glaubensausübung geben
sollte, die eigenen religiösen Überzeu-
gungen zu praktizieren oder auch nicht,
einschließlich des Rechtes, den Glauben
aufzugeben oder zu wechseln, vergleichs-
weise in jüngere kulturelle Orientierun-
gen, sowie der umgekehrte Anspruch,
dass die Aufgabe des eigenen Glaubens
ein strafwürdiges Verbrechen sei, kann
in ein und dergleichen Gesellschaft nicht
gelten. Entweder gilt das eine oder das
andere.
Die Überzeugung von einem Grundrecht
auf körperliche Unversehrtheit ist mit
dem Anspruch des Staates auf Körper-
strafen, körperliche Züchtigung, Glied-
15
maßenverstümmelung, Todesstrafe prin-
zipiell nicht vereinbar.
Mit anderen Worten, in einer Gesellschaft
muss klar sein, was gilt. Und es können
nicht unterschiedliche, auch jeweils kultu-
rell begründete Geltungsansprüche gleich-
zeitig aufrechterhalten werden, die sich
wechselseitig ausschließen. Und da liegt
gewissermaßen die doppelte Relevanz für
den Bezug zwischen unserer Rechtsord-
nung und unserer Werteordnung.
Jeder Zuwanderer, der nach Deutsch-
land kommt, muss wissen, dass er nicht
in die Bundesliga einwandert, sondern ins
Grundgesetz. Und das Grundgesetz steht
nicht zur Disposition. Es sei denn, unter
der nun wiederum verfassungsrechtlich
begrenzten Option, es finden sich jeweils
2/3-Mehrheiten in den dafür legitimier-
ten Verfassungsorganen, was im Übrigen
die tröstliche Option eröffnet, dass auch
das, was in diesem Land gilt, nicht in der
Weise unter Denkmalschutz steht, dass es
jeder Veränderung entzogen wäre. Nein,
das, was in dieser Gesellschaft gilt, ist und
bleibt Gegenstand eines gesellschaftli-
chen Diskussionsprozesses. Wir müssen
uns im Übrigen mal nur gelegentlich vor
Augen halten, wie sehr sich unser Ehe-
und Familienverständnis einschließlich
der damit verbundenen Rechtsnormen
in den letzten 30, 40 Jahren verändert
hat. Dann wird deutlich, dass wir nicht
über eine statische Rechtsordnung, son-
dern eine dynamische Rechtsordnung re-
den, bei der sich immer wieder auch neu
für alle Beteiligten die Frage stellt, was
folgt denn aus unserer Vorstellung von
der Freiheit des Menschen und seiner
Verantwortung für die konkrete Gestal-
tung von sozialen Beziehungen in einer
modernen Gesellschaft.
Das also, was an einer solchen gesamt-
gesellschaftlich gültigen Orientierung
kanonisierungsbedürftig und kanonisie-
rungsfähig ist, ist nicht ein für alle Mal in
Zement gegossen, sondern ist Bestandteil
eines gesellschaftlichen Diskussionspro-
zesses, an dem sich alle beteiligen kön-
nen, die in diesem Land leben.
Wobei nun wiederum die Mitwirkungs-
möglichkeiten an die Staatsangehörigkeit
geknüpft sind, was auch über eine lange
Zeit eine beachtliche Anzahl der nicht an
der Diskussion Beteiligten für eine Zumu-
tung gehalten haben, während ich das aus
den genannten Gründen für eine schiere
Selbstverständlichkeit halte, weil wiede-
rum diese Rechtsordnung den bei uns le-
benden Menschen die Möglichkeit des
Erwerbs der Staatsangehörigkeit ausdrück-
lich offeriert. Der Erwerb der Staatsange-
hörigkeit ist allerdings nach meiner Über-
zeugung nicht Vorleistung für Integration,
sondern Ausdruck der Integration in eine
Gesellschaft. Deswegen macht es auch von
dieser Perspektive her Sinn, den Erwerb
der Staatsangehörigkeit als das subjektive
16
Bekenntnis zu dieser Rechtsordnung die-
ses Staates dann auch zur Voraussetzung
der Mitwirkungsrechte zu machen, die sich
unter diesen Bedingungen und nur unter
diesen Bedingungen in dieser Gesellschaft
und in diesem Staat ergeben.
Schaffen wir das? Ich erinnere an das, was
ich vorhin gesagt habe. Wenn wir mit ei-
ner großen Herausforderung zu tun haben
und wir haben es auch hier jetzt wieder
zweifellos mit einer beachtlichen Heraus-
forderung zu tun, müssen wir zwei Fragen
gleichzeitig, aber auch unabhängig vonei-
nander beantworten. 1. Wollen wir über-
haupt und 2. können wir, was wir wollen?
Und das eine ist nicht unabhängig von dem
anderen. Das ist das große Thema im Au-
genblick der aktuellen Politik.
Es wird auf Straßen und Plätzen nicht immer
mit dem möglichen Maß an Differenziert-
heit diskutiert, das man sich in einer aufge-
klärten Gesellschaft wünschen würde. Da-
für finden dann in den oft beschimpften
Parlamenten, die ebenso kontroversen wie
in der Regel sorgfältigen Debatten statt, ein-
schließlich notwendiger Unterscheidungen,
die dieses Thema braucht.
Natürlich können wir nicht, selbst wenn
wir wollten, alle die nach Deutschland
kommen wollen, in Deutschland aufneh-
men. Offenkundig. Und da wir das nicht
können, selbst wenn wir wollten, müssen
wir für uns selbst und andere plausible
Kriterien der Unterscheidung finden. Die
sind jedenfalls für die überschaubare Zu-
kunft so schwer nicht zu finden. Weil näm-
lich sowohl mit Blick in unsere Verfassung,
wie mit Blick in die Welt, in der wir leben,
sich ein Kriterium aufdrängt: Politisch Ver-
folgte sollten Zuflucht finden.
Wir haben das zugegebenermaßen auch
wieder einzigartig im Vergleich zu allen
unseren europäischen Nachbarn 1949
ohne weitere Bedingungen in unsere Ver-
fassung geschrieben: Politisch Verfolgte
genießen Asylrecht. Punkt. Und warum
steht das so in der deutschen Verfassung
und nicht auch in den Verfassungen un-
serer Nachbarländer? Weil wir damals si-
cher stärker als heute diese Verfassung
in dem Bewusstsein geschrieben haben,
dass viele Deutsche, darunter viele unse-
rer Besten, nur überlebt haben, weil sie im
Ausland Zuflucht gefunden haben. Und
wenn es ein Land gibt, das mit Blick auf
seine eigenen Erfahrungen, seine eigene
Geschichte einen besonderen Ehrgeiz
entwickeln sollte, Menschen Zuflucht zu
gewähren, die ihre Heimat verlassen müs-
sen, weil sie an Leib und Leben bedroht
sind, dann muss das Deutschland sein.
Aber das heißt eben umgekehrt auf der
Strecke zwischen Wollen und Können: Wir
werden diese gewollte Zusage nur ein-
lösen können, wenn wir genauso deut-
lich machen, dass nicht alle hier bleiben
können, die lieber in Deutschland als in
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ihren Herkunftsländern ihre eigene Zu-
kunft aufbauen wollen, weil der Versuch,
das eine zu ermöglichen, das andere ver-
hindern würde.
Und das ist eine schwierige und sensible
Aufgabe, die die Politik sich gleichwohl
auf den Rücken laden muss, Verfahren zu
finden, die das in einer nachvollziehbaren,
fairen, aber auch konsequenten Weise zu
regeln in der Lage sind. Dazu gibt es jetzt
die ersten notwendigen Vereinbarungen,
auch eine Reihe von Beschlüssen.
Wir haben übrigens auch an der Stelle
schon wieder Modifizierungen in unserer
Rechtsordnung im Rahmen unseres Wer-
tekanons vorgenommen, von denen man-
che noch vor einem halben Jahr nicht mal
diskussionsfähig, geschweige denn mehr-
heitsfähig gewesen wären.
Da zeigt sich wieder, wie bei veränderten
Prioritäten im Problemhaushalt einer Ge-
sellschaft auf einmal auf sich veränderte
Situationen Mehrheiten für denkbare
Lösungen bilden. Aber wenn überhaupt,
werden wir diese Aufgabe nur bewälti-
gen können, wenn wir sie als gemeinsame
Aufgabe begreifen. Und wenn sich daraus
nicht wirklich Kreuzzüge entwickeln, von
denen die einen in diese und die anderen
in jene Richtung laufen.
Unser Bundespräsident Joachim Gauck
hat vor drei oder vier Wochen in einer
wichtigen Rede in Mainz einmal den Ap-
pell formuliert, dass „die Begeisterten und
die Besorgten“ mit Blick auf diese Migra-
tionsentwicklung, sich nicht mit wechsel-
seitiger Polemik begegnen sollten, son-
dern in einem konstruktiven Dialog um
gemeinsame Lösungen bemühen müssen.
Das ist auch meine Überzeugung.
Es gibt Anlass zur Besorgnis, gar keine
Frage. Und diese Sorgen muss man ernst
nehmen. Aber es gibt weder einen Grund,
noch gibt es eine Perspektive, die Besorg-
nis für die Lösung zu erklären. Sondern
sie muss in den Kontext unserer eige-
nen Absichten, unseres Wollens, unse-
rer Selbstverpflichtungen geholt werden
und dann müssen wir die konkreten Ver-
fahrensschritte entwickeln, die man dafür
braucht, wenn man das bewältigen will.
Ich habe vorhin erinnert an den 70. Jahres-
tag des Zweiten Weltkrieges. Ich gehöre
zu der privilegierten Generation, die erst
kurz danach geboren ist, und die die bei-
den Weltkriege, die dieses Land und die-
sen Kontinent verwüstet haben, nur vom
Hörensagen kennt. Aber dass heute Milli-
onen Menschen in der Welt bei der Suche
nach einer besseren Zukunft kein attrakti-
veres Land für sich entdecken können, als
ausgerechnet Deutschland, das ist eine
Erfahrung, die ich nicht an mir ablaufen
lassen kann. Zugleich ist das eine Verant-
wortung, die ich wahrnehmen muss. Die
ich nicht alleine wahrnehmen kann, für
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die ich wiederum Mitstreiter brauche und
wo sich eine Gesellschaft auf das verstän-
digen muss, was sie will, um dann das zu
können, was sie will, wenn sie will.
Immer, wenn ich in Dresden bin, dann
bin ich auch in dieser unglaublichen Kir-
che und mir wird mehr als an irgendeinem
anderen Platz in Deutschland bewusst,
dass wir in einem Ausnahmezustand un-
serer Geschichte leben. Bessere Ver-
hältnisse als die, die wir gegenwärtig in
Deutschland und in Europa haben, gab's
in Deutschland nie. Und deswegen gab's
auch für die Bewältigung von welchen He-
rausforderungen auch immer, nie bessere
Voraussetzungen, damit fertig zu werden.
Wenn wir wollen. Ich empfehle uns, wir
wollen. Jedenfalls können wir.
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Steffen Flath
Schlusswort
sind Werte, die von der Kuppel der Frau-
enkirche in die Welt strahlen. Das strahlt
Selbstbewusstsein aus. Und auch die-
ses Symbol steckt in dieser wunderbaren
Frauenkirche.
Und dann, lieber Frank Kupfer, hast du
eine sehr gute Wahl getroffen mit un-
serem Referenten des heutigen Tages,
Herrn Prof. Dr. Lammert. Mit Ihrem Bei-
fall haben Sie das zum Ausdruck gebracht.
Sie sind wirklich ein Meister der Formu-
lierung, aber auch ein Meister der Logik.
Denn so wie Sie die Dinge ordnen und
vortragen, kann man zu keinem anderen
Schluss kommen. Ich danke Ihnen, dass
Sie uns allen ins Gewissen geredet haben.
Das ist ja nicht ungewöhnlich in der Kir-
che. Und es ist im Moment ganz verständ-
lich. Und wenn wir dann rausgehen, wie-
der ins Leben, da können wir nicht sagen,
das hat der Prof. Lammert aber wunder-
bar erklärt, lest es mal nach. Sondern da
sind wir, ist jeder einzelne gefordert, auch
auf schwierige Fragen Antworten zu fin-
den. Und dazu gehört auch, dass man zu-
geben darf, dass man in einer Sache noch
keine Antwort hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde des Johann-Amos-Comenius-Clubs, ich hätte jetzt ganz gerne noch eine
Weile über die Rede nachgedacht und Ih-
nen geht es vielleicht auch so.
Und trotzdem muss eine Veranstaltung
immer ein Schlusswort haben. Fritz Hähle,
unser Ehrenpräsident, blickt zufrieden.
Er hat den Johann-Amos-Comenius-Club
ins Leben gerufen und zu meiner Zeit als
Fraktionsvorsitzender habe ich ihn fort-
geführt und Frank Kupfer führt ihn ge-
meinsam mit den Mitgliedern der CDU-
Fraktion ebenfalls fort, deshalb ist Fritz
Hähle zufrieden.
Herr Pfarrer Feydt, Sie haben uns begrüßt
und wir durften hier die Gastfreundschaft
genießen. Es ist für eine politische Partei,
für eine Fraktion keine Selbstverständ-
lichkeit. Auch das hat Fritz Hähle damals
begründet. Und wir haben die Tradition
bis zum heutigen Tag gepflegt. Und Ihr
Kommen, Ihre Treue als Zuhörer zeigt
uns, dass es gut ist, solche Traditionen
zu pflegen.
Und ich will auch noch mal aufgreifen,
was Herr Pfarrer Feydt gesagt hat: Barm-
herzigkeit, Liebe, Vertrauen, Glaube, das
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Aber da wiederum hilft uns Ihr Argument:
Wollen ist die Voraussetzung für das Kön-
nen. Wir leben in einer schwierigen Zeit.
Bürgermeister, Oberbürgermeister und
Landräte, in der ersten Reihe sehe ich
Landrat Frank Vogel, müssen den Leu-
ten auf der Straße Antworten geben. Und
auch Entscheidungen, die getroffen wer-
den müssen, sind zu erklären. Ich sag im-
mer, die Unterbringung von Flüchtlingen
ist in allererster Linie eine administra-
tive Aufgabe. Und da ist es auch wich-
tig, dass wir die Amtsinhaber unterstüt-
zen. In schwierigen Zeiten müssen wir
zusammenhalten, auch das ist angespro-
chen worden. Nur gemeinsam können wir
die Schwierigkeiten bewältigen.
Wir Sachsen dürfen ja auch ein bisschen
stolz sein. Ganz gleich, was uns da manch-
mal in den Medien so vorgehalten wird, so
hinterwäldlerisch sind wir nicht. Diesen
Mut, auch mal eigenständig aufzutreten,
ich glaube, den haben wir am allermeis-
ten von den Bayern gelernt. Und die Bay-
ern sind sehr erfolgreich und sind alles an-
dere als hinterwäldlerisch.
Deshalb will ich noch mal einen Bogen
spannen zum Landesparteitag, der in der
letzten Woche stattgefunden hat. Herz-
lichen Glückwunsch zu deinem guten
Wahlergebnis bei der Vorstandswahl, lie-
ber Frank Kupfer. Dort war Horst Seeho-
fer zu Gast, der Ministerpräsident von
Bayern. Und er hat aufgezeigt, wenn es
gelungene Beispiele für Integration gibt,
dann ist die Wahrscheinlichkeit, diese in
Bayern zu finden, größer als in anderen
Bundesländern. Deshalb sind wir auch da
gut beraten, uns Bayern als Vorbild zu
nehmen.
Und wir Sachsen haben ja auch eins ge-
merkt: Die, die nach Deutschland wollen,
wollen nicht unbedingt immer nach Sach-
sen. Einige haben sich schon längst wie-
der auf den Weg gemacht, woanders hin-
zugehen. Aber die, die in Sachsen bleiben
wollen, und da wir bisher einen sehr, sehr
niedrigen Anteil von Ausländern haben,
dann sollte uns doch dieses Wollen und
Können anspornen, eben mit wenigen,
die hier bleiben wollen, die aber ganz be-
wusst in Sachsen bleiben wollen, auch
gute Beispiele für Integration in Sachsen
tatsächlich hinzubekommen.
Diesen Anspruch müssen wir haben,
wenn wir Selbstbewusstsein zeigen wol-
len. Und auch da hilft uns die Rede von
Prof. Lammert, der in großer Offenheit,
das hören wir nicht oft in diesen Tagen,
dieses Thema Leitkultur ansprach. Werte
und Grundwerte können nur entweder
dieser oder einer anderen Kultur entspre-
chen.
Und so vielleicht abschließend noch ein
kleines Beispiel für Toleranz: Wenn ich
Frank Vogel anschaue, denke ich an Erz-
gebirge Aue. Da ein Spiel bevor steht,
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werbe ich in der Landeshauptstadt Dres-
den für Toleranz gegenüber den Fans von
Erzgebirge Aue. Ja. Das verstehe ich un-
ter Toleranz. Dafür werbe ich. Und geht
ordentlich miteinander um. In der Ver-
gangenheit haben wir den Begriff Tole-
ranz aber oft anders verwendet.
Deshalb bringe ich noch ein Beispiel aus
meiner politischen Laufbahn. Ich war mal
mit meiner Frau in einem muslimischen
Land, in Baschkortostan. Ich bin nachts
um 4 angekommen und ich hatte Jeans an,
weil das für so einen Flug das Bequemste
war. Und dann war ein roter Teppich für
mich ausgerollt. Und ich wurde in Jeans
auf dem roten Teppich empfangen. Auf
der Fahrt ins Hotel hat mir dann meine
Frau gesagt, dass ihr keiner die Hand ge-
geben, noch nicht mal jemand sie ange-
blickt hat. Meine Frau hat das ertragen.
Eine Woche lang. Und nach einer Woche
hat der dortige Landwirtschaftsminister –
Frank Kupfer, du wirst ihn vielleicht auch
kennen -, als es kühl wurde, wärmend sei-
nen Mantel meiner Frau über die Schul-
tern gelegt. Das war dann ein Zeichen der
Wertschätzung, immerhin. Wenn dieser
Landwirtschaftsminister aber nach Sach-
sen kommt oder nach Deutschland, dann
ist es unsere Aufgabe ihm freundlich zu
sagen, welche Regeln bei uns gelten. Wir
achten die Regeln im fremden Land, und
bitteschön, wer zu uns kommt, achtet die
Regeln hier.
Weil heute Buß- und Bettag ist, hat uns
Pfarrer Feydt gesagt, unsere Meinung
auch mal infrage zu stellen. Und uns die
Frage stellen, ob wir die Regeln, von de-
nen wir manchmal so großartige reden,
auch selbst in unserem Leben einhalten.
Damit möchte ich Sie an diesem Buß- und
Bettag, an diesem Feiertag in Sachsen,
entlassen. Soll Sie aber noch von Frank
Kupfer, von den Mitgliedern der CDU-
Landtagsfraktion einladen, dass Sie schon
mal notieren, 17. Juni 2016, da wird die
nächste Veranstaltung sein. Referent wird
Werner Schulz sein. Der Ort ist noch nicht
bekannt, den bekommen Sie dann mit der
Einladung mitgeteilt.
Ich wünsche Ihnen einen gesegneten
Feiertag.
Dankeschön.
Impressum
Rechtsstaat und Demokratie – Was die Gesellschaft zusammenhältVeranstaltung am 18. November 2015
HerausgeberCDU-Fraktiondes Sächsischen Landtages
RedaktionPascal Ziehm
Satz, Gestaltung und DruckZ&Z Agentur Dresden
Dresden, Januar 2016
Diese Broschüre wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlhelfern im Wahlkampf zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Den Parteien ist es gestattet, die Druck-schrift zur Unterrichtung ihrer Mitglieder zu verwenden.