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(Near final draft, erscheint in Thore Prien (Hg.), Globale Aufstände – globale Demokratie. Beiträge zur politischen Theorie der Multitude, Baden-Baden: Nomos) Daniel Loick Irgendwie anders Überlegungen zu Revolution und Exodus 1. Es ist oft beobachtet worden, dass Projekte radikaler gesellschaftlicher Transformation an einer Art Wiederholungszwang zu leiden scheinen. Ironischerweise kehren nach revolutionären Umwälzungen häufig genau diejenigen Merkmale zurück oder intensivieren sich sogar noch, deren Ablösung sich die Revolutionärinnen und Revolutionäre zum Ziel gesetzt hatten. „Nichts scheint für eine geschichtliche Betrachtung selbstverständlicher“, heißt es bei Hannah Arendt, „als dass Art und Gang einer Revolution von dem Regime bestimmt sind, dem sie ein Ende bereiten.“ 1 Das Problem, dass sich die alte Gesellschaft in die Struktur des Umsturzes und somit in die der neuen Gesellschaft einschreibt, berührt den Bereich der Geschichts-, ja der Moralphilosophie, denn sie stellt die Fähigkeit des Menschen, 1 Arendt 1963, S. 203, vgl. auch S. 206. 1
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"Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

Mar 18, 2023

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James Symonds
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Page 1: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

(Near final draft, erscheint in Thore Prien (Hg.), Globale Aufstände

– globale Demokratie. Beiträge zur politischen Theorie der Multitude, Baden-Baden:

Nomos)

Daniel Loick

Irgendwie anders

Überlegungen zu Revolution und Exodus

1.

Es ist oft beobachtet worden, dass Projekte radikaler

gesellschaftlicher Transformation an einer Art Wiederholungszwang

zu leiden scheinen. Ironischerweise kehren nach revolutionären

Umwälzungen häufig genau diejenigen Merkmale zurück oder

intensivieren sich sogar noch, deren Ablösung sich die

Revolutionärinnen und Revolutionäre zum Ziel gesetzt hatten.

„Nichts scheint für eine geschichtliche Betrachtung

selbstverständlicher“, heißt es bei Hannah Arendt, „als dass Art

und Gang einer Revolution von dem Regime bestimmt sind, dem sie

ein Ende bereiten.“1 Das Problem, dass sich die alte Gesellschaft

in die Struktur des Umsturzes und somit in die der neuen

Gesellschaft einschreibt, berührt den Bereich der Geschichts-, ja

der Moralphilosophie, denn sie stellt die Fähigkeit des Menschen,

1 Arendt 1963, S. 203, vgl. auch S. 206.1

Page 2: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

seine Verhältnisse zum Besseren weiterzuentwickeln, und somit

seine Freiheit und Freiheitsfähigkeit grundlegend in Frage.

Die von Arendt und vielen anderen erkannte Dynamik ist für

kommunistische Bewegungen problematischer als für bürgerlich-

demokratische, weil sich der Kommunismus nicht die Ersetzung

einer durch eine andere Herrschaftsform, sondern die Überwindung

von Herrschaft insgesamt zur Aufgabe setzt. Bereits Marx hat

dieses Problem und seine besondere Brisanz auch für die „sozialen

Revolutionen des 19. Jahrhunderts“, die er ebenso forderte wie

vorhersagte, erkannt. Auch er diagnostiziert einen

Wiederholungszwang, wenn er in seinem Achtzehnten Brumaire mit Blick

auf die Farce des Staatsstreichs durch Louis Bonaparte im Jahr

1851 bemerkt, dass die Menschen „gerade in solchen Epochen

revolutionärer Krise [...] ängstlich die Geister der

Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf“2 beschwören. Indizien

dafür sind für Marx sowohl die Revolution von 1789, als auch die

von 1848, die beide zwar bürgerliche Freiheiten errungen, aber

zugleich ein autoritäres Regime entweder provoziert oder selbst

hervorgebracht haben.

Eine besondere Rolle als Medium dieses Umschlags spielt der

Staat. Diese Zentralität leitet sich daraus ab, dass der Staat

traditionell die gesellschaftliche Domäne von Herrschaft ist. Der

bürgerlichen Revolution ging es nicht um die Abschaffung des

Staates, sondern um die Verwandlung illegitimer in legitimer

Herrschaft. Marx sieht in dieser Beschränkung den zentralen Grund

2 MEW 8, S. 115.2

Page 3: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

für den Umschlag von liberaler Rechtsstaatlichkeit in Terror oder

Diktatur. Für Marx bilden Bürgertum und Monarchie keine dichotome

Opposition, sondern sind miteinander durch eine Dynamik

verknüpft, in der der Zweck bürgerlicher Freiheit nur durch das

Mittel staatlicher Gewalt durchgesetzt und garantiert werden

kann. Den riesigen Staatsapparat, den die Republik geerbt hat,

hat sie nicht zerschlagen, sondern wollte ihn für die eigenen

Zwecke einsetzen. In dieser Dynamik neigt jedoch die

Exekutivgewalt dazu, sich von ihren eigenen

Legitimationsgrundlagen zu emanzipieren und zur

gesellschaftlichen Dominante zu werden. Der Kulminations- und

Umschlagpunkt dieses Prozesses ist für Marx dann ein permanent

gemachter Ausnahmezustand und die Ersetzung der revolutionären

Losung „Liberté, egalité, fraternité“ durch die „unzweideutigen

Worte Infanterie, Cavallerie, Artillerie“3. Aus dieser Analyse

bürgerlicher Revolutionen hat Marx 20 Jahre später in seiner

Abhandlung über die Pariser Kommune für die proletarische

Revolution die Konsequenz gezogen, die Kommunisten ihrerseits

dürften nicht denselben Fehler noch einmal machen und glauben sie

könnten „wie es die herrschenden Klassen und ihre verschiedenen

konkurrierenden Fraktionen nach ihrem Sieg getan haben, den

bestehenden Staatskörper einfach in Besitz nehmen und diese

fertige Staatsmaschine für seine eigenen Zwecke in Bewegung

setzen.“4

3 Ebd., S. 148.4 MEW 17, S. 591.

3

Page 4: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

In der Folge ist die Frage des Staates zum Kernpunkt der

Auseinandersetzung zwischen den konkurrierenden marxistischen und

anarchistischen Bewegungen geworden. Sehen beide ein Ziel in der

letztlichen Überwindung des Staates, konzentrierte sich die

Debatte häufig auf die Frage des genauen Termins: Während Marx

und Engels der Meinung waren, der Staat würde im Zuge der

Veränderung der ökonomischen Basis nach einer Übergangsphase von

allein abzusterben beginnen, instistieren Anarchistinnen und

Anarchisten wie Michail Bakunin darauf, die Abschaffung des

Staates zu priorisieren und die Menschen sofort in die Freiheit

zu entlassen. Hiergegen polemisiert Engels in seiner Abrechnung

mit den von ihm pejorativ so bezeichneten „Antiautoritarier“:

„Aber die Antiautoritarier fordern, daß der autoritäre

politische Staat auf einen Schlag abgeschafft werde, bevor

noch die sozialen Bedingungen vernichtet sind, die ihn haben

entstehen lassen. Sie fordern, daß der erste Akt der

sozialen Revolution die Abschaffung der Autorität sei. Haben

diese Herren nie eine Revolution gesehen? Eine Revolution

ist gewiß das autoritärste Ding, das es gibt; sie ist der

Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen Teil

seinen Willen vermittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen,

also mit denkbar autoritärsten Mitteln aufzwingt; und die

siegreiche Partei muß, wenn sie nicht umsonst gekämpft haben

4

Page 5: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

will, dieser Herrschaft Dauer verleihen durch den Schrecken,

den ihre Waffen den Reaktionären einflößen.“5

Engels‘ Kritik der Anarchistinnen und Anarchisten offenbart, dass

es beim Zusammehang von Staat und Revolution nicht nur um die

Frage des Zeitpunkts der Zerschlagung der vorgefundenen

politischen Institutionen geht, sondern ein tieferliegendes, ein

strukturelles Problem revolutionärer Politik berührt. Nicht nur

muss sich die Revolution entscheiden, wann und wie sie mit dem

Staat verfährt, sie handelt dabei quasi auch selbst staatlich.

Wie Engels konzediert, lässt sich das bereits auf der

Phänomenebene ablesen: Wie der Staat, so geht auch die Revolution

autoritär, nämlich mit Gewehren, Bajonetten und Kanonen vor.

Nicht selten scheint sich die revolutionäre Strategie auch an dem

Vorbild des Krieges zu orientieren und damit schon von vornherein

implizit den Prozess der gesellschaftlichen Transformation als

militärischen Kampf zwischen zwei Staaten zu modellieren.6 Am

deutlichsten wird diese protostaatliche Metaphorik am Begriff der

Machteroberung: Wie im Krieg geht es bei der Revolution darum, die

feindlichen Stützpunkte unter Kontrolle zu bringen und die damit

verbundenen symbolischen Insignien in Besitz zu nehmen – das

Parlamentsgebäude zu besetzen und eine neue Flagge zu hissen.7

5 MEW 18, S. 308.6 Vgl. Engelschall/Müller 2009.7 John Holloway bietet eine treffende Analyse der Nebenwirkungen, die sich ausder Strategie der Revolution als Machteroberung ergeben: Nationalismus und dieunvermeidliche Priorisierung des „eigenen“ Staates, Unterordnung von Gefühlen,Kanalisierung der Revolte... vgl. Holloway 2006, insbesondere Kap. 2.

5

Page 6: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

Aber auch jenseits dieser phänomenologisch ablesbaren Affinität

der Revolution zur Staatlichkeit gibt es einen systematischen

Zusammenhang: Wenn die souveräne Staatsgewalt überwunden werden

soll, weil sie Ort und Gestalt illegitimer Herrschaft darstellt,

wie lässt sich eine solche Überwindung historisch vollziehen,

ohne selbst zum Souverän zu werden? Wie lässt sich, um mit John

Holloway zu sprechen, die Welt verändern, ohne die Macht zu

übernehmen?

2.

Der im wesentlichen einzige Text aus dem Umfeld der so genannten

„Frankfurter Schule“, der eine radikale Kritik der Staats- und

Rechtsgewalt formuliert, ist Walter Benjamins gut 25-seitiger

Aufsatz Zur Kritik der Gewalt (1920/21).8 Auch Benjamin bemerkt den

Wiederholungszwang, von dem die bisherigen Revolutionen

heimgesucht wurden. Wie Marx sieht er den entscheidenden Grund

dafür im nicht vollzogenen Bruch mit der Staatsgewalt: Anstatt

die in den politischen und juridischen Institutionen manifeste

Gewalt radikal zu überwinden, haben die bisherigen Revolutionen

sie immer nur durch andere Formen ersetzt. Benjamin nennt dies

den „Umlauf im Banne der mythischen Rechtsformen“9. Für diesen

Umlauf gibt es einen systematischen Grund, der in der inhärenten

Logik von Revolutionen selbst liegt. Benjamin beginnt seine8 Vgl. zum Versuch einer systematischen Aktualisierung von Benjamins ProgrammLoick 2012, zum Problem der Revolution insbesondere den Exkus zu Problemen derPassage, S. 266-277.9 Benjamin 1991, S. 202.

6

Page 7: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

Abhandlung mit der grundsätzlichen Frage „ob Gewalt überhaupt,

selbst als Mittel zu gerechten Zwecken, sittlich sei“10. Damit

zielt er zuvorderst auf eine radikale Kritik von Gewalt zur

Setzung und Erhaltung von Recht. Aber diese Frage ist für den

Begriff der Revolution ebenfalls von eminenter Bedeutung, weil

sie die apriorische Heiligung des Mittels durch den Zweck

dementiert. Hinsichtlich der Frage der Berechtigung von

Gewaltmitteln analogisiert Benjamin somit die Revolution dem

Staat, beide neigen dazu, die Legitimität der von ihnen gewählten

Mittel aus der Legitimität des in ihnen gesetzten Zweckes

abzuleiten. Indem er die Möglichkeit einer solchen Ableitung

bestreitet, demonstriert Benjamin, dass die Frage revolutionärer

Gewalt weder durch einen Verweis aus das Tal der Tränen, welche

die jetzige Gesellschaft darstellt, noch auf das Himmelreich, das

die zukünftige sein soll, erledigt ist, sondern nur über die

Thematisierung der Form der Passage von der einen in die andere

adressiert werden kann.

Den ironischen Zirkel sich immer wieder neu ersetzender

Rechtsgewalten will Benjamin durch eine fundemantale „Entsetzung

des Rechts“11 rigoros beenden; ein Ereignis, dem er nicht nur

eine rechtliche oder politische, sondern eine fundamental

geschichtliche Bedeutung zuspricht. Der Begriff der Entsetzung –

als Gegenbegriff zu Setzung, Erhaltung und Ersetzung von

Rechtsgewalt und also auch zur strukturell souveränitätsaffinen

Revolution – ist Benjamins Chiffre für eine Form radikaler

10 Ebd., S. 179.11 Ebd., S. 202.

7

Page 8: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

Gesellschaftsveränderung, die nicht ihrerseits den Kreislauf von

Gewalt und Gegengewalt verlängert. Dies wird dadurch möglich,

dass die Entsetzung nicht in einem intelligiblen Sinne die

Konstituierung einer neuen Souveränität anstrebt. Im Streit

zwischen Anarchismus und Marxismus schlägt sich Benjamin somit

auf die Seite des Anarchismus, insofern er die Entsetzung der

Staatsgewalt und der aus ihr abgeleiteten oder gerechtfertigten

Gewalten bedingungs- und fristlos fordert, ohne die Menschen, wie

etwa Lenin das vier Jahre zuvor in Staat und Revolution getan hatte12,

hinsichtlich ihrer Qualifikation für eine freie Gesellschaft

zuerst zu evaluieren und das „Absterben“ des Staatsapparates zu

vertagen.

Benjamin behauptet, dass jede Form von Gewalt, insofern sie als

Mittel verstanden wird, am problematischen Zusammenhang des

Rechts partizipiert. Da der Staat für sich ein Gewaltmonopol

beansprucht, ist jede Gewalt entweder staatlich legitimiert oder

richtet sich per definitionem gegen ihn. Um die klassische Ironie

der Revolution als nur rechtsersetzende Gewalt zu vermeiden, hält

Benjamin es für notwendig, eine „Gewalt anderer Art“ zu finden,

die „zu jenen Zwecken weder das berechtigte noch das

12 „Wir sind keine Utopisten. Wir ‚träumen’ nicht davon, wie man unvermittelt ohnejede Verwaltung, ohne jede Unterordnung auskommen könnte; dieseanarchistischen Träumereien, die auf einem Verkennen der Aufgaben der Diktaturdes Proletariats beruhen, sind dem Marxismus wesensfremd, sie dienen inWirklichkeit nur dazu, die sozialistische Revolution auf die Zeit zuverschieben, da die Menschen anders geworden sein werden. Nein, wir wollen diesozialistische Revolution mit den Menschen, wie sie gegenwärtig sind, denMenschen, die ohne Unterordnung, ohne Kontrolle, ohne ‚Aufseher undBuchhalter’ nicht auskommen werden. Aber unterzuordnen hat man sich derbewaffneten Avantgarde aller Ausgebeuteten und Werktätigen – dem Proletariat.”(Lenin 1963, S. 52, Hervorh. i.O.)

8

Page 9: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

unberechtigte Mittel sein könnte, sondern überhaupt nicht als

Mittel zu ihnen, vielmehr irgendwie anders sich verhalten

würde“13. Dieser Anforderung genügt für Benjamin der

„proletarische Generalstreik“. Anders als der „politische

Generalstreik“, dem es lediglich um kurzfristige Verbesserungen

geht, behauptet Benjamin, sei der proletarische „als reines

Mittel gewaltlos“, denn er „geschieht nicht in der Bereitschaft

nach äußerlicher Konzessionen und irgendwelcher Modifikation der

Arbeitsbedingungen wieder die Arbeit aufzunehmen, sondern im

Entschluss, nur eine gänzlich veränderte Arbeit, eine nicht

staatlich erzwungene wieder aufzunehmen, ein Umsturz den diese

Art des Streiks nicht sowohl veranlasst als vielmehr

vollzieht“14. Der proletarische erweist sich wohlgemerkt dem

politischen Generalstreik nicht etwa deshalb als überlegen, weil

er weitreichendere Forderungen stellt, sondern weil er gar keine

Forderungen mehr stellt und somit gegenüber der etablierten Welt

nicht mehr in ein erpresserisches Verhältnis eintritt. Benjamin

nennt den proletarischen Generalstreik auch einen „Abbruch von

Beziehungen“15. Das ist der Grund, warum der proletarische Streik

den Umsturz „nicht veranlasst, sondern vollzieht“. Die

revolutionäre Handlung ist für Benjamin kein Projekt und kein

Programm, sie ist im eigentlichen Sinne daher auch keine Handlung

– sondern vielmehr eine Unterlassung, eine Un-Tat.

13 Benjamin 1991, S. 196.14 Ebd., S. 194.15 Ebd., S. 184.

9

Page 10: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

Diese Zuspitzung ergibt sich daraus, dass Benjamin erkennt, dass

selbst das Nichtstun gewaltförmig sein kann, wenn nämlich die

Verweigerung von Handlung als Erpressung verwendet wird. Dies ist

im politischen Generalstreik der Fall: Die Arbeiterinnen und

Arbeiter legen die Arbeit nieder, um der Kapitalistin gegenüber

eine bessere Verhandlungsposition zu erlangen. Das mag legitim

sein, ist aber nicht gewaltlos. Dass Nichtstun Gewalt sein kann,

sieht man auch bei Konfliktsituationen im Alltag: Etwas

auszusitzen, stumm bleiben, „mauern“ oder Weggehen gehören häufig

zu den grausamsten, typisch „männlichen“ Taktiken in

Beziehungsstreitigkeiten. Solche Taktiken setzen das Nichtstun

als Mittel ein sind damit mit der Problematik der Gewalt

befangen. Sie verlängern den Zirkel der Gewaltsetzung und

Gewalterhaltung, anstatt ihn abzubrechen. Nichtstun ist hingegen

nur dann gewaltlos, wenn es nicht als Mittel zu einem anderen

Zweck eingesetzt wird, sondern, um diese bemerkenswerte

Formulierung abermals zu zitieren, „irgendwie anders“.

Benjamin setzt hier rhetorisch gesehen einen klaren Kontrapunkt

zur konventionellen Tradition der Revolutionen, denn seine

Entsetzung ist als Komplizin für (revolutionäre) Gegengewalt

ebenso inkompatibel wie für die (rechtliche) Gewalt. Sie hat

nicht mehr die Dirigierung, Disziplinierung, Ausrichtung oder

Anordnung von Individuen oder Lebensformen zum Ziel: Sie hört

ganz auf, andere Menschen als Mittel zu begreifen. Die von

Benjamin geforderte „Vernichtung der Staatsgewalt“ ist in diesem

Sinne tatsächlich nihilistisch, sie „will nichts“ – zumindest

10

Page 11: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

nicht im Sinne eines instrumentellen Handlungsbegriffs. Werner

Hamacher schreibt daher präzise:

„Benjamins politische Theorie reiner Mittel, die nicht

setzen, sondern entsetzen, nicht produzieren, sondern die

Produktion unterbrechen, handelt nicht nur thematisch von

einer Revolution, sondern vollzieht selber eine Umkehrung

der Perspektive der klassischen politischen Theorie: sie

definiert Politik nicht mehr in Hinblick auf die Produktion

gesellschaftlichen Lebens und ihre Darstellung im sittlichen

Organismus des Staates, sondern in Hinblick auf das, was den

Imperativ der Produktion und Selbstproduktion unterläuft,

sich den Instituten seiner Durchsetzung entzieht und das

Paradigma gesellschaftlicher Selbstproduktion, das Gesetz,

den Sprechakt der Setzung des Gesetzes und seiner Erhaltung

suspendiert.“16

Was Adorno in seinen Minima Moralia als Utopie, als Zustand einer

von der Anarchie der Warenproduktion befreiten Gesellschaft

beschreibt, ist bei Benjamin bereits in das Prinzip der

gesellschaftsverändernden Praxis implementiert: „friedlich auf

dem Wasser liegen und einfach in den Himmel schauen, sein, sonst

nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung“17. Revolution

ohne Bestimmung und Erfüllung: Ein solches Sinnbild eröffnet

16 Hamacher 1994, S. 357.17 Adorno 1997, S. 179.

11

Page 12: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

gegenüber dem rhetorischen Repertoire traditioneller Revolutionen

zumindest eine alternative Imagination.

Die Aufgabe, die Benjamin jeder radikalen

gesellschaftstransformativen Politik gestellt hat, lautet also:

Finde eine Form der Veränderung, die einen fundamentalen Eingriff

in gegebene soziale und politische Verhältnisse darstellt, ohne

erpresserisch und somit gewaltförmig zu sein. Allerdings muss die

reale Tragfähigkeit der Imagination, die Benjamin als Lösung

dieser Frage anbietet, durchaus in Zweifel gezogen werden. Denn

es ist freilich nicht ganz klar und vielleicht auch prinzipiell

nicht zu klären, wie ein proletarischer Generalstreik in

Benjamins Sinne praktisch zu verwirklichen wäre. Zwar verweigert

er sich der Komplizität mit Souveränität und Gewalt, das trifft

jedoch auf zahlreiche Aktivitäten ebenso zu – das Spazierengehen

oder Haschischrauchen (zwei von Benjamins Lieblingstätigkeiten)

stellen ebenfalls keine rechtsetzende Akte dar. Bei der Lösung

seines selbstgestellten Problems zieht sich Benjamin auf den

Messianismus zurück: Die Anforderung, gegenüber den etablierten

Gewalten so radikal heterogen zu sein, dass sich von den

Gesetzmäßigkeiten des gesamten bisherigen Geschichtsverlaufs

nicht kompromittiert wird, genügt nur die Intervention Gottes,

die von Benjamin mithin auch als „reine Gewalt“ bezeichnet wird.

Wie kann man es sich aber ohne theologische Rückendeckung

vorstellen, einen Generalstreik zu initiieren ohne Organisation

und Mobilisation, ohne Agitation und Aktivismus, ohne

Konfrontation des alten Rechts und Konstitution eines neuen,

12

Page 13: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

kurz: ohne Politik? Und wie sollen die Ergebnisse des Streiks auf

Dauer gestellt werden, wenn nicht durch Mittel, die wenigstens in

einem minimalen Sinn rechtsetzend oder rechtserhaltend sind? Wie

genau soll es Benjamin möglich sein, die Alternative zwischen

„Aufstand oder Unterwerfung“ zu verlassen?

3.

Michael Walzer hat in seinem 1985 erschienenen Buch Exodus und

Revolution die biblische Exodus-Geschichte als Revolutionstheorie

gelesen. Der in den Büchern Mose geschilderte Auszug der

Israeliten aus Ägypten stellt für ihn gewissermaßen den Prototyp

radikaler gesellschaftlicher Veränderung dar, woraus sich auch

das anhaltende Interesse der Geschichte bis in die Gegenwart

hinein erklärt. Immer wieder haben Revolutionen eine ähnliche

Handlungsabfolge durchlaufen, wie sie in der Bibel geschildert

wird. Walzer zählt dazu vor allem vier Stationen: Die

Ausgangssituation der Unterdrückung (das pharaonische „Haus der

Knechtschaft“ in Ägypten), die Befreiung (der Auszug über das

Rote Meer), die Übergangsphase (das Wandern in der Wüste und das

Murren der Israeliten) sowie die Konstitution einer neuen

Gesellschaft (der Bund und die Ankunft im Gelobten Land). Walzer

unterscheidet sich von Benjamin darin, dass für ihn der Exodus

ein geschichtlicher, kein göttlicher Akt ist; Moses ist ein

politischer Anführer, kein religiöser Messias. Politisch ist für

Walzer vor allem, dass sich Moses immer wieder konkret mit dem

13

Page 14: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

Unwillen und der Furcht seines Volkes auseinandersetzen muss,

immer wieder muss er um das Gelobte Land, das ja noch keiner der

Israeliten je gesehen hat, werben. Die Israeliten sind gegenüber

Moses‘ Versprechungen renitent und zögerlich und müssen immer

wieder neu überzeugt und mobilisiert werden. Während der Exodus

die für eine Revolution typischen Stationen durchläuft, stellt er

für Walzer jedoch auch eine Alternative zur klassischen, von

Walzer als messianisch etikettierten Transformationskonzeptionen

dar. Obwohl es für ihn sowohl eine leninistische, als auch eine

sozialdemokratische Interpretation des Exodus geben kann,

unterscheiden sich beide von traditionellen

Revolutionsvorstellungen darin, dass es in ihm Platz für

Aushandlungen und Auseinandersetzungen gibt. Die von Walzer

rekonstruierte Exodus-Politik liegt zum klassischen Streit

zwischen Anarchismus und Marxismus gewissermaßen quer: Denn sie

verweist nicht wie der Anarchismus auf die übergangslose

Dringlichkeit der Befreiung, zugleich verfährt sie aber auch

nicht wie der Marxismus nach dem Muster der Eroberung des

Staates.

Walzer beginnt seine Abhandlung über Exodus und Revolution mit

der Beobachtung, dass der Exodus immer wieder und bis heute eine

der wichtigsten und politisch effektivsten Formen politischer

Handlungen ist, die Ausgeschlossenen und Unterdrückten zur

Verfügung steht.18 Wie Walzer, so ist auch Walter Benjamins Kritik

der Gewalt von der biblischen Exodus-Geschichte inspiriert.

18 Für einen Überblick vgl. Walzer 1995, S. 13-16.14

Page 15: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

Benjamin verwendet zahlreiche Motive aus den Büchern Moses in

seiner kurzen Skizze und vertritt jüdische Widerstandstaktiken

als Alternative zu hellenistischen oder christlichen Ansätzen,

die er beide unter die „mythischen“ oder „heidnischen“ Strategien

rubriziert. Es ist bedeutsam, dass die Israeliten, die im „Haus

der Knechtschaft“ des Pharao Ausbeutung, Zwangsarbeit und

Unterdrückung zu erleiden hatten, keine Revolution und keinen

Putsch, keine Subversion und keine Reform als ihre

Widerstandsform wählten – obwohl sie jedes moralische Recht und

einen interventionistischen Gott auf ihrer Seite hatten. Anstatt

den Pharao zu imitieren, indem sie Ägypten ein neues Gesetz

durchsetzen, haben sie, wie Benjamin es beschreibt, die Beziehungen

mit ihm abgebrochen.

Der Exodus der Israeliten unterscheidet sich damit von einer

anderen Gründungsszene abendländischer Politik, die vor allem von

Jacques Rancière ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wurde:

Der Auszug der Plebejer auf den Aventin im alten Rom, im fünften

Jahrhundert v.u.Z.19 Während einer secessio plebis in Rom sind die

Plebejer geschlossen aus der Stadt ausgezogen und haben die

patrizische Ordnung sich selbst überlassen, womit sie faktisch

alle zivilen, kommerziellen und politischen Transaktionen der

Stadt zum Stillstand brachten. Ein solcher Auszug war im

römischen Ständekonflikt eine höchst effektive Waffe, zumal die

Plebejer über kaum andere Ressourcen der Interessenvertretung

oder politischen Organisation verfolgten. Auf diese Weise wurden

19 Vgl. exemplarisch Rancière 2002.15

Page 16: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

beispielsweise die Patrizier u.a. zur Instituierung der

Volkstribunen und zur Annahme des Zwölftafelgesetzes gewungen.

Während aber der israelitische Auszug aus Ägypten tatsächlich

einem „Abbruch von Beziehungen“ gleichkam und so mit einem

proletarischen Generalstreik vergleichbar ist, ist die secessio plebis

eine Machtdemonstration der römischen plebejischen Bürger und

somit der Prototyp eines politischen Generalstreiks. Obschon die

plebejische Sezession durchaus ebenfalls als Alternative zu

gewaltförmigeren Maßnahmen (wie etwa der Tötung eines Konsuls)

angesehen werden kann, findet sie eben genau in der Bereitschaft

statt, die suspendierte Arbeit nach von Benjamin als

„oberflächlich“ diskreditierten Änderungen wieder aufzunehmen.

Anders als der Exodus der Israeliten hat der der römischen

Plebejer den mythischen Kreislauf der rechtsetzenden Akte nicht

abgebrochen, sondern verlängert.20

Phänomenologisch betrachtet kann freilich auch keine Rede davon

sein, der Auszug der Israeliten sei gewaltfrei verlaufen:

Immerhin sendet Gott zur Durchsetzung der Möglichkeit des Exodus

erst einmal zehn Plagen über das Land, die neben vielen anderen

Grausamkeiten den Tod aller Erstgeborenen beinhalten; und von der

Generation der Ausgezogenen schafft es kein einziger Israelit,

das Gelobte Land tatsächlich zu sehen. Nicht nur gegenüber den

Ägyptern, auch gegenüber den Israeliten kommt es immer wieder zu20 Eine der interessantesten Analysen der secessio plebis und der sich hierinkonstituierenden plebeischen Macht hat zuletzt Isabell Lorey (2011) vorgelegt. IhrExodus-Begriff leitet sich jedoch nur aus dem römischen, nicht aus demisraelitischen Auszug ab. Das führt dazu, dass sie radikalerer Alternativenzur Realpolitik konstituierender Macht und den damit verbundenen Gefahrennicht mehr in Erwägung zieht.

16

Page 17: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

Gewaltakten, wie etwa bei der Vernichtung der Rotte Korah. In

Bezug auf die Zweck-Mittel-Relation ist der Auszug aus Ägypten

jedoch ein interessanter Fall, weil er beweist, dass es zum Sieg

über den Unterdrücker und zur Eroberung des Staates eine

transformationstheoretische Alternative gibt. Den Israeliten ist

es gelungen, die pharaonische Souveränität abzusetzen, ohne

selbst zu Souveränen zu werden; und obwohl ihr Auszug an der

ägyptischen Gesellschaft, die auf der Versklavung anderer ja

basierte, eine radikale Veränderung nach sich zog, war diese

Veränderung nicht erpresserisch. Die Israeliten streikten nicht,

um etwas vom Pharao zu erhalten, und sie verwendeten daher Gewalt

zu einem übergeordneten Zweck weder als berechtigtes, noch als

unberechtigtes Mittel, sondern eben „irgendwie anders“. Indem sie

das Kampffeld evakuierten, haben sie gegenüber dem präetablierten

Machtverhältnis eine queere (verquere) Position eingenommen.

Diese Verschiebung kann in der Benjaminschen Terminologie dem

proletarischen Generalstreik analogisiert werden: Sie enthält

sich der Erpressung und somit der Rechtsgewalt.

4.

Die von Marx präferierte Form sozialer Transformation ist die

Revolution. Dennoch kennt auch er den Exodus und die Desertion

als Trick oder Taktik der Unterdrückten. Ein Beispiel ist die

Episode des unglücklichen Herrn Peel, die Marx im

Kolonisierungskapitel des Kapital schildert:

17

Page 18: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

„Herr Peel [...] nahm Lebensmittel und Produktionsmittel zum

Belauf von 50.000 Pfd. St. aus England nach dem Swan River,

Neuholland, mit. Herr Peel war so vorsichtig, außerdem 3.000

Personen der arbeitenden Klasse, Männer, Weiber und Kinder

mitzubringen. Einmal am Bestimmungsplatz angelangt, ‚blieb

Herr Peel, ohne einen Diener, sein Bett zu machen oder ihm

Wasser aus dem Fluß zu schöpfen‘. Unglücklicher Herr Peel,

der alles vorsah, nur nicht den Export der englischen

Produktionsverhältnisse nach dem Swan River!“21

Weil das Kapital nicht eine Sache ist, sondern ein „durch Sachen

vermitteltes Verhältnis zwischen Personen“ kann es sich durch den

einfachen Abbruch von Beziehungen schlechterdings in Luft

auflösen. Allerdings, und das ist der entscheidende

„materialistische“ Schritt von Marx über die biblische

Exodusgeschichte hinaus, bedarf es für die Flucht geeigneter

Bedingungen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter konnten Herrn Peel

erst in Australien, nicht bereits in England verlassen, da sie

erst am Swan River die Möglichkeit haben, „für sich selbst [zu]

akkumulieren“ und niemand darauf angewiesen ist, seine

Arbeitskraft einem anderen zu verkaufen.

Der Exodus ist in der letzten Dekade zu einem wichtigen Motiv der

postoperaistischen Tradition geworden. Dies ist naheliegend, da

im Exodus die politische Idee der Selbstorganisation und der

21 MEW 23, S. 794 f.18

Page 19: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

Staatskritik mit der sozial-ökonomischen Idee der Autonomie der

Arbeit in Verbindung treten kann. Die Pointe liegt dabei darin,

dass für Theoretiker wie Toni Negri, Michael Hardt und Paolo

Virno die Marxsche Erkentnis von der Angewiesenheit des Exodus

auf materielle Voraussetzungen historisch situiert wird. Erst und

erst recht heute, im Zeitalter der biopolitischen Produktivität,

kann die von Herrn Peels Arbeiterinnen und Arbeitern vorgeführte

Desertion in großem Maßstab wiederholt werden. Darin liegt eine

Zurückweisung der im Kommunistischen Manifest vertretenen

Verelendungstheorie, wonach das Proletariat deshalb zur

Revolution disponiert sei, weil es nichts zu verlieren habe.

Während das fordistische Regime der Fabrik, der patriarchalen

Familie, der Schulen und Universitäten noch effektiv durch

Sabotage und Protest attackiert werden konnte, so diese Autoren,

laufen diese Strategien im Zeitalter des postfordistischen Empire

und der netzwerkförmigen, horizontal verlaufenden Macht ins

Leere.

Gleichzeitig kreiert genau dieses Regime einen Reichtum und

Überfluss kommunikativer und affektiver Ressourcen in den Händen

der Arbeiterinnen und Arbeiter. Marx hatte diese Entwicklung in

den Grundrissen mit dem Begriff des general intellect beschrieben, und

zwar im so genannten Maschinenfragment, das für den gesamte

(post-) operaistischen Ansatz eine kanonische Bedeutung

angenommen hat. „Die Natur”, heißt es dort,

19

Page 20: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

„baut keine Maschinen, keine Lokomotiven, Eisenbahnen,

electric telegraphs, selfacting mules etc. Sie sind Produkte

der menschlichen Industrie; natürliches Material, verwandelt

in Organe des menschlichen Willens über die Natur oder

seiner Betätigung in der Natur. Sie sind von der

menschlichen Hand geschaffne Organe des menschlichen Hirns;

vergegenständlichte Wissenskraft. Die Entwicklung des

capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine

gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren

Produktivkraft geworden ist und daher die Bedingungen des

gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die

Kontrolle des general intellect gekommen und ihm gemäß

umgeschaffen sind. Bis zu welchem Grade die

gesellschaftlichen Produktivkräfte produziert sind, nicht

nur in der Form des Wissens, sondern als unmittelbare Organe

der gesellschaftlichen Praxis; des realen

Lebensprozesses.“22

In Zeiten, in denen die Produktionsmittel stärker als jemals

zuvor in die Köpfe und Körper der Arbeiterinnen und Arbeiter, die

darum auch nicht mehr strikt von Nichtarbeiterinnen und -

arbeitern unterschieden werden können, integriert sind, in denen

die Arbeit mehr als jemals zuvor auf kommunikativer und

affektiver Virtuosität beruht, ermöglicht der irreduzible

Überfluss an Wissen und Fähigkeiten die Schaffung einer neuen

22 MEW 42, S. 602.20

Page 21: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

öffentlichen Sphäre jenseits des Staates. Dieser Vorgang kann, so

Paolo Virno, kommunistisch angeeignet warden, indem ein

„massenhafter Rückzug vom Staat“23 kreiert wird. Die Bedingung

der Rebellion heute ist für Virno also gerade nicht, dass wir

nichts, sondern dass wir etwas zu verlieren haben, ein latenter

Wohlstand und Überfluss an Möglichkeiten oder, um es anders zu

formulieren, dass es eine Alternative gibt.

Der Exodus, wie ihn Hardt/Negri und Virno24 verhandeln, nimmt zum

Teil metaphorische, zum Teil wörtliche Bedeutung an. Eine Form

des eher buchstäblich verstandenen Exodus als Bewegung von einem

Ort zu einem anderen ist die Migration. Hardt und Negri gehen

sogar soweit, sie dem Kommunismus zu analogisieren, wenn sie in

Anspielung auf den Eingangssatz des Kommunistischen Manifests

schreiben: „Ein Gespenst geht um in der Welt, und sein Name ist

Migration“25. Globale Mobilität und Migration können lokale

Regime destabilisieren, indem sie einen plötzlichen Abfall der

Arbeitskraft bewirken, wie Hardt und Negri mit Blick auf den

Untergang der DDR argumentieren; und sie stellen eine beständige

Bedrohung des Versuchs nationaler Souveräne dar, in ihren

Territorien nationale Rechtssysteme zu etablieren. Diese Idee

wurde von Vertreterinnen und Vertretern der These von der

23 Virno 2006, S. 176.24 Während Virno sich explizit auf den biblischen Exodus als Teil einerjüdischen Tradition bezieht, kokettieren Hardt und Negri immer wieder mitchristlichen Motiven und Gedankenfiguren, deren bekannteste die mit Referenz aufFranz von Assisi deklarierte „nicht zu unterdrückende Leichtigkeit und dasGlück, Kommunist zu sein“ am Ende von Empire ist. Die Implikationen diesesUnterschieds sind bedeutsam, können an dieser Stelle jedoch nichtnachgezeichnet werden. 25 Hardt/Negri 2002, S. 225.

21

Page 22: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

Autonomie der Migration weiter entwickelt und soziologisch

unterfüttert;26 die Eigensinnigkeit und Widerspenstigkeit der

globalen Migrationsbewegungen wurden dabei auch überzeugend gegen

ältere, tendenziell viktimisierende Ansätze ins Feld geführt.

Die Bedeutung der buchstäblich verstandenen Evakuierung eines

Kampffeldes ist dabei wohlgemerkt nicht auf Migrantinnen und

Migranten selbst beschränkt, sondern hat Effekte auf den Konflikt

und auf die Gesellschaft, in der er sich abspielt. Als Beispiel

kann man die Auseinandersetzung um den libyischen Bürgerkrieg und

daran anschließend die Debatte um die Notwendigkeit einer

miltärischen Intervention seitens der UN und der NATO 2011

dienen. Das Regime von Muammar al-Gaddafi ist von den westlichen

Staaten und insbesondere der EU über Jahrzehnte lang geduldet und

gefördert worden, vor allem, weil jene Staaten sich davon eine

Eindämmung der Migrationsbewegung von Afrika nach Europa

erhofften, wobei auch die Einrichtung von Flüchtlingslagern mit

katastrophalen humanitären Bedingungen in Libyen in Kauf genommen

und unterstützt wurde. Als dieses Arbeitsbündnis aufgrund der

innerlibyschen Konflikte nicht mehr tragfähig war, stellte sich

für die westlichen Staaten mit einem Mal nur noch die Alternative

dar, entweder militärisch zu intervenieren und die damaligen

Oppositionstruppen zu unterstützen oder aber deren

höchtswahrscheinliche Niederlage und die brutalen Folgen für die26 Vgl. exemplarisch Transit Migration 2007. – Die These von der Autonomie derMigration ist dabei wohlgemerkt nicht voluntaristisch misszuverstehen.Migrantinnen und Migranten sollen keineswegs als neue politische Militanteheroisiert, Leid und Unfreiwilligkeit nicht geleugnet werden. Insofern ist,wie man von der Marxschen Erkenntnis über die Bedingtheit auch der Flucht undDesertion lernen kann, auch die Autonomie der Migration eine relative.

22

Page 23: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

Bevölkerung hinzunehmen. In dieser Hinsicht folgte die Debatte

einer Logik, wie sie für die meisten solcher Konflikte typisch

sind: Andere als militärische Lösungen werden nicht mehr

ernsthaft in Erwägung gezogen, weil es für sie immer schon „zu

spät“ ist. Hätten die westlichen Staaten hingegen die Bedeutung

der Mobilität der Bevölkerung für die Stabilität und Instabilität

politischer Regime ernstgenommen, so wären möglicherweise weitere

Handlungsoptionen verfügbar geworden: Die bedingungslose Öffnung

der Grenzen, die Legalisierung, Gleichstellung und

Gleichberechtigung von Migrantinnen und Migranten, die

massenhafte Abwerbung von Söldnern hätten den libyschen

Bürgerinnen und Bürgern einen Exodus aus der Knechtschaft

ermöglicht und wäre nicht nur weniger gewaltsam für die libysche

Gesellschaft (mit allem Folgen, die das für den Aufbau einer

demokratischen Zukunft hat), sondern für den Westen auch

nachhaltiger und wahrscheinlich sogar kostengünstiger gewesen.

Aber das Motiv des Exodus sollte nicht zu sehr auf die physische

Bewegung von einem Ort zu einem anderen eingeschränkt werden.

Hardt/Negri und Virno haben gezeigt, dass es im biopolitischen

Empire kein Außen mehr gibt; das heißt aber auch, dass es

zwischen Ägypten und dem Gelobten Land, zwischen Knechtschaft und

Freiheit keine territoriale Grenze gibt, die man nur

überschreiten müsste. Paolo Virno gibt der Idee des Exodus eine

weitere Bedeutung, indem er es nicht nur auf die Migration als

Flucht nach „außen“, sondern auch auf die Flucht nach „innen“

anwendet. Mit Exodus muss nicht notwendigerweise eine

23

Page 24: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

territoriale Bewegung gemeint sein, sondern kann auch eine

Desertion innerhalb der eigenen Plätze bezeichnen, wie Virno mit

Referenz auf den amerikanischen Soziologen Albert Hirschman

erläutert. Neben der Akzeptanz (loyalty) und dem Protest (voice)

haben Mitglieder von Organisation oder Unternehmen,

Konsumentinnen und Konsumenten, Kundinnen und Kunden heute bei

Unzufriedenheit immer auch die Option, eine gegebene Beziehung zu

verlassen (exit). Der Exodus ist dann ein koordinierter Rückzug

vom Staat, von der Arbeit oder vom Konsum. Exodus versteht Virno

als im weiteren Sinne zentrifugale Kraft, als eine Kraft die das

Zentrum flieht und ihm entflieht.27

Dieser „engagierte Abzug“, wie Virno den Exodus definiert, ist

mit der Kreation neuer sozialer und politischer Beziehungen

verbunden. In diesem Sinne ist die Autonomie des Exodus (die

Autonomie der Migration nach außen und innen) mit der Autonomie

der Arbeit analog: Sie verweist auf eine Handlungsfähigkeit, die

noch (oder erst recht) die Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen

besitzen. Das macht das Verlassen einer präetablierten

Machtbeziehung in einem bestimmten Sinn zu einem freiwilligen

Akt. Aus dieser Freiwilligkeit, die einen Kontrapunkt zu stärker

deterministischen oder organiszistischen marxistischen Strömungen

darstellt, folgt für Virno ein Überschuss an Sozialität, weil die

freiwillig unternommene gemeinsame Flucht nicht auf eine rein

strategische Allianz reduziert werden kann. Eine Freundin ist

immer mehr als eine Mitkämpferin, die nur aufgrund eines

27 Vgl. Virno 2006, S. 198, S. 204 f.24

Page 25: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

geteilten Interesse auf derselben Seite steht. Weil der Exodus

einen Akt darstellt, der die zuvor eingespielten Frontlinien

irrelevant werden lässt, ist die Beziehung zur Anderen gegenüber

der souveränen Freund-Feind-Unterscheidung inkommensurabel. Virno

führt dies am Vorbild des Auszugs der Israeliten aus:

“In military terms, the contemporary ‘enemy’ resembles the

pharaoh’s army: it presses hard on the heels of the fleeing

population, massacring those who are bringing up the rear,

but never succeeding in getting ahead of it and confronting

it. Now, the very fact that hostility becomes asymmetrical

makes it necessary to give a certain autonomy to the notion

of ‘friendship,’ retrieving it from the subaltern and

parasitic status that Carl Schmitt assigns it. The

characteristic of the ‘friend’ is not merely that of sharing

the same ‘enemy‘; it is defined by the relations of

solidarity that are established in the course of flight …

‘Friendship‘ always extends more broadly than the ‘Front’

along which the pharaoh unleashes his incursions. This

overflowingness, however, does not at all imply an

indifference to what happens on the line of fire. On the

contrary, the asymmetry makes it possible to take the

‘enemy’ from the rear, confusing and blinding it as we shake

ourselves free.“28

28 Ebd., S. 204.25

Page 26: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

Die Widerstandstaktik der gemeinsamen Flucht als „Freundschaft“

zu bezeichnen, ist für Virnos Exoduskonzeption entscheidend. Nur

so ergibt sich der Sozialitätsüberschuss, welcher den Auszug aus

einem Herrschaftsverhältnis von einer heroischen Überschreitung

intersubjektiver Verpflichtungen abgrenzt. Mit Exodus soll gerade

nicht eine maskulinistische Konfliktverweigerung oder Ablehnung

von Verantwortung, nicht die Verweigerung gegenüber Bindungen und

Bedürfnissen oder das Türenschlagen und Abhauen gemeint sein,

sondern im Gegenteil ein Akt der Treue und Loyalität. Insofern

übernimmt die Idee der politischen Freundschaft bei Virno eine

ähnliche Funktion wie sie der Begriff der Solidarität in der

klassischen Arbeiterbewegung gespielt hat; auch hier übersteigt

die im gemeinsamen Kampf gemachte Erfahrung der Bindung zu

anderen die rein instrumentellen Beziehungen strategischer

Allianz. Diese Erfahrungen zeigen auch, dass der politische Kampf

immer zugleich ein Kampf um Seinsweisen und Subjektivitäten ist,

dass jeder politische Kampf also auf „ontologischem“ Terrain

geführt wird (auch wenn die ontologischen Implikationen in

realpolitischen Tagesgeschäft zumeist nicht erkannt werden).

Walter Benjamin hatte in der Kritik der Gewalt letztlich einen

anderen Weg eingeschlagen, aber schon er führte als Garant der

Möglichkeit nicht staatsgewalförmig vermittelter Konfliktlösungen

Motive aus dem Bereich der „Kultur des Herzens“ wie

„Herzenshöflichkeit, Friedenliebe, Neigung, Vertrauen“29 an.

29 Benjamin 1991, S. 191.26

Page 27: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

Hardt und Negri treiben die Erkenntnis vom ontologischen

Charakter politischer Auseinandersetzungen noch weiter, wenn sie

von einem „anthropologischen Exodus“30 sprechen. Dem liegt

zunächst die einleuchtende Idee zugrunde, dass die menschlichen

Seinsweisen historische Resultate spezifischer sozial-kultureller

Subjektivierungspraktiken sind. Aus den entwürdigenden

gegenwärtigen Umständen des Menschseins fordern Hardt und Negri

eine kollektive Flucht ins Gelobte Land neuer Subjektivitäten und

Intersubjektivitäten, die sie eine wahre „ontologische

Mutation“31 nennen. In diesen Kontext fallen auch Formulierungen,

die zu belustigten Kritiken geradezu einladen, etwa wenn Hardt

und Negri Tätowierungen und Piercings zu Vorzeichen eines Körpers

erklären, der „vollkommen unfähig ist, sich an familiäres Leben

anzupassen, an Fabrikdisziplin, an die Regulierung des

traditionellen Sexuallebens usw.“32. Auch wenn solche

performativen Beschwörungen sicher etwas unklug gewählt sind, ist

in ihnen etwas Richtiges angesprochen: Aus der pharaonischen

Subjektivierung auszuziehen wird nicht gelingen, wenn das Gelobte

Land nicht selbst eine attraktive affektiv-habituelle Dimension

beinhaltet. Bereits die Israeliten ließen sich nur durch die

Aussicht mobilisieren, in Kanaan würden Milch und Honig fließen.

Einer der vielleicht interessantesten Aspekte der gegenwärtigen

Occupy-Bewegung ist, dass hier die spezifische Ästhetik der

Existenz, die im Engagement liegt, nicht als Nebenprodukt

30 Hardt/Negri 2002, S. 227.31 Ebd.32 Ebd.

27

Page 28: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

abgewertet, sondern ernstgenommen und programmatisch expliziert

wird. Von Anfang an haben in der Occupy-Bewegung Diskussionen um

die Organisation des Alltags eine große Rolle gespielt, und von

Anfang an haben die Akteurinnen und Akteure die kulturelle

Dimension des Protests nicht verdrängt, sondern affirmiert. In

den meisten Dokumenten zur Occupy-Bewegung wird die Erfahrung

kollektiven Zusammenlebens selbst akzentuiert: Die Erfahrung des

Zeltens, Diskutierens, des Versammelns, der damit verbundenen

Emotionen und Begierden.33 Occupy verzichtet dabei völlig auf

einen personifizierten Adressaten oder auf die Fiktion eines

gesellschaftlichen Großsubjektes. Gleichzeitig hat sich, wenn

auch vielleicht nur für einen begrenzten Zeitraum, Foucaults

Einsicht bestätigt, dass Engagement nicht asketisch oder traurig

sein muss, sondern lustvoll und erfüllend sein kann.

Die Idee des anthropologischen Exodus ist nicht eine

Spezifizierung oder Unterkategorie des Begriffs der Revolution,

sondern steht mit ihm in Konkurrenz. Der Exodus ist eine andere

als revolutionäre, aber dennoch radikale gesellschaftliche

Transformation. Er umgeht das Problem der Machtergreifung, indem

er die Bedeutung der präetablierten Autoritätsverhältnisse

performativ dementiert, weil er sich nicht länger erpresserisch

an den Staat adressiert. In der Geschichte gibt es zahlreiche

Beispiele experimenteller Polititiken der Lebensform, die in

einer Deprivilegierung des Staates und des Rechts als Zentren der

politischen Aufmerksamkeit resultierten: Die Gründung von Land-

33 Vgl. exemplarisch Gessen/Taylor/Schmitt 2011; vgl. ferner die exodustheoretischeInterpretation der Occupy-Bewegung von Nigro/Raunig 2012.

28

Page 29: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

oder Stadtkommunen, Experimente mit Polysex und Polyamory, die

queere Subversion heterosexueller Binaritäten, die Einrichtung

antiautoritärer Kinderläden und alternativer Schulen, all dies

sind Beispiele eines „engagierten Rückzugs“ vom Staat, in denen

neue Formen der Sozialität kreiert werden und die nicht

privatistisch oder individualisierend sind. Eine Konsequenz

daraus, den Begriff der Revolution hinter sich zu lassen, liegt

darin, dass die Fiktion eines einzigen, klar bestimmbaren Bruchs

mit aller bisheriger Geschichte verabschiedet wird.34 Das heißt

zugleich, dass es keinen Grund mehr gibt, die Frage, wie wir

leben wollen, mit dem Verweis auf das „falsche Ganze“ auf den Tag

„nach der Revolution“ zu vertagen.

Solche Exodus-Politiken sind häufig mit dem Argument kritisiert

worden, dass sich sich leicht in den Kapitalismus integrieren

ließen und im Rahmen postfordistischer Arbeitsverhältnisse sogar

als Instrument verschärfter und häufig internalisierter

Ausbeutung verwendet werden. Diese Kritik ist insofern wichtig,

als sie ein notwendiges Sensorium für die Gefahr der Korruption

oder des Umschlags der erkämpften Freiheit in eine neue Form der

Disziplinierung bereitstellt. Ursprünglich „emanzipatorische“

Errungenschaften können integriert und domestiziert werden, die

eigenen Befreiungen können letztlich ambivalente oder ironische

34 Geradezu böswillig missversteht Chantal Mouffe den Ansatz von Hardt/Negriund Virno. Ausgerechnet aus der postoperaistischen Erkenntnis von der Immanenzder Macht im Empire schließt Mouffe, diese Autoren verfielen der messianischenPhantasie des radikalen Sprungs ins ganze Andere. Dieses kapitale Fehldeutungdient Mouffe dann dazu, ihr eigenes, proto-Schmittianisches Verdikt von derUnveränderlichkeit von Souveränität und Antagonismus zu rechtfertigen, vgl.Mouffe 2005.

29

Page 30: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

Wirkungen annehmen.35 Allerdings argumentieren Kritiken dieser

Art häufig explizit oder implizit ökonomistisch, weil er als

„echte Veränderung“ nur die Überwindung kapitalistischer

Vergesellschaftung, nicht aber die Veränderung anderer

Herrschafts-, Ausschluss- und Untersdrückungsverhältnisse gelten

lässt. Auf diese Weise wird die Staatszentrierung, die durch den

Exodus-Begriff ja gerade überwunden werden sollte,

fortgeschrieben. Der Fortschritt im Kampf gegen ein

Herrschaftsverhältnis ist aber nicht dadurch entwertet, dass er

nicht gleich mit Erfolgen im Kampf gegen alle

Herrschaftsverhältnisse einhergeht, die feministischen Politiken

von 1968 sind nicht dadurch weniger radikal, dass sie nicht

gleich den Kapitalismus mit abgeschafft haben. Aus der Idee des

Exodus Konsequenzen für die Ökonomie zu ziehen müsste vielmehr

andersherum heißen, aus den Erfolgen des Feminismus zu lernen:

die eigenen Kräfte von der etablierten kapitalistischen Ökonomie

abzuziehen und schon im Hier und Jetzt neue Formen von

Produktion, Reproduktion und Zirkulation zu generieren.

Doch die Exodus-Geschichte erteilt noch eine andere Lektion. Im

Gelobten Land angekommen, haben die Israeliten die Gefahr der

Knechtschaft noch immer nicht hinter sich gelassen. Im Land, in

dem Milch und Honig fließen, kehren schleichend „ägyptische“

Praktiken wieder ein. Für Michael Walzer zeigt sich hier die auch

im der Exodus-Politik nie ganz zu umgehende Gefahr der

Restauration.36 Dabei sieht neue Herrschaft anders aus als die

35 Vgl. exemplarisch den Sammelband von Menke/Rebentisch 201136 Zur Analyse des Ägypten in Israel vgl. Walzer 1995, S. 123 ff.

30

Page 31: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

alte: Die Israeliten sind nicht unversehens wieder nach Ägypten

zurückgewandert, sondern haben aus Nachsicht und Dekadenz den

Wert der Freiheit in Vergessenheit geraten lassen. Die Verlockung

von Exodus-Politik, wie sie Hardt/Negri und Virno beschreiben,

ist auch nicht so sehr die Wiederkehr staatlich-rechtlicher

Setzungen und Festsetzungen. Viele der Projekte der 1968er

Bewegung, die als klassisches Beispiel eines „anthropologischen

Exodus“ im Sinne von Hardt/Negri und Virno gelten kann, sind

nicht (nur) an der Renitenz der vorgefundenen Verhältnisse oder

an ihrem starren Dogmatismus gescheitert, sondern buchstäblich

implodiert. Symptome einer solchen Erosion sind häufig die

Überstrapazierung intimer Beziehungen, Überforderung und

emotionale Überlastung, Personalisierung und Moralisierung von

Konflikten, das Verkennen von gewordenen Abhängigkeiten und

Bedürfnissen.37 Ähnliche Verfallserscheinungen zeigen sich

bereits im Rahmen der Occupy-Bewegung: Probleme mit sexueller

Gewalt, psychischer Instabilität oder der Überspitzung interner

Konflikte sind so regelmäßige Begleiterscheinungen von Exodus-

Politiken, dass sie ernster genommen werden sollten als es in der

gegenwärtigen Occupy-Euphorie der Fall ist.

5.

Die Idee des Exodus kann als authentische postsouveräne,

gewaftfreie reine Politik in Benjamins Sinne verstanden werden,

37 Ein faszinierendes Protokoll des „anthropologischen Exodus“ der 68er und seiner Probleme bieten die Dokumente der Kommune 2 (1969).

31

Page 32: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

weil er zur etablierten Macht nicht in ein Gewaltverhältnis

tritt, sondern einen Abbruch von Beziehungen vollzieht. Dabei

kann er entweder eine räumliche Gestalt annehmen, etwa in Form

der Desertion oder Migration, die lokale Regime destabilisieren

oder sogar zum Einsturz bringen können. Oder er kann die Gestalt

eines Rückzugs von etablierten Institutionen und Lebensweisen

annehmen, dem entspricht eine Politik, die Staat und Recht als

Zentrum des politischen Geschehens suspendieren und neue

Submilieus für die kollektive experimentelle Erprobung neuer

Lebensformen etabliert. Der Exodus lässt sich so mit Paolo Virno

als einen Art zweiter Aufstand begreifen, als Aufstand innerhalb

eines Aufstands, weil er die Logik des Aufstands zurückweist,

indem er auf ein tertium datur insistiert. Er umgeht somit das

Problem der Konterrevolution, indem er die Frage nach „Aufstand

oder Unterwerfung“ anders stellt. Während Rebellionen und

Revolten in rechtlichen Termini beschrieben werden können, indem

sie in die illegal/legal oder gewalttätig/gewaltfrei-Dichotomie

konvertierbar sind, verwehrt sich der Exodus gegen die

realpolitische Anforderung, den politischen Gegner überwältigen

oder auch nur ansprechen zu müssen. Virno pointiert dies so:

“The ‘exit’ modifies the conditions within which the

conflict takes place, rather than presupposes it as an

irremovable horizon; it changes the context within which a

problem arises, rather than dealing with the problem by

choosing one or another of the alternative solutions already

32

Page 33: "Irgendwie anders". Überlegungen zu Revolution und Exodus

on offer. In short, the ‘exit’ can be seen as a free-

thinking inventiveness that changes the rules of the game

and disorients the enemy.“38

Die Kreativität des Exodus wirkt deshalb desorientierend, weil er

auf jede Form der Erpressung verzichtet und den

Gesellschaftsmitgliedern die Wahl lässt: Zu bleiben oder

mitzugehen, und so auch die die Möglichkeit eröffnet zu bleiben,

ohne zum Feind zu werden. Zugleich bürdet er den Akteurinnen und

Akteuren zwar keine Begründungs-, aber eine Demonstrationslast

auf: Wer andere davon überzeugen will, die Fleischtöpfe Ägyptens

hinter sich zu verlassen, muss glaubwürdig eine attraktivere

Alternative aufzeigen. Milch und Honig sind (nur) ein Anfang.

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38 Virno 2006, S. 198.33

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35