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Sonderdruch aus FUNDBERICHTE AUS BADE,N_\TURTTEMBERG Band 10, 1985 STUTTGART I985
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J. Hahn / S. Mratschek: Erycina in Rätien, in: Fundberichte aus Baden-Würtemberg, Bd. 10, Stuttgart 1986, p. 147 - 154

May 16, 2023

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Petter Sandstad
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Page 1: J. Hahn / S. Mratschek: Erycina in Rätien, in: Fundberichte aus Baden-Würtemberg, Bd. 10, Stuttgart 1986, p. 147 - 154

Sonderdruch aus

FUNDBERICHTE AUS BADE,N_\TURTTEMBERG

Band 10, 1985

STUTTGART I985

Page 2: J. Hahn / S. Mratschek: Erycina in Rätien, in: Fundberichte aus Baden-Würtemberg, Bd. 10, Stuttgart 1986, p. 147 - 154

ERYCINA IN RATIEN

Jou.rNNrs FIaHN und Srcnro MnetscHEr

Mit 2 Textabbildungen

Zu den Funden, die bei den seit 1980 durch das Landesdenkmalamt Baden- §(/'ürttemberg wieder

aufgenommenen Grabungen in Heidenheim, dem römischen Aquileia, am sog. Alb-Limes ca.

20 km südlich von Aalen gelegen, ans Tageslicht gekommen sind, zählen die Fragmente einer

römischen Kragenschüssel1. Sie wurden im großen Heizraum der Badeanlage des römischen

Kastells von Heidenheim gefunden, das um 90 n. Chr., zunächst wohl als Holz-Erde-Kon-struktion, zur Aufnahme der ala II Flauia rnilliaria errichtet und wenig später durch Steinbau-

ten ersetzt wurde. Mit der Verlegung der Truppe nach Aalen an die neue, weiter nördlich gele-

gene Linie des rätischen Limes gegen 155 n. Chr. wurde das Kastell aufgegeben. Die hier zu un-tersuchende Schüssel2 (Abb. 1. 2) gehörte einer Planierungsschicht an, auf der im späten 1. oder

sehr frühen 2.Jahrhundert das große Badegebäude der Steinbau-Phase errichtet wurde.

Abb. 1 Terra-nigra-Schüssel mit Graffito von Heidenheim. Fotomontage der beiden anpassenden Rand-scherben..Maßstab 1 : 3.

1 Für die Uberlassung des Fundstückes zur Publikation und für seine ständige Hilfsbereitschaft haben wirHerrn Dr. D. Prer.lcr (Stuttgart) zu danken, ebenso wie Herrn Prof. Dr. G. Arrörov (Heidelberg) fürwerwolle Anregungen und Hinweise. lJnterstützung erfuhren wir auch von den Herren Prof. Dr.H.voN Pnrnrrovrrs (Bonn), Dr. H.Ze,nBnucrv (§fien), Dr. H.Brnru.q.no (Speyer) und Dr. J.Hu-LTcMANN (Tübingen). Die Beschreibung der Fundumstände und die archäologische Einordnung des

Fundstückes im ersten Teil dieses Artikels wurde von J. HanN, die darauf folgende Analyse des Textessowie dessen religions- und sozialgeschichtliche Interpretation von S.Mntrscntr verfaßt.

2 Heidenheim, Fundbuch-Nr. 130, bisher nur als Umzeichnung ohne Kommentar veröffentlicht;D.Prar.rcx, Das große römische Bad von Heidenheim. Arch. Ausgrabungen 1980 (1.981.) 69.

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a'f1-rcl Nr\) l{ 1 C I J...,r,..rsl N 1 rr\r ) r.-r /\/ (1l, d," \Abb.2 umzeichnung und Abrollung des Graffito der Terra-nigra-schüssel von Heidenheim' Maßstab

1:3.

Bei dem Gefäß aus Terra nigra handelt es sich um eine Kragenrandschüssel mit schwarzem

Glanzton-Uberzug und G.rffito; erhalten sind zwei Randfragmente mit anschließender'W'an-

d,rng, di" ein. vollJtä.rdige Rekonstruktion erlauben. Die beiden Bruchstücke messen auf Höhe

d.. ilr'd., 29 cm und 11,4 cm. Der ursprüngliche Umfang der Schüssel auf Höhe des Kragen-

randes betrug 64,4 cm.

Da der Boden der Schüssel verloren ist, läßt sich nicht mehr sagen, ob hier vielleicht ein Stempel

oder ein anderes Herstellerzeichen angebracht war. Die Schüssel besitzt einen profilierten

Standring, über dem sich die weit ausladende Steilwand erhebt, die auf der Außenseite teilweise

mit ein.- nach dem Brand in den Überzug geritzten Gitternetz versehen ist- Die Innenseite ist

glatt. Am Übergang der Steilwand in den Kragenrand befindet sich eine stark profilierte' waage-

rechte Leiste. sie schließt den hohen, etwa zylindrischen, senkrechten Kragenrand ab, der oben

in einer durch eine leichte Rinne betonten Lippe endet. Auf dem Kragenrand ist ein Graffito an-

g.br".ht; dieser wurde, wie das bereits genannte Gitternetz, nach dem Brand des Gefäßes einge-

f',rr. D^ kleinere der beiden Bruchstücke ist, abgesehen von einem Spitzblatt-Dekor in der

Mitte der Randleiste und einem evenruellen Suchstabenrest links, schriftfrei. Das größere

Fragment enthält den beiderseits abgebrochenen Graffito:

l-' -1" Erucina, bic' Amaranthus naufragiu f't- - -l

vor und nach bic sind zwei Hasten, ähnlich Kommata, deutlich gezogen.

Die ursprüngliche Länge des Graffito läßt sich nicht bestimmen, da auch ein Teil des nun feh-

I..rd..r R.rrd.s unbeschriftet gewesen sein mag. Doch ergibt sich aus der Länge des fehlenden

Stückes (23 cm),d"ß -axi-ri24 bis 28 Buchstaben fehlen dürften - es könnten iedoch auch be-

liebig weniger ges/esen sein. Da das spitzblatt-Fragment in seiner genauen-stellung zum erhal-

,.rr.i T"r, r,i.hl lokrli.i..t werden kann, bleibt es offen, wie weit der Graffito auf beiden Seiten

ergänzrwerden muß. Die schriftführung des Graffito ist - zum Teil sicher bedingt durch das

,riäht ,r, harte Material - von seltener Sorgfalt und zeugt von der technischen sicherheit des

Schreibenden; keinesfalls handelt es sich um die Hand eines Ungeübten'

rwährend die Typologie des Fundstückes Probleme aufwirft, auf die unten noch eingegangen

wird, läßt ,i.t .irr. ...h. g.r"r. Datierung der schüssel aufgrund ihrer oben geschilderten stra-

tigraphischen Zrordnrrjz,,rr baulichen Entwicklung des Kastells geben. Danach ist gesichert,

!,- rcjN \Hlc)

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Erycina in Rätien 149

daß sie zu einem Zeitpunkt z-wischen ca. 90 n. Chr., der Errichtung des ersten Lagers, und kurz

vor oder um 100 n. Chr., dem Bau der Badeanlage, in den Boden gelangt ist. Entsprechend ist

die Herstellung der Schüssel erne geringeZeitspanne früher anzunehmen. Die Möglichkeit einer

Datierung des Graffito und der Schüssel nach dem Schriftbild verbietet sich aus der Natur dieser

Inschriften, ihren individuellen Zufälligkeiten und technischen Problemen wie etwa der Härte

des Scherbens. Ein Vergleich mit datierten Graffiti und ihren Buchstabenformen3 zeigt jedoch,

daß stilistische Indizien nicht gegen eine Datierung in die zweite Hälfte des 1. oder in das begin-

nende 2. Jahrhundert sprechen würden.

Die vorliegende Kragenrandschüssel aus Terra nigra gehört ihrer Form nach zu einem nördlich

der Alpen recht verbreiteten Typus, der auf die Imitation (norditalienischer) Terra sigillata,

nämlich der Typen Drag.24 und 25, zurückgehta. Im Rheinland wird diese Imitation in ,,belgi-

scher. Ware" als Gosr 303 bestimmts. E. Gosr verwies dabei auf den Hofheimer Typ 104, ein

halhkugeliges Schälchen6. In der rätischen Terra-nigra-Produktion, die ihren Höhepunkt im 1.

und beginnenden 2.Jahrhundert hatte, sind Kragenrandschüsseln nicht so häufig?. N. §ü'arxr

ließ die Straubinger Exemplare direkt an den Hofheimer Typ 104 anschließen8' der wie der Typ

Gosr 3Oi einen ausgeprägten, hohen Standring zeigt. Solche Gleichsetzungen täuschen aller-

dings über zum Teil grundlegende Unterschiede der jeweiligen Formen, insbesondere bei der

Heiausarbeitung des Standprofils, aber auch der Kragenleiste und der Profilierung der Lippe

hinweg. So ist für das hiesige Heidenheimer Exemplar die überaus flache Ausführung des Stand-

ringes, der sich - dies läßt sich trotz des fragmentarischen Zustandes noch erkennen - der Form

einer Standplatte annähert, besonders charakteristisch. Zwei Straßburger Fundee, die beide

auch den charakteristischen senkrechten Kragenrand über der Steilwand zeigen, stehen hier dem

Heidenheimer Exemplar wesentlich näher. Aus dem rätischen Bereich kommt unserem Stück

eine Schüssel aus Pfünz10 mit niedrigem, schwach ausgeprägtem Standring noch am nächsten.

Eine eindeutige typologische Zuordnung der Heidenheimer Schüssel läßt sich anhand verwand-

ter Stücke also nicht vornehmen. Es ließen sich vielleicht sogar Verbindungen zur Pannonischen

Keramik und deren reichhaltiger Produktion von Kragenrandschüsseln herstellenll. Die Frage,

ob das vorliegende Exemplar einheimisch-rätischer Produktion entstammt, läßt sich bei dem

derzeitigen Forschungsstand, der weitgehend ungeklärten Typologie der Terra-nigra-Gefäße

und der geringen Zahl bekannter rätischer Töpfereien nicht schlüssig beantworten. Da jedoch

eindeutige Hinweise auf eine fremde Provenienz der Heidenheimer Schüssel bisher fehlen, ist

3 L.Bexxsn/B. Gar-srrnrn-Knöu, Graffiti auf römischer Keramik im Rheinischen Landesmuseum inBonn (1975).

a H. DnecnNponrr, Terra Sigillata. Bonner Jahrb.69,7894,18 ff. - vgl. F. osv.o,rolT. D. Pnvcr, An In-troduction to the Study of Terra Sigillata (92Q Taf ,ao.

s E. Gosr, Gefäßtypen der römischen Keramik im Rheinland. Bonner Jahrb. Beih. 1 (1950) 26 Nr.30l.6 E.Rrrrunrruc, Das frührömische Lager in Hofheim im Taunus. Nass. Ann.40, 1972,339.7 N. §7arxr, Das römische Donaukastell Straubing-sorviodurum. Limesforsch. 3 (1965) 40 u. Taf.54,

4-6. - G. Ulsrnr, Die römischen Donaukastelle Aislingen und Burghöfe. Limesforsch. 1 (1959) 47 t.Taf .5,3: 44, 6.

I Warxr, StraubingT.e J.-J.Herr, Les Fouilles de Strasbourg en 1953 et 7954. Gallia 12' 1954' 129 Fig. 8. 9. 13.

10 F.VrNxruraeNr, ORL VIII Nr.73, 54 II Nr.20 mitTfi.7,16.11 E.BöNrs, Die kaiserzeitliche Keramik von Pannonien I. Diss. Pann. Ser. II No. 20 (1942) 49. 160ff. u.

Taf..21, 28-32. - M. GnüNEvero, Die Gefäßkeramik des Legionslagers von Carnuntum (Grabungen1965-1974). Der römische Limes in Österreichzg (1979)32f. u. Taf. 17. -D. Ge.arrn, Acta Arch. Hung.25,1973,156. - Ders., Mitt. d. Arch. Inst. d. Ungar. Akad. d. \7iss. 10/11, 1980/81, 85 u. Anm. 98 mitLiteratur.

1l - Fundber Bad -\(ür( 10

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rrotz der typologischen Besonderheit des Stückes davon auszugehen, daß es sich um eine ein-

heimische Produktion handelt.

J. H.

Die besondere Bedeutung des Fundstückes liegt im ungewöhnlichen Text des Graffito. Obwohldie archäologische Untersuchung der Bruchsrücke über dessen ursprüngliche Länge keinen

Aufschluß zu geben vermochte, wodurch eine Rekonstruktion desselben erheblich erschwertwird, lassen sich dem Text durch eine sprachliche Analyse zumindest vier partielle Angaben

über Zweck und Anlaß der Inschrift entnehmen:

1. Einwandfrei lesbar ist der Göttername Erucina, wobei die Göttin entsprechend der Kasusen-

dung -a entweder als handelnde Person im Nominativ bzw. im Ablativus absolutus oder aber als

angeredete Person im Vokariv gedacht sein könnte.

2. Als gesichert gelten kann ferner der Personenname,{ n aranth us, der ausschließlich als Nominariv gelesen werden kann. Demnach ist eindeuti gAmarantbus Subjekt des Satzes, fir Erucina

bleibt lediglich die §(ahl zwischen den Kasus Ablativ und Vokativ.

3. Zwischen den Namen der Göttin und den Personennamen eingeschoben steht, von beiden

durch Trennungszeichen scharf abgegrenzt, die Partikel äic. Diese bewußte Abtrennung deutet

darauf hin, daß hic nicht als Nominativ des Demonstrativpronomens auf den unmittelbar nach-

folgenden NamenAmarantbus z! beziehen, sondern vielmehr als Ortsadverb aufzufassen ist,

4. In dem letzten vollständig erhaltenen \7ort des Graffito, naufragiu, haben wir zweifellos ei-

nen der bisher vermißten obliquen Kasus des Satzes vorliegen.

Diese vier Einzelbeobachtungen lassen im Kontext sowohl formal-sprachlich wie auch seman-

tisch nur eine logisch sinnvolle Deutung des Graffito zu: Es enthält die \üidmung eines Amaran-

thus an Erycina, die Venus vom sizilianischen Berg Eryx. Damit fügt sich das Graffito in die

Reihe der bisher gefundenen Erycina-Inschriften ein, die ausnahmslos Dedikationen zum Inhalt

haben. Anlaß der Veihung isr die Errettung aus einem z4 ufragium, wobei der Begriff hier nicht

im übertragenen Sinne als ,,Unglück" oder,,Pech", sondern ganz konkret als Schiffbruch zu

verstehen ist12. Das Orrsadverb äic dürfte den Ort der'\(eihung, nicht aber des Schiffbruchs be-

zeichnen, da dieser in Heidenheim an der Brenz kaum stattgefunden haben kann. Es wird hier

durch die beiden senkrechten Trennungsstrichel3 wohl deshalb so stark betont, weil es sich um

einen in Rätien unbekannten Kult handelt, der sich auf das Gebiet des Monte Erice konzentrier-

te. Die Situation des Schiflbrüchigen, der wahrscheinlich auch der Graveur des Graffito war,

legr die Vermutung nahe, daß er die Göttin, wie es gelegentlich vor allem in Poetisch gefärbten

sakralinschriften vorkam, dem Geberston enrsprechend im Vokativ anriefla.

Die Tradition, die Erycina mit der Seefahrt verbindet, worauf oach R. Scnnuuc das Symbol

des Rades anspielt, geht auf die Phöniker zurück und hat sich bis in die späte Kaiserzeit in der

12 Zur Bedeutung des \(ones siehe A. Foncnrrrr, Lexicon totius Latinitads III (19a0) 337f. s. v. naafra-

gium. Z,tden Jntsprechenden Belegen für Schif{brüche in der Nachbarprovinz Germania superior sowie

in der Gallia Lugdunensis siehe unten Anm.28.13 Selten, aber nichiunüblich als Trennungszeichen sind die beiden senkrechten, leicht gebogenen Hasten,

die in dieser Inschrifr eine ungewöhnliche Länge aufweisen; zudem werden solche Trennungsstriche oder

-punkte in der Regel nach jedim Won gesetzt und nichr wie hier, um ein einzelnes Vort hervorzuheben.

vgl. dazu die Inte-rpunktionen pompeianischer Graffiti, z. B. cIL IV, Suppl. 2,4707,4966,4973,5U8.

Cif ru, 4874 hat i.rr. ei.r"r, Tiennungsstrich, obwohl die Inschrift aus sechs \(orten besteht.

1n Beispiele bei F. Rrcnrrn, Lateinische Sakralinschriften (1911) Nr.97. 164 und E. Dnsr, Pompeianische

\Tandinschriften (1910) Nr. 18. 26.

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Erycina in Rätien

Legende erhalten, nach der Eryx der Sohn des Neptunus und der Venus war15. Unter römischerHerrschaft wurde Erycina dann, neben ihrer Eigenschaft als Liebesgöttin, zrr gütigen Mutterdes ,,ersten Pilgers Aeneas", die Fremde wie Einheimische gleichermaßen auf ihren Reisen be-schützte und deren Losorakel man über das Gelingen einer lJnternehmung befragtel6.

Der §Techsel zwischenu undy bei der Schreibung des Namens der Göttin vom Eryx war sicher-lich keine Seltenheit, doch ist es nichtsdestoweniger auffallend, daß römische Dichter undSchriftsteller seit der späten Republik grundsätzlich die dem Griechischen entlehnte Namens-form mit2 bevorzugten, während auf Inschriften, Münzen und Tesserae, nach dem Graffito of-fenbar bis in die Flavierzeit, die archaische Form Erucina oder Herucina zu lesen ist17. Bei der

Schreibungza wfragiu anstelle von rl4 wfragio hingegen handelt es sich um eine sowohl in den gal-

lisch-germanischen Provinzen wie überall im römischen Reich weitverbreitete sprachliche Ei-gentümlichkeit:ImZuge des seit Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. einsetzenden Schwundes der

Quantitäten kam es hin und wieder zu einer solchen ,,umgekehrten Schreibung", da ein Vandelvon o ztt il. vor und nach Vokalen unter den gleichen Bedingungen stattfand wie ein '§?'andel vonw zuö78. Doch wurde sie erst zu Beginn des 2. Jahrhunderts allgemein üblichle. Zwar wäre auch

eine Deutung v onnaufragiw als Akkusativ, dessen Schluß -m ^\sgefallen

ist, denkbar, jedoch istdiese Möglichkeit sowohl aus semantischen Gründen wie auch syntaktisch weniger wahrschein-lich. Der Name des Dedikanten, Amaranthus, ursprünglich ein Pflanzenname, deutet wie eine

Vielzahl griechischer Personennamen im lateinischen tVesten zumindest bis in die Zeit MarcAurels auf die niedere Herkunft seines Trägers hin, der, da in der Inschrift nichts über seine Un-freiheit vermerkt ist, seinem juristischen Status nach ernlibertus oder der Sohn eines solchen ge-

wesen sein dürftezo. Obwohl dieser Name in den ersten beiden Jahrhunderten der Kaiserzeit imgesamten Imperium Romanum verbreitet war, ist er im gallisch-germanischen Raum nur ein-mal, und zwar als cognornen, be1egt21.

1s Serv., Ad Aen. 1,570. Siebe dazu R. ScnrrrrNc, La religion Romaine de V6nus depuis les origines jus-qu'au temps d'Auguste (1954) 237.

16 CIL VI, 2274 nennt einen C. Stiminius H erach, sortilegus ab Venere Erucina. -Srehe a:uch ScruurNc, Lareligionls 241ff.261.

17 ZurSchreibungErycina inderrömischenLiteratursieheCat.64, T2;Yerg.,Aen.5,759; Hor., Carm. 1,

2,33; Ov., Met. 5, 363;Am.2,1,a,1; Ep. Sapph. 57; Suet., Claud. zs, 5. - Die SchreibrngErucina istinnichtliterarischen Quellen, etwa Inschriften, Münzen und Tesserae, üblich. Inschriften: R. S. CoNv.w,The Italic Dialects I (1897 Neudruck 1967) 82 Nr. 87. - CIL Y[,2274;12,27A.275;X,7253-7255.7257.8042,1. - CIL X, 134 ist sicher zu Veneri lElrlulcinae sacr(wm) z,t ergänzen. Münzen: E. BeltroN, Des-cription historique et chronologique des monnaies de la r6publique Romaine vulgairement appell6esmonnaies consulaires 7 (1885) 376 Nr. 1 (aus dem Jahre 60 v. Chr.). Tesserae: M. Rosrowzerr, Tessera-rum urbis Romae et suburbi plumbearum Sylloge (1901) Nr.3088.

18 Vgl. die Beispiele im Index zu CIL XIII, 175, s. v. grammaticl- (u pro o). -Zrr Yertauschung der Vokalespeziell der Kasusendung im Ablativ vgl. H. Sorrw/M.IrxoNnN-Kerre, Graffiti del Palatino, I. Paeda-gogium (1966) (Acta Instituti Romani FinlandiaeIIT) 724Nr.78 (Marinus / Afer exüt / de pedagogiu). -Zum Schwund der Quantitäten und zumVokalismus sieheV. ViüNANaN, Introduction au LatinVulgaire(3. Aufl. 1981) bes. 36. - Ders., Le Latin Vulgaire des inscriptions Pomp6iennes (3. Aufl. 1969) 160ff .Zur ,,umgekehrten Schreibung" H. Scnucnanor, Der Vokalismus des Vulgärlateins II (1857) 779 rnd\W. A. Bernnrus, Sprachlicher Kommentar zur vulgärlateinischen Appendix Probi (1967) 55.

1e ViüNANru, Introductionls.20 Siehe dazu H. SorrN, Beiträge zur Kenntnis der griechischen Personennamen in Rom I. In: Commenra-

tiones humanarum litterarum 48 (1971) 121ff. mit Statistiken für Rom und Ostia. - Zu AmaranthusDers., Die griechischen Personennamen in Rom. Ein Namenbuchll (1982) 1071ff .

21 ZtrYerbrettung des Namens siehe G. Arrölov, Die Personennamen in der römischen Provinz Dalma-tia. Beiträge zur Namenforschung N. F. Beiheft 4 (1969) 747, ferner SouN, Griechische Personenna-men20. - Beleg im gallisch-germanischen Raum: CIL XIII, 71526 (Amarantus ohne E). Die Auflösungdes §(ortes Amarat- in CIL XIII, 30)5, 6 nt Arnarat(u, isr sicher falsch.

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1'52 J' Hahn und S' Mratschek

Für die Ergänzung und Rekonstruktion des Graffito verbleibt nach den Überlegungen auf

S. l4g nochh. -oi-d 28 Buchstaben Raum, ohne daß diese eindeutig dem Anfang oder dem

Abschluß des erhaltenen Fragmentes zugeordnet werden könnten. In Anbetracht der zahlrei-

chen Erwähnungen der Venus Erycin" i., der augusteischen Dichtung22 wie auch des poetischen

Sprachduktus dJr Inschrift wäre es naheliegend, den Text durch zwei Hexameter at einem car-

*r, ,u "rgärren,

welches aus metrischen Gründen mit dem \(ort älc beginnen und dem Namen

Erucinae.rden müßte. Doch ist eine solche metrische Ergänzung im Rahmen der zur Verfügung

stehenden 28 Buchstaben nicht möglich. Eine nicht-metrische und daher aufgrund mangelnder

Anhaltspunkte nur hypothetische Rekonstruktion des Inschriftentextes hätten wir uns dem-

nach si.rngemäß etwa so vorzustellen, daß die Göttin, die Hilfe gewährt und Dank empfängt, im

zentrwäer Inschrift steht, während das ornamern, die bedera, Anfang und Ende des rings

umlaufenden Graffito bildet:

lAdorat tuum numeln Erucina, bic, Amarantbws naufragi'o' felliciter ereptus)

So unsicher der .wortlaut dieser Ergänzung im einzelnen ist, so sicher ist ihr sinn: Ein Schiffbrü-

chiger mit Namen Amaranth us ruf

tung die Kragenrandschüssel, die

oder kostbaren Olen, gefüllt war

abspielte, darüber gibt der Text keine Auskunft'

Verständnis der Inschrift liefert vielmehr die Tatsache, daß eine solche Anrufung der Venus

Erycinain Obergermanien und Rätien bisher einziganig ist. Aus diesem ersten und einzigen

Z.rgni, für eine Verehrung der Göttin in Rätien zu schließen, daß dieser Kult auch nördlich der

Alpen verbreitet war, wäre sicherlich falsch. Zentrum des Erycinakultes war bis ins 3 ' Jahrhun-

d..t d., römischen Kaiserzeit ein auf dem Berg Eryx im Nordwesten siziliens gelegenes ve-

nus-Heiligtum, welches von Polybios als das weitaus berühmteste und reichste Siziliens be-

schrieben wird23. Dennoch war es offenbar nur von regionaler BedeutunS, da, abgesehen von

einigen spärlichen Zeugnissen aus den umliegenden Mittelmeerlandschaften Arkadien' Sardini-

.rr, frorirf.ika und aus Rom, nirgendwo im Imperium Romanum auch nur die geringste Spur

eines Erycinakultes bezeugt ist2a. Dieser blieb nach Ausweis der Angaben der Kaiserzeit auf Si-

zilien und Unteritalien beschränkt2s. Frühere Zeugnisse aus Sardinien und ein Lokalkult sehr al-

22 Siehe Anm. 17.23 polyb. 1 oütr1g pdv trlE x 6öou, xeitcrr tö trlg

'Aqqoöl öpoi"vour"väs ar'r.T e r]'oütrp xcrü

tr1 )'or,lr1 ov [eptrrv' -Zt Al Heiligtums vgl' auch

Paus.8,- Z.r.grri... für den Erycinakult außerhalb siziliens und unteritaliens: a) in Psophis, wo nach Informatio-

.r.rr'"u, der einheimischen Bevölkerung ein 'Aqp soll' vgl'

Prr.r., 1o.. cit. - b) in Sardinien CIS I, 140' - c AE 1908'

N. s iftiUiii, in (umidien) ' - d) in Rom, wo di asti Aroa-

i". l,o- Z: . April; 12, 210 : F"sti'Esq,,ili'i t'orn s Nr' 3088 '

CIL XIV, 2584 aus Tusculum ist zu unsicher,,. iri. di" Kaiserzeit siehe etwa vom Eryx CIL x, 7 ieg über

Tacfarinas im Jahre 20 und aus Campanien CIL X, -134

vom Jahre 210 n'

"i.r" ru. al" ü.r"h^rg der Venus ii''y"itt" in Sizilien und Unteritalien

i";rVr*. ohne Anhal"tspunkte für eine präzise Datierung: a) vom E'-

v. Chr., Head, HN2, 1i8; IG XIV, ZU iÄdZSS;CLLX,7251'7255 = ILS )l6J-3164 a; in Syrakus CIL

x,7121._ b) in campaniän cIL X, 8042, 7 = ILS 3165 (puteoli); coNwav, Italic DialectslT Nr. 87' eine

o.kir"h. Inschrift aus dem 1.Jh. v' Chr' (Herculaneum)'

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Erycina in Rätien

ter Herkunft in Arkadien, von welchem der an Altertümern interessierte Tourist Pausanias nurnoch die Ruinen eines Tempels vorfand, dürften als Ausgangspunkt für die Verbreitung des

Kultes der Venus Erycina in der Kaiserzeit keine Rolle gespielt haben26. W'enn sich also der

schiffbrüchige Amaranthus an diese in der Nordhälfte des Imperium nur wenig bekannte Göttinvon vorwiegend regionaler Bedeutung wandte, so ist daraus zu ersehen, daß er zu dem Land, indem sie verehrt wurde, eine enge Beziehung hatte. Nur ein Mann, der dort beheimatet oder zu-mindest mit den kulturellen und religiösen Traditionen Siziliens (2. B. auf einer Reise) in Berüh-rung gekommen war, würde sich angesichts eines Schiffbruches auf Erycina berufen. Ein ande-

rer hätte sich mit Sicherheit an eine populärere, für Seefahrt und Meer zuständige Gottheit wie

Neptunus, Minerva oder Isis gewandt2T. Daraus ergeben sich für den Ort des Schiffbruches drei

sinngemäß nur wenig verschiedene Hypothesen:

a) Da Heidenheim an derBrenz, der Fundort des Gefäßes, kaum der geeignete Ort für einen

Schiffbruch gey/esen sein dürfte, könnte sich dieses Unglück irgendwo in der näheren Umge-bung auf einem der größeren Binnengewässer im obergermanisch-rätischen Raum, etwa auf der

Donau oder Iller, zugetragen haben. Daß Schiffbrüche auf den Flüssen dieser Provinzen keine

Seltenheit waren, beweist u. a. die Veihinschrift eines römischen Kaufmanns arts demlahre227n. Chr., die im Neckar bei Marbach gefunden wurde28. Dieser dankt darin den Dl Cassus, den

Göttern des glücklichen Geschicks, für die Errettung aus einem Schiffbruch, bei dem er sein

Schiff verloren hatte.

b) Gesetzt den Fall, daß der Schiffbrüchige tatsächlich aus Unteritalien oder Sizilien stammte, so

wäre das Tyrrhenische Meer, das Amaranthus überqueren mußte, um entweder zu Land über

die Alpen oder zu Schiff auf der Rhöne nach Aquileia zu gelangen, als Schauplatz des Schiff-

bruchs denkbar.

c) Oder aber der Schiffbruch fand in unmittelbarer Nähe des Monte Erice statt, und der Schiff-

brüchige wandte sich an die dorrige Göttin um Hilfe.

Gleich welcher der drei Hypothesen man den Vorzug gibt, liegt die Vermutung nahe, daß der inSeenot Geratene ein Fremder aus dem Süden war, der auf seiner Reise nach Rätien Schiffbruch

erlitt und, glücklich an seinem Bestimmungsort, Aquileia, angekommen, der sizilianischen

Göttin die Kragenrandschüssel weihte. Doch warum und in welcher Eigenschaft hatte er eine

für die damalige Zeit so beschwerliche und, wie wir sahen, nicht ungefährliche Reise auf sich ge-

nommen? Sicher war dasZiel seiner Reise nicht zufällig das römische Kastell Aquileia, wo etwa

zwischen 90 und 155 n. Chr. dieala II Flat,iamilliarla stationiertwar. Nach der Aussage des

26 Zu den überresten des Tempels von Psophis im Vergleich zu dem in der Antoninenzeit noch vollständigintakten Venuskult auf dem Eryx siehe Paus., loc. cit. - Vgl. dazu ScnrrrrNc, La religionls 1 6, nach des-

sen Auffassung der Kult in Psophis im 5. Jh. v. Chr. von arkadischen Söldnern nach ihrer Rückkehr vonSizilien eingeführt wurde. - Dagegen erblickte O. Gnuppr, Griechische Mythologie und Religionsge-schichte I. In: Handbuch der Klass. Altertums-lVissenschaft 5, 1 (1906)371m. E. zu lJnrecht umgekehrtim Kult von Psophis die Heimat des sizilischen auf dem Eryx. Auf die genetische Entwicklung des Eryci-nakultes kann hier nicht näher eingegangen werden, doch wurde, im Gegensatz zu Gnurrn, nachO. KrnN, Die Religion der Griechen II (1935) 231 auf dem Eryx ursprünglich die phönikische Astarteverehrt, bevor sie von griechischen Kolonisten zu Aphrodite umgedeutet wurde.

27 Isis galt insbesondere in der Kaiserzeit als Retterin aus Seenot, vgl. Iuv. 72,28,Petr., Sat. 15, 114,5 undLucian., Dial. deor. 3 fin. (Io-Isis), für die späte Republik siehe Tib. 1,3,27f.

28 u. Scrrrr-LINctn-HÄrrrr, Inschriften aus dem deutschen Anteil der germanischen Provinzen und des

Treverergebietes sowie Rätiens und Noricums. 58. Ber. RGK. 1977, 47f. Nr.36. Zuerst publiziert vonO.Penrr, Germania 46,1968,321ff.: AE1969/70,436.-Ygl. auchCIL){'Ill,2718 ausAugustodu-num in der Gallia Lugdunensis (eine Eufronia naufragio neclalta).

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Page 9: J. Hahn / S. Mratschek: Erycina in Rätien, in: Fundberichte aus Baden-Würtemberg, Bd. 10, Stuttgart 1986, p. 147 - 154

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154 J. Hahn und S. Mratschek

Dion von Prusa waren in den Donauländern, zu denen auch Rätien gehörte, noch zur ZettTra-lans' arso mehrererahrz'n"';:rol':;,iJff;f:,:ll;H.:.äiää"r.":.",TI;;:;:.T::J.T;H:

wi für einen Römer geradezuundenkbar *r., dri j.-rnd Italien fr"ei-wi diese Gegenden aufzusuchen3o. \i7enn dem aber so ist, dann wäreder Mann niederer Herkunft mit dem griechischen Namen Amaranthus wie sein in der Marba-cher Inschrift verewigter Kollege ohneZwetfel eiter jenernegotiatores, welche nicht selten auchals nautae ihre eigenen Güter, vor ailem Tongeschirr, Nahrungsmictel und Tuche, selbst in dieProvinzen lieferten3l. Seine Votivgabe, die in ihrer handwerklichen eualität wie durch ihr Graf-fito ungewöhnliche Kragenrandschüssel, stammre vielleicht aus demFundus seiner'Waren, dieer als negotiator artis cretariae an die Soldaten der Limeskastelle in Rätien und Obergermanien,darunter auch Aquileia, zu verkaufen pflegte. S. M.

Anschrift der Verfasser :

JoHnuNrs Henu undSrcnro Mnarscnrr<, Seminar für Alte GeschichteMarstallhof 4

6900 Heidelberg