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ORIGINALARBEIT 1 3 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 Prof. Dr. M. B. Buchholz () International Psychoanalytic University (IPU), Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] Hermeneutik oder Szientismus? Unterwegs zu einer triadischen Epistemologie Michael B. Buchholz Forum Psychoanal DOI 10.1007/s00451-014-0174-3 Zusammenfassung Hermeneutik (Sinn, Verstehen) und Szientismus (Kausalität, Erklären) bilden nach wie vor Oppositionspole, die eine wissenschaftstheoretische Positionierung und Selbstbestimmung der Psychoanalyse erschweren. Der erste Vorschlag in diesem Aufsatz lautet, diese Pole nicht nach einem „Entweder-oder“- Prinzip aufzufassen, sondern nach einem Komplementaritätsprinzip, wie es aus der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik hervorgegangen ist. Die von Haber- mas ausgearbeitete kommunikative Wendung der Hermeneutik lässt sich sodann mit Befunden der empirischen Forschung, sowohl aus der Säuglings- wie aus der Primatenforschung verbinden, sodass plötzlich eine Brücke zwischen den weit aus- einander liegenden Lagern in den Blick genommen wird. Diese Brücke erweist sich als begehbar, wenn man neben „Sinn“ und „Kausalität“ einen dritten Pol, „Soziali- tät“, einbaut; auf diese Weise entsteht eine triadische Epistemologie, die hier vor- bereitet wird. Aus den Forschungen zur Mikrostruktur des Sozialen lässt sich deren bedeutsame, aber erstaunlich ignorierte Rolle deutlich bestätigen. Hermaneutics oder scientism? – Towards a triadic epistemiology Abstract Hermeneutics (meaning, understanding) and scientism (causality, expla- nation) formed and still form opposites that make it difficult to adequately con- ceptualize self-determination and positioning of psychoanalysis in the theory of sciences. The first proposal is to view these opposites not as an either-or principle but more as the principle of complementarity as proposed in the Copenhagen in- terpretation of quantum physics. Then, the communicative turn of hermeneutics as
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Hermeneutik oder Szientismus? Unterwegs zu einer triadischen Epistemologie Hermeneutics or Scientism? - Towards a triadic epistemology

May 17, 2023

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Originalarbeit

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© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

Prof. Dr. M. B. Buchholz ()International Psychoanalytic University (IPU),Berlin, DeutschlandE-Mail: [email protected]

Hermeneutik oder Szientismus?Unterwegs zu einer triadischen Epistemologie

Michael B. Buchholz

Forum PsychoanalDOI 10.1007/s00451-014-0174-3

Zusammenfassung Hermeneutik (Sinn, Verstehen) und Szientismus (Kausalität, Erklären) bilden nach wie vor Oppositionspole, die eine wissenschaftstheoretische Positionierung und Selbstbestimmung der Psychoanalyse erschweren. Der erste Vorschlag in diesem Aufsatz lautet, diese Pole nicht nach einem „Entweder-oder“-Prinzip aufzufassen, sondern nach einem Komplementaritätsprinzip, wie es aus der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik hervorgegangen ist. Die von Haber-mas ausgearbeitete kommunikative Wendung der Hermeneutik lässt sich sodann mit Befunden der empirischen Forschung, sowohl aus der Säuglings- wie aus der Primatenforschung verbinden, sodass plötzlich eine Brücke zwischen den weit aus-einander liegenden Lagern in den Blick genommen wird. Diese Brücke erweist sich als begehbar, wenn man neben „Sinn“ und „Kausalität“ einen dritten Pol, „Soziali-tät“, einbaut; auf diese Weise entsteht eine triadische Epistemologie, die hier vor-bereitet wird. Aus den Forschungen zur Mikrostruktur des Sozialen lässt sich deren bedeutsame, aber erstaunlich ignorierte Rolle deutlich bestätigen.

Hermaneutics oder scientism? – Towards a triadic epistemiology

Abstract Hermeneutics (meaning, understanding) and scientism (causality, expla-nation) formed and still form opposites that make it difficult to adequately con-ceptualize self-determination and positioning of psychoanalysis in the theory of sciences. The first proposal is to view these opposites not as an either-or principle but more as the principle of complementarity as proposed in the Copenhagen in-terpretation of quantum physics. Then, the communicative turn of hermeneutics as

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thoroughly worked through by Habermas can be combined with results of empiri-cal research from infant research and primatology so that a bridge between the two camps comes into sight. This bridge is stable if besides “meaning” and “causality” a third pole is established: sociality. Thus, a step forward to a triadic epistemology can be taken which is prepared here. Research on the microstructure of social inter-actions in psychoanalysis confirms the possibilities of including a social dimension which is extremely important but widely ignored in the theory of scientific debates between hermeneutics and science.

Komplementarität – rotierende Münze

Die Kopenhagener Deutung der Quantenphysik durch Niels Bohr (1972) in seinen Gesprächen mit Werner Heisenberg hatte vorgeschlagen, Licht sowohl als Welle wie auch als Korpuskel zu sehen, und festgestellt, dass es kein Entscheidungsexperiment gebe, obwohl Wellentheorie und Korpuskeltheorie einander erheblich widersprechen. Diese Denkfigur ist u. a. dafür aufgegriffen worden, den Siegeszug ausschließlich naturwissenschaftlicher Methoden in der akademischen Psychologie auszubremsen und darauf hinzuweisen, dass selbst in der harten Physik weiche Interpretation drin sei. Dem wurde vielfach widersprochen; die Physik beschäftige sich nur mit „harten Fakten“. Jedoch: Gerade aus dem experimentellen Labor der Psychologen kamen Nachweise für die „weiche“ Lesart.

Man variierte experimentell (Gentner und Gentner 1982; Gentner und Grudin 1985), wie angehende Physiker lernen, mal die Wellen-, mal die Korpuskeltheorie anzuwenden; sie müssen einen interpretativen Sinn ausbilden, weil es keine überge-ordnete Theorie gibt, die regelgeleitet angeben könnte, wann das eine und wann das andere. Erforderlich war ein kompetenter Umgang mit Metaphern, die als „mentale Modelle“ (Gentner und Stevens 1982; Collins und Gentner 1987) zu nutzen gelernt werden. So interpretieren es diese Autoren. Man müsse im Buch der Natur „gelesen“ haben, bevor man mit ihr experimentiert. Ist die Hermeneutik schon rehabilitiert?

Das experimentelle psychologische Labor brachte gute Gründe hervor, inter-pretative Fähigkeiten nicht mehr in das Reich des Beliebigen und Willkürlichen zu verschieben. Poscheschnik (2012) führt weitere Beispiele an, und Hinrichs (2012) ent-lehnt die Metapher der „dunklen Materie“ aus der Physik, um zu zeigen, wie auch in anderen Wissenschaften das Unaufgeklärte mit dem Wissen nicht schwindet, sondern zunimmt. Jedoch, die seit Dilthey so klar scheinende Unterscheidungsformel vom Erklären in den Naturwissenschaften und vom Verstehen in den Geisteswissenschaf-ten (Schnepf 2010) hat ihren trennenden Wert verloren. Empirisch-experimentelle Befunde entdecken die Unausweichlichkeit des Verstehens; Vertreter hermeneuti-scher Positionen sehen sich von experimentellen Fortschritten sowohl in Bedrängnis gebracht wie auch bestätigt (Detel 2011). Zwischen Szientisten und Hermeneutikern schien eine Brücke zu entstehen.

Diese neue Diskurssituation hat Relevanz für den alten Streit zwischen Szientis-mus und Hermeneutik, der die Psychoanalyse als Wissenschaft betrifft. Denn der Streit zwischen „erklärender“ und „verstehender“ Psychologie war vehement geführt worden, ohne entschieden werden zu können. Die neue Lage kann für die Psycho-

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analyse nicht ohne Interesse bleiben. Ricoeur (1969) hatte den Naturalismus der Psychoanalyse verteidigt und ihr gleichwohl eine „gemischte Rede“ zwischen Ener-getik und Hermeneutik attestiert; von Habermas (1968) blieb das geflügelte Wort vom „szientistischen Selbstmissverständnis“ im Gedächtnis. Aber der Psychoana-lyse eine methodologische Sonderstellung zuzusprechen, wie es Habermas, Ricoeur und Lorenzer forderten, schuf die Gefahr elitärer Selbstabschottung (Mertens 2005, S. 26 f.), die heute in sektenähnliche Selbstisolation umzukippen droht; nach Meinung einiger steht die Psychoanalyse längst „at the margins“ (Stepansky 2009). Aufmerk-samkeit für die neue Diskurslage zwischen Hermeneutikern und Szientisten, wenn man überhaupt so verkürzt sprechen darf, könnte ein Akt der Selbsterhaltung sein. Eine Diskussion darüber ist allemal lohnend und sollte umfänglich geführt werden.

Vergegenwärtigungen

Für den Bereich des Kulturellen und Sozialen hatte Habermas eine „kommunikative Wende“ (Altmeyer 2011) angestoßen, die in der psychoanalytischen Welt nicht mehr umfänglich rezipiert wurde:

Wir erfassen den Aufbau individueller Lebenswelten allein auf dem Wege über sozial eingestellte Kommunikationen; deren bestimmte Regeln lernt man aber durch systematisches Mitspielen, und nicht, wie Schütz annimmt, durch phäno-menologische Anschauung. (Habermas 1967, S. 235)

Hier kündigte sich an, was Habermas (1981) systematisch ausarbeitete. Der für die Erforschung des Unbewussten relevante Kern artikuliert sich in der methodischen Formulierung:

Der Begriff des kommunikativen Handelns schließlich bezieht sich auf die Interaktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten, die (sei es mit verbalen oder extraverbalen Mitteln) eine interpersonale Beziehung eingehen. Die Aktoren suchen eine Verständigung über die Handlungssituation, um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu koor-dinieren. Der zentrale Begriff der Interpretation bezieht sich in erster Linie auf das Aushandeln konsensfähiger Situationsdefinitionen. In diesem Handlungs-modell erhält die Sprache, wie wir sehen werden, einen prominenten Stellen-wert. (Habermas 1981, Bd. 1, S. 128)

„Interpretation“ gehört jetzt zu lebensweltlichen Vollzügen, die Handelnde kompe-tent meistern können müssen, wenn sie sich verständigen, in welchem „Film“ sie sich befinden, was „hier los“ ist und wie sie die gemeinsame Situation auffassen („defi-nieren“) wollen. Sie interpretieren Äußerungen anderer unvermeidlich und müssen verstehen, wie der andere eigene Äußerungen versteht, oder antizipieren, wie er sie verstehen könnte. Das Kernstück der Hermeneutik, die Interpretation, erweist sich als essenzieller Bestandteil jenes kommunikativen Handelns, das Gesellschaftsmit-glieder beständig vollziehen; sie lernen es durch Teilnahme, nicht durch Anschauung von außen. Indem sie teilhaben, greifen sie stillschweigend auf die „Welt“ als kultu-relle Hintergrunderfahrung zurück:

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Es sind die vergesellschafteten Subjekte selbst, die, wenn sie an kooperativen Deutungsprozessen teilnehmen, das Konzept der Welt implizit verwenden. (Habermas 1981, Bd. 1, S. 123)

Sie bewegen sich in einer Kultur, die sie selbstverständlich und unbemerkt als Res-source nutzen: Hierbei geraten die nichtkognitiven Bestandteile der Kultur in eine „eigentümliche Randstellung“ (Habermas 1981, Bd. 1, S. 124), aber sie werden für eine sozialwissenschaftliche Handlungstheorie besonders gebraucht.

Garfinkel (1967), Begründer der Ethnomethodologie, hatte bereits lange vor Habermas darauf hingewiesen, dass Teilnehmer an gesellschaftlichen Interaktionen gar nicht anders können, als sich als Hermeneutiker avant la lettre zu betätigen; sie müssen das, was andere sagen und tun in allen Details beständig interpretieren. Sie äußern Interpretationen nicht als gelehrte Aussagen, sondern bringen sie als nächste Äußerung zur Darstellung. So, dass der erste Teilnehmer daraus sofort entnehmen kann, wie der andere die eigene Äußerung wohl verstanden hat.

I have been arguing that a concern for the nature, production, and recognition of reasonable, realistic, and analyzable actions is not the monopoly of philo-sophers and professional sociologists. Members of a society are concerned as a matter of course and necessarily with these matters both as features and for the socially managed production of their everyday affairs. (Garfinkel 1967, S. 75).

Alle Gesellschaftsmitglieder produzieren aktiv „common sense“ und nehmen zugleich passiv an ihm teil. Es ist, wie wenn ein Autofahrer auf der Autobahn seiner Frau mitteilt, „ich stehe im Stau“, aber die neben ihm sitzende Soziologin murmelt: „Wir sind der Stau“. Gesellschaftsmitglieder sind implizit selbst Sozialkundige und können nicht anders, wollen sie in ihren Gesellschaften überleben. Ihre Interpretatio-nen sind nicht „Lesarten“, sondern avancieren zu aktiven Beiträgen.

Produktion von und Teilhabe an Kultur und Sozialität – diese Doppelperspektive machte möglich, Phänomene wie Lachen oder das Erzählen von Witzen, Tischge-spräche in Familien oder wie Telefongespräche begonnen und beendet werden, die Kooperation von chirurgischen Teams oder von Piloten und vieles andere zu unter-suchen. Teilnehmer nutzen andere Ressourcen; Beobachter studieren sprachliche und gestische Mittel, mit denen Teilnehmer zur Interpretation psychologischer Motive bei anderen gelangen oder sie beobachten, wie Menschen sich mit geringsten Mit-teln am Telefon einander vorstellen (Schegloff 2007) und erwarten, am ersten Laut ihrer Stimme erkannt zu werden. Dabei lassen sich vielfache kulturelle Unterschiede beobachten. Kultur ist nicht normativer Antipode zu Natur, sondern unbewusste Pra-xis eines Vollzugs, dem keine Aufmerksamkeitsbesetzung gilt. Kultur zeigt sich in der Art, wie man sich am Telefon meldet (Luke und Pavlidou 2002), wie man lacht oder in ein Lachen einstimmt (Nishizaka 1999), wie man kocht oder sich die Zähne putzt (Kaufmann 1994). Kultur wird nicht normativ, sondern im Sinne Bourdieus als Praxis bestimmbar (Levold 2013).

Die Konvergenz zwischen der Veralltäglichung der Hermeneutik (Habermas) und der in anderen Traditionen (Garfinkel) längst vollzogenen forschungsmethodischen Konsequenz ist wenig gesehen worden. Aus den ethnomethodologischen Ursprüngen erwuchs die Konversationsanalyse mit jährlich ca. 15.000 Publikationen. Ganz irr-

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tümlich war die Überzeugung, Konversationsanalyse und Ethnomethodologie seien behavioral oder „bloß“ sozialwissenschaftlich. Die metaphorische Trennung zwi-schen „Innenleben“ und „Außenwelt“ ist nie überwunden worden; deshalb konnte das konventionell-biedere Moment dieser Unterscheidung nicht in den Blick gera-ten. Innenwelt, so schien es, konnte nur hermeneutisch, Außenwelt nur behavioral untersucht werden. So wurde eine Grenze befestigt, die in der westlichen Kultur zwar selbstverständlicher Common sense ist, aber konnte diese Grenze so in den psychoanalytischen Blick genommen werden? Die psychoanalytische Kulturtheorie blieb vor dieser Grenze ebenso wie die klinische Theorie stehen. Die Untersuchung von therapeutischen Konversationen unterblieb beinah vollständig, obwohl „Spre-chen“ unser Hauptarbeitsinstrument ist! Sie wurde als „positivistisch“ verurteilt und verteufelt.

Verhängnisvoll, dass man sich gegenseitig wenig zur Kenntnis nahm. Nur eine von vielen möglichen Illustrationen: Die empirische Erforschung von therapeutischen Prozessen am National Institute of Mental Health (NIMH) unter Führung von Irene Elkin (Elkin et al. 2006a, 2006b, 2006c, 2007; Wampold 2006; Wampold und Bolt 2007; Überblick bei Buchholz und Gödde 2012) hatte am Beispiel der Depression mit raffinierten statistischen Berechnungen zeigen können, dass der größere Teil der Varianz des Outcome nicht auf „Technik“, sondern auf die Person des Therapeuten zurückgeführt werden musste. Mitten im Territorium einer objektiv und szientifisch verfahrenden wissenschaftlichen Forschungstradition musste akzeptiert werden, dass die andere Figur, das ausgeschlossene Subjekt, das persönliche Element des The-rapeuten unerwartet wieder auferstand; „harte“ Forschung hatte diesen „weichen“ Befund ermittelt.

Die Tugend der genauen Beobachtung, die mit dem Szientismus gelehrt und gelernt wird, verschwand. Die Folge war oft in klinischen Diskussionen, dass jeder Bescheid zu wissen meinen konnte, sobald nur wenige Mitteilungen über einen Patienten erfolgt waren. Die Theorie erdrückt klinische Wahrnehmung; oft genug konnte „Theorie“ kaum von „Vorurteil“ unterschieden werden. Akzeptiert man hin-gegen, dass klinische Tatsachen immer (!) solche des Gesprächs sind, dann gelingt Annäherung zwischen hermeneutischer Interpretation und „szientistischer“ Beobach-tung im klinischen Alltag wie bei wissenschaftlichen Diskursen. Die Psychoanalyse könnte profitieren, indem sie prägnant realisiert, dass ihre Deutungen immer Deutun-gen von bereits vollzogenen Deutungen der Teilnehmer sind; nie kann sich die psy-choanalytische Deutung unmittelbar auf ein Etwas beziehen, das nicht bereits durch Teilhabe an kulturell-kommunikativer Praxis „kontaminiert“ wäre. Das zu glauben, wäre verhängnisvoll; in Analogie zum szientistischen Selbstmissverständnis (Haber-mas 1968) müsste man hier von einem hermeneutischen Selbstmissverständnis der Psychoanalyse sprechen. Der kleine Hans war es, der das Pferd unbewusst als Vater deutete, und die psychoanalytische Deutung erst deutet eben diese Deutung.

Die Psychoanalyse ist kein Naturalismus; sie ist Deutung zweiter Ordnung. Sie kann nur dort operieren, wo sie solche Deutungen, die bereits komplexe (vor- und sub-)symbolische, vor allem aber konversationelle Operationen sind, ihrerseits zum Gegenstand ihrer Deutungen machen kann. Diese sind Deutungen höherer Ordnun-gen, nie Deutungen von einem Unmittelbaren.

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Beobachtung kann diese kulturellen Momente in den Blick nehmen und eine Theo-rie dazu schaffen, Teilnehmer hingegen nutzen sie implizit als selbstverständliche Ressource. Dabei sind sie – nach einheitlicher Auffassung der Traditionen – immer schon „Hermeneutiker“, weil sie gar nicht anders können, als dem anderen basale psychologische Momente wie Intentionalität und Selbstwirksamkeit, Aufmerksam-keitsfokussierung und Wahrnehmung, Selbstkontrolle und Wünsche, Zielorientie-rung und deren Verbergung, Täuschung und Reflexivität zu unterstellen. Ohne solche Fähigkeiten als kompetente Subjekte bräche Kommunikation in Windeseile zusam-men. Wo solche Unterstellungen nicht gewährt werden, werden andere beschädigt und/oder manipuliert. Etwa, wenn man beständig annähme, der andere wisse nicht, was er wirklich sage und meine, er verfolge keine Absichten oder kenne diese nicht wirklich, habe keine Ziele und sei zum Nachdenken zu blöde.

Man kann sich jedoch gegen Zuschreibungen wehren. Ein hübsches literarisches Beispiel ist die Geschichte von Tom Sawyer, der von seiner Tante am Samstagnach-mittag genötigt wird, deren Zaun zu streichen. Als seine Freunde vorbeikommen, hänseln sie ihn. Tom schafft es, ihnen seine Interpretation verbindlich zu machen, dass hier nicht „Arbeit“ und „Pflicht“ verrichtet werde, sondern „Kunst“ – die, einen Zaun zu verschönern. Und jetzt wetteifern sie darum, Tom den Pinsel aus der Hand zu nehmen. Man kann mit Nunner-Winkler (2004) darin eine Strategie des Umgangs mit Hänseleien („Mobbing“) erkennen. Geschickte Kommunikation sind jene Inter-pretationen, die manchmal die Welt verändern.

Hermeneutik wird als unsichtbarer Teil von sichtbarer kommunikativer Praxis erkennbar. Damit rücken die Analyse der Kommunikation und, wie darin „Interpre-tation“ praktiziert wird, ins Zentrum. Diese Wende ist bei Habermas und methodisch seit Garfinkel vollzogen und auch bei anderen Autoren, von denen hier nur Martin Buber (1923), Paul Ricoeur (1969) und Emmanuel Levinas (2007) erwähnt seien, ohne auf deren Philosophien eingehen zu können. Gemeinsam ist ihnen die Akzen-tuierung der konstitutiven Rolle des anderen, in dessen Antlitz sich das Selbst erst bildet.

Jede Lehre von einem solipsistischen Ego, das sich allein introspektiv über sich selbst beugt und sich darin zu reflektieren und seine Tiefe zu erfahren meint, muss für die Konstitution des Selbst zu kurz greifen. Selbstreflexion ist entwicklungspsycho-logisch eine späte Errungenschaft, zu der andere immer substanziell beitragen, ohne dass das Selbst diesen Beitrag des anderen zu reflektieren in der Lage wäre – aber es lässt sich mit ausgefeilten Methoden der Säuglingsforschung beobachten. In genau diesem Punkt konvergieren unwidersprochen sämtliche im Labor der Säuglings-forschung gemachten Befunde (Malloch und Trevarthen 2010; Bullowa 1979; Tro-nick 2007; Emde 1995; Dornes 1996). Detaillierte Beobachtungen therapeutischer Gespräche heben ebenfalls die Rolle und Person des anderen, des Therapeuten heraus (Bruschweiler-Stern et al. 2010; Peräkylä 2011a, b) und bestätigen diesen Fund. So verliert die Grenze zwischen philosophisch-hermeneutischer Auslegung und wis-senschaftlich-experimentell gefundener Beobachtung und Erklärung ihre Prägnanz. Empirische Forschungsbefunde tragen Erhellendes bei.

Auf klinischem Feld hatten sich einst Positionen des „szenischen Verstehens“ (Lorenzer 1970, 1974) gegen eine empirische Psychotherapieforschung etabliert, obwohl deren verständige Vertreter (Thomä und Kächele 2006) mit ihrem Begriff

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einer idiographischen Nomothetik kompromissfähige Brücken bauten. An solchen Bauversuchen beteiligen sich neuerdings Autoren der akademischen Psychologie wie Walach (2009; ebenso Fahrenberg 2012; Werthmann 2011), der den Begriff der Komplementarität für die Psychologie insgesamt stark zu machen versucht. Der Befund lautet also: „Gefühlt“ treiben die Lager auseinander, während sie sich der Sache nach annähern.

Bislang hatten wir es mit einer Münze zu tun, auf deren einen Seite sichtbar die Fakten prangen, Zahlenangaben; auf deren unsichtbaren Seite etwas, das einer Inter-pretation bedarf, symbolisches Wappen oder Bild. Das eine gilt als hart, das andere als weich oder dunkel. Machtentscheidungen universitärer Berufungspolitiken haben die Münze auf die eine Seite fallen lassen mit der Folge, dass wir das Unsichtbare nicht mehr sehen. Die stabile Stellung müsste demnach sein, dass die Münze steht. Das könnte durch Rotation gelingen; der dynamische Impuls zur Drehung kommt verstärkt aus empirischen Befunden (nicht nur der Säuglingsforschung), und das gibt der Auseinandersetzung einen neuen Dreh. Mit der Grenzöffnung von Hermeneutik und Szientismus verschiebt sich das Bild des Menschen; Stabilität und Dynamisie-rung rücken in die Betrachtung, Innen- und Außenwelt als metaphorische Leitunter-scheidung verlieren ihren Wert.

Ein literarischer Einstieg

Die kommunikative Wende der Hermeneutik hat sich bis in die schöne Literatur eingelassen. Ich wähle ein Beispiel aus dem Roman Leo Kaplan, von dem zeitge-nössischen holländischen Autor Leon de Winter; darin eine hübsche Reflexion auf alltägliche Interpretationskünste:

Nehmen wir zum Beispiel ein so unschuldiges Sätzchen wie: “Wollen wir noch was zusammen trinken?” Irgendwer stellt einem anderen diese Frage. Eine Ein-ladung, irgendwo etwas Flüssiges zu sich zu nehmen. Schauen wir aber einmal genauer hin, dann entdecken wir plötzlich das Umstandswort „noch“. Was hat es hier zu suchen? Dieses Umstandswort ist vertrackt, denn es kann alles mögli-che heißen und sorgt dafür, daß der Satz, in dem es vorkommt, auf unterschied-liche Weise interpretierbar ist. Spielen wir mal ein paar Möglichkeiten durch.Zwei verschwitzte Männer in einem Büro nach unergiebigen geschäftlichen Verhandlungen. Da sagt der eine plötzlich zum anderen: „Wollen wir noch was zusammen trinken?“ Das „noch“ schließt die Einladung ein, einen weiteren Versuch zu wagen, um zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen, vor-zugsweise in einer anderen Umgebung, in der beide Männer gleichrangig sind. Als Trinkende sind sie Partner, warum sollten sie nicht auch als Geschäftsleute Partner werden?Zwei schweigende Männer in einem Büro nach einem Streitgespräch. Der eine, der Chef, war verärgert und hat den anderen, seinen Assistenten, wegen Schlam-pereien gerügt. Doch dann sagt der Chef, nachdem er zwei Minuten lang stumm vor sich hin gestarrt hat: „Wollen wir noch was zusammen trinken?“ Ein klarer

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Fall für ein noch, das Vergeben und Vergessen ausdrückt. Passiert ist passiert, und zur Versöhnung genehmigen wir uns jetzt einen.Ein Mann und eine Frau nach ihrer Begegnung in einer Kneipe. Sie stehen draußen vor dem Lokal, und die Frau sagt: „Gehen wir noch was zusammen trinken?“ Gerade erst haben sie eine Kneipe verlassen, in der sie etwas getrun-ken haben, da schlägt die Frau schon wieder vor, irgendwo einen Wein oder ein Bier oder einen Whisky zu trinken. Beide sind sich aber darüber im klaren, daß die Frau dem Mann die Tür zu ihrer Wohnung öffnen möchte und der in Aussicht gestellte Drink Synonym für Erotik ist. Was sie eigentlich meint, ist: „Kommst du mit zu mir, wollen wir ein bisschen schmusen?“ Das „noch“ heißt hier soviel wie: „Wir haben uns kennengelernt und stehen aufeinander, wieso sollten wir da jetzt nicht auch das tun, woran wir beiden denken?“Derjenige, an den dieses „Wollen wir noch was zusammen trinken?“ gerichtet ist, hat die elegante Möglichkeit, das Angebot, mit dem anderen zu schlafen, auszuschlagen, ohne daß von etwas anderem als einem Drink gesprochen wird.

Diese literarische Illustration zeigt, wie wir schon im Alltag raus aus jener solipsis-tischen Welt sind, worin sich ein Interpret über einen unbewegten Text beugt. Die Bedeutung eines einzelnen Satzes kann nicht mehr sicher erschlossen werden; die Mitspieler sind es, die seinen Sinn verändern. Das kann ein wissenschaftlicher/thera-peutischer Beobachter beobachten, aber nicht mehr festlegen wollen, was die wahre und eigentliche Bedeutung war.

Ein Interpret muss als Teilnehmer sich auf Kommunikation einlassen. Man kann nicht anders als – mitspielen. Und ist damit in genau der Situation des quantenphy-sikalischen Beobachters, der mit seiner Beobachtung das verändert, was er ledig-lich zu beobachten meint. Wie das literarische Beispiel zeigt, sind das sogar beide Teilnehmer.

Mit einem so kleinen „unschuldigen“ Satz kann gesagt und etwas völlig anderes damit geklärt und ausgesprochen werden, in einer Weise, die ein Teilnehmer unmit-telbar versteht – aber eben diese Weise wäre einer traditionell als „Textauslegung“ verstandenen Hermeneutik unzugänglich. Sie nutzt beinah ausschließlich die Seman-tik, die Bedeutung gesprochener Worte und tat sich schwer damit, den Schritt zu vollziehen, dass Sprechen nach Wittgensteins Einsicht Lebensform ist. Die kommu-nikative Wende bindet sie in lebensweltliche Praxis ein und kann dann solche raffi-nierten Vollzüge beobachten, dass man das eine sagt und etwas völlig anderes damit meint – das muss für die Psychoanalyse von größter Bedeutung sein.

Jeder muss antizipieren, in welcher Weise der andere diesen kleinen Satz „Wollen wir noch einen trinken gehen?“ gemeint haben könnte, und muss aufgrund dieser Antizipation, die ein interpretativer Akt ist, handeln. Eine Dame wird den Subtext verstehen und würde eine hermeneutische Meisterleistung vollbringen, die über alle semantischen Dimensionen weit hinausginge, sich aber in der mikrosozialen Dimen-sion umstandslos nachvollziehen ließe. Sie muss sich dazu positionieren und sich entscheiden. Das kann sie nur von einer exzentrischen Position aus (Plessner 1928; Plessner 1970), und es ist riskant. Denn sie kann sich ihrer Interpretation nie sicher sein. Interpretation ist (Selbst-)Festlegung in der Antizipation dessen, wie der andere

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die eigene Positionierung auffassen könnte; sie reagiert auf etwas, das noch gar nicht eingetreten ist. Sie bewegt sich in der Zeitdimension des Futurum Zwei.

Sozialität – Determinatio ex futuro

Von dieser Textur sind strukturell alle sozialen Situationen; immer antizipieren wir – oft genug natürlich verfehlt – was und wie der andere unsere Aussagen auffassen und vernehmen könnte, und immer modifizieren wir unter solchen Reflexionen unsere eigenen Äußerungen. Für die Auseinandersetzung mit dem Szientismus bedeutet dies mehrerlei: 1. Soziale Kompetenz ist zu einem Teil hermeneutische Kompetenz; wir müssen unsere soziale Welt interpretieren, wenn wir sie verändern wollen. 2. Sozial-hermeneutische Kompetenz muss die Ambiguität solcher Äußerungen als Ressource nutzen und diese Ambiguität nicht etwa szientifisch beseitigen wollen. 3. Wir haben es damit zu tun, dass noch nicht eingetretene Ereignisse durch Antizipation kausal relevant für das eigene Handeln werden. Ein Determinismus ex futuro jedoch wäre für eine ausschließlich materialistische Weltdeutung inakzeptabel; dennoch aber all-tägliche Praxis in der Welt des Sozialen. Bereits Aristoteles unterschied zwischen materialer und finaler Kausalität. Unser psychoanalytisches Denken übernimmt allzu oft die Causa materialis als einzig mögliche. Dann will man das, was ist, determinis-tisch erklären aus dem, was war, und landet, was schon Balint verzweifeln machte, schließlich dabei, dass man alles „immer früher“ ansiedeln muss. Man übersieht, dass die soziale und seelische Welt von Zielen, nicht nur von Ursachen, von Vorhaben und nicht nur von hinter uns Liegendem, bestimmt ist – von der Causa finalis.

Der in Berkeley lehrende Anthropologe Terence W. Deacon (1997, 2012) formu-liert: „Materialism, the view that there are only material things and their interactions in the world, seems impotent here. Even major advances in neuroscience may leave the mystery untouched“ (2012, S. 6). Bei interpretativen Leistungen haben wir es mit etwas zu tun, das da ist, aber nicht materiell in Begriffen von Atomen, Molekülen, Zellstrukturen gefasst werden könnte und dennoch kausale Wirkung entfaltet. Die Handlung eines Films ist nicht zu verstehen durch Analyse der Moleküle auf dem Zelluloid und sei diese noch so genau hinsichtlich Lokalisation, Zusammensetzung und elektrophysikalischer Ladungen. Es geht um etwas, was in der physikalischen Welt abwesend ist. Was das ist, sagt Deacon so: „that which is explicitly absent, is me“ (S. 7). Es ist die dunkle Seite der Münze.

Dem erfolgreichen physikalischen Weltbild fehlt etwas Wichtiges, das wir vor-läufig mit „me“ als Platzhalter auszeichnen können. Salopp formuliert: „Ich“ bin es, der Gehirne anderer untersucht und behauptet, sie determinierten „alles Verhalten“, und könnte dann aber nicht erklären, welche Rolle mein eigenes Gehirn dabei spielt, wenn ich diese Behauptung aufstelle.

Deacon meint durchaus diesen performativen Selbstwiderspruch. Der materialis-tische Reduktionismus sieht den Aufbau der Welt von Elementarteilchen her, die sich zu immer größeren Formationen zusammenfinden, von Atomen zu Molekülen, wei-ter zu Zellen, zu Organismen und bis hinauf zu sozialen Verbänden – eine Linie des Determinismus zieht sich hier durch (Jantsch 1982). Größere Formationen werden durch Reduktion auf ihre Elemente analysiert. Dies Weltbild scheitert erstens daran,

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weil es Neues („Emergenz“, Blanchard 2011; Stephan 2001) nicht erklären könnte, vor allem die Innovationen, die von Menschen und ihrer antizipatorischen Fantasie geschaffen werden.

Dies Weltbild scheitert zweitens an der Psychologie. Hier ist Rückbesinnung hilf-reich. Erinnern wir uns, wie Hermann von Helmholtz das physikalisch-reduktionis-tische Weltbild in seiner Rede Über die Erhaltung der Kraft formulierte und Emile Du Bois-Reymond es kämpferisch in einem Brief des Jahres 1842 an seinen Freund Eduard Hallman dann so beschrieb:

Brücke und ich, wir haben uns verschworen, die Wahrheit geltend zu machen, dass im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind als die gemeinen phy-sikalisch-chemischen. (Dahmer 2012, S. 111, auch Worbs 1983; Janik und Toulmin 1987; Erdheim 1982)

Mai Wegener (2012) macht auf eine bemerkenswerte Fehlleistung aufmerksam. Du Bois-Reymond formulierte:

Es kann daher nicht länger zweifelhaft bleiben, ob der von uns als einzig mög-lich erkannte Unterschied [nämlich der verschiedenartiger Kräfte; Anmerk. M.W.] zwischen den Vorgängen der todten und denen der unbelebten [sic!] Natur auch wirklich bestehe. Ein solcher Unterschied findet nicht statt. Es kom-men in den Organismen den Stofftheilchen keine neuen Kräfte zu, keine Kräfte, welche den Namen Lebenskräfte verdienen. Die Scheidung zwischen der orga-nischen und der unorganischen Natur ist eine ganz willkürliche. (Einfügungen in eckigen Klammern von Wegener 2012, S. 93)

Eine echte Entdeckung: „todte und unbelebte Natur“ wird unterschieden, aber es sollte zwischen toter und belebter Natur unterschieden werden – das war das Programm eines radikalen physikalischen Materialismus, der mit Psychologie und Denken, das solche Programmatik immerhin formulierte, nichts anfangen konnte. Der Platzhalter des „me“ blieb bis zu Freud vollkommen außerhalb der eigenen Beobachtung.

An dieser Situation hat sich bis heute nicht grundlegend viel geändert. Was Bewusstsein ist, kann aus systematischen Gründen auf dem deterministisch-reduk-tionistischen Weg nicht geklärt werden. Susan Blackmore (2007) hatte mit 20 Neuro-wissenschaftlern „Gespräche über Bewusstsein“ geführt und festgestellt, dass das Problem nicht die Reduktion ist, sondern dass man nicht definieren kann, was Bewusstsein ist; unklar bleibt das, was „reduziert“ werden könnte, und so auch sah es schon Freud (Kirchhoff 2012). So sehen es einige Verhaltenswissenschaftler (West-meyer 2011), Psychoanalytiker (Talvitie und Ihanus 2011; Giampieri-Deutsch 2002; Lehtonen 2010) und vor allem Philosophen (Bennett und Hacker 2003, 2006; Sturma 2006). Wir müssen mit einem epistemischen Dualismus (Cavell 1997, Cavell 2006) leben; danach haben wir es zwar mit einer Welt zu tun, aber die Beschreibungsspra-chen des Materialen und die des Mentalen sind nicht ineinander übersetzbar. Deshalb muss die Münze sich drehen, wollen wir beide Seiten in den Blick nehmen; aber wir können das nicht gleichzeitig.

Ein dritter Grund für das Scheitern des physikalischen Reduktionismus besteht darin, dass mit einer alleinigen Weltkonstruktion „von unten“ her, von den Parti-keln und Elementarteilchen zu den großen Formationen, ein kausaler Determinismus

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angenommen werden müsste, der für die Phänomene des Psychischen keinen Platz ließe. Mit dem Start der Welt wäre deterministisch alles schon festgelegt, dann hätte auch Therapie keine Chance. Die Welt des Sozialen und die des Psychischen lässt sich in solchen Determinismus nicht einfügen; das literarische Beispiel zeigt, dass wir es mit einer Determinatio ex futuro zu tun haben. Wir antizipieren soziale Ereig-nisse und handeln manchmal so, um diese, die noch gar nicht eingetreten sind, zu vermeiden.

Intentionalität

Aufregend, wenn man eine solche Determinatio ex futuro nicht nur philosophisch begründen, sondern empirische Befunde beibringen könnte, die eine solche Weltsicht des Sozialen plausibilisieren oder bestätigen. Kann man eine solche Determinatio ex futuro wiederum experimentell demonstrieren? Ja, man kann, und ich will hier, um die veränderte Diskurslage zu beschreiben, den Weg gehen, einige experimentelle Befunde heranzuziehen statt philosophischer Erörterungen von Intentionalität.

Untersuchungen versuchen herauszufinden, wie Menschen sich von den ihnen genetisch zu „99 %“ nahestehenden Primaten durch Intentionalität auszeichnen. Wie Intentionalität definiert wird, zeigt ein erstes Experiment (Call et al. 2004): Im Labor sitzen Schimpansen einem menschlichen Versuchsleiter gegenüber; beide sind durch eine Glasscheibe mit Löchern darin voneinander getrennt. Die Schimpansen können den Versuchsleiter sehen, der sich nun entweder ungeschickt anstellt, den Schim-pansen durch die Löcher Bananen zu reichen oder aber unwillig zeigt. Ungeschickt oder unwillig – das ist der Test auf die Frage, wie Schimpansen die Intentionen des menschlichen Interaktionspartners verstehen.

In einer weiteren Versuchsbedingung schiebt sich eine Blende vor die Löcher, sodass der Versuchsleiter die Banane gar nicht durchreichen kann. Hier wäre die Frage nicht die nach Intentionen, sondern nach Umständen. Können Schimpansen richtig attribuieren auf Umstände, wenn diese so sind wie in diesem Teil des Experi-ments? Verstehen Schimpansen die Intentionen des Versuchsleiters? Das Ergebnis ist, dass die Tiere geduldig sitzen bleiben, wenn der Versuchsleiter sich ungeschickt anstellt, dass sie protestieren durch Klopfen an die Scheibe, wenn er offensichtlich unwillig ist, und sich schließlich zurückziehen, wenn ihnen das Futter immer wieder umständehalber entzogen wird. Manchmal, wenn der Versuchsleiter sich „abgelenkt“ zeigte, klopften die Tiere an die Scheibe und versuchten so, den mentalen Zustand des Versuchsleiters – dessen Aufmerksamkeit – zu manipulieren. Ähnliche Befunde könnte man zu den Bereichen der Perspektivenübernahme, der Fähigkeit zum „false belief“ und zur Metakognition berichten. Aber bei Primaten sind diese Fähigkeiten an unmittelbare Gegenwärtigkeit anderer und an die Sichtbarkeit von Verhalten gebun-den. Sie können Belange und Interesse anderer berücksichtigen, solange diese phy-sisch präsent sind.

Die Primatenforscherin Julia Fischer (2012) kommt nach solchen und ähnlichen Experimenten zu folgendem Schluss:

„Ich vermute, sie [die Primaten] verbringen wenig Zeit damit, sich mit den Absich-ten, Wünschen und Planungen anderer Tiere auseinanderzusetzen … Insgesamt hal-

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ten sich die Affen also an die beobachtbare Evidenz und interpretieren diese. Nicht beobachtbare Prozesse, die das Material für einen Großteil des sozialen Räsonnierens unserer eigenen Spezies sind, scheinen für die Affen kaum von Belang zu sein“. (Abschnitt „Evolution der Intelligenz“, Pos. 2387).

Hier wird die Unterscheidung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren in einer ähnlichen Weise gemacht wie bei Leon de Winter; meine Metapher von der rotierenden Münze für die Komplementarität in der Psychologie basiert auf dieser Unterscheidung. Schimpansen sind offenbar hermeneutisch weniger versiert.

Die Erforschung der Unterschiede zwischen Mensch und Tier hat lange Tradi-tion; ich will nur ein Detail nachreichen. Das Psychologen-Ehepaar Luella und Win-throp Kellog hatte 1931 das Schimpansenmädchen Gua aufgenommen; sie zogen es gemeinsam mit ihrem Sohn Donald auf. Könnte Gua das Sprechen lernen? Das wollte man herausfinden. Das Detail ist, dass die Kellogs Gua im Alter von 9 Monaten an die Forschungsabteilung von Robert Yerkes zurückgaben. Warum ist dies Detail aus heutiger Sicht wichtig?

Weil Michael Tomasello entdeckte hatte, dass sich genau in diesem Lebensab-schnitt die entscheidende Neunmonaterevolution vollzieht. Die mittlerweile recht gut bestätigte Hypothese lautet (Tomasello 2002, S. 209), dass es folgenden kontinuier-lichen Übergang gibt:

● von belebten Akteuren – das ist Primaten gemeinsam mit humanen Babys; ● zu intentionalen Akteuren – diese Stufe erreichen menschliche Babys mit etwa

9 Monaten; sie verstehen, dass sichtbares Verhalten Index für die unsichtbare Absicht des anderen ist; sie unterstellen mehr und mehr Zielgerichtetheit und Aufmerksamkeit;

● zu geistigen Akteuren, die Kinder etwa ab dem 3. Lebensjahr zu erreichen begin-nen, wenn sie begreifen, dass Verhalten anderer nicht nur deren aktuelle Absicht und Aufmerksamkeit indiziert, sondern darüber hinaus, dass Menschen von lang-fristigen Überzeugungen bestimmt sind, dass sie aufgrund einer anderen Defini-tion der Situation handeln können als man selbst.

Die Unterscheidung zwischen belebter und unbelebter Welt vollziehen Primaten. Der Schritt zur Intentionalität braucht länger die Erfahrung, dass man als Kind behandelt wurde, als wäre man bereits intentionaler Akteur. Der Schritt zur Rolle des geisti-gen Akteurs bleibt Schimpansen unmöglich. Das ist jener Übergang zum Humanum. Stein (1993) hatte aus Studien des Primatenzentrums im indischen Pondicherry mit-geteilt, dass Affen sich mit dem Ziehen kreativer Linien beschäftigen, und die Ver-mutung geäußert, dass sich hier ein Übergangsbewusstsein zeige. Das fügt sich in die Übergangslinie zu den geistigen Akteuren umstandslos ein, zumal auch andere Forscher solche Beobachtungen mitgeteilt haben.

Säuglingsforscher (Shotter 1984) haben – und hier kommen wir auf die konstitu-tive Rolle des „anderen“ zurück – von der „Sinn-Infusion“ gesprochen, die sich im Umgang von Pflege- und Bindungspersonen mit dem Säugling ergebe – eine schöne Metapher für das überdauernde Muster, dass Erwachsene dem reflektorischen Gezap-pel von Kindern Sinn beilegen mit Äußerungen wie „Du willst jetzt mal auf den Arm“ oder „Du willst ein bisschen spielen“. Das sind Äußerungen, die kontinuier-lich Intentionalität und Sinn zuschreiben. Von hier aus ist nur ein kleiner Schritt zur

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allgemeinen Verführungstheorie von Laplanche (1988). Mütter sagen ihren Kindern auch andere Dinge und, in Laplanches Sprache „schreiben“ sie ihnen „ein“. Kinder „rätseln“ dann über rätselhafte Botschaften, die zu verstehen ihnen noch nicht gelin-gen kann – ihr Selbst wird am anderen konstituiert, ohne die Umstände einer solchen Konstitution je reflexiv einholen zu können. Wir hoffen dann, dass das in psycho-analytischen Behandlungen möglich werden kann. Also mit und durch einen anderen. Nicht allein durch Introspektion.

Viele Untersuchungen führen zu dem Befund, dass Kleinkinder im Alltag behan-delt werden, als wären sie intentionale Akteure, und ab dem 9. Lebensmonat begrei-fen sie das. Sie folgen mit den Augen der Zeigegeste der Mutter, während sie vorher verständnislos auf die zeigende Hand geblickt haben. Später zeigen sie selbst auf etwas, während ihr Blick kontrolliert, ob die Mutter auch folgt. Dann haben sie begriffen, dass der unsichtbare mentale Zustand der Mutter sich in deren sichtbarem Verhalten materialisiert. Sie haben verstanden, dass die sichtbare Mutter ein Wesen mit unsichtbaren mentalen Zuständen ist. Von nun an ist alles auf Sinn eingestellt, und diese Umstellung kann nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Eine experimentelle Studie für Ausbildung wie Wahrnehmung von Intentionalität stammt erneut aus der Laborforschung (Meltzoff et al. 1999). Andrew Meltzoff und seine Mitarbeiter setzten Kinder im Alter zwischen 14 und 18 Monaten vor einen Tisch, auf dem typische Kinderspielsachen lagen: eine Lederschnur, um gelochte Holzperlen aufzureihen, ein Stab, um Holzringe aufzunehmen. Es wurde sicherge-stellt, dass die Kinder solche Materialien noch nicht kannten. Ein erwachsener Ver-suchsleiter kam herein, versuchte die Ringe auf den Stab, die Perlen auf die Schnur zu ziehen und scheitert – unter Lauten des Missbehagens verließ er das Zimmer. Das Experiment weist also gewisse Ähnlichkeiten mit dem auf, was ich von den Affen hinter der Glasscheibe mit den Löchern berichtet habe. Was machten die Kinder? Sie nahmen die Gegenstände und reihten Perlen auf die Schnur, die Ringe auf den Stab.

Eine behaviorale Theorie des Beobachtungs- oder Imitationslernens kann hier nicht greifen, denn die Kinder machten etwas, was sie zuvor nicht gesehen hatten! Die beste Erklärung ist, dass Kinder die Absicht des Versuchsleiters verstanden haben. Sie lesen sichtbares Verhalten als Index für unsichtbare Absichten; sie werden kommunikative Hermeneutiker. Damit zeigen sie den Schritt vom Sichtbaren zum Unsichtbaren an. Meltzoff hat das getestet und eine Maschine konstruieren lassen, die vor den Augen des Kindes das Gleiche tat, was der Versuchsleiter machte. Hier verloren Kinder jedes Interesse und fügten die Gegenstände nicht zusammen. Sie brauchen die Wahrnehmung menschlicher Intentionalität und verstehen diese offen-sichtlich. Wenn Julia Fischer schrieb, wie Affen sich an beobachtbare Evidenz halten und diese interpretieren, so formulieren Meltzoff et al. (1999) „Evidently, infants are not behaviorists“. Eine rein behaviorale Ausrichtung würde gerade das Entschei-dende des Humanum verfehlen.

„Ententionalität“

Deacon (2012, S. 27) erkennt, dass es das ist, was der Psychologie gefehlt habe. Was fehlte, ist die Ausrichtung auf das „me“, das wir jetzt genauer bestimmen können: Es

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ist der Forscher, der Absichten hat und etwas wissen will, das er noch nicht versteht, und der ex futuro handelt; ohne die Annahme von Intentionalität müssen alle psycho-logischen Phänomene durch ein charakteristisches Fehlen von Etwas beschrieben werden. Die Weltsicht des Determinismus ist geprägt von dem, was Deacon „Absen-tialismus“ nennt – sie bleibt unvollständig um das Wesentliche.

Dazu gehört die teleologische Erklärung vom Typus des „um zu“ – man tut etwas, „um zu“ etwas zu gelangen, also nicht nur „weil“; dazu gehört die beständige Unter-stellung, dass jeder Handelnde beständig in Beziehung zu etwas steht, das man mit Worten wie „im Hinblick auf“, „um einer Sache oder einer Idee willen“ bezeichnet, dass er etwas hervorbringen will, das noch abwesend ist, nur als Gedanke antizi-piert. Schließlich gehört die Welt des Sozialen dazu: dass wir etwas tun im Horizont einer sozialen Welt, die uns etwas wahrzunehmen gestattet und anderes nicht. Weil wir einen generischen Term für diese Erfahrungen nicht haben, schlägt Deacon den Begriff der „Ententionalität“ als neu vor:

Ententional phenomena include functions that have satisfaction conditions, adaptations that have environmental correlates, thoughts that have contents, purposes that have goals, subjective experiences that have a self/other perspec-tive, and values that have a self that benefits or is harmed. (Deacon 2012, S. 27)

Unschwer kann man sehen, wie Deacon aus einer erkenntnistheoretischen Sicht hier zu etwas gelangt, das der experimentell arbeitende Tomasello als „geistiger Akteur“ bezeichnen würde. Die spezifisch menschliche Ebene erschließt sich einerseits aus einer evolutionstheoretischen Betrachtung wie bei Tomasello, andererseits aus der Perspektive des biologischen Anthropologen. Keine Nebensache ist, dass Deacon keineswegs „armchair philosopher“ ist, sondern renommierter, im Labor erzogener Neurowissenschaftler. Aber er findet, dass da etwas fehlt, und er bezeichnet dieses Fehlende als „Ententionalität“. Jetzt wissen wir, was „me“ bezeichnete: den Forscher selbst. Schließt man den Forscher ein, öffnet sich das geschlossene Weltbild des Determinismus. Wir verstehen, wie das an der klassischen Physik orientierte Welt-bild des Determinismus etwas entdeckt, was territorialer Besitz der hermeneutischen Fraktion war, und dass diese eingeladen ist, ihrerseits an der Brücke zu bauen. Das kann durch Erforschungen der Mikrowelten des Sozialen, etwa konversationeller Praktiken, geschehen.

An der Brücke aus dem experimentellen Labor zu den Geisteswissenschaften baut der Philosoph Wolfgang Detel (2011), weil er findet, die Geisteswissenschaften hätten sich derzeit zu rasch in die Defensive drängen lassen. Sein umfangreicher Versuch der Rehabilitierung einer modernen Hermeneutik kann hier nicht annä-hernd dargestellt werden. Er zeigt, dass eine solche Rehabilitierung gerade nicht in der Konfrontation mit dem Szientismus gelingen kann, sondern aus der richtigen Sichtung experimenteller Forschungsbefunde. Dann gelingt es, die Münze nicht auf die eine oder andere Seite fallen zu lassen. Komplementarität heißt, beide Seiten miteinander in einem neuen Begriff des Humanum zu integrieren. Diese Wendung beschreibt er so:

Der Kern dieser Wendung besteht in der Einsicht, dass das Verstehen selbst ein zentrales Fundament der Humanität ist, indem es sich erstens auf dieje-

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nigen Aspekte am Menschen richtet, die humanspezifisch sind, zweitens in dieser spezifischen Ausrichtung zu einer Grundlage menschenwürdiger sozia-ler Beziehungen wird und drittens eine wesentliche Bedingung humanspezifi-scher Leistungen wie Sprachbeherrschung und kumulative Kulturentwicklung ist. Diese These lässt sich auch auf die Geisteswissenschaften übertragen. (Detel 2011, S. 359)

Zu den Geisteswissenschaften darf man hier die Psychologie zählen. Die Zitierung von Tomasello durch Detel macht klar, was die Lager von Szientisten und Herme-neutikern hat so unversöhnlich sein lassen. Tomasello fasst das in einer Überschrift zu einem Aufsatz zusammen (Tomasello 2003): „The key is social cognition“. Der Umstand, dass wir von Anfang an in sozialen Beziehungen (mit unseren Müttern) aufwachsen, von diesen wahrgenommen (Laplanche: „beschrieben“) werden und sie wahrnehmen, ist das, was sich als entscheidende Brücke zwischen Hermeneutik und Szientismus aufbaut. Wir können auf die soziale Dimension nicht verzichten, weder im Lebensvollzug selbst noch in der psychologischen Theorie. Zugespitzt könnte man vielleicht formulieren, dass Sozialpsychologie den epistemischen Primat über die Individualpsychologie erlangen sollte – dann würde die Münze rotieren und Per-spektivenwechsel integrieren können.

Wir müssen verstärkt Präsentation von interaktiven Ereignissen in Klinik und Forschung fordern und selbst bereit dazu werden. Wir könnten mit Deacon, Toma-sello, Detel und anderen darauf aufmerksam werden und empirische Belege heran-ziehen dafür, dass die Brücke zwischen den Lagern von der sozialen Dimension des Menschlichen gebaut wird. Dann könnten wir anerkennen, wie notwendig es ist, empirisch (auch an der Empirie des klinischen Dialogs, dokumentiert in Tran-skripten) und experimentell zu arbeiten, die hermeneutische Dimension in ihr Recht zu setzen und könnten uns einem epistemischen Dualismus verpflichten. Verbunden würde das durch die Einsicht, dass wir auf das Soziale nicht verzichten können, weil wir ohne es nicht überlebt hätten und nicht überleben würden. Die epistemologische Debatte hat diesen höchst praktischen Kern. Sie erweitert sich somit zu einer triadi-schen Epistemologie und kann so die Münze zur Rotation antreiben. Triadische Epis-temologie heißt anzuerkennen, dass es natürlich Kausalität im menschlichen Leben gibt, dass es Sinn gibt und eben auch Sozialität. Nie bemerkt man die Wichtigkeit des Sozialen so sehr wie dann, wenn es fehlt.

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Prof. Dr. Michael B. Buchholz, Dipl.-Psych., Dr. phil., Dr. disc. pol.; apl. Prof. am Fachbereich Sozial-wissenschaft, zugleich ordentlicher Professor an der International Psychoanalytic University (IPU), Berlin. Lehranalytiker (DPG, DGPT). Zahlreiche Veröffentlichungen in dieser Zeitschrift, u. a. „Die therapeuti-sche Situation“ (Heft 4, 1988), „Familien in der Moderne. NS-Vergangenheit und ‚Vaterlosigkeit‘“ (Heft 1, 1989), „Die Rotation der Triade“ (Heft 2, 1990), „Die Regression der Triade“ (Heft 1, 1991), „Arbeit am Widerstand“ (Heft 3, 1992), „Psychoanalytische Professionalität“ (Heft 1, 1997), „Die Psychoanalyse der Zukunft“ (Heft 3, 1999), „Lehren aus der Psychoanalyse“ (Heft 3, 2001), „Die VerPuffung der Gesell-schaft“ (Heft 3, 2006), „The times they are a changing“ (Heft 4, 2008). Zuletzt erschienen „Der Besen, mit dem die Hexe fliegt“ (2012, 2 Bände, hrsg. zus. mit Günter Gödde). (Siehe auch Heft 1, 2014).