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Der Anfangston des der I'nT 32 .d ' T f I d '. . wie er einsetzen- den on 0 ge es Beginns ISt bestimmt von dem voraufgehenden Großt t D' ,h hli ß d W' . erzras er. le SIC ansc e en e elterfuhrung der Tonfolge die gegenu"b d A f . ". , ' er em n ang erweitert und ve~andert ISt, gehorcht. WIederum dem Quintraster (des-as-es-b), jedoch mit der Emschränkung, daß dIe Tone es und b J'eweils Schlußtöne der T ~I d I len..." on,o gen arste - (Budde, E.: Analytischer Kommentar zu opus musicum, Die Sinfonie, Köln 1974) Das Konzertbuch hebt die präludierenden G-Dur-Akk d . ku dI f d' d . li or e, eme rze Mo- u a IOn, le relma g orchestral gesteigerte Liedweise und d' W' d k h d äl ' d' d le le er e r er pr u leren en Akkorde hervor. Das Schulbuch nennt darüber hinaus den Orgelpunkt dl'e I d' h L' , d H I bl'" , me 0 ISC en 1- ruen er 0 z .aser .(,,-g?t!schen Spitzbögen vergleichbar-") und den "von Posaunen mtomerten Engelchoral der von den übrige St' " umspielt wird. 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Zu diesem Zeitpunkt war die Arbeit an der Oper so wenig fortgeschritten, daß man kaum von einer Zusam- menstellung aus Teilen der Opernpartitur sprechen kann, - wie häufig behauptet wird. Die Mathis-Sinfonie markiert die "entscheidende restaurative Wendung" in Hindemiths Werk (Schubert 1981, 84). Ihr großer Erfolg löste heftige kulturpolitische Kontroversen aus, deren Argumente und Bewertungen bis in heutige Darstellungen nachwirken und kontrovers bleiben. (Vgl. z. B. die Bemerkungen von Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt 1982,63 ff.) Dem 1. Satz der Sinfonie (Engelkonzert) entspricht das Opernvorspiel. Außerdem werden die T. 39-54,98-150 und 291-306 notengetreu im VI. Bild der Oper verwendet. Die Durchsicht weniger analytischer Bemerkungen zum 1. Satz der Mathis· Sinfonie läßt unterschiedliche Gewichtungen und gegensätzliche Zuord· nungen erkennen. Das soll zunächst am Beispiel dreier Zitate zur langsa' men Einleitung (T. 1-38) verdeutlicht werden. "Das Engelkonzert (Ruhig bewegt/Ziemlich lebhafte Halbe) beginnt tonal mit gleich' sam präludierenden G-Dur-Akkorden, die nach kurzer Modulation in die mittelalter- liche Volksmelodie ,Es sungen drei Engel' einmünden ... Die langsame Einleitung zUIII Engelkonzert zitiert diese Melodie dreimal in orchestraler Steigerung und fällt daDJI nochmals in die präludierenden Akkorde ein..." (Konzertbuch, Leipzig 1973, Bd. 2, 199) "Am Anfang und am Ende der Einleitung erklingen über einem Orgelpunkt G dreJ feierliche Streicherakkorde, zwischen denen - gotischen Spitzbögen vergleichbar. die Holzbläser geruhsam ihre melodischen Linien ziehen ... Die Außenteile der EiII" leitung umrahmen den von drei Posaunen intonierten und von den übrigen Stimmea des Orchesters umspielten dreimal ertönenden Engeichoral." (Wir lernen Musik, Wien 1967, Bd. 6, 196f.) Walter Heise Paul Hindemith: Symphonie Mathis der Maler (1. Satz)
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Oct 26, 2015

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Analize Muzicale Helms-Hopf (4)
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,.... Der Satz wird von einem einleitenden Abschnitt (T 1-38) "ff '.weise Es sungen drei Engel einfuhrt und damit zuglel'c'h de ero net, der dIe LI~d-

d d S ' n programmatIschen Hm-tergrun es atzes andeutet. Vor der Folie eines G-Dur-Klanges b d Ttf lt t . h ' T f I ' zw. es ones gen a e SIC eine on 0 ge, dIe sowohl an der Liedwel'se al h d "

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der um ras er zu Begmn, so hegt dem dreimaligen Auftreten der Liedweise einGroßterzraster (des-fa) zugrunde. Der Anfangston des der I'nT 32 . d 'T f I d '. . wie er einsetzen-den on 0 ge es Beginns ISt bestimmt von dem voraufgehenden Großt t D', h hli ß d W' . erzras er. leSIC ansc e en e elterfuhrung der Tonfolge die gegenu"b d A f .". , ' er em n ang erweitertund ve~andert ISt, gehorcht. WIederum dem Quintraster (des-as-es-b), jedoch mit derEmschränkung, daß dIe Tone es und b J'eweils Schlußtöne der T ~ I d Ilen..." on,o gen arste -

(Budde, E.: Analytischer Kommentar zu opus musicum, Die Sinfonie, Köln 1974)

Das Konzertbuch hebt die präludierenden G-Dur-Akk d . kud I f d' d . li or e, eme rze Mo-u a IOn, le relma g orchestral gesteigerte Liedweise und d' W' d k h

d äl' d' d le le er e rer pr u leren en Akkorde hervor.

Das Schulbuch nennt darüber hinaus den Orgelpunkt dl'e I d' h L', d H I bl'" , me 0 ISC en 1-ruen er 0 z .aser .(,,-g?t!schen Spitzbögen vergleichbar-") und den"von Posaunen mtomerten Engelchoral der von den übrige St' "umspielt wird. '" n Immen

Der ~nalytische !C0~mentar E. Buddes hebt das für die Einleitung durch-gangJge komposltons~he Pr~zip hervor, aus dem sich der HöreindruckInnerer Geschlossenheit zurmndest teilweise erklären läßt· EI'n Q . t tfür d' A f ..' um ras erfi' d~eL.n an~s- und Schlußtakte, em darmt verklammerter Großterzrasterur le ledwelse.

~~m Hörein.druck widerspricht allerdings die Feststellung, die Schlußtaktedie:n gegenuber ~em Anfang "erweitert und verändert". - Ausgangspunktd es Befundes Ist Buddes Bestimmung der "melodischen Entfaltung" inen Holzblasern (T. 1-8) bzw. Streichern (T. 32-38).

~~nBli~k !n d~e P~rtitur legt es zunächst nahe, von Viertonfolgen zu spre-Cz.B: *.e i~~~ils :~nbe}:s._~ekunde über e.inem ausgehalt~nen Ton beginnenVOreh g ... ), - durch die InstrumentatIOn besonders her-Der

gWben (zusat~liche StImme oder vorher nicht benutzte Instrumente).Und au:ntraster.wlrd also aus den Anfangstönen der Viertonfolgen (a-e-h)stimmt. dem hochsten Ton (fis) des abschließenden Akkordes (T. 8) be-

Für die S hl ß k (fiziert c u ta te T. 32 ff.) muß dieses Ableitungsprinzip jedoch modi-QUintraWerden, wenn es. zu ,überzeugenden Ergebnissen führen soll: Der

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334

Paul Hindemith komponierte die "Symphonie Mathis der Maler" zwischenDezember 1933 und Februar 1934 in der Satzfolge GRABLEGUNG(2. Satz), ENGELKONZERT (1. Satz), VERSUCHUNG DES HEILIGENANTONIUS (3. Satz). Die Satzbezeichnungen beziehen sich auf Tafeln derzweiten und dritten Schauseite sowie der Predella des Isenheimer Altarsdes Mathis Nithart, gen. Gothart, seit 1675 auch irrtümlich GRÜNEWALDgenannt.

Die Uraufftihrung durch die Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furt·wängler fand am 12. 3. 1934 statt. Zu diesem Zeitpunkt war die Arbeitan der Oper so wenig fortgeschritten, daß man kaum von einer Zusam-menstellung aus Teilen der Opernpartitur sprechen kann, - wie häufigbehauptet wird.Die Mathis-Sinfonie markiert die "entscheidende restaurative Wendung"in Hindemiths Werk (Schubert 1981, 84). Ihr großer Erfolg löste heftigekulturpolitische Kontroversen aus, deren Argumente und Bewertungen bisin heutige Darstellungen nachwirken und kontrovers bleiben. (Vgl. z. B.die Bemerkungen von Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt1982,63 ff.)Dem 1. Satz der Sinfonie (Engelkonzert) entspricht das Opernvorspiel.Außerdem werden die T. 39-54,98-150 und 291-306 notengetreu imVI. Bild der Oper verwendet.

Die Durchsicht weniger analytischer Bemerkungen zum 1. Satz der Mathis·Sinfonie läßt unterschiedliche Gewichtungen und gegensätzliche Zuord·nungen erkennen. Das soll zunächst am Beispiel dreier Zitate zur langsa'men Einleitung (T. 1-38) verdeutlicht werden.

"Das Engelkonzert (Ruhig bewegt/Ziemlich lebhafte Halbe) beginnt tonal mit gleich'sam präludierenden G-Dur-Akkorden, die nach kurzer Modulation in die mittelalter-liche Volksmelodie ,Es sungen drei Engel' einmünden ... Die langsame Einleitung zUIIIEngelkonzert zitiert diese Melodie dreimal in orchestraler Steigerung und fällt daDJInochmals in die präludierenden Akkorde ein..."(Konzertbuch, Leipzig 1973, Bd. 2, 199)"Am Anfang und am Ende der Einleitung erklingen über einem Orgelpunkt G dreJfeierliche Streicherakkorde, zwischen denen - gotischen Spitzbögen vergleichbar.die Holzbläser geruhsam ihre melodischen Linien ziehen ... Die Außenteile der EiII"leitung umrahmen den von drei Posaunen intonierten und von den übrigen Stimmeades Orchesters umspielten dreimal ertönenden Engeichoral."(Wir lernen Musik, Wien 1967, Bd. 6, 196f.)

Walter HeisePaul Hindemith: Symphonie Mathis der Maler (1. Satz)

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dem Anfang erweiterten - ersten und zweiten (Fünf-)Tonfolge (T. 32-36)und aus den ScWußtönen der zweiten und dritten Tonfolge konstituiert.Die doppelte Entnahme eines Rastertones bleibt dabei ebenso unbefrie.digend, wie die unterschiedliche Lesart in den Anfangs- und Schlußtakten(T. 2-5/32-36), - wenngleich diese durch Instrumentierung und Binde-bogen-Führung nahezuliegen scheint.

Eine einheitliche re Lösung ist durch die Annahme von Fünf tonfolgen zuerreichen, die jeweils miteinander verschränkt sind (vgl. NB in Abb. 1).Diese Fünftonfolgen treten in den Anfangs- und ScWußtakten inje drei Ver-sionen auf: In der zweiten und dritten Version werden die Notenwerte ver-kürzt, - besonders wirksam der 4. Ton. In der dritten Version wird überdiesder 4. Ton, die über den Quintraum hinausgreifende ,Sexte', durch eine,Quarte' ersetzt. Hierdurch ergibt sich eine regelmäßig aufsteigende Ton.folge, die sich im durch Pausen abgesetzten ScWußakkord fortsetzt (fis/c).

Nach dieser Lesart ergibt sich der Quintraster einheitlich und sehr sinn.fallig aus allen gehaltenen Tönen, die sich zu einem quintgeschichtetenAkkord aufbauen. Am Ende der dritten Version (T. 7/37) wird das nochfeWende ,~"/ "f' hinzugefligt.

Im abgesetzten ScWußakkord (T. 8/38) kommt es zu einer Variante: InT. 8 kommt lediglich das "fis" hinzu. Eine weitere - gedachte - Quinte(cis) erscheint erst später als das "des" des Liedanfangs. Dagegen ent·steht in T. 38 eine fünfstimmige Schichtung, da neben der neuen Quinte"c" auch das "g" des folgenden 1. Themas eingeflihrt wird. Die unterenQuinten "g", "d" bzw. "des", "as" feWen in diesen Akkorden. (Vgl.nebenstehende Abbildung 1)

Die Liedweise "Es sungen drei Engel" ist gegenüber der bei Böhme notier-ten und heute üblichen Fassung melodisch und rhythmisch leicht geändert:

Der c. f. wird in 3 Strophen vorgetragen:Str. 1: Posaunen, umspielt von einer weit ausgreifenden wellenfönnigenStreicherfigur (unisono), ohne fundierenden Baß.Str. 2: K1ar., Fg., Hr.; die Posaunen spielen zusammen mit den tie~e~Streichern eine fundierende Baßlinie. Viol. und BI. verdichten die SP1~'figur der Streicher, die ab T. 20 in aufsteigende Tonfolgen (mit akzentUIe-renden Viertelpausen an den Taktanfängen) übergeht.

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Die übersicht zum gesamten Satz (s. gegenüberliegende Abbildung 2)enthält die mit der Sonatensatzform verbundenen Begriffe, obwohl derenAnwendung problematisch bleibt. Die vorliegenden analytischen Befundereichen von vorsichtigen Zuordnungen bis zu der eindeutigen Feststel·lung, man habe "also einen Symphoniesatz im klassichen Sinne vor sich,der sich mit der Verarbeitung von drei Themen an Bruckner anlehnt"(Wöhlke 1965,54).Während einerseits unbezweifelbar ist, daß der Satz nur auf dem Hinter·grund der Sinfonik des ausgehenden 19. Jahrhunderts verständlich wird,so weist das inhaltliche Anliegen Hindemiths eher auf spätmittelalter'liches Musikdenken zurück ("Engelkonzert").Besonders die eingefügte Liedweise prägt den formalen Aufbau entsc~e~dend. Da sie nicht nur in der langsamen Einleitung erklingt, ( - sie Wl1'd'gelegentlich sogar als 4. Thema angeführt -) entstehen ab T. 231 Zu

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nungsschwierigkeiten.

DIE GESAMTDISPOSITION DES 'ENGELKONZERTS'Dem "Vorspiel gibt Hindemith die historisch gewichtige Sonatensatzform. Auf dielangsame Einleitung, der das Lied ,Es sungen drei Engel' als Cantus firmus zugrundeliegt ... folgt die Exposition der drei deutlich voneinander abgehobenen Themengrup-pen. Die anschließende vom ersten und zweiten Thema beherrschte Durchführungdrängt zu einem Höhepunkt, in dem diese beiden Themen vom Cantus flImus derEinleitung grundiert werden, und der zugleich die Reprise bildet. Es folgt sogleichdas dritte Thema, das schnell zu einem melodisch und harmonisch auskomponier-ten Schließen von elementarer Wucht fUhrt. Bedeutungsvoll verfahrt also die Musikmit der inneren Einstimmung in die Musik durch eine langsame Einleitung, dem ge-wichtigen Aufstellen der drei Themengruppen, der unmittelbaren Kontrapunktierungder wichtigsten Themen, den lapidaren harmonischen Ereignissen; die Musik istknapp und komprimierend im Ineinanderflihren von Durchflihrungs-Höhepunkt undBeginn der Reprise, in der Vermeidung von Wiederholungen aus symmetrischenGründen, in der Anlage eines ohne Scheinstimmen komponierten Orchestersat·zes...'·(Schubert, G.: Hindemith, Reinbek 1981, 84)

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Str. 3: Der c. f. wird in den hohen Lagen weiter verstärkt (Tr., 0., Fl.,Glockenspiel), gleichzeitig wird die Baßlinie durch Fg. und Baßtubaunterstützt. - In den vier Hörnern entwickelt sich eine eigenständige Mit·telstimme; die Posaunen orientieren sich an der Baßlinie mit harmonischenAusfüllungen. - Die Streicherfigur (Vio!., Br.) besteht ab T. 27 aus ab·wärts führenden Tonfolgen. Gleichzeitig verdünnt sich der Satz durchdie Herausnahme von Instrumenten; er wird durch Dehnungen im c. f.und die Wiederaufnahme der Folge J J in der Streicherfigur schein·bar langsamer und verklingt im pp ~ . Nur der c. f. reicht mit seinemletzten Ton (cis) in das Des-Dur der sieben Schlußtakte hinüber.

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Ist die Wiederaufnahme der Liedstrophen als "Vollendung" der ,Durch.flihrung' zu verstehen?Beginnt mit den Liedstrophen die ,Reprise'? ,

. ., t b 'T 268 anzusetzen in dem das 1. Th. erschemtIst die Repnse ers el . '. ak I"d ~h 7 Takten in einer dreifachen Wiederholung emes T ~esaus auft,

un na h hi e " weitere drei Themenköpfe anzuschließen?um dann "noc ru g r .. d' Takten (T. 268-290) nur um einen beruhigendenGeht es miesen . kl' h " R . '?

über an zum Hauptzeitmaß (T. 291), zur "WH ~c,e~ ~ epnse.g hi

g. d d thematische Material der ,ExpOSItIon wiederholt:Immer n WH as gl . fi d 3 Th. d 3 1 d 2 Themas wird mit der Be elt Igur es. e.Die Folge es ., . un . .. ff t

b d D· Coda' wäre dann der umsono Im vorge ragenemas ver un en. le, . ß d Akk dd 1 Th (T 335-338) mit drei abschlie en en or enAnfang es. emas .

(B-Dur, a-Moll, G-Dur).

. F" f dl'e Sonatensatzform den Blick für wesentlicheWie sehr eme IXlerung au .. ) d dEinschnitte verstellen kann, zeigt z. B. Wohlkes (1965,54 Anor. nung . er

.. , bei T 151 (= Ziffer 11). Schon in T. 149 entwickelt sich~~~~;~~r~;ema ei~e aufsteigende, durch Akkorde (T. ~51) u~terb~oche.

.. " B 1 'tfi des 3 Themas führt (1. VI01.). Diese uberla·ne Lime die zur eg eilgur. .. d dr'gert die 'in den mittleren und tiefen Streichern dreImal ankling~n ~n .elAnfangstakte des 1. Themas. Drei abschließenden Akkorden fo gt er eIn·zige Doppelstrich (mit Fermate) des Satzes (vor T. 169)., .

Alles sprichtE~af~~t~~rr::;d~:fen;e~~;t:ll~'::hf::;:::::;:;~~;e~:b~~:n;~d~anzusetzen. m ....t Akkorden die nach dem 1. unposition' der Themen schließt jew.eils ~, ' 3 Thema aber ab.2. Thema überbrückend ("modulierend ), na~h Akkdemd' (T 96 e-Moll~),

. d' k D bei sind dem 1. Thema em or . , . dasschließen Wir en .. a d (T 133/134 Es/B-Dur) zugeordnet. Die.dem 2. Thema zwei Akkor e. , . (H D r) erschemendritte Thema folgerichtig abschlie~enden drei Akkorde - uvor T. 169, nicht schon vor T. 151. . Frage

. d d Egelkonzerts" legt dieDer programmatische Hmtergrun e~" n h S' d einerseits direktenach dessen Niederschlag in der Partitur na ,~'G ~n waIds nicht aUSZu"(strukturelle) Beziehungen zum "Engelkonzert

d~e zahlreiche indirek"

machen (und nicht zu erwarten), ~o we.rd~nd~' re~;;:zen zwischen arp"te Zusammenhänge behauptet. Hierbei sm. le.mentativer Schlüssigkeit und reiner SpekulatIOn fließend. . d durch

. nzert" Grüllewalds wIfEine wesentliche Verbmdung zum "Enge~o " verbundene Anf""die Liedweise, insbesondere. aber durch die"rmt I~:tellt. Die seit den 2':zeile "Es sungen drei Engel em süßen Gesang herg, Liedweise als.weJahren wieder gebräuchlichen Strop~en. lasse.n diezur Programmatik deSnachtlich erscheinen und bilden darmt die Brocke

Satzes. Textlicher Ursprung des Liedes könnte der aus dem 13. Jahr-hundert überlieferte Ruf "Sant Mari muoter unde meit al unsriu not sidir gekleit" sein, der 1278 auf dem Marchfeld und 1291 vor Akkonangestimmt wurde.

Anzahl und Inhalt der später überlieferten Strophen läßt auf einen altenProzessionsgesang schließen (Darstellung des Lebens und Leidens Christiund Aufruf zur Buße). Fr. M. Böhme nennt das Lied deswegen aucheinen "alten Ruf zu Christo". - Die Verbindung von Text und Melodiein der heutigen Form findet sich im ,,Mainzer Cantual" (1605). _ Inden großen Volksliedsarnmlungen des 19. Jahrhunderts finden sichmehrere Beispiele zu "Es sungen drei Engel" in unterschiedlichen Text-und Melodiefassungen. - Seit den 20er Jahren verbreitet sich dasLied erneut in Sammlungen der Jugendmusikbewegung und in Schul-liederbüchern.

Franz Magnus Böhme schreibt in seinem "Altdeutschen Liederbuch"(1877) über die Melodie: "Am allerwenigsten möchte ich die geschmei-dige, süß tändelnde Weise für ein Produkt des 13. Jahrhunderts halten, siemag höchstens im 15. Jahrhundert entstanden sein. Um diese Zeit magauch der Text seine jetzige Form angenommen haben, dem jedenfallsaltertümliche Strophen zugrunde liegen." - Böhme hält die Melodie fürionisch. Dagegen bestimmt sie A. Sydow (Das Lied, Göttingen 1962,177 ff.) als phrygisch. H. Qtto (Volksgesang und Volksschule, 1957, Kom-mentar zu Bd. TI, 54) bleibt gegenüber einer kirchentonartlichen Zuord-nungüberhaupt skeptisch.

Bei Hindemith, der die Melodie ausschließlich als breit angelegten Cantusfirmus behandelt, spiegelt sich die Charakterisierung Böhmes allenfallsin den begleitenden Spielfiguren der Streicher. - Im übrigen ist die Me-lodie wohl nur auf dem Hintergrund vorwiegend weihnachtlicher Strophenals "geschmeidig, süß tändelnd" vorstellbar (und singbar), nicht aber auf~em der Rufe und Prozessionsgesänge einer älteren Tradition des geist-lichen Volksliedes. (Vgl. hierzu: J. Müller·Blattau, Deutsche Volkslieder,KÖnigstein,1959, 165).

Vermutlich hat sich Hindemith bei der Auswahl dieses Liedes nicht nur~on der ersten Textzeile, sondern auch von der Melodiegestalt leiten~sen. Diese läßt sich durch ihre volkstümliche Distanz zu strengen kir-~ entonartlichen Linienflihrungen durchaus als Beispiel fIir den Um-tn~~ m~tt.elalterlichen Musikdenkens verstehen. Damit rückt sie aberlihle Zeitliche Nähe zu den Altarbildern GrünewaIds, die sowohl einen1.:1' hnepunkt spätgotischer Malerei als auch deren überwindung kenn-c en.

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Die zaW Drei als allgegenwärtiges Leitmotiv des Isenheimer Altars (Vogt,Stuttgart 1966, 7) kehrt im "Engelkonzert" der zweiten Schauseitewieder: Drei musizierende Engel, die im VI. Bild der Oper so beschriebenwerden:

"Sieh, wie eine Schar von Engeln ewige BahnenIn irdischen Wegen abwandelt. Wie spürt man jedenVersenkt in sein mildes Amt. Der eine geigtMit wundersam gesperrtem Arm, den Bogen wägtEr zart, damit nicht eines wenigen Schattens RauheitDen linden Lauf trübe. Ein anderer streichtGehobnen Blicks aus Saiten seine Freude.Verhaftet scheint der dritte dem fernen GeläuteSeiner Seele und achtet leicht des Spiels. Wie bereitEr ist, zugleich zu hören und zu dienen."

Hindemith, der Abschnitte des Sinfoniesatzes wörtlich in das VI. Bildübernimmt, verbindet die Zeilen 1-7 mit dem 2., die Zeilen 8-10 mitdem 3. Thema. Damit relativiert sich die gelegentlich behauptete konkreteZuordnung der drei musizierenden Engel zu den Themen I, 11und III.

Auf kompositorischer Ebene ist die häufige Anordnung von 3er-Gruppie-rungen so offensichtlich, daß kaum noch von Zufälligkeiten gesprochenwerden kann (Vgl. Abb. 2). Zunächst sind es jene Streicherakkorde derlangsamen Einleitung, denen "mystische" AusstraWung nachgesagt wird(Schubert, 1981, s. 0.). Bis zum Ende der ,Exposition' fmden sich minde-stens ftinf derartige Akkord-Gruppen, im ganzen Satz sind es sieben. (Daßdie ZaWen 5 und 7 auch für die AnzaW der Hauptfiguren auf den Schau-seiten des Altars gelten, soll hier nur vermerkt werden.) Genau mit Beginndes letzten Satzviertels (T. 256 ff.) fallen zudem 3er-Gruppen aus thema-tischem Material auf. - Eine detailliertere Untersuchung des ganzen Satzesunter dem Gesichtspunkt motivischer oder thematischer 3er-Gruppierun-gen würde eine Fülle weiterer Belege offenlegen, die insgesamt dafür spre-chen, daß große Teile des Satzes unter dem Gesetz der zaW Drei stehen.

Zusammenfassend ist festzustellen, daß der programmatische Zusammen-hang mit dem "Engelkonzert" Grünewaids lediglich durch die Liedweise"Es sungen drei Engel" hergestellt wird, - und möglicherweise (indirekt)durch die zaW Drei. Im übrigen dienen alle kompositorischen Abläufe d~rKonstituierung einer sinfonischen Form, die unübersehbar aus der .Tra~tion des Sonatensatzes lebt. - ObwoW die Verflechtung von SinfonIe ~Oper offenkundig ist, bleibt die primäre Herleitung der Mathis-Sinfotaus der Oper ebenso fragwürdig, wie deren Charakterisierung als "eine 5~sinfonischen Dichtung angenäherte Suite" (Reclams Konzertftihrer, 419726).

Noten

Symphonie Mathis der Maler, Partitur Schott M .Mathls der Maler, Klavierauszug der 0' S h' amz.per, c ott, Mamz

Literatur

Gesamtanalyse der T. 39-54 . . H: .1940,257 ff. m. mdemlth, P.: Unterweisung im Tonsatz, Mainz

Budde, E.: Analytischer Kommenta .Reise, W.: Lied und Werk in' D r:u 6~s mU~lcum, Die Sinfonie, Köln 1974

heim 1973; dass. (gekidzt) 'in' a~le~en" ~.usik (= Lehrerhandbuch Bd. 6), Wein-für Musiklehrer 1979/80, Lilie~thalI9!9Krutzfeldt/Lemmermann (Hg.): Jahrbuch

Padmore, E.: Hindemith and Grünewald in' The . .Schubert, G.: Paul Hindemith in S lb" MUSIcalReVIew, Jg. 33 (1972), 190

1981 (= rm 299) (mit ausführl L'te stzeugnissen und Bilddokumenten Reinbek. I eraturangaben) ,Vogt,A. M: Der Isenheimer Altar, Stuttgart 1966Wohlke, Fr.: Mathis der Maler in' St

Oper, Berlin 1965 ,. overock, D., Cornelissen, Th. (Hg.): SchrR. Die

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Wemer Thomas

CarlOrff: Carmina Buranamenta ren Grundfiguren des Menschlichen wie von mythologisch und rhe-torisch bis zur Raffinesse stilisierter, aus der intimen Kenntnis römischerDichtung heraus genährter Sprachvirtuosität großer Dichter und kleinerImitatoren: derici, Scholaren, Vaganten.

Die Gedichte sind keine Konfessionen, sondern "Rollengedichte". DasFormenarsenal zeigt eine kontinuierliche Verschmelzung von Antikemund Christlichem: quantitierende ,Versus' auf der Basis der antiken Sil-benmessung und akzentuierende ,Rhythmi' , die von der christlichen Hym-nendichtung und ihrem Reim bestimmt sind. Diese epochenbindendeKraft traf ins Zentrum von Orffs geistiger Haltung.

Erst recht gilt das von dem Lateinischen als "Vatersprache" des damaligengeistigen Europa. Orff sah in einem künstlerischen Verwandlungsprozeßdie Chance, die elementare Vitalität dieses überlieferungspotentials in deroriginalen Sprachgestalt neu zu entzünden. Er läßt Zeitgebundenes liegenund hebt das ihm gültig Scheinende heraus. Es schießt kraft seiner Imagi-nation kristallartig zu neuen Gebilden zusammen. Vergessenes wird erin-nert, Verschüttetes freigelegt und beginnt zu "leben". Das manifestiertsich nicht zuletzt in dem Faktum, die lateinische Lyrik des Mittelalters insallgemeine Bewußtsein gehoben zu haben.

Zur textlichen Konzeption

Die Leitidee ist in der Gestalt der Fortuna (ihre Miniatur ist durch einenBindefehler an den Anfang des Codex geraten!) imaginiert: Chiffre fürdie Schicksalsverfallenheit des Menschen. Ursprünglich altitalische Göttin,ist sie dem tropologischen Denken des Mittelalters geläufig. Im Barockwird sie zu einer vielfältig variierten emblematischen Figur. WechselndeAttribute sind Steuerruder, Füllhorn, Kugel unter den Füßen und Rad.

Die Bilder des 1. Teiles hat Orff unter die Devise: ,Primo vere' gestellt.Die scheinbare Reihung von 8 Gedichten erweist sich als ein ausgewogenes,nach Sprachklang und Sinnbogen gegliedertes Konzept. Auf drei lateini-sche Lieder folgt, durch einen instrumentalen Tanz abgesetzt, das ersteMischgedicht. Es öffnet, durch den szenischen Zwischentitel ,Uf demanger' signalisiert, das Latein ins ,Volgare' des Mittelhochdeutschen, wie-der mit drei Gedichten. Dem Titel "Frühlingsanfang" entsprechen im en-geren Sinn die lateinischen Lieder, während die deutschen Stücke zumSommer fOOren.

Den Teil 11 eröffnet Orff mit den ersten fünf Strophen der schon im Mit-tel.alterweithin berühmt gewordenen ,Vagantenbeichte' eines nur als ,Ar-~hipoeta' bekannten Dichters. Aussage und Ton der sprachgewaltigen, diedarm der Beichte parodierenden Satire bereiten den ironisch-parodieren-en Tenor der folgenden Stücke vor: Klage des gebratenen Schwans, eine

[

Lieder:Keim/armenKantatenMonteverdi:BühneSchulwerk:InstrumMusik

1930

seit 1919

seit 1924

I seit 1930+ seit 1921(

13. Ih.Carrnina BuranaLatein. Lyrikdes MittelaltersSzenische Kantate

1937

1. Ih. v. Chr.CatullLatein. LyrikZyklischea cappella- ---+Chöre

1930

Der Codex Buranus, nach seinem ursprünglichen Aufbewahrungs~rt Be·nediktbeuern benannt, ist eine ~t.telalterlic~e Sammelh~dschn~t.nit~enthält über 250 überwiegend latemlsche GedIchte, untermIscht ~It .telhochdeutschen Versen und romanischen Einsprengseln: ~oral~sct~tirische Dichtungen, Liebes-, Trink- und Spielerli~der, SOWIe.~elst IC;Schauspiele. Er kam 1803 im Zuge der SäkularisatIOn nach MUßec:e;or.die Bayerische Staatsbibliothek als Clm 4660. Nach dem letzt. Bischungsstand ist der Codex zwischen 1220 und 1250 am Hofe eme~I1)schofs von Seckau in der Steiermark (Bi~chof~ I ~, 19?0, YO~o~~Steeroder im Augustiner-Chorherrenstift Neust1ft bel Bnxen m Sudtu deJl11983 35) entstanden. 1847 gab ihn Johann Andreas Schmell~r un~r flaseTitel' Carmina Burana' erstmalig heraus (Düchting 1962). DIe ~ k~nntevon 1904 - für Orff ein Zufallsfund - wurde seine Textquelle. :wm sOdI'e Sammlung von der kritischen Erschließung noch fast un?e . e B'ild-

' . Ihn" .. rt das neslgbenutzen wie sie Schmeller ediert hatte. t. laSZInIe e. h IthaltiJe0arsenal einer das Zeitbewußtsein spieg~lnde?~ aber zu~elc h ~: von ele-Dichtung von sinnlicher Lebensflille WIe knt1scher GeIstes e ,

Entscheidende Voraussetzung für die Entstehung der Carm~a Burana (~B)(Uraufführung 1937) ist Orffs geist~g: We~de um 1930:. Sem progreSSIvesHineinrufenwollen in die Zeit kulminIerte m den Ch~rsatzen n~ch Textenvon Brecht. Die Begegnung mit der lateinischen Lynk Catulls 1m A.ugu~t1930 traf ihn wie ein Blitz. Es war der Auslöser fUr seine Wendung In dIeTiefe der Geschichte und die Entdeckung der mediterr~en Spr~chen derAntike als künftige Vehikel seiner Szene. Der Weg z~m Mlttell~tem der ~Bwurde ihm also gleichsam von rückwärts geöffnet. Em Schaubild kann dIe.se Wende verdeutlichen:

(

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Burleske in jambischen Dimetern, und ein Spielerlied in einer die Messeparodierenden Reimprosa. Das letzte Gedicht ist ein Trinklied in rhyth.mischen Strophen von großer Virtuosität in Wortspiel und Reim, wiederdurchsetzt mit liturgischen Anspielungen und Zitaten (Merwald 1969,58).Daß Orffs Textkonzeption vom ersten Augenblick der Begegnung mit derDichtung durch seine szenische Imagination gesteuert ist, wird in Teil IIIbesonders deutlich. Der Codex wird ihm zum "Steinbruch". Nur zwei Ge.dichte hat er in der originalen Gestalt übernommen (183 und 174). Dieübrigen acht Texte sind "ausgehoben": ausgewäWte oder umgestellte Stro-phen oder herausgeschnittene Textteile, die fallweise den ursprünglichenZusammenhang total ignorieren.

Das wohl extremste Beispiel dafür ist der Hymnus Nr. 23, das Gegenstückzum Fortuna-Chor. Der originale Kontext ist folgendermaßen zu be-schreiben:Der Anruf ,Ave formosissima' ist die achte von 33 Vagantenstropheneines Liebesdialoges, dessen hochstilisierter, erhaben-feierlicher Ton denVerdacht untergründiger parodistischer Absicht nicht auszuscWießen ver·mag. "Das Verhältnis zur Geliebten wird ... in einen geradezu religiösenBereich gestelle' (Bernt 1979, 914). Gehäufte Zitate aus Bibel und Litur·gie stehen neben der Berufung auf Heidnisch-Göttliches. Die von Orffisolierte Strophe, von dem Liebenden auf Knien vor der Dame gesprochen,ist die Transposition eines Marienhymnus - mit Anklängen an die Laure·tanische Litanei - in die sublimierte Transparenz erotischer Dichtung.Die hymnische Preisung verdichtet sich in repräsentative Figuren der irdi·sehen Liebe. So ist vielleicht schon ,mundi rosa' eine Anspielung auf Ro·samunda, die Geliebte Heinrichs 11. von England (nach Bischoff u. Bemt1979, 915). Blanziflor, aus einer im Mittelalter rezipierten byzantinischen

, Liebessage stammend, wird zur Symbolfigur treuester Liebe nach mär·chenhafter Errettung aus Todesnot. Mit Helena und Venus erhebt sich diePreisung ins Mythisch-Göttliche. Bei dieser Horizontverschmelzung antik·mythologischer, christlich-kultischer und mittelalterlich-ritterlicher Bezügekonnte Orff fUr die Krönung des Cour d'amours keinen seiner Gesamtideegemäßeren Text finden.

Die musikalische KonzeptionZu einer Reihe von CB enthält der Codex Melodien in linienlosen Neumenaus der Zeit ihrer Aufzeichnung (Bischoff 1967,10 f.). Sie gehören zu d;,Rhythmi', die überwiegend für Gesang und Tanz bestimmt waren, Wrend die ,Versus' (Hexameter und Distichen) gesprochene' Dichtung dar·stellen.

Die manchmal geäußerte Vermutung, Orff habe Melodien aus dem Codexbenutzt, ist unzutreffend. Zu den von ihm gewäWten Texten sind keineMelodien überliefert (CB 196 bei Clemencic 1979, 127 f. ist Kontrafak-tur). Die bis heute veröffentlichten Melodien (fast 50) sind von der For-schung ~um größeren Teil erscWossen worden (Lipphardt 1955/1962;Clemenclc 1979). Orff hat bestätigt, daß er sie "völlig unberücksichtigt"gela~sen.~abe (Dok. IV 4 ~). Ihn faszinierten "Bildhaftigkeit, vokalreicheMusikalität und Knappheit der lateinischen Sprache.

S~ ist seine ~usikali~che Erfindung originär und bedeutet eine übertragungsemer damali.g~n StIlstufe auf das fremde Sprachmedium. Dessen Eigen-art ~am freilich Orffs Personalkonstanten in idealer Weise entgegen:poetische Idee, Sprachklang, Lapidarität, Elementarität Vitalität desRhythmisch-Tänzerischen. '

~aher ~ußte ihn die bunte. Vielfalt der oft kunstvoll gebauten Strophen-lieder mIt und ohne Refram (altfranz. ,refloits'), die der Elementarformdes Rondeau nahest ehen und sich als Bewegungsmusik mit wechselndenRhythmen interpretieren ließen, mehr ansprechen als die Großformender Sequenz oder des Leich.

Die.Bau/orm de~ CB-Musik is~ weitgehend ein Äquivalent zu den Strophen-g~dlch~en. "In ihrem strophischen Aufbau kennt sie keine Entwicklung.Eme einmal gefundene musikalische Formulierung - die Instrumentationwar von Anfang an immer mit eingescWossen - bleibt in allen ihren Wie-derholungen gleich" (Orff, IV 43). Diese Beschaffenheit wird oft mißver-stan.den. Der V.erzicht auf eine entwickelnde, auf Fortspinnung und the-matIsch~r Arbeit beruhende SatztechrIik wird als Mangel angesehen. Diealt~rnatIve Qualität eines auf GefÜStformen und FundamenttechrIikenbaSierenden Klangsatzes wird verkannt. Seine Mittel sind BordunOstinato, Tonreperkussion, Wechsel- und Pendelklänge, Mixtur- und Faux:bourdonketten.' . o.rg~nale Bildungen, vorharmonische Klangflächen-kontraste, pomtillistIsche Klangfelder. Eine rondohafte Architekturentsteht aus der Wiederkehr von Klanggesten und Klangformeln vonhoher konzentrativer Potenz. Orff hat der CB-Musik eine statischeArchitektonik" zuerkannt (IV 43). Das wird eindrücklich a;schaubar~f der ersten Partiturseite, besonders im Faksimile (Eulenburg 8000, 11). In der Mitte die horizontale Achse des Chores darüber wie auf

eIner EI' d' Kl .. "mpore p aClert, le angsaulen von Holz- und Blechbläsern'Unter de Ch' . h 'I<.1' m or eme statIsc ausgewogene Klangpfeilerarchitektur der

aViereund Streicher.

~e Musik der CB ist eine Funktion der Szene. Für eine adäquate Entfal-o~ng ~er Jmagines magicae' ist das Gestisch-Mimische der an der Sprache

entIerten Musik ausscWaggebend.

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Nr.lWer CB als Exempel der Lebensfreude und Daseinslust versteht, ignoriertden rahmenden Fortunachor. Orff hat ihn nicht nur im Textsinn derUrklage komponiert, sondern den Beginn auch klangsymbolisch intensi.viert. Die "Initiale ... ist zugleich ein verschlüsseltes Zitat, das auf die er.sten zwei Takte meiner Fassung von Monteverdis ,Klage der Ariadne'zurückgeht" (IV 42). Orff hat den Planctus des Mittelalters mit einem La.mento der Renaissance beantwortet. Die kunstvoll verhäkelte Metrik desFünfzehnsilblers mit zweisilbigem Zäsurreim und dreisilbigem Paarreimder Zeilenbindung hat er musikalisch aufgefangen. Die Unerbittlichkeitdes sich drehenden Rades hypostasiert sich in der Polymetrie der Satz.struktur: dem Dreihalbemetrum der Melodie ist das Zweihalbemetrum derInstrumente kontrastiert, so daß sich die ostinate Figur kontinuierlichüber die Taktgrenzen verschiebt (ähnlich Klement 1982,60).

Nr.2Die gleiche Molltonart des zweiten Planctus desavouiert die Durterz derTrompeten am Schl~ß von Nr. 1 als Scheinlösung.

Nr.3Wie die Introduktion, so beginnt auch der erste Frühling mit einer Initiale,einem dreimal wiederholten, stilisierten Vogelruf der Holzbläser. Die bei·den folgenden, vom Blech eingefärbten Klavierakkorde sind ein ParadigmafUr Orffs Neigung zu klangsymbolischen Formeln einer bildstarken Musik.Es ist die hypostasierte "poetische Idee" der dichterischen Aussage, die fürOrff immer Ausgangspunkt und Ziel seiner musikalisierten Szene bildet.Die flexible, modal gefärbte, um e und a als Quasi-Confinalis und Finalisschwingende melische Linie des Coro piccolo kann in freier Nachfolge desälteren Volksliedes gesehen werden (so Klement 1982,56).

Nr.4Das Baritonsolo ist das Schwesterstück. Die Schlußtakte von Nr. 3 mit demausdiskantierten Halteklang und der schließenden Setzung der "Erwa·chensformel" gleiten attacca in die klanglich umgefärbten Anfangstaktevon Nr. 4. Die fallenden und steigenden melischen Linien schreiten denQuintoktavraum stufenweise aus. Die gläserne Transparenz des Klangesentsteht durch Verbindung hochgelegter Bässe (flag.) mit den tiefen Klang-zonen ,,hoher" Instrumente (nach Liess 1977, 85).

N~5 . . h~Mitte zwischen den bisherigen Mollebenen d und a Ist F-Dur. DIe Spr~c gnbärde des ,Ecce' entfaltet sich über einem Quintoktavklang aus Kla.vler~n~Röhrenglocke, Glockenspiel und Posaune in silbischen Rufen WIe el

her~disch.blitzende Devise. Sie alterniert mit zwei weiteren kontrastiertenmelIschen Bewegungen. Der sich steigernde Aufbau zeigt streng symmetri-sche Pfeilerarchitektur .

Der .Zwischentitel ,Uf dem anger" signalisiert atmosphärischen Wechsel derszemsc~en Struktur. Was bisher Ankündigung war, in tänzerisch-symboli-scher BIl~ausdeutung, das wird nun pralle Gegenwart mit sinnenhaft agie-r~nden FIg~ren auf de~ Vorderb~e. Mit dem übergang zu deutschenLIedern zeIgen auch dIe harmonIschen Fundamente einen Wechsel an.Der F-Ebene v?n Nr. 5 folgt die C-Ebene (Nr. 6, 9a, 10) mit vorüber-gehenden ErweIterungen nach der Dominante (Nr. 7/8) und der Parallelemit ihrer Durvariante (Nr. 9b) (vgl. Kiekert, 1957, 125 f.).

Nr.6Ein instru~entaler Tanz eröffnet die Szenenfolge. Er wächst aus einemdurch .Dr~iklangszerlegung gewonnenen viertaktigen "Aufspieler" heraus.~r mltrelß~nde ~petus läßt die kunstvoll ausbalancierte klangliche Ge-wIchtung .lel~ht u?ersehen. Der Großaufbau ist dreiteilig. Es herrscht~ehnerpe.~lOdik rmt Endverbreiterung. An der Stelle des "Trio" duet-t~eren Flote .un~ Pauke. soli~tisch - Erinnerung an alte Spielmannsprak-tiken. ,~onstltut~v aber Ist dIe von dem volkstümlichen Typus des "Zwie-fach~n ~bstraJ:ierte Gestalt des Taktwechseltanzes. Vierer, Dreier undZ.weler lose~, I~regulär ge~ichtet und mit Gegenakzenten und gegen-laufigen. Ostmatl und PhraSIerungen durchsetzt, einander ab. Im "Duo"finden sIch sogar Sechser- und Zwölferbildungen.Nr.7Au~h ?as folgende Tanzlied hält an der Bauart des Taktwechseltanzes fest.P~nodik und Klan~estik sind tänzerisch bestimmt. Dem zur Tanzpanto-m~e lockenden ReItergalopp der verrittenen "Gesellen" mit klangsugge-Stlv~r Spra~hbrechung (equitavit-tavit-tavit etc.) ist eine schwingendeDreiklan~xturkette und am Schluß ein stehender Halteklang auf den Ur-laut Ah! reIZvoll kontrastiert.

Nr.8

Das tonartgleich anschließende "Schminklied" erhält seine Farbe durch;erflihrerische ,Sonagli', Schalenglöckchen, Schellenkranz oder Schellen-,~~mmel. l?em, au~ge~erzten .Refrain der Mädchen antworten die Männer

occa chiusa mIt emem klingenden genüßlichen Schmunzeln.Nr.9aDie Bezeichnu R" . t f F ühli'.w ng, eIe weIs au r ngs· und Sommertänze im Freienas der sze . h S" . ,die vo rusc e? ItuatlOn ents~nc?t. Aber die musikalische Faktur legtähnlichrstellung emes .gemessen.felerlichen Schreitens, etwa einer Pavane

, nahe. Auch dIe Vortragsanweisung ,poco esitante' meint wohl ein

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verharrend bewußtes Setzen des tanzenden Fußes. Anrührend auch derirrationale Taktwechsel von geraden und ungeraden Maßen (2, 5,7,8 etc.),die Artikulationsanweisung für gleichsam tropfende Töne, das statischeKreisen der Töne um eine Achse, die geheimnisvollen Klanggitter der SOr.dinierten Bläser - das alles kann nicht nur den gezierten Schautanz derMädchen vor den Männern meinen, sondern eher eine klangsinnlicheSelbstdarstellung des "Ewig-Weiblichen".

Nr.9bIn diese Haltung bricht das ff-Pizzicato der leeren Saiten mit sinnlich vi.brierender Gewalt. Den mit dem formelhaften D-T·Wechsel realiter ein.setzenden Tanz begleitet der Spottvers der Männer über die Sprödigkeitder Mädchen, was diese nicht hindert, in den Chorus einzustimmen undin einem jauchzenden AH!, das in der Durvariante durch synkopische Ver.schiebung einen atemlosen überschwang bekommt, alles zu vergessen.Der Tanz endet mit einem ekstatischen Schrei.

Nr.9cDas -Quasi-Trio des kleinen Chores - es ist nur entfalteter Klang mit ab-schnittweise diskantierender Flöte - scheint die Entrückung des Reiewieder zu beschwören. Aber der erneut ausbrechende Tanz löscht dieErinnerung abrupt aus.

Nr.l0Das "Finale" des I. Teiles bestätigt die C·Ebene. Der enthusiastischeSchwung der Textdeklamation macht alle Rätsel der Textdeutung gegen·standslos. Der Satz demonstriert beispielhaft, wie Orff aus einer instru·mentalen Struktur die Sprache mit elementarem Zwang herausbrechenläßt. Die Festfanfaren der Trompeten und Posaunen machen den Textzur Inschrift eines heraldischen Emblems.

11Die Arie und ihre Karikatur, Rezitativ und Chor sind die aufeinander be·zogenen Teile des Bildes Jn taberna'.

Nr.ll __'. . fGrelle ff-Triller der hohen Holzblaser reißen den musikalischen Raum au •in dem sich die Vagantenbeichte entfaltet. Die extremen S.pannungen:~Sprache werden musikalische Figur. Der punktierte, eccltato auszu. drende Pes der Streicher, der von gegenstößigen Synkope? ~bgelöst w~~sich aber im ScWußaccelerando wieder durchsetzt, ist die mstrum~nh 111Folie zu dem zwischen stoßhafter Deklamation und leidenschafthc eArioso in den Randzonen der Stimme wechselnden Gesang.

350

Nr.12

Karikie~endes Gegenstück ist das Lied des gebratenen Schwans. Die Par-ti.tur spleg~lt die surr~alistische Phantastik des Bildes. Fagott in Hochlage,Piccolo-Flote, Es-Klannette, Trompete zeichnen die skurrile Lineatur dieKlangvibrationen der Flöten und sordinierten Bratschen setzen die Schraf-fur. In dieses ausgesparte instrumentale Gitter einer mimischen Musiksetzt. der false.ttierende Teno~ ,lam~ntoso, sempre ironico' kurzatmigeKantilenen. Seine Klage alterniert rmt dem spöttischen Refrain des Män-nerchores, in dem sich die "verquere" Tonart fis-Moll endlich faßbarkonstituiert. Der Satz endet bildhaft in einer flatternden, zuckendenKlanggeste.

Nr.13

An die Karikatur der Arie scWießt die Karikatur des Rezitativs an Wiederlegen die Vortragsanweisungen die Gestik des Klangsprechens fest': liberoe improvisand?, gesticolando e beffardo assai'. Den gregorianischen Tonuscurrens parodierend, eröffnet der "Abt von Kukanien" den "Konvent"von den Klangentladungen chorischer Wafna-Rufe bestätigt. 'Nr.14

Das dionysische Finale des Männerchores, vom ,eccitato' ins ,scatenato'ausbrechend, ~~lgt ganz der sprachliche~ Diktion. Durch Verzicht auf je-de ,,~uslegung .des Textes, durch raffImerte Kontrastierung kurzer Perio-den __Innerh~lb einer durchgängigen elementaren Motorik (z. B. T. 3/4:abwart.s gleItende Sprechsch~ejfen in einem "gelösten Schaukeln" gegenT. 5/6. ruckhaftes Er~ta.rren In der .gebändigten Dynamik des Eintonspre-chens, pp und st~ccatIssImo), was einen geradezu disziplinierenden, abrup-ten Wechsel. der .Inneren Haltung bei dem Herausstoßen der Sprachpartikelerf?rdert, WIrd eme unerhörte Direktheit der Wirkung erreicht. Die phasen-weise.Beschrankung auf den Einton und die engschrittige Formel lassendie diastematisch ausgreifende Sprachklanggeste umso wuchtiger hervor-treten (z. B. 4. T. vor Ziff. 98). So entsteht ein kalkuliertes, sich aufstu-fen~es Crescendo, das in den dionysisch-antikischen IO-Rufen seinen ek-~atIsche.n Höhepunkt erreicht. Sie sind das Sigel dafur, den Chor nicht als

erherrlichung bacchantisch-banaler Vordergründigkeit mißzuverstehen.

IIIDie e t -- k T

h-- n TUC te ransparenz der Bilder des Cour d'amours setzt den denkbarSc arfsten K t Hi f .d on rast. er war Or fs synoptische Intuition am entschie-v:nsten am Werk. Er benutzt die Texte als Aufhänger. Die Musik ist dersinr;andelnde Interpret, um sie seinem eigenen Sinnbogen _ alle Teile

Wieder attacca zusammengeschlossen _ unterzuordnen.

35]

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353

Nr.16

Ober synkopiertem Streichergrund entfaltet sich die lateinische Liebeskla-ge in verhaltenem ,esagerato', öffnet sich aber in den altfranzösischenPassag.en zu af~ektivem Rubato strömender Melismen in den Falsettlagender Stimme - eme klanggewordene burgundische Miniatur.Nr.17

Der Streichergrund bildet die Klammer zum vorausgehenden Lied, aber erist ,per dirninutionem' erregter geworden und zeigt neue Farben: tiefeStreicher im Flageolett und Pizzicato nehmen dem Klang den Boden. Diesublimierte Sinnlichkeit kontrahiert sich am Strophenende in ein gliedern-des Klangsymbol von Piccoloflöte, Glockenspiel und Celesta.Nr.18

Die Innenspannung des glühenden Werbeliedes ist auskomponiert in demKontrast von schwingenden lateinischen Gesätzen mit Taktwechsel unddem scharf skandierten deutschen Refrain.Nr.19

Der flinfstimmige a cappella-Satz für Männerchor und Soli markiert dieZäsur vor dem ~weiten Teil. Orff stellt das deftige Erotikon als Allegrobuffo vor. Laszives und voyeurhaft Genüßliches artikuliert sich innerhalbeines rasanten Mixtursatzes, der aparten Akzenten der Soli ebenso Raumgibt wie einem übermütigen Glissando der Stimmen.Nr.20

Die Klangtechn~ .nimmt d.ie Eigenart. der ,Catulli Carmina' vorweg: einDop?elchor mUSlZlert quaSI a cappella über einer Grundierung mit zweiKlaVIeren und Schlagwerk. Spröde, federnde Klänge im Mixtursatz. DerLobpreis der Dame wird durch die anfeuernden, sinnlich werbenden Zwi-schenrufe des zweiten Chores wirksam kontrastiert.Nr.21

Die Vortragsanweisungen ,sempre velato' und ,con estrema sensibilWI'fur den in der ,,Maske" der Altlage singenden Sopran (Liess 1977 87)~di ,At e ~p- u.nd pp~-Eben~ d~r Instrumente suggerieren die traumartigekei~osphar~ dl~ser st~-medltatlven. u~d zugleich von verhaltener Sinnlich-

und Süße überstromenden MUSIkIn der Stillage der italienischen Arie.Nr.22

~as Schon vom Text her als ,Carole' mit Vorsänger und Chor ausgewieseneta~nz~edist als Finale der "Vordergrundbilder" angelegt. Die instrumen-late . esetzung und Diktion schließt an NT. 20 an: zwei Klaviere martel-ISSlmo' d F nkt·Und vie In. er u IOn VO? klangdeckenden PerkussionsinstrumentenScheUelfarblges S~hlagwerk, In dem neben Glockenspiel, Cymbeln und

ntrommel die Kastagnetten dominieren.

(S. 127)

GI D (S. 128)

e/a

Ave formosissima

DIAt

D

Tempus est

A mit Basis E A mit Basis E

Dt

D e D

dia

+~---------''1'----------,~Doppelchor Chor u. Soli Chor

Veni, veni

-Sopr.-Solo u. Chor Bar.-Solo Sopr.-Solo Bar.-Solo u. Chor

Amor volat Dies, nox Stetit Circa meaundique et omnia puella pectora

,v

Nr.15 . . dDeutU118In ,Amor volat undique' treten Wort und musikalische Anlage UD .'fi· . MllUatur-extrem auseinander. Solosopran und Knabenchor Iguneren eme hi

szene. Die Worte des Liedchens hat Orff in Rollen aufgeteilt. Die v~rsc ;denen Haltungen sind wieder im "Regiebuch" der Vortragsanwe~~te.mit preziösen Nuancen aufgeschrieben. Die ,ragazzi' singen uDter~ ._

. '. . t' te' Die au"ll·obachtend, scheInbar um?teres~lert, ,un poco Imper Inen . Mädchellterzten Flöten sprechen ihre eigene versonnene Sprache. ~~s d spieltdurch die Seufzer der Holzbläser kommentiert, singt ,flebIle U\ t dJI,con estrema civetteria, fingendo innocenza'. Das Schlußwort atrockene Resümee der ,ragazzi': ,fit res amarissima'.

Die hinzugefügte Angabe von Tonarten dient freilich nur einer Groborien-tierung im traditionellen Verstand. Aber auch eine modale Benennung derKlangräume bliebe im Ungefähren. Orff setzt das intakte harmonische Sy-stem voraus und wendet es dort an, wo sich elementar-sinnliches Vergnü-gen am Vertrauten mit ironischem Schmunzeln über das trivial. Gewordeneverbindet (z. B. in dem T-D-Stampfen des Tabernachores vor Ziff. 99). Vordiesen quasiintakten harmonischen Hintergrund aber setzt er eigenst~;turierte durch dissonante Spaltbildungen aufgerauhte oder "verunklarteEinzendänge und vorharmonische oder metaharmonische .Kla~gzüge undKlangfelder und pointillistisch isolierte Einzelfarben von hinwelsend~r Be-deutung. Das Schwebende, "Bodenlose" aber erreicht er durch Hoch.ruckender Klänge vom Grundton auf die Quint. Die Partitu.r der C~, s~ezlell ~esIH. Teiles, ist eine "Apotheose" der Klangsäule, die man ublIcherwelseQuartsextakkord nennt.

Den Großaufbau hat Ingeborg Kiekert zutreffend beschrieben (I 957, 126ff.) Ich übernehme ihre Schaubilder mit eigenen Ergänzungen:

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Das Orffsche Prinzip der Wortwiederholung und Sprachbre~hu~g i~ Wort.und Reimpartikel erzeugt zusätzliche Innenspann~ng. Klemgliednge dy.namische Abstufung, Wechsel zwischen Tempozuruckn~en und. A~ce.lerandi und Spiel mit dem verlagerten Wortiktus sind. auf e.me kontmuler.liche Finalsteigerung hin kalkuliert. Die die ganze B.ühne em~nde SchlUß.t he bleibt plötzlich wie erstarrt in der Luft hangen. DIe Quartsext.

s rop Kl f . fr d'spannung signalisiert die Penultima und gibt den angraum rel ur leKadenz des Solosoprans.

Nr.23 . d d T . ISie intensiviert sich in einem auskomponierten ~ta~ ~ 0 von no enüber Achtel bis zu Vierteln, die sich bis zum ,Larghissl~o b~.deu~samver.langsamen. Die die Kadenz auffangende Instrumentalstutze hält dIe Quart.sextspannung offen nir den einsetzenden Hymnus.

Nr.24 h . d GeDi Ch Soli und Orchester zu barocker Klangprac t veremen en .

e or, lid' f d H"sätze werden durch aufstufende Rubato-Streicher- nter u lep a~ . en. o.hepunkt hingeführt. Sie gipfeln auf .dem .Namen ,Bl.anz1f10r I? emerwahren Apotheose eines wieder auf dIe Qwnt ho~hgeruc~ten Dreiklangs.Was hier in der Musik Gestalt geworden ist, läßt sIch ~ur Im Verbund derSzene und der sie tragenden Idee beschreiben und begreIfen.

Die szenische Konzeption

Der Titel enthält ftir die szenische Realisation nur den Hinweis: ,cum ima·inibus magicis (comitantibus)'. Orff hat also die Ausdeutung offen ge·

fassen: fUr den Autor ein Risiko, ftir den Inszenator ~~e Provokahon ..Sostellt sich die Frage, ob nicht eine werkimmanente Leitidee. vorgege~en IS~,vor der sich jede Ausdeutung zu legitimieren hätte. Es ISt zugleich dieFrage nach Orffs Theateridee überhaupt. .

Wie entsteht seine Szene? Die Texte der CB sind lyrische Li~ddichtunge~ ~Lateinisch, also primär der Szene so fern wie möglich. Aus ihne~ lassenIfe~dweder Dialog noch Handlung gewinnen, weder Spannungen zWIschen t"ßeund Antiheld noch eine Konfliktstragik aut:b.auen, we.der Zus~~en:n ~e.geschichtlicher Mächte noch eine Psychol~glsle~ng pnvater Ind.1Vld~istanzmonstrieren Orffs Bruch mit Oper und Smgsplel, aber auch seme . derzu Schauspi~l und Drama t.reten ~u Tage. Aus der lyrisch~~.Sa;~::~;ene.Texte ergeben sich notwendigerwelse besondere Gestaltqualitate .

G d· h t ch in rhythnU·Es wäre undenkbar, durch gesprochene e IC ttex e, au hl' ,(lende. I" C • d . en Das aufsc lejo'scher Rezitation, szemsche Ver aUle zu m uZler . ." der

Medium der Szene ist die Musik. Sie ermöglicht die ,,I~-szem~run~en.Bildidee. Aus ihr treten vollplastische Figuren hervor: ~s smd ~:,: ~pielen.und schicksaltragenden Individuen, sondern Typen, die ihre "R

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Die überschriften der Werkteile blättern ein Bilderbuch des Lebensreigensauf. Aber sie sind nicht von gleicher Art. Während die ersten drei typischeRealsituationen benennen, signalisieren die beiden letzten festumrisseneBedeutungsfelder: Cour d'amours verweist auf die hochstilisierten, spät-mittelalterlichen Formen und Rituale der Höfischen Minne in der Romania(Burgund und Paris um 1400), während die beiden Namen von literarisch-mythologischer Herkunft mit symbolischer Bedeutung geladen sind. Erstrecht gilt das fLir die Aufschrift: ,Fortuna Imperatrix Mundi'. Mit derWiederkehr am Schluß stellt sie sich als Devise fLirden Gesamtablauf dar.Das bedeutet ftir die Bühne die ständige Präsenz einer statischen Fortuna-Figur, etwa auf der Ober- oder Hinterbühne, während das Figurenspiel aufder Haupt- und Vorbühne stattfinden sollte. Die Raumsektoren der Bühnegewinnen symbolischen Rang. Die Bewegung in der Horizontale wird ausder Höhe und Tiefe von außermenschlichen Mächten gesteuert. Die Figu-ren bewegen sich wie Marionetten des Welttheaters an den Spielfaden derFortuna nach dem Gesetz ihres kreisenden Rades. Das Dargestellte bedeu-tet also: das Bild wird zum Sinnbild.

Mit dieser Struktur aber rückt die Szene der CB in geistige Nachbarschaftzu dem Emblematischen Theater des Barock. Darstellen und Deutenbezeichnet die Korrelation, welche für das emblematische Bild wie ftirdas emblematische Theater konstitutiv ist. So wird das Bild transparent.In wechselnden Einzelszenen vollzieht sich eine Rappresentazione. DieTexte aber kommentieren und deuten. Ein Sinngefüge wird sichtbar, dasanschauend begriffen werden will. So kann die Szene der CB als ein em-blematisches Modell gelten (Thomas 1978,581).

Die Musik aber übernimmt in diesem GefLigedie Rolle eines "übersetzers".Denn sie übersetzt das Gesagte in ein neues Medium; sie deutet und inten-siviert im Erklingen das Wort. Ein Beispiel: das Rad der Fortuna. Die na.hezu hundert Takte lang fast unverändert kreisenden instrumentalen Osti-nati als Tonmalerei zu bezeichnen, wäre ebenso naiv-töricht wie SchubertsK.1avierpart in "Gretchen am Spinnrad" naturalistisch auszulegen. Diemusikalische Formel macht im Sinn der emblematischen Szene die ,imago'desSchicksals rades signifikan 1.

DieMusik transponieI:t (= über-setzt) die Szene aber auch auf eine neue Ebe-ne.Im überhöhenden Hymnus werden die überirdischen Mächte beschworen.DieMusik ist also nicht nur aufschließendes, sondern auch transzendierendesMedium der Szene. Für die geistige Verwandtschaft der CB-Szene zur Thea-teridee des Barock steht Orff selbst als Kronzeuge. Denn durch die Benen-~~~~ ,Trionfi' ftir sein ,Trittico teatrale' (1953) hat er sich auf den ,,hohen.b! der großen Huldigungs-, Prunk- und Maskenspiele der Renaissance und~. ihre,mGefolge auf die Leitidee der Barockbühne berufen, das Welttheater.

JeBühne gilt als Abbild und Sinnbild der Welt (Alewyn 1959, 50 ff.).

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Orffs Szenenstruktur entspricht diesen Dimensionen. Die Bühne der Trionfierweckt nicht nur die Lust am Schaubaren, sondern spielt im entgrenztenSymbolraum, um dem Antagonismus von Welt und überwelt, von irdi-schem Schauplatz und überirdisch waltenden Mächten, von vordergründigemSpiel und hintergründiger Gesetzlichkeit Raum zu geben, aber auch diePolarität von Lebensrausch und Vanitas-Einsicht zu demonstrieren.Was aber soll vor dieser düsteren Kulisse ein ,Trionfo'? Wie konnten die CBzum Eröffnungsstück des so betitelten Triptychon werden? Wer ist der,victor' oder die ,victrix triumphans'?Eine Antwort demonstriert das Finale. In der verhaltenen Glut und Süße des,In trutina' schwebt bei der Umworbenen das Zünglein an der Waage nochzwischen ,pudicitia' und Jascivus amor'. Erst das überschäumende Werbelied,Tempus est iocundum' mit Beteiligung aller Sänger, Spieler und Tänzer(man denkt sie sich mit der letzten Strophe rahmenparallel zur Rampe vor-rückend!) fUhrt zum Durchbruch. Er bleibt musikalisch offen und gibtattacca, aber nach einer atemlosen Viertelpause höchster Erwartung den Wegfrei zur Kadenz des Soprans: ,totam tibi subdo me'. In der bedingungslosenHingabe wird die Allgewalt des Eros freigesetzt. Aber in diesem Momenttranszendiert die Musik von der Darstellungs- auf die Bedeutungsebene. Inder Parodie des christlichen Marienhymnus wird das Bild der ,frouwe'transponiert in die Vision der ,virgo gloriosa'. Die sich steigernden Prädika-tionen aber münden auf dem klanglichen Höhepunkt (,culminante') in diesymbolgeladenen Namen: die Zitationen von Blanziflor, Inbild todverach-tender Treue und Helena, Urbild todverursachender VerfUhrung durch dieSchönheit - Preisung der Minnegöttin oder Huldigung einer blinden Welt aneine Magna peccatrix? -verharren einen Moment in der Schwebe. Sie mün-den - gleichsam in göttlicher Sublimierung- in die dreifach sich aufstufendeBeschwörung der römischen Liebesgöttin Venus. Aber die erwartete Epi-phanie bleibt aus. In der Wiederkehr des Fortuna-Chores mit der Rücküber-blendung der Blanziflor-Helena-Venus-Vision und der endlichen Lösungder Tonika in die Molldominante erlischt mit einem ScWag die ekstatischeErwartung. Fortuna, unüberwindliche Imperatrix Mundi, bleibt die dunkleHerrin des Trionfo. Auch der Durjubel der Trompeten in den ScWußtaktenist trügerisch, umso mehr als er beim ersten Erklingen am Anfang alsVerheißung gelten konnte. Die "Reprise" des Chores, meist als ästhetischesPostulat einer Rahmenform verstanden, kann doch nur bedeuten, daß erüberhaupt nicht verstummt war; er wurde nur von den Bildern der Weltübertönt.Hatte Orff geahnt, daß seine "ungelösten" ,cantiones profanae' ein Weiter-spinnen der Grundidee provozieren würden, daß ihm, über Catull al.sParadigma dämonischer Liebesverstrickung, erst in der helleren griechi-schen Luft ein lösender Trionfo d'amore in allen Dimensionen des EroS

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ge~ingen würde.~V:O die Epiphani.e der griechischen Liebesgöttin AphroditemIt de~ kreaturlIchen LustschreI des Urpaares im Ritual einer antikischenHochzeIt zusammenfallt?

Der Schaffens~ u~d Sinnbogen der ,Trionfi' ist weit gespannt. CB wurden193~, ,Afrodite erst 1947 begonnen, gleichzeitig mit der Arbeit an,Antlgonae' .

Konkordanztabelle (nach Düchting 1962, 130; ergänzt)

earlOrff loh. Andreas Schmeller (A. HUka-) O. Schumann- Carm. Bur.Carmina Burana (1937) Ed. princ. (I 847) u. 41904 B. Bischoff dtv"Weltlit.

Ed. crit. 1,1 (1930) 2063 (1974)1,2 (1941), I, 3 (1970)

Nummer Seite Nummer Seite Seite

Fortuna Imperatrix Mundi1 0 Fortuna I If. 17 1,1 35 442 Fortune plango vulnera LXXVII 47 16 1,1 34 42

I. Prima Vere

3 Yens leta facies 101, 1-2.4 179 138,1-2.4 1,2 232 452 f.4 Omma sol temperat 99 177 f. 136 1,2 229 448 ff.5 Ecce gratum 106 183 f. 143 1,2 242 464 ff.

Uf dem Anger6 ;Tanz (Orchester)7 Floret silva nobilis 112 188 149 1,2 253 4768 Chramer, gip die varwe mir ccm 96 f. 16*,35-52 1,3 152 7709 Reie (orchester)

Swaz hie gat umbe 129 a 203 167 a 1,2 282 514Chume. chume geselle min 136 a 208 f. 174. 1,2 292 526 ff.Swaz hie g.t umbe 129 a 203 167. 1,2 282 51410 Were diu werlt .lle min 108. 185 145. 1,2 247 470II. In t.bern.

11 Estuans intenus CLXXII,I-5 67 f. 191,1-5 1,3 6 ff. 564 ff.12 Olim laeus eolueram 92,1-2.5 173 130,1.3.5 1,2 215 432 ff.13 Ego sum abbas Cueaniensis 196 254 222 1,3 81 f. 64814 In tabema quando sumus 175 235 f. 196 I, 3 35 ff. 592 ff.III. Cour d'Amours

15 Amor volat undique 60,4 151 87,4 1,2 75 29016 Dies, nox et omnia 81,6-7.9 168 118,5-6.2 1,2 194 404 ff.17 Stetit puella 138, (1-2) 210 177,1-2 1,2 295 53018 Circa mea peetora 141,5-7 213 180,5-7 1,2 301 538 ff.19 Si puer eum pueUula 144 215 183 1,2 307 54620 Veni, veni, venias 136 208 174 1,2 292 52621 In trutina mentis dubia22 Tempus est iocundum

43,7 133 70,I2.b 1,2 37 22623 Dulcissirne

140,1.4.7.5.8 211 f. 179,1.4.7.5.8 1,2 298 f. 534 ff.43,9 133 70,15 1,2 37 226Blanzi.flor et HeJena

24 Ave formosissirna 50,8 142 77,8 1,2 53 252Fortuna Imperatrix Mundi

25 0 Fortun. I If. 17 I, 2, I, 1 35 44

Die VOnOrff benutzte 4. Aufl'ge: Bresl.u 1904 stimmt mIt der Ed. prille. überein.

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Vor Jahren sagte mir Carl Orff im Gespräch: "Carmina Burana sind meindunkelstes, Trionfi di Afrodite mein hellstes Werk." Dieses Wort scheintmir im Sinne seiner übergreifenden Gesamtidee deutbar zu sein.

Ausgaben und Literatur

I Zum Codex BuranusA) Ausgaben

(Sch':leller, J. A.:). Carmina Burana. Lateinische und deutsche Lieder und Gedichteemer Handschrift des XIII. Jahrhunderts aus Benedictbeuern auf der K. Bibliothekzu München. Stuttgart 1847,41904.

HUka, A./Schurr:ann, O.f~ischoff, B.: Carmina Burana ..Bd. 1,1-3: Text. Heidelberg1930-1970, Bd. 11, 1. Kommentar (CB 1-55). Heldelberg 1930. (Grundlegendeknhsche Ausgabe. Kommentar 11, 2-3 steht noch aus).

Bischoff, B. (Hrsg.): Faksimile-Ausgabe mit Einflihrung. München und BrooklynN. Y. 1967, München 21970.

Carmina Burana. D~eGedichte des Codex Buranus lateinisch und deutsch. Übertragenvon C. Fischer. Übersetzung der mittelhochdeutschen Texte von H. Kuhn. Anmer-kungen und Nachwort von G. Bernt. Zürich-München 1974. Dünndruckausgabedtv Weltliteratur 2063,1979.(Diese hervorragende Gebrauchsausgabe ist der Darstellung zugrundegelegt).

Korth, M. (Hrsg.): ~armina Burana. Lateinisch-deutsch. Gesamtausgabe der mittel-alterlichen Melodien (Clemenclc, R.; Müller, U.; Korth, M.). München 1979.

Merwa/d, G.: Carmina Burana in der Auswahl von Carl Orff (Textausgabe rur dieSchule), Stuttgart 1969.

B) Literatur

A/ewyn, R.jSä/z/e, K: Das große Welt-Theater. Die Epoche der höfischen Feste inDokument und Deutung. rde 1959.

Bu/st, W.: Studia Burana. In: Historische Vierteljahrsschrift 28 (1934), S. 512-521.Dronke, P.: Medieval Latin and the Rise ofEuropean Love-Lyric. I/II. Oxford 1965,

21968.Düchting, R.: Carmina Burana. Johann Andreas Schmeller und Carl Orff. In: Ruper-

to-Carola XIV, 31 (1962), S. 127-134.Hamacher, J.: Die ,Vagantenbeichte' und ihre Quellen. In: Mittellateinisches Jahr-

buch 18 (1983), S. 160-167.Lipphardt, W: Unbekannte Weisen zu den Carmina Burana. In: Archiv für Musikwis-

senschaft XII (1955), S. 122-142.Lipphardt, W.: Einige unbekannte Weisen zu den Carmina Burana aus der zweiten

Hälfte des 12. Jahrhunderts. In: Festschrift Heinrich Besseler. Leipzig 1962, S.101-125.

Maurer, K: Präsenz der römischen Dichtung in der europäischen Literatur. In: Büch-ner, K. (Hrsg.): Latein und Europa. 1978, S. 243-281.

Schöne, A.: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. 1964.

358

spanke, H: Der Codex Buranus als Liederbuch. In: Zeitschrift f. MusikwissenschaftXIII (1931), S. 241 ff.

Steer, G.: ,Carmina Burana' in SüdtiroI. Zur Herkunft des clm 4660. In: Zeitschriftfür deutsches Altertum und deutsche Literatur 112 (1983), S. 1-37.

Thomas, W.: Das Rad der Fortuna. In: Ahrens, D. (Hrsg.): 61Al:Ot TnN MOYtnN (Thia-sos tön Musön. Festschrift flir Josef Fink. 1984. S. 233-244.

11Zu Orff: Cannina BuranaBourban, P.: Trionfi dans I'oeuvre de Carl Orff. Diss. Fribourg 1961.Dange/-Hofmann, F.: Zur Entstehungsgeschichte der Carmina Burana. In: Musik in

Bayern, H. 23, (1981), S. 9 ff.Kiekert-Schatz, I.: Die musikalische Form in den Werken Carl Orff's. 1957.K/ement, U.: Das Musiktheater Carl Orffs. Leipzig 1982.Liess, A.: Carl Orff, Idee und Werk. Zürich 21977.Lohmüller, H: Carl Orffüber sich selbst. In: Melos 32 (1965) 6, S. 194-195.Merwa/d, G.: Orffs Carrnina Burana. In: Der Altsprachliche Unterricht XII (1969) 4,

S.48-68.Mila, M.: Orffs ,Trionfi' an der Scala. In: Melos 20 (1953), S. 82-84.Orff, c.: Carl Orff und sein Werk. Dokumentation IV: Trionfi. 1979.Ruppe/, K H: Carl Orffs Trionfi. In: Österreichische Musikzeitung (1957) 2, S.

55-58. .ders: CariOrff. In: Carl Orff, ein Bericht in Wort und Bild. 21960.Schadewa/dt, W.: Carl Orff: Trionfi. Zur Idee des Werkes. In: Carl Orff und sein Werk.

Dokumentation IV: Trionfi. 1979. S. 183-185.de Sutter, I.: Carmina Burana. Scenische Cantate van Carl Orff, Antwerpen 1963.Thomas, W.: Raum und Figur im Musiktheater Carl Orffs. In: Neue Zeitschrift flir

Musik CXXI (1960) 8, S. 231-233.ders.: Orff-Bühne und Theatrum Emblematicum. Zur Deutung der Szene in Orffs

,Trionfi'. In: Penkert, S. (Hrsg.): Emblem und Emblematikrezeption. 1978.S.564-592.

ders.: Latein und Lateinisches im Musiktheater Carl Orffs. In: Der AltsprachlicheUnterricht XXIII (1980),5, S. 29-52.

Zillig, W: Die Neue Musik. Linien und Porträts. 21963. S. 199-215.

Der Darstellung ist die Partiturausgabe Edition Eulenburg No. 8000, Lon-don 1981 (Nachdruck der Erstausgabe bei Schott, Mainz 1937/1965) zu-grundegelegt.

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Michael Stegemann

Olivier Messiaen: Mode de valeurs et d'intensites

Ursache und Wirkung

Zwölf Jahre lang, von 1933 bis 1945, hatte das deutsche Musikleben unterdem brutalen Kulturdiktat des Nationalsozialismus gestanden. Ansätze Zuneuen musikalischen Denkmodellen waren im Keim erstickt worden, diebedeutendsten Repräsentanten der Vorkriegs-Avantgarde waren entwederemigriert oder im eigenen Land verstummt. Die Verbindungen zum Aus.land waren entweder unterbrochen oder einer radikalen Zensur unterwor.fen gewesen, so daß nach dem Krieg "der größte Teil der deutschen Mu-sikfreunde so gut wie keine Kenntnis hat von den letzten dreißig Jahrender Kunst - ob man dabei an Chagall oder Picasso, an Andre Gide oderHuxley, an Debussy oder Strawinsky denkt" (Heinrich Strobel in: Melos,November 1946). Unter den Trümmern, die das Tausendjährige Reich hin.terlassen hatte, lag auch die musikalische Modeme begraben, und die Kom.ponistengeneration der zwanziger Jahre mußte wieder bei Null anfangen.

Eine besonders wichtige Rolle bei diesem Neubeginn spielte der Südwest-funk Baden-Baden, ohne den weder die von Heinrich Strobel im Herbst1950 wiederbelebten Donaueschinger Musiktage möglich gewesen wären,noch die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik, die Wolfgang Stei.necke im Sommer 1946 in Darmstadt gründete. Ur- und Erstaufführungenjahrelang unterdrückter Werke einerseits und die ersten "Gehversuche"junger Komponisten andrerseits schufen binnen kurzem einen überausfruchtbaren Nährboden, auf dem die Neue Musik der Nachkriegszeit kei.men und Frucht tragen konnte.

Die ersten Darmstädter Jahre waren von einem immensen Nachholbedürf.nis gekennzeichnet. Selbst das bereits seit etwa 1920 fixierte Komposi-tionsprinzip der Dodekaphonie war den meisten der Ferienkurs-Teilneh·mer unbekannt. Nur so läßt sich die geradezu revolutionäre Wirkung ~r·klären, die der französische Komponist und Dirigent Rene Leibowltz1948 mit seiner Vorlesung über die "Komposition mit zwölf nur au.f.einander bezogenen Tönen" seines Lehrers Arnold Schönberg erzielte, DieBegeisterung, mit der sich die junge Komponistengeneration diese"Le~ezu eigen machte, beruhte zum Teil allerdings auf einem Mißversta,nd:,unter dem Schönberg auch heute noch zu leiden hat: man sah ,In . erZwölftontheorie einen Weg zur objektiven Ordnung der Musik, dIe el~eideologische Ästhetisierung auszuschließen schien; die serielle Kons~rua:hon wurde gegen das Path.os un~ d!e der ~ropaga~d~ ~ienliche Emo~~dlität ausgespielt, zu der die Musik Jm natIOnalsozIalIstischen Deutsc

360

verkommen war. Gerade Schön berg aber war absolut kein Gegner subjek-tiver ästhetischer Ausdrucksformen und glaubte zeit seines Lebens an dieder Theorie vorausgehende und übergeordnete Inspiration als einzige Quel-le des musikalischen Kunstwerks; dieser dionysische Charakter der Dode-kaphonie aber wurde zugunsten einer apollinischen Bewertung außer achtgelassen (vgl. Arnold Schönberg: Die formbildenden Tendenzen der Har-monie, 1957, 188 ff.).

"VierdimensionaJe Serialität"

1948 war auch erstmals ein (schon 1932 entstandendes) Werk des damalsvierzigjährigen Olivier Messiaen in Darmstadt zu höhren, Theme et varia-tions ftir Violine und Klavier. Im Jahr darauf kam Messiaen selbst zu denFerienkursen und komponierte hier ein Klavierstück, das auf die weitereEntwicklung der Neuen Musik nicht nur in Deutschland womöglich nochgrößeren Einfluß ausübte als Schönbergs Zwölftonlehre: Mode de valeurset d'intensites. Wenige Monate ZUvorhatte Messiaen in Tanglewood (USA)die auf neuguineischen Rhythmen basierende Ile de feu 1 geschrieben,1950 folgten in Paris Neumes rhythmiques und Ile de feu 2; gemeinsammit dem Darmstädter Werk wurden diese drei Klavierstücke später alsQuatre Etudes de rythme veröffentlicht. Zu Mode de valeurs et d'intensitesgab der Komponist selbst folgenden Kommentar: "Das Stück verwendeteinen aus 36 Tonhöhen, 24 Tondauern, 12 Anschlagsarten und 7 dynami-schen Abstufungen gebildeten Modus; die Skala der Tondauern ist auf dreiTempoebenen verteilt, die dem hohen, mittleren und tiefen Register derTonhöhen entsprechen: die erste Ebene verwendet zwölf vom Zweiund-dreißigstel-Wert ausgehende Tondauern, die zweite zwölf vom Sechzehntel-Wert ausgehende Tondauern, die dritte zwölf vom Achtel-Wert ausgehen-de Tondauern; (die drei Ebenen laufen simultan ab); Tondauern, dynami-sche Abstufungen und Anschlagsarten sind den Tonhöhen gleichgestellt;der Modus als Ganzes gibt Tondauern und Anschlagsarten unterschiedli-cher Färbung wieder; gleichnamige Töne wechseln je nach der Lage, in dersie erklingen, Dauer, Anschlagsart und Dynamik; der Einfluß der Lage aufQuantität, Phonetik und Dynamik eines Tones, und die Verteilung aufdrei Zeitebenen, die die Substanz der sie durchlaufenden Töne verändern,ermöglichen neue Farbvarianten."

Damit ist das Prinzip der Serialität, das Arnold Schönberg nur auf denParameter der Tonhöhe bezogen hat, um drei weitere Parameter erweitert:Dauer, Anschlagsart und Dynamik eines Tones sind derselben gesetzmäßi-gen Ordnung unterworfen wie seine Höhe. Streng genommen kommt sogar~oCh ein ftinfter Parameter mit ins Spiel, denn die Lage, die auf das Rei-~nmatenal der Dodekaphonie keinen Einfluß ausübt, wird bei Messiaen

e enfalls zum eigengesetzlichen Parameter erhoben.

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Voici le mode:

6'-~--T---,---',-- ;;; _~·"V ~)ie "n:#f 'f~~

PPPPPP ff f mf ff f mf ff pp ff p(Ja Division lest utilisee dans la portee superieure du Piano)

sf:>

~-- #-e------" q;;'---"" _ .•••••••.

9p ~t"b@1i J J 'I I ?; L g F ~Ir :0' 1 !- - - • ~o! ij-' ~-,__"J. ijl;l _ IIQ' =i

ff 11If tiif P pp p p--p f f f f

(Ja Division 11est utilisee dans la portee mediane du Piano):>

~ , b~~~~.D ijrqJ. ijJQ§Ji ?: L r r Re ij;;d{ > J s ! nff ff mf pp p.......... f ff mf ff- ;; b'U:--:;,!:&'

ffj ----,(Ja Division III est utilisee dans la portee inferieure du Piano) .fff

11

Jede der drei Ebenen umfaßt also alle zwölf innerhalb einer halbtongeteil-ten Oktave vorkommenden Töne, allerdings in nicht-chromatischer Abfol-ge und auf vier CI + 11),beziehungsweise fUnf (III) verschiedene Lagen ver-teilt. Um die Orientierung zu erleichtern, werden im folgenden die vonMessiaen festgelegten Tonhöhen 1-36 zusätzlich auf die von 1-12 durch-numerierten Tonhöhen einer aufsteigenden chromatischen Skala (c = 1,c# = 2, ... h = 12) bezogen,

Aus der Kombination der vier Parameter ergibt sich fur das Material derdrei Ebenen das folgende Bild:

mf f ff .fff4 5 6 7

,:>

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11(avec l'attaque normale, sans signe, cela fait 12.)

Das Material

Messiaen hat die Parameter wie folgt festgelegt:a) Anschlagsarten

b) dynamische Abstufungenc) Tondauern

Ebene IEbene 11Ebene IIIinsgesamt

d) Tonhähe + Parametera), b) und c)

Ce morceau utilise un mode de hauteurs (36 sons), de valeurs (24 durees), d'attaques(12 attaques), et d'intensites (7 nuances). Il est entierement ecrit dans le mode.

sf sf~~:>:>~:»Attaques:

Intensites: ppp pp p

1 2 3

Sons: Le mode se partage en 3 Divisions ou ensembles melodiques de 12 son.s, s'eten.dant chacun sur plusieurs octaves, et croises entre eux. Tous les ,sons de meme nomsont differents comme hauteur, comme valeur, et comme mtenslte.

Ebene!Valeurs:""" Tonhöhe Messiaens 1 2 3 4 6 81 ~ a 12 ~ (~ I ~ I ~' I ~ I~ gl ete.) 5 7 9 10 11 12

Division I: durees chromatiques dechrom. Tonhöhe 4 3 10 9 8 7 5 2 1 11 6 12I ~' Ir I r"""~I ete.) Anschlagsart 5 5 2 3 12 8 4 12 1 12 1 4

Division 11: durees chromatiq ues de 1 ~ a 12 ~ (~I VTondauer Ebene I 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12Ir I I"""~I etc.) Tondauer Modus 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Division 1lI: durees chromatiques de 1 ~ a 12 ~ (~i r I r' Dynamik 1 1 6 5 4 6 5 4 6 2 6 3Ebene IIAu total 24 durees:

I r"""~I r"""~I (} I r' I Tonhöhe Messiaens 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

--..~'I rg I~ I g' I V I V ~ I V' ID

chrom. Tonhöhe 8 1 11 9 6 5 4 3 2 12 7 101 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 Anschlagsart 11 9 9 5 5 5 5 5 4 4 4 4I j"""~ I j"""~ I r"""V'! j' I Ir'l 0 I o"""~ r ör Irin o' I Tondauer Ebene 11 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12I(llr TOndauer Modus 2 4 6 8 10 12 13 14 15 16 17 1815 16 17 18 19 20 21 22 23 24 DYnamik 6 4 4 3 2 3 3 3 5 5 5 513 14

363362

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Ebene /II

Tonhöhe Messiaens 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36chrom. Tonhöhe 4 3 10 8 7 1 9 6 12 5 11 2Anschlagsart 7 6 4 5 5 4 8 12 1 1 1 10Tondauer Ebene III 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12Tondauer Modus 4 8 12 14 16 18 19 20 21 22 23 24Dynamik 6 6 4 2 3 5 6 4 6 6 7 7

Vor allem innerhalb der Parameter Anschlagsart und Dynamik zeigt derModus eine quantitativ deutlich asymmetrische Verteilung; und zwar fürdie Anschlagsart :

5 (9) 9 ( 2 )1 (5)2 (l ) 6 (l) 10 ( 1 )3 (l) 7 (l) 11 (1)4 (7) 8 (2) 12 (4)

und für die Dynamik:1 (2) 4 ( 6 ) 6 (10)2 (3) 5 ( 7 ) 7 (2)3 (6)

Bei einer übertragung des Modus auf ein Lagendiagram~.(siehe T~b~lle ~)erweist sich die zentrale eingestrichene Oktave als dommierend. SIe 1stdIeeinzige Lage, die mit allen zwölf .Tön~n der chro~atischen S~ala ~edachtwird. Im übrigen zeigt sich auch hier eme asymmetnsche Vertel1ung.

(chrom. Tonhöhe) 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12c4 x xc3 x x x x x x xc2 x x x x xxcl x x x x x x xx x x x x

xx x xc

xC x xxCl x

Tabelle 1,' LagendiagrammI IJ!U

, (' 00,• 1 ,

7 (7 0 0,J , • ) , 7 B ,

, (', "" 1011 1) 14 2526, ,I1Z (1

11Z 15161718192021 27 28 29 Ja , ,

,, (02223 J1 )2

I ,J) )4 J (0

C ,.H" Z (0 0 ,Cl

364

Da einerseits die Verteilung der drei Ebenen auf die drei Notensystemekonsequent beibehalten wird, und andrerseits aufgrund der unterschied-lichen Parameter Tondauer, Anschlagsart und Dynamik aufeinander-folgende Tonhöhen - im Gegensatz zu den Regeln der Dodekaphonie _nicht zu Akkorden zusammengefaßt werden können, ergeben sich inder Textur des Werkes höchstens dreistimmige Zusammenklänge. Jededer drei Ebenen bildet in sich eine absteigende Tonhöhenfolge; die auf-steigenden Bewegungen ergeben sich entweder aus Sprüngen oder Rich-tungsänderungen im Ablauf der Tonhöhen innerhalb einer Ebene, oderaber durch Kombination oder Kreuzung von I, II und III. Diese Material-bedingungen gelten für die gesamte Länge des Stücks; 115 Takte ohnemetrische Vorzeichnung, deren Tondauern allerdings unverändertbleiben: 16/32 für I, 8/16 für II und 4/8 für III. Die Tempovorschrift"Modere" (ohne präzisierende Metronomangabe ) läßt dem Interpretenkeinerlei agogische Freiheit, durch die die subtilen Abstufungen derTondauern verzerrt würden. Die Wahl des Tempos muß gewährleisten,daß jeder der Parameter in seiner Eigenart für den Hörer erkennbar bleibt.(Daß es hier einen gewissen Spielraum des Ermessens gibt, zeigt der Ver-gleich zweier Schallplattenaufnahmen: Yvonne Loriod, die Frau desKomponisten und sozusagen die autorisierte Interpretin seiner Klavier-werke, nimmt als Tempo j'l = ± 120; Michel Beroff, Schüler Messiaens undgleichfalls als authentischer Interpret seiner Musik anerkannt, spielt dasStück im Tempo j'l = ± 144.)

Zwang oder Freiheit?

Angesichts einer derart strengen Organisation sämtlicher Parameter stelltsich natürlich die Frage nach den Grenzen der kompositorischen Freiheit,nach den Möglichkeiten, auf diese einmal festgelegte Ordnung des Mate-rials gestaltend einzuwirken. Untrennbar mit dieser Frage verbunden ist dienach der Materialverarbeitung.

Während die vertikale Zuordnung der Parameter verbindlich festgelegtist, (das heißt, jeder Tonhöhe wird immer dieselbe Tondauer, Anschlags-art und Dynamik zugeteilt) ist die horizontale Abfolge des Modus beliebig.Darin unterscheidet sich Messiaens Serialitätsbegriff wesentlich von demSystem Schönbergs, das einen Reihenton - abgesehen von der Möglich-keit der Repetition - erst dann wieder zuläßt, wenn die Gesamtheitder Reihe durchlaufen wurde. Die horizontale Ordnung des MaterialsgeWährt also eine uneingeschränkte Freiheit, wie sie sich auch aus einerSChematischen Darstellung der Takte 1-10 erkennen läßt (siehe Tabelle 2,Seite 366).

365

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1~ rTabelle 2: schematische Darstellung der Takte 1-10 Tabelle 3

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366 367

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Die horizontale Abfolge des Materials ist zwar durchweg asymmetrisch,gehorcht aber innerhalb bestimmter Abschnitte einer gewissen Eigenge_setzlichkeit. Eine nach Takten aufgeschlüsselte übersicht der Abfolge Von1/1--12, 1I/1-12 und III/1-12 (siehe Tabelle 3) fUhrt dabei zu folgendenErgebnissen:

1) Auf keiner der drei Ebenen wird der Modus in seiner Grundgestalt1-12 verarbeitet; es lassen sich allerdings mehrere Stellen finden, diedas Material (12, oder zumindest 11 der zwölf Tonhöhen) in einer sym-metrisch geordneten Folge präsentieren: 1/24-28; 1/36-39 und, par-tiell imitierend, I1/39-48; I/53-57; I1/58-64; III/61-78; 1/81-85'1I/86-95; und schließlich, nahezu mit der Grundgestalt identisch:1/103-107. Jede dieser Stellen gehorcht einem eigenen Symmetriemo_dell.

2) Als deutlich bevorzugt erweisen sich die Tonhöhen 1-4 jeder der dreiEbenen; sie werden in verschiedenen Kombinationen zwölf- (I), neun-(1I), beziehungsweise viermal (III) im Verlauf des Stückes verarbeitet.

3) Aufsteigend oder absteigend materialidentische Tonhöhenfolgen unter-schiedlicher Länge dominieren gegenüber asymmetrischen Sprüngen;eine Ausnahme bilden hier die Takte 90-98 der Ebene I, wenngleichsich auch hier ein gewisses Symmetrieprinzip erkennen läßt: 1/94-97etwa (2 5 8 11 3 6 9 12) entspricht x + 3 + 3 + 3 und y + 3 + 3 + 3;dasselbe gilt für 1/91-92 (1 4 7 10 2 5 8).

4) Eine Verfahrensweise in den unter 1) - 3) aufgeführten Strukturen, dieeine eindeutige formale Gliederung des Stücks erlauben würde, läßt sichnicht ausmachen. Die Verarbeitung des Materials ist in gewisser Weisealeatorisch (in dem von Messiaens Schüler Pierre Boulez Anfang derflinfziger Jahre festgelegten Sinn; vgl. John Vinton: Dictionary of 20thCentury Music, London 41974, 336 ff.).

Schlußbemerkung

Mit Mode de valeurs et d'intensites war Olivier Messiaen zum eigentlichenVater der Serialität geworden, die er selbst bis zum Orchesterwerk Chrono-chromie (1959/60) immer wieder als Grundlage seiner Musik verwandte. Inder Folgezeit allerdings nahm er von dieser uneingeschränkten Ordnungdes Materials Abstand.

Doch im Schaffen anderer Komponisten blieb die Idee des Stücks bis heutefest verankert, und zwar teilweise so bedingungslos, daß es Anfang dersiebziger Jahre aufgrund der immer komplexer und komplizierter werden-den Ordnungen der Parameter zu einer Krise der Serialität kam, aus ~~rdie sogenannte "Neue Einfachheit" (Steve Reich, Terry Riley, Philip

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Glass) e~enso hervo~ging wie die von zahlreichen Vertretern der jüngstenKompomstengeneratJon vollzogene Rückkehr Zur Tonalität Werke .P· BI' S . WIeIerre ou ez tructur,!s let 11 (1951/52 und 1956/61) oder KarlheinzStockhaus~ns Kreu~sPlel (1951) und Kontra-Punkte (1952/53) wäreno~e M~s~Ia.ens.zwelte Etude de rythme nicht denkbar; Mode de valeurs etd mtensltes ISt eIn Schlüsselwerk der Neuen Musik.

Noten

Mode de valeurs et d'intensites. wurde 1950 unter der Plattennummer D & F 13.494von den EdItIons Durand & eIe (Paris) veröffentlicht; diese Ausgabe liegt auch dervorstehenden Analyse des Werkes zugrunde.

Literatu~

Bou~ez, P.: Musikdenken heute 1 (Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik V). 1963Golea, A.: Rencontres avec Olivier Messiaen. Paris 1960Halbreich, H: Olivier Messiaen. Paris 1980Mari, P.: Olivier Messiaen. Paris 1965Messiaen, 0.: Technique de mon Langage musical. Paris 1944N'Chols, R.: Olivier Messiaen. London 1974Perier, A.: Messiaen. Paris 1979R.everdy M· L'CE . d'Oli',.. uvre pour plano vIer Messiaen. Paris 1978Sarnuel, c.: Entretiens avec Olivier Messiaen. Paris 1967

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Helmut Schaarschmidt

György Ligeti: Atmospheres für großes Orchester ohne Schlag.zeug

SACHINFORMA nON

Partitur: UE 13453, Faksimile der Handschrift LigetisSchallplatte: WER 60 022Entstehung: 1961 als Auftragskomposition fUr den Südwestfunk Baden-BadenUraufftihrung: Donaueschinger Musiktage fUr zeitgenössische Tonkunst, Oktober

1961Dauer: ca. 9 Minuten

Seit der Uraufführung seiner Orchesterkomposition ,Atmosphllfe.s' im Ok.tober 1961 durch das Südwestfunk-Symphonieorchester unter leitung vonHans Rosbaud in Donaueschingen gehört György Ligeti zu den bedeutend.sten Komponisten unserer Zeit. Seine We~ke st~hen bevorzugt auf a~enProgrammen bei Festspielen mit Neuer Musik, er Ist gefragt als Komporust,Lehrer, Autor musikologischer Essays und als Redner. Grund genug ~lso,sich mit dem Komponisten, seinen Ideen, seinen Vorstellungen und semerKompositionsweise intensiver zu befassen.

Bisheriger Werdegang

György Ligeti wurde am 28. Mai 1923 in dem siebenb~gischen StädtchenDicsöszentmarton, dem heutigen rumänischen Tirnavem, geboren. Im nah.hen Klausenburg besuchte er die Schule bis zum Abit~r (1941) und stu.dierte am dortigen Konservatorium bei Ferenc Farkas, emem damals,ange.sehenen ungarischen Komponisten. Weitere Studien f~~ten.ihn z~ Pal~·dosa Sandor Veress und Pal Järdänyi nach Budapest. Ahnlieh wie Bar.tokunte~nahm auch ligeti ausgedehnte musikethnologische Re~se~. So zelc~:nete er z. B. im heutigen Rumänien einige hundert siebenburgJsch-ungansehe Volkslieder auf, die er später als Kompositionsgrundlage nutzte.

Von 1950 -1956 war er Dozent ftir Harmonielehre, Kontrapunkt un~ mu·Z . U ternchts-sikalische Analyse an der Budapester Musikhochschule. wel n h

werke zur klassischen Harmonielehre, die er damals schrieb, finde.n n?crt. Ob hl tlich onentleheute allgemeine Verwendung ill Ungarn. wo, wesen 'r nen

an Bart6k und Strawinsky, bis 1956 eine große Zahl von Ko~posl 10 ndwI'e Kantaten Chöre lieder, Klavierstücke, Volksliedbearbeitungen U1~er

" . . Ib nige seOrchesterwerke entstanden waren, erachtete ligetl se st nur w~. ,sechSdamaligen Werke für wert, veröffentlicht zu werden. Dazu geharen

370

Bagatellen' für Bläserquintett (1953), die Chorwerke ,Ejszaha' (Nacht)und ,Reggel' (Morgen) 1955 und das Streichquartett ,Metamorphoses noc-turnes' (1953/54). Dies sind allerdings Werke, die in der kulturpolitischenSituation Ungarns vor dem Aufstand 1956 keine Chance hatten, akzeptiertund damit aufgeflihrt zu werden. Ungarn war von der avantgardistischenMusikentwicklung bis dahin abgeschnitten. So erzählt Ligeti später einmalin einem Gespräch: "Ich hörte, aber erst später, 1952/53, daß elektro-nische Musik existiert, daß es in Amerika einen Cage gibt, und was ermacht ... Das waren so, ich möchte sagen, Floskeln von Nachrichten ...Und da hatte ich die ersten Vorstellungen einer statischen Musik. Vorstellungen, so wie ich sie später in ,Atmospheres' realisierte, hatte ich elfJahre davor fast schon genau so, aber ich konnte sie nicht realisieren".(Zitiert nach: György Ligeti: Festschrift zum 60. Geburtstag, Mainz 1983,ohne Autor)

1956 emigrierte er aus Ungarn, kam zu Stockhausen nach Köln und arbei-tete zunächst am Studio für elektronische Musik des WDR. Als Resultatseiner Studien veröffentlichte er die zwei Kompositionen ,Glissandi' und,Artikulation'. Danach gab er dieses Medium allerdings wieder auf undschrieb in der Folgezeit fast nur noch ftir traditionelles Instrumentarium.Der Schaffensperiode im elektronischen Studio verdankte er, daß sie ihnzur Auseinandersetzung mit der Klangfläche, dem Charakteristikum seinerTonsprache, flihrte.

Ab 1959 lebte Ligeti hauptsächlich in Wien, erlangte 1967 die österreichi-.sehe Staatsbürgerschaft und befand sich oft auf Reisen. So leitete er Kom-positionskurse in Darmstadt, Madrid, Bilthoven, Essen, Stockholm undJyvaskyla in Finnland. 1973 nahm er eine Professur für Komposition inHamburg an der dortigen staat!. Hochschule für Musik an und lebt seitdemabwechselnd in Hamburg und Wien.

Werkanalyse

Entsprechend seiner Abkehr von der elektronischen Musik schrieb Ligeti,Atmospheres' für ein traditionelles großes Orchester ohne Schlagzeug,unterstützt von einem Klavier ftir zwei Spieler, die eher Schlagzeuger alsPianisten sein sollen. Denn Klänge dürfen dem Klavier nur durch Streichender Saiten mittels Jazzbesen, mit Tüchern oder zwei Paar Bürsten weichUnd ohne Ansatzgeräusche abgenommen werden. Die Partitur sieht folgen-de Instrumente vor:

4 Flöten (auch 4 Piccoli), 4 Oboen, 4 Klarinetten (4. auch Es-Klarinette),3 Fagotte, Kontrafagott, 6 Hörner, 4 Trompeten, 4 Posaunen, Tuba,~avier, 14 Erste Geigen, 14 Zweite Geigen, 10 Bratschen, 10 Violoncelli,

l(ontrabässe (1.-3. mit 5. Saite)

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typische Klangräume vorzuschreiben und damit immer neue Klangef-fekte zu gestalten. Der Takt 14 z. B. hat ein Klangspektrum vom Asdes 8. Kontrabasses bis zum Des'" der 1. Flöte. Takt 43 dagegen wirdnur von den 8 Kontrabässen allein getragen, die gleichzeitig die Halte-töne E - F - Fis - G - Gis - Cis - D - Dis zu spielen haben.

4. Formal vermag man 22 Klangfarbenabschnitte zu unterscheiden, dieweich und ohne Pausenzäsur ineinander übergleiten. Diese Abschnitte,in der Partitur nach den Buchstaben des Alphabetes geordnet, sind mitSekundenangaben versehen, die dem Dirigenten des strukturlosen Wer-kes andeuten sollen, wieviel Zeit pro Abschnitt gedacht ist. Dahintersteckt eine Kalkulation des Ausbalancierens der Proportionen: Zukurze akustische Ereignisse werden nicht als statische Gestalt, sondernals Signal verstanden - das galt es zu vermeiden. Andererseits durfteden dynamischen und klanglichen Bewegungsmustern auch nicht zu vielZeit gegeben werden, da sich sonst beim Hörer rasch Ermüdungserschei-nungen einstellen.

5. Befragt, welchen Ausschnitt aus ,Atmospheres' ligeti selbst für be-sonders geeignet halte, eine Klangvorstellung des Stückes zu geben,äußerte er:"Ja, da würde ich eine Stelle gegen Mitte des Stückes vorschlagen, wonach einem tiefen, liegenden gebündelten Kontrabaß-Komplex, einerArt Cluster, fast unhörbar die Streicher einsetzen, also die übrigenStreicher, das gesamte Streichorchester in Einzelstimmen aufgelöst;es sind insgesamt 56 Strei<:herstimmen, und diesen Einsatz hört maneigentlich kaum. Es kommt ganz, ganz weich, es wird noch etwas ver-deckt von den Kontrabässen, und sehr allmählich verschwinden dieKontrabässe, und die übrigen Streicher, zu denen dann später dieKontrabässe wieder im Pianissimo sich gesellen, übernehmen die sehrsanfte Bewegung der einzelnen Streicherstimmen. Diese Stelle wäre ty-pisch für den ganzen Habitus der Musik ..."(Aus: Josef Häusler, Interview mit György Ligeti, in: Melos Jg. 37,1970, S. 496)

6. Neben der klanglichen findet sich in den ,Atmospheres' auch noch einese~antische Ebene. Bei der Komposition des .Stückes ,in memoriam~atyas seiber' hat Ligeti offenbar an die Darstellung einer TotenmesseInnerhalb der Materialsphäre gedacht. Da herkömmliche musikalischeGestaltungsebenen im rhythmischen und melodischen Bereich keineV~rwendung finden können, werden die Berührungspunkte des Hörersnut der tradierten Requiem-Sequenz allerdings eher in den Bereich derAssoziation verwiesen.

T. 25, Violine H, 1 und H, 3,--3--,

374

Ligeti selbst hat dafür das einleuchtende Beispiel des Waldes gege?en:Blätter und Zweige bewegen sich ständig hin und her, aber von weItemvermittelt der Wald ein einheitliches Bild der Ruhe.

3. Als Tonrnaterial wählte Ligeti die temperierte zwölftönige chroma~theSkala. Ein weiteres Mittel, den stehenden Klang lebendig zu gest en,ist, die Frequenzbreite der chromatischen Leiter zu erweitern ode~ ~~verengen, somit den Instrumenten des Orchesters mehr oder wemg

Die Bläser- und Streicherstimmen sind durchgehend geteilt, so daß bis zu70 Systeme übereinander notiert sind. Der ,stehende Klang' entfaltet sichüber 24 Partiturseiten. Taktstriche unterteilen das Werk in 105 Takte. Nachdem Willen des Komponisten sollen sie nur als Mittel der Synchronisationder einzelnen Stimmen und zur zeitlichen Gliederung dienen. In der Par-titur steht dazu: ,Takte im Sinne einer metrischen Pulsation gibt es keine.Daher bedeutet der Taktanfang keineswegs eine Akzentuierung. Das Stücksoll - mit Ausnahme einiger besonders bezeichneter Stellen - völlig ak-zentlos gespielt werden.'

Gewünscht ist also eine ständige Klangfarbenfluktuation, ohne daß Kontu-ren, Rhythmen oder sonstige melodische Strukturelemente in Erscheinungtreten. Die Frage lautet also: Mit welchen Mitteln wird dies von Ligeti er-reicht?

1. Immanente Dynamik .Während z. B. einzelne Haltestimmen innerhalb eines Clusters ein Cres-cendo gestalten, spielen andere zur selben Zeit ein Decrescendo. Drittespielen ein Pianissimo und Vierte ein Fortissimo. Das Ergebnis ist einebewußt organisierte dynamische Ungenauigkeit, die den Klang in sichlebendig hält.

2. Als weitere Methode, den statischen Klang interessant zu gestalten,nutzt Ligeti die Möglichkeit, in den einzelnen Stimmen die Tonor::~ zuverändern. So spielt eine Stimme eine permanente Terz rhythmiSIertaufwärts - eine zweite Stimme die gleiche Terz gleich rhythmisiertabwärts. Somit bewegen sich beide Stimmen, aber der Gesamtklangsteht still (Notenausschnitt Takt 25, Violine 11,1 und 11, 3):

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Die Werkidee bei Ligeti

Als Ligeti 1956 in den Westen kam, war die serielle Kompositionsweiselängst zur Diskussion gestellt. Ligeti, als Außenseiter unbelastet, war es,der darauf hirrwies, daß die aus der Reihentechnik entstehenden Struktu-ren zwar aus der Nähe geordnet und regelmäßig wirkten, aus der Entfer-nung aber mehr und mehr als etwas Zufälliges erschien.en, "dem. An: undAusblitzen des Neonlichtnetzes einer Großstadt vergleichbar: Die eInzel-nen Leuchtkörper werden zwar von einem Apparat genau gesteuert, dieseparat aufflammenden und verlöschenden Lichter aber bÜll.deln sich. zueinem statischen Komplex. In größerer Entfernung verschWImmen dieseLichtkomplexe zu einer noch höheren Einheit, die wieder auf eigeneWeise sinnvoll wird - so auch die Struktur dieser Musik beim mehrmali-gen Anhören: Dann dringt unsere Wahrnehmung ü?ers anf;ing~che Regi-strieren des Zufälligen hinaus, immer weiter vor bis zum AuffInden dergrößeren Zusammenhänge und Proportionen".(Zitiert nach: Ulrich Dibelius: Musik 1945-1965, München 1966, S. 184)

Ligeti geht noch einen Schritt weiter. Er legt dar, daß das charakteristi-sche Moment der Reihe, nämlich ihre Intervallproportionen, dann völlignivelliert werden, wenn Überlagerungen mehrerer vorherbestimmter Rei-henabläufe ein komplexes, für den Hörer kaum unterscheidbares Geflechterzeugt haben. Ligeti hat auch dafür ein plastisches Bild parat: Verknetetman verschiedene farbige Klumpen Plastilin, entsteht ein Gemisch, in demzwar die einzelnen Farbflecken noch erkennbar, das Ganze aber kontrast-los wirkt. Knetet man weiter, verschwinden die Farben und es entstehteine undifferenzierbare graue Masse. "So entsteht innerhalb der Einz~l.strukturen wie auch der gesamten Form ein Zustand der Indifferenz: DieEigenart der einzelnen Intervalle geht verloren, Spannung und Entspan-nung, Dissonanz und Konsonanz unterscheiden sich nicht mehr voneInan.der und sind also nicht mehr existen t."(Zitiert nach: Ulrich Dibelius, ebenda, S. 187)

Einen wesentlichen Anstoß ftir seine neue Kompositionstechnik erhie!tLigeti also aus der Analyse des Zustandes der seriellen KompositionsweI-se. Ihm bereitete das Mißverhältnis von theoretischem Anspruch d~s-freien dodekaphonischen Komponierens' und der tatsäcWichen klangh·~hen Erscheinung ein deutliches Unbehagen. Oder anders ausgedrückt: AuSder Erkenntnis daß die differenzierte Theorie die kompositorischen Resul·tate nivellierte,' zog Ligeti die Konsequenz, die Theorie zu nivellieren, umein differenziertes kompositorisches Resultat zu erreichen.

Mit Ligeti griff also 1961 ein Komponist ins musikalische Geschehe.n ein,. -- slschender einerseits in der Lage war den aktuellen Zustand der zeltgenos

, - "ber ge·Musik zu analysieren und zu formulieren. Zum anderen verfugte er u

376

nügend Kenntnisse und Erfahrungen in allen Fragen der kompositorischenTheorie und Praxis, um selbst handelnd neue Wege gehen zu können. Erentwickelte die Idee des akustischen Stehens. Ligeti begann, in seinen bei-den Orchesterkompositionen ,Apparitions' und ,Atmospheres' die Idee desClusters in subtiler Weise auszugestalten. Ihm genügte nicht mehr ein alea-torisches Ungefähr oder eine determinierte Reihe, sondern er gestalteteden Klangraum als ein Gebilde, das vielfältig angelegt, getönt oder schat-tiert werden konnte.

Er erreichte dies, indem er die Partitur in eine Vielzahl von Einzelstimmenauflöste, die addiert ein beständiges Differenzieren und Fluktuieren desGesamtklanges ergaben. Ligeti selbst nennt dieses verfahren Mikropoly-phonie: "Beim Komponieren '" stand ich vor einer kritischen Situation:mit der Verallgemeinerung der Reihentechnik trat eine Nivellierung derHarmonik auf: der Charakter der einzelnen Intervalle wurde immer indif-ferenter. Zwei Möglichkeiten boten sich, diese Situation zu bewältigen:entweder wieder Zum Komponieren mit spezifischen Intervallen zurückzu-kehren, oder die bereits fortschreitende Abstumpfung Zur letzten Konse-quenz zu treiben und die Intervallcharaktere einer vollständigen Destruk-tion zu unterwerfen. Ich wählte die zweite Möglichkeit. Durch die Besei-tigung der Intervallfunktionen wurde der Weg frei zum Komponieren vonmusikalischen Verflechtungen und von Geräuschstrukturen äußerster Dif-ferenzierung und Komplexität. Formbildend wurden ModifIkationen imInnern dieser Strukturen, feinste Veränderungen der Dichte, der Geräusch-haftigkeit und der Verwebungsart, das Einander-Ablösen, Einander-Durch-stechen und Ineinander-Fließen klingender >Flächen< und >Massen<.Zwarverwendete ich eine strenge Material- und Formorganisation, die der seriel-len Komposition verwandt ist, doch war für mich weder die Satztechniknoch die Verwirklichung einer abstrakten kompositorischen Idee das Wich-tigste. Primär waren Vorstellungen von weitverzweigten, mit Klängen undzarten Geräuschen ausgeflillten musikalischen Labyrinthen."(Zitiert nach: Hans Vogt: Neue Musik, Stuttgart 1972, S. 293)

Mit Ligeti bekannte sich nach der langen Zeit der Dominanz der Dodeka-phonie wieder ein Komponist zum Primat des Ohres. Ihn interessierte derhörbare Klangraum, nicht ein polyphones Geflecht, das nur noch aus derPartitur ablesbar, nicht jedoch hörbar ist. Nicht mehr der akustische WechselVOnEreignissen und Pausen stand im Zentrum seines Komponierens, son-dern die Einheit von Ereignis und Pause. Der Atmosphäre, also der Luft-hülle vergleichbar, wird stets ein Ereignis, ein pausenloses Fortschwingenangestrebt, bei dem, ähnlich wie in Pausen, nur Minimales passiert. Damitsetzte er eine Kompositionsweise fort, die bei Beethovens Pastoralsympho-nie begann, über Wagners Rheingold-Vorspiel zu Debussy führte, aber durchdie Musik der Vertreter der 2. Wiener Schule zunächst verschüttet schien.

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Stilistische Einordnung

Mit seiner Komposition ,Atmospheres' ist Ligeti das Paradoxon gelungen,einen statischen Klang voll innerer Dramatik zu komponieren.

Ligeti predigt kein Dogma, sondern gestaltet nach den Erfahrungen mit derDodekaphonie und der elektronischen Musik mit traditionellen Mittelneine Idee, die sich dem Hörer durchaus erscWießt. Ohne sich anzubiedern,lädt er ihn ein, sich genauer mit dem Werk, seiner Kompositionstechnikund seiner Aussage zu befassen.

Gleichzeitig schreibt er nicht nur für den Hörer, sondern auch für den Mu-siker, der das Stück interpretieren soll. Er schont ihn nicht, sondern ver-langt ihm Virtuosität ab.

,Atmospheres' nimmt eine gewisse extreme kompositorische Position ein.Ein solches Stück läßt sich nur einmal schreiben. Jede Wiederholung der-selben Idee oder desselben Prinzips müßte zwangsläufig ein schales Plagiatzeitigen.

Damit schafft Ligeti mit dieser Komposition ein zweites Paradoxon: Siewirkt befreiend auf die in der Dodekaphonie gefangene Musikszene, führtaber zugleich in eine Sackgasse, weil der in ihr aufgezeigte Weg keine Fort-setzung finden kann. Immerhin demonstrierte das Stück, daß Klangfarbekomponierbar geworden war und, da sie Harmonie, Rhythmik und Dyna-mik vereinnahmt, daß Klangfarbe an die Spitze der Parameterhierarchiegelangen kann.

Literatur

Bo"is, Siegfried: Das kalkulierte Labyrinth. Betrachtungen zur Musik Ligetis, in: Mu-sik und Bildung 7,1975, S. 481 ff.

Dibelius, Ulrich: Reflexion und Reaktion. Über den Komponisten György Ligeti,in: Melos 37, 1970, S. 89

Fabian, Imre: Jenseits von Tonalität und Atonalität. Zum 50. Geburtstag von GyörgyLigeti, in: ÖZM 28, 1973, S. 233.

Floros, Constantin: György Ligeti. Prinzipielles über sein Schaffen, in: Musik undBildung 7/8,1978, S. 484

Frisius, Rudolr Tonal oder postseriell? in: Musik und Bildung 7, 1975, S. 490Häusler, loser Interview mit György Ligeti, in: Melos 37, 1970, S. 496Kaufmann, Harald: Strukturen im Strukturlosen, in: Melos 31,1964, S. 391Lichtenfeld, Monika: György Ligeti oder das Ende der seriellen Musik, in: Melos 39,

1972,S. 74Nordwa//, Ove: Der Komponist György Ligeti, in: Musica 22,1968, S. 173Schneider, Sigrun: Zwischen Statik und Dynamik. Zur formalen Analyse von Ligetis

,Atmospheres', in: Musik und Bildung, 7, 1975, S. 250

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Karl-Heinz Reinfandt

Luciano Berio: Sequenza III per voce femminile (für eineFrauenstimme ) (1965)

Zielsetzung und kompositorische Absicht

Berios Werk ist mehrfach aßalysiert wordenl. Diese Ergebnisse sollen imeinzelnen nicht noch einmal wiederholt werden. Vielmehr wird, davon aus-gehend, versucht, das Werk im Hinblick auf seine kompositorische Beson-derheit, d. h. seine innere Logik sowie seine ästhetische und psycholo-gische Wirkung zu deuten.

Musik der Avantgarde trifft bekanntlich vielfach auf Ratlosigkeit oder stößtauf Ablehnung, oder sie wird als Experiment oder als Kunstübung einigerweniger Eingeweihter angesehen. Letzteres mag ftir bestimmte Bereichezutreffen. Darüber hinaus aber gibt es nicht wenige gerade unter denavantgardistischen Komponisten, die bemüht sind, sich dem heutigenHörer in größerer Breite mitzuteilen, mit ihm zu "partizipieren". LucianoBerio gehört zu den Komponisten, die sich in diesem Sinne wiederholt undnachdrücklich geäußert haben.

Davon ausgehend sei das einleitend formulierte Ziel dieser Untersuchungdurch folgende Fragen präzisiert: Welche Absicht verfolgt der Komponistin und mit seinem Werk? Welche Mittel oder Möglichkeiten verwendet er,um diese Absicht wirksam werden zu lassen?

Berios Absicht erscheint auf den ersten Blick eher unbestimmt oder mehr-deutig. So betont er einerseits den autonomen Charakter seiner Musik undweist andererseits auf ihre dringliche gesellschaftliche Wirkung hin; oderinnerhalb eines Werkes sind detaillierte Hinweise zur Interpretation formu-liert, die aber zugleich die Möglichkeit für individuelle oder situative Ent-scheidungen des Interpreten eröffnen. Eine eingehendere Auseinanderset-zung zeigt aber, daß sich gerade von hierher, von diesen mehrdeutigen oderoffenen Formulierungen her die eigentlichen kompositorischen und künst-lerischen Absichten erklären lassen.

Die einzelnen Äußerungen des Komponisten lassen sich als Teilaussagenoder Teilaspekte eines übergreifenden Zusammenhangs deuten. Wenn sichbeispielsweise das kompositorische Anliegen auf das "reine" musikalischeMaterial, etwa auf die klanglichen Möglichkeiten und Grenzen des Instru-ments oder der menscWichen Stimme richtet, so zugleich auf die Auswei-t~ng der "Grenzen der musikalischen Isolierung-'2, in der Absicht, durcheIne solGhe Grenzerweiterung oder "Grenzüberschreitung"3 in einen direk-

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ten Kontakt mit dem Hörer zu treten: Musikalisches Geschehen und Hörersollen sich dabei nicht als gesonderte Bereiche gegenüberstehen, sonderndirekt aufeinander bezogen werden. Der Hörer soll nicht "die AugenscWießen, um sich musikalischen Träumen hinzugeben: die Situation sel-ber wird ihn dazu aufrufen, an der Aktion zu partizipieren"4. In anderemZusammenhang bezeichnet Berio "Noten einfach nur (als) Symbole derWirklichkeit"S, aber bezeichnenderweise eben als "Symbole", als Zeichen,die über musikalische Einzelheiten in ihrer bloßen Realität hinausweisen.Und von einem Musikstück heißt es, daß dieses "nicht als einzelner Ge-genstand, als isoliertes Kunsterzeugnis aufgefaßt (werden soll), sondernals an einer komplexen und progressiven Umgebung teilhabend"6. Kunstsoll also in ihrer Autonomie zugleich eine darüber hinausweisende Wirkungausüben und damit einen gesellschaftlichen Auftrag wahrnehmen. Berioformuliert: "Jedes bedeutungsvolle Werk (kann) als Ausdruck eines Zwei-fels angesehen werden, als experimenteller Schritt in einen poetischen Pro-zeß hinein, als Bekenntnis zur Notwendigkeit fortwährender Veränderun-gen"? Konkret sieht er diese Möglichkeit u. a. gegeben in einer Erneue-rung des "kollektiven Hörens" im Sinne einer "aktiven, wechselseitigenund geistigen Verbindung ... zwischen dem Hörer und dem neuen Musik-stil, ... den Hörformen, die Musik aus sich selbst fordert"8.

Wie aber wird dieser Anspruch im Werk eingelöst? Wie kann ein autonomkonzipiertes Werk, zumal ein solches der Avantgarde, über sich hinaus ge-sellschaftlich, d. h. bestehende Verhältnisse verändernd, wirksam werden?Stellen "experimentelle Schritte" nicht nur partielle Erkundungen neuerMöglichkeiten dar, und bedeutet Erneuerung des ,,kollektiven Hörens"nicht nur eine momentane Bewußtseinserweiterung, was insgesamt imProzeß von Wiederholung und Gewöhnung letztlich dann doch wiederseinen Sinn verliert? Welche Möglichkeiten und welche Grenzen ergebensich hierbei gerade im Hinblick auf ein Werk der Avantgarde?

Berios Antwort lautet: "Wir alle wissen, daß die Musik den Brotpreis nichtherabsetzen kann, nicht in der Lage ist, Kriege zu beenden und daß sieElendsviertel und Ungerechtigkeit nicht ausrotten kann. Niemals zuvoraber haben verantwortungsbewußte Komponisten einen solchen innerenZwang empfunden, den Sinn ihres Werks und die Gründe daftir im Ver-hältnis zur Tatsachenwelt in Frage zu stellen"9. Für die Kunst ergibt sichdaraus: Sie kann zum einen resignieren oder verstummen. Sie kann sichzum anderen aber auch vor den Problemen in der Welt verschließen odersich in eine Irrealität oder in den schönen Schein zurückziehen. Und Kunstkann schließlich, dieses entspricht Berios Überzeugung, als Frage an sic~selbst und an die Welt ein "Bekenntnis fortwährender Veränderungendarstellen, und zwar mit den ihr eigenen, so verstanden autonomen,

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sich der gesellschaftlichen Vereinnahmung oder Institutionsalisierung ent-ziehenden Mitteln. Mit Entschiedenheit sagt Berio damit jeglicher Funk-tionalisierung von Kunst ab, gesellschaftliche Veränderungen beispielswei-se durch offene politische Agitation bewirken zu wollen.

Zum Höreindruck

Berio geht es in seinem Werk um die unmittelbare Wirkung auf den Hörer,um den lebendigen Austausch mit ihm. Die Musik soll sich in ihrem Im-puls, in ihrer Aussage direkt mitteilen, wobei also immer auch die Möglich-keit verschiedenartiger Reaktionen und Interpretationen gegeben ist. Ausder Sicht des Komponisten gibt es keine eindeutigen Wirkungen oder Ver-haltensweisen, wohl aber die Möglichkeit des adäquaten Dialogs zwischenWerk und HörerlO.

Die Wirkung von "Sequenza III" wurde mehrfach in Analysekursen mitStudierenden sowie im Klassenunterricht mit Schülern unterschiedlicherAltersstufen erkundet. Dabei zeigte sich bei den meisten Hörern eine posi-tive, zumindest interessierte Reaktion. Natürlich wurden auch Fragen ge.stellt, wurde Unverständnis laut, aber nur in ganz wenigen Fiillen Gleich-gültigkeit oder offene Ablehnung.

Die Höreindrücke lassen sich folgendermaßen zusammenfassenll:a) Zunächst wird das Werk mit Überraschung bzw. mit einem gewissen

Befremden wahrgenommen, zum Teil auch als Schock empfunden, her-vorgerufen durch die ungewohnten oder ungewöhnlichen Stimmaktio-nen, durch die "Stimmakrobatik" , durch den plötzlichen Ausdrucks-wechsel sowie durch die Zerstückelung oder "Atomisierung" des Tex-tes.

b) Nach wiederholtem Hören einzelner Stellen verdeutlichen sich die er-sten Höreindrücke zu gegensätzlichen "Gefühlspolen": Freude - Angst,Unruhe - Ruhe, extravertiertes - introvertiertes Verhalten. Es wird hier-bei gleichzeitig das breitgefacherte Ausdrucksspektrum wahrgenommen.

c) Die Stimme wird als "Instrument" charakterisiert und dabei zugleichdie Vermutung geäußert: Der Komponist will demonstrieren, was manmit der Stimme alles anstellen, was man ihr zumuten kann, zu wel.chem Ausdruck sie unter besonderen Umständen in der Lage ist. Indiesem Zusammenhang wird auch auf den experimentellen Umganghingewiesen.

d) Folgende Stimmäußerungen werden unterschieden: konventionellesSingen, Sprechen in unterschiedlichen Tempi, Lachen, Kreischen,Schreien, Flüstern, Wimmern, ferner Husten und Keuchen, sowie zu-

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sätzliches Händeklatschen. Dabei wird auch auf den hohen Schwierig-keitsgrad des Werkes sowie auf die außerordentliche Geschicklichkeitoder Virtuosität der Interpretin hingewiesen.

e) Der Textzusammenhang bleibt unverständlich. Es werden zwar einige"Satzfetzen " z. B. "to build a house", einige Silben und einzelne Lauteherausgehört, ohne daß diese Einzelheiten aber einen "Sinn" ergeben.Dabei wird die Vermutung laut, daß es dem Komponisten mehr auf denAuSdruck als auf einen in Worte gefaßten Inhalt ankomme.

f) Erkannt wird als Besonderheit, daß alle Aktionen oder Details aus demüblichen Rahmen herausfallen, daß sie sich einer eindeutigen Zuord-nung oder einer gewohnten Hörerwartung entziehen, daß das meiste,was man hört, im Grunde paradox, widersprüchlich, widersinnig ist:die menschliche Stimme wird zum Instrument, statt gesungen wirdgehustet, gekreischt etc., statt eines Textes, einer Mitteilung hört manfast durchweg "nur" Silben oder Einzellaute, wobei gleichzeitig künstli-che und alltägliche Stimmäußerungen bunt miteinander kombiniert,"vermengt" sind.

g) Im Hinblick auf die Interpretin wird gefragt, ob es sich hierbei um eineSängerin, um eine Schauspielerin oder um beides zusammen handele.Und die Information, daß die Interpretin zu Beginn "vor sich hinmur-melnd" die Bühne betritt und daß sie ihre Stimmaktionen zusätzlichmimisch-gestisch unterstützt, wirft die Frage nach dem eigentlichenSinn des Werkes auf: ist es ftir den Konzertsaal, ftir die Opern bühneoder für ein Kabarett gedacht? Ist das Werk und seine Darbietung über-haupt ernst zu nehmen, oder handelt es sich hierbei um eine Karikatur?Will sich der Komponist über das Publikum lustig machen, will er esverspotten? Wie sind dann aber die mit äußerster Intensität vorgetrage-nen Höhepunkte, wie die tief innerlich empfundenen Passagen, wie derernste Gesamteindruck, der sich bei wiederholtem Hören mehr undmehr verstärkt, zu erklären?

Zum Text und seiner Verklanglichung

Luciano Berio, geboren 1925 in Oneglia nahe Genua, erhielt den erst~nMusikunterricht bei seinem Vater, einem handwerklich erfahrenen Kir:chenmusiker. Es folgten Studien in Mailand bei Ghedini und Paribe~lsowie ein kürzerer Lehrgang bei Dallapiccola in Tanglewood, USA. SeIt1960 lebt und wirkt Berio überwiegend in den USA.

Auf Berios kompositorisches Interesse am musikalischen Material, aufseinen praktizierenden Umgang mit Musik wurde bereits hingewiesen. Mankann diese handwerkliche Grundeinstellung ohne Zweifel als Folge desUnterrichts beim Vater sowie bei Ghedini erklären 12.

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Interesse am Material heißt bei Berio konkret Erprobung verschieden-artiger Kompositionsstile wie auch verschiedenartiger klanglich-interpre-tatorischer Möglichkeiten. Seine Arbeitsweise als Komponist kann dabeieher "frei und instinktiv" als streng systematisch genannt werden: Musikleitet sich nicht aus der "Anwendung eines Systems" ab, "sondern gele-gentlich (kann sich) ein System als Möglichkeit für die Musik" ergebenl3.Das praktische musikalische Ergebnis hat also vor der Lösung theoretischerProbleme den Vorrang.

Hierfür liefern u. a. die in den Jahren zwischen 1958 und 1969 entstande-nen sieben "Sequenzen" ein Beispiel. Bei diesen Werken ftir unterschiedli-che Besetzungen - für Flöte (1958), Harfe (1964), Frauenstimme (1965),Klavier (1966), Posaune (1966), Viola (1967), Oboe (1969) _ kommt esdem Komponisten darauf an, "verschiedene Typen instrumentaler (undvokaler) Aktionen" zu erproben, die es dem Solisten "erlauben, die Gren-zen seiner musikalischen Isolierung so weit wie möglich auszuweiten"14.

. Die Bezeichnung "Sequenza" bedeutet in diesem Zusammenhang einejeweils in sich geschlossene "Folge" bestimmter instrumentaler bzw.vokaler sowie gestisch-mimischer Aktionen.

Im Werk Berios nimmt die menschliche Stimme, nimmt zugleich dieAuseinandersetzung mit der Sprache und ihrer Lautqualität einen gewich-tigen Platz ein. Das führte zu einer Reihe bedeutender Kompositionen.Neben "Sequenza III" sind hier u. a. zu nennen: "Omaggio a Joyce"für Stimme und Tonband (1958), "Circles" für Frauenstimme, Harfe undzwei Schlagzeuger, auf Gedichte von E. E. CUmrnings (1960), "Epifanie",als Vokalfassung früherer Kompositionen ("Quaderni I und 11"), auf Texteu. a. von M. Proust, J. Joyce, E. Mondale, T. S. Eliot, B. Brecht (1961/65),"Sinfonia" für acht Stimmen und Orchester, auf Texte u. a. von S. Beckettund J. Joyce (1968). Berio hat in diesen Werken vielfältige Möglichkeitender Verklanglichung von Texten erprobt, teilweise auch unter Verwendungelektronischer Techniken15. Insgesamt geht es ihm hierbei um ein "neuar-tiges Verhältnis von Wort und Ton, von Dichtung und Musik". Sprachesoll in Musik überführt bzw. beide sollen im Sinne eines "Gesamtkunst-werks" miteinander vereint werden16.

Sein besonderes Interesse an der menschlichen Stimme hat der Komponistfolgendermaßen geäußert: ,,Alles, was mit der menschlichen Stimme zu-sammenhängt, interessiert mich, sei es nun die natürliche Stimme oder dieStimme im Mikrophon, das Sprechen, die Resonanz, im Kopf, in der Nase,in der Brust und - wie soll ich sagen? - im Uterus"17 Hierftir lassen sichneben musikalischen auch ethnische sowie persönliche Gründe nennen:Renos italienische Herkunft sowie seine enge Zusammenarbeit mit Cathy

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Berberian, mit der er außerdem viele Jahre verheiratet war. Dieser hervor-ragenden Sängerin und Interpretin gerade auch von avantgardistischerMusik hat er eine Reihe seiner interessantesten Kompositionen gewidmet,so auch "Sequenza III".

Textgrundlage dieses Werkes ist ein Gedicht von Markus Kutter:

give me - a few words - for a womanto sing - a truth - allowing usto build a house - without worrying - before night comes.

An diesem Text fallt schon auf den ersten Blick die besondere Zeilenan-ordnung auf, die Aufteilung in semantische Partikel, in "Sprach-Moleküle"(Pousseur). Dadurch ist ein Prozeß eingeleitet, der zugleich die komposi-torischen Mittel bedingt: Die Textanordnung erlaubt ein Vertauschen dereinzelnen Teile, wodurch gleichzeitig der ohnehin eher angedeutete Sinn-zusammenhang parzelliert wird. Dieses Verfahren der Auf teilung und Ver-tauschung läßt sich ausdehnen auf einzelne Worte, Wortsilben und schließ·lich Laute, wobei dann die semantische immer mehr in die phonetischeEbene, Sprache in ihre Lautqualität, in Lautklang und damit in Musiküberführt wird.

Vom Text her, von seiner Anlage und Aussage, ist somit vorgegeben, wasder Komponist dann aufgreift und mit seinen Mitteln realisiert18. DieKomposition stellt dabei also keinen Eingriff von außen dar, keinen will-kürlichen Akt der SprachzertrürnIDerung, der "Dekomposition", auch keinbloßes Experimentieren mit Sprachelementen, schon gar kein äußerlichesTheater, sondern sie ergibt sich aus innerer künstlerischer Logik: Der Textschildert zunächst einen mehr äußerlichen Vorgang, der sich jedoch baldals immer mehrdeutiger oder vielschichtiger erweist: Wer soll die Wortegeben? Was sind das für Worte - Worte der Ermutigung, des Trostes oderder Angst? Wer soll singen (give me ... to sing/oder: for a woman to sing)?Was bedeutet die letzte "Zeile" (before night comes)? Ist mit "Nacht"das Gegenteil von "Tag" gemeint oder aber das Ende des Lebens, derTod? Die Mehrdeutigkeit steigert sich noch, wenn die Zeilen-Tektonikaufgebrochen wird und Textteile vertauscht oder isoliert werden. Undzugleich steigert sich dadurch der Grad an lautlicher Expressivität:Sprachliche Mitteilung geht über in affektiven Ausdruck, Sprechen inSingen und weiter in Stimmaktionen, wie Schreien, Wimmern oderMurmeln.Wie sich dieser Prozeß im einzelnen vollzieht, zeigt der folgende Ausschnittaus der Mitte des Werkes (5. bis 6. Min):

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Ln

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Der Text ist aufgelöst in einzelne Wörter, Silben und Laute sind zum Teilphonetisch, also ,Jautlich" notiert; es wird gesungen (drei- und ftinflinignotiert), gesprochen (einlinig notiert), stimmlos geflüstert oder gehaucht(0 ()----,),unterbrochen von plötzlichem Gelächter (L) oder von Lachsal-ven ( 7 ); die Hände werden zur Einfärbung der Tongebung vor den Mundgehalten (hm), der Ausdruck wechselt auf engstem Raum: frantic (wild) _joyful (freudig) - tense (gespannt) - dreamy (träumerisch) etc.Berio setzt kompositorisch im semantisch-phonetischen Zwischenbereich,am Lautbestand der Sprache an, dort also, wo Sprache in Klang, in Musikübergeht. Sprache und Musik stehen sich also nicht mehr, wie in traditio-neller Vokalmusik, als geschlossene Bereiche gegenüber, sondern hier wirdversucht, "das Wort in den Stand zu setzen, den musikalischen Sachver-halt völlig zu assimilieren und zugleich zu bedingen"19.

Mit diesem für Vokalmusik der Avantgarde charakteristischen Prozeß der"Grenzüberschreitung" hat sich Berio intensivauseinandergesetzt: "Ver.tont" wird nicht mehr ein literarisches Gebilde in seiner Geschlossenheit;sondern "die Zerdehnung und Zerstückelung des Textes hat sich zur Kom.position des Textes selber gewandelt. Der Text allein schon wird ... Musik".Oder: Es werden "alle möglichen Äußerungsformen der menschlichenStimme ... zum Gesang". Diesem ästhetischen Prozeß entspricht zugleichals gleichsam psychologisches Phänomen ein "Ausbruchsversuch aus derBegriffsdressur der Sprache" bzw. eine "Entfesselung der Stimmen vonden Konventionen des Kunstgesangs"20.Von daher ließe sich das Geschehen in "Sequenza III" mit einiger Vorsichtästhetisch und zugleich wirkungspsychologisch folgendermaßen deuten:Text und Musik bedingen einander. Der Text löst den Prozeß der Ver-klanglichung aus, und er wird durch diesen Prozeß gleichzeitig in einerbestimmten Weise interpretiert. Pousseur hat das Geschehen als "eineArt Catharsis" charakterisiert, als überwindung und Gestaltung des All.tagsgeschehens mit den Mitteln der Kunst21. Katharsis bedeutet Reini-gung, Läuterung von Leidenschaften, von traumatischen Erlebnissen durchBewußtmachen und Abreagieren, im Zusammenhang mit "Sequenza III"also Befreiung von Bedrohung und Angst, um zu leben oder zu überleben,"before nigllt comes". Ästhetisch und psychologisch gesehen kann diesesWerk somit in der Tradition des antiken Dramas, darüber hinaus in der Tra-dition von Kunst überhaupt gesehen und gedeutet werden.

Zur Notation und Interpretation

Das Werk ist auf den ersten Blick relativ genau notiert (s. Notenbeispiel).Es finden sich detaillierte Angaben zum Tonhöhenverlauf, zu gesungenenund gesprochenen Passagen, zur Lautbildung bzw. zu vokalen Geräuschak-tionen, wie z. B. schnalzen mit dem Mund ( cP ) oder husten ( t- ) etc. Es

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fal1~n ~e zahlreiche~ Vortragsbezeichnungen auf (bewildered, tender etc.)SOWIed~egenaue~ Ze~tangaben: das 8 Minuten dauernde Stück ist in gleicheAbschnitte von Jeweils 10 Sekunden Dauer unterteilt (Senkrechtstriche).

Es wird zwischen folgenden "vokalen Gesten" unterschieden:- Sing.en und ~tikulie:en: konventionell und verfremdet (z. B. näseln)- GerauschaktlOnen: rmt und ohne Stimmbeteiligung (z. B. husten, mit

den Fingern knipsen)Körperliche Bewegung: mit und ohne Stimmbeteiligung (z. B. Hand vorden Mund halten, hin- und hergehen)22.

Bei dem Versuch, das Werk wenigstens ausschnittweise zu realisieren zu"musizieren", macht man aber folgende Erfahrung: Diese Noten" la;sensi~h ~cht "vom Blatt" singen, nicht nur wegen des Schwi~rigkeitsgrades.DIe eInzelnen Angaben und Zeichen müssen zunächst einmal als Chiffrender kompositorischen Absicht entschlüsselt werden bevor an eine klang-liche Realisati~n gedacht werden kann. Der Interpr~t muß sich dabei mit?em !ext, ~t dem Lautmaterial, mit dem kompositorischen DetailmtensIV ausemandersetzen, und hierbei tritt er mehr und mehr aus seinersonst. übli~~en Vermittl~rrolle heraus und wird zum eigentlichen Nach-"Schopfer des Werkes, 1m Idealfall in gemeinsamer Arbeit mit dem Kom-ponisten, wie bei der Uraufführung zwischen Berio und Cathy Berberian~uch. geschehen. Das be~eutet aber, daß der Komponist und der InterpretJew~~s aus der PerspektIve des anderen denken müssen, um das Werk zurealisIeren, daß zwischen bei den ein temporärer Rollenwechsel stattfmdet.

Hinzuko~mt als. weit~re Besonderheit: Bei aller Genauigkeit der Notationwerden EInzelheIten In der Ausführung vom Komponisten offengelassenb.zw. dem Interpreten überlassen. Pousseur hat diese Art der NotationeIn~rseits "unbestimmt", andererseits "elastisch" genannt, dem Lautma-tenal und seiner Realisation angepaßt23.

Diese Offenheit ist vom KompOnisten bewußt eingeplant. Damit wird demI~terp:eten die ~öglic?k~it für. individuelle und situative EntscheidungeneIngerau~t. .S~ wIr~ beIspIelsweIse zur gesanglichen AUSführung angemerkt:,,~~f dreI Llmen SInd bloß Relationen der Tonlage angegeben '" Auf fünfLlmen werden präzise Intervalle notiert, aber ihre Tonhöhe ist nichtabsolut ~emeint: jede Intervallreihe kann in die jeweils günstige Stimmlagetrans~oruert werden". Und noch deutlicher wird diese Absicht im Hinblickauf ?Ie Art des Vortrags: Der Interpret (die Interpretin) soll die Hinweisebewildered, tender etc. "einfach auf sich wirken lassen als unwillkürlicheSteuerung ihrer Körperhaltung und ihres Singens ..." Die Hinweise müs-~en von je~er Kün~tleri~ selbst erprobt werden, je nach ihrer eigene~ Ge-D~s:V~lt, ~er sttm~lichen ~endigkeit und ihrer ,Dramaturgie' "24.

mIt 1st dIe Interpretm selbst In den kompositorischen Prozeß integriert.

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Im Zusammenhang mit der Verklanglichung des Textes wurde die vomKomponisten beabsichtigte "Grenzüberschreitung", die Überführung derSprache in Musik und die daraus sich ergebende psychologische, die ka-thartische Wirkung verdeutlicht. Dieses Geschehen findet seine Entspre-chung in der Wahl der interpretatorischen Mittel.

Auf den Rollenwechsel zwischen Interpret und Komponist, damit auf diedirekte ,Partizipation" des Interpreten am kompositorischen Prozeß WUr-de soeben hingewiesen. Dieser Prozeß der Partizipation beschränkt sichjedoch nicht auf das Werk und seine Darstellung, sondern er bezieht denHörer mit ein.

Bezeichnend hierftir ist der Anfang, wenn "die Künstlerin (Sängerin,Schauspielerin oder beides) die Bühne vor sich hinmurmelnd betritt, alsdächte sie gar nicht an ihren Auftritt". Die Interpretin tritt also von vorn-herein aus ihrem gewohnten Rollenfach heraus und läßt dabei zugleich dasvom Zuhörer bzw. Zuschauer erwartete Ritual des Auftritts hinter sich("als dächte sie gar nicht an ihren Auftritt"). Und der Aufführungsort wei-tet sich über die einengenden Grenzen des Konzertsaales, der Oper oderdes Theaters mit den jeweils entsprechenden Verhaltensweisen aus undwird zur "Bühne" fUr alles zusammen, wie die Interpretin ja auch "Sänge-rin, Schauspielerin oder beides" ist.

Durch diesen im eigentlichen Sinne unkonventionellen Beginn wird überden formalen Akt der Eröffnung hinau~ die durch das Werk beabsichtigteWirkung deutlich: Der Zuhörer soll durch die Mittel der Überraschungbzw. der Verfremdung aus seinen üblichen Hörerwartungen herausgehobenund dem akustisch-szenischen Geschehen unmittelbar gegenübergestelltwerden. Von hierher findet Berios eingangs zitierte Aufforderung an denHörer, beim Anhören der Musik nicht zu "träumen", sondern vielmehr "ander Aktion zu partizipieren", in einen direkten Kontakt, in einen Dialogmit dem Werk zu treten, ihre Erklärung (vgl. die Einleitung).

Das Werk selbst ist vom Komponisten nicht als in sich abgeschlossenes, ein-maliges Artefakt mit Ewigkeitswert gedacht, dieses würde Berios künstle-rischer Grundüberzeugung im Kern widersprechen, sondern es lebt viel-mehr von den individuellen Voraussetzungen der Interpretation sowie vonder besonderen Aufführungssituation und damit gleichzeitig von der Be-reitschaft des Hörers, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Wenn diese Be-reitschaft fehlt, wenn der Hörer also nicht gewillt ist, sich aus tradiertenHörgewohnheiten herausheben zu lassen, um an der "Aktion" und ihrerWirkung teilhaben zu können, dann gleitet die Interpretation ins Lächer-liche oder Verrückte ab, und damit wird gleichzeitig die eigentliche Bedeu-tung des Werkes als "Schritt in einen poetischen Prozeß" der Veränderunghinfillig.

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Anmerlcungen

1 "Sequenza 1.11"is.t als Scha/lpl~ttenallfnahme erschienen im Wergo Schallplatten-verlag, StudIO-Reihe Neue Musik 60021. Eine vollständige Aufnahme findet sichferner auf dem Tonband 2 zu dem Unterrichtswerk Sequenzen, Musik Sekundar-stufe I, Stuttgart, Klett, 1972.

Die Noten des Werkes sind erschienen in der Universaledition, Wien, unter Nr.13723, ferner in den Materialien zur Musikgeschichte für die Sekundarstufe IIhg. von Meierott, L. und Schmitz, H.-B., München, Bayerischer Schulbuch-Ver~lag, 1983, S. 255-257.Vorliegende Werkanalysen:Gruhn, W., Luciano Berio: Sequenza III (1965), in: Zimmerschied, D. (Hrsg.),Perspektiven Neuer Musik, Mainz 1974, S. 234 ff.~opfinge~, Kl.: Lautfelder und kompositorisches Geftige bei Luciano Berio, in:Uber Musik und Sprache, Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik undMusikerziehung Darmstadt, Bd. 14, hg. von Stephan, R., Mainz 1974, S. 51 ff.Remfandt, K.-H.: Zur Begründung unterrichtlicher Entscheidungen _ am Bei-spiel von "Sequenza IU" von Luciano Berio, in: Praxis des Musikunterrichts,hg. von GundIaeh, W. und Schmidt-Brunner, W., Mainz 1977, S. 134 ff.

2 Pousseur, H.: Textbeilage zur Plattenaufnahme.3 Der Ausdruck "Grenzüberschreitung" ist übernommen von Gruhn, vgl. Gruhn, W.,a. a. 0., S. 244.

4 Berio, L.: Musik und Dichtung - eine Erfahrung, in: Darmstädter Beiträge zurNeuen Musik 1959, hg. von Steinecke, W., Mainz 1959, S. 44.

5 Berio, L.: Meditation über ein Zwölftonpferd, in: Melos 1969, S. 295.6 Berio, L.: Meditation über ein Zwölftonpferd, a. a. 0., S. 295.7 Berio, L.: Meditation über ein Zwölftonpferd, a. a. 0., 294.8 Zit. nach Häusler, J.: Textbeilage zur Plattenaufnahme.9 Berio, L., Meditation über ein Zwölftonpferd, a. a. 0., S. 294.

10 Dibelius, U.: Moderne Musik 1945-1965, München 1966, S. 178.11 Vgl. Reinfandt, K.-H.: a. a. 0., S. 138.12 Dibelius, U.: a. a. 0., S. 175.13 Zit. nach Häusler, J.: a. a. O.14 Pousseur, H.: a. a. O.

15 Ein zusammenfassender Überblick findet sich in: Kropfmger, Kl.: a. a. 0., S. 55.16 Berio, L.: Musik und Dichtung ... , a. a. 0., S. 37.17 Pinzauti, L.: Ich sprach mit Luciano Berio, in: Melos 1970, S. 179.18 Eine ausführliche Textanalyse zum Werk findet sich in: Gruhn, W.: a.a.O., S. 234 ff.19 Berio, L.: Musik und Dichtung ..., a. a. 0., S. 37.20 Vgl. hierzu Häusler, J.: Einige Aspekte des Wort-Ton-Verhältnisses, in: Die Musik

der sechziger Jahre, Veröffentlichungen des Instituts ftir Neue Musik und Musik-erzi~hung, Darmstadt, Bd. 12, Mainz 1972, S. 73; Killmayer, W.: Sprache alsMusik, m: M.elos 1972, S. 41 (diese Ausführungen sind auch nachzulesen in:Musik und Bildung 1972, S. 573); Schnebel, D.: Sprech- und Gesangsschule, in:Musik und Bildung 1972, S. 559.

21 Pousseur, H.: a. a. O.

22 I~ den Materialien zur Musikgeschichte U fmdet sich die vollständige Übersichtsamtlieher Vortragshinweise, a. a. 0., S. 252 ff.

23 Pousseur, H.: a. a. O.

24 Zit. nach Materialien zur MUSikgeschichte I1, a. a. 0., S. 252 f.

389

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R

391

u1 7 3 10 12 9 2 11 '6 4 8 57 11 10 12 9 8 1 6 5 3 2 43 10 1 7 11 6 4 12 9 2 5 8

10 12 7 11 6 5 3 9 8 1 4 212 9 11 6 5 4 10 8 2 7 3 19 8 6 5 4 3 12 2 1 11 10 72 1 4 3 10 12 8 7 11 5 9 611 6 12 9 8 2 7 5 4 10 1 36 5 9 8 2 1 11 4 3 12 7 104 3 2 1 7111 5 10 12 8 6 98 2 5 4 3 10 9 1 7 6 12 115 4 8 2 1 7 6 3 10 9 11 12

, 111~ 2 3 4 5 6 7 8 9 10 I1 12eI!!I #Ii qli S •• I••

Cfe #" •• Ci

IlI. Das Material von Structures I

1. Die Tonreihe: Sie enstpricht der Tonfolge der Division I von Messiaens"Mode de valeurs et d' intensites" und ist als Tonqualitätsreihe zu verste-hen, d. h. die Lage der Töne im Raum ist nicht festgelegt.

Allgemeine Aussagen über ein Werk ergäben sich erst nach dem Studiumder morphologischen Strukturen: " ... wenn man diese erste Ebene auf dieGesamtstruktur ausdehnt; '" ihre gegenseitigen Beziehungen untersucht,... wenn man nach und nach verallgemeinert, kann man zur Beschreibungder eigentlichen Gestaltwerdung eines Werkes kommen" (Boulez, 1972, 67).

Im folgenden mögen diese Gedanken von Boulez den Leser dazu anregen,über die morphologischen Strukturen hinausgehend, zu einem größtmög-lichen Verständnis von "Structures I" zu gelangen; eine befriedigende Deu-tung ist in diesem Rahmen nicht möglich.

Wie in der Dodekaphonie kann die Reilte in den bekannten 48 Erschei-nungsformen (Grundreihe, Umkehrung, Krebs, Umkehrung des Krebses)auftreten. Details zur Tonreilte von Boulez, vor allem bezüglich der Inter-vallfolgen, bringt Ligeti (Ligeti, 1958, 39).

2. Die Dauernreihe: Es handelt sich um eine arithmetische Reilte von 1 ~bis 12 Ji , die ebenfalls von Messiaen übernommen ist. Die 48 Erschei-nungsformen der Tonqualitätsreihe ordnete Boulez in zwei Zahlenqua-draten an (Ligeti, 1958,40):

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 122 8 4 5 6 11 1 9 12 3 7 103 4 1 2 8 9 10 5 6 7 12 114 5 2 8 9 12 3 6 11 1 10 75 6 8 9 12 10 4 11 7 2 3 16 11 9 12 10 3 5 7 1 8 4 27 1 10 3 4 5 11 2 8 12 6 98 9 5 6 11 7 2 12 10 4 1 39 12 6 11 7 1 8 10 3 5 2 410 3 7 1 2 8 12 4 5 11 9 611 7 12 10 3 4 6 1 2 9 5 812 10 11 7 1 2 9 3 4 6 8 5

I. Vorbemerkung

Die Komposition "Structures. premiere livre. a 2 pianos a 4 mains" ent-stand 1952 (Universal Edition London 1955 Nr. 12267). Das Stückbesteht aus drei Teilen (Ia = 3,5'; Ib = 8,5'; Ic = 2') und stellt ein wichtigesBeispiel für den strengen Serialismus Anfang der 1950er Jahr~ d~r. NachG. Ligetis ausführlicher musiktheoretischer Analyse von Ia (LlgetI, 1958)und R. Fuhrmanns u. a. auch didaktisch orientierter Arbeit an Ia (Fuhr-mann, 1974) ist hier folgendes beabsichtigt:a) kurz an Gedanken von Boulez zu Form und Analyse im Blick auf seriel-

les Komponieren zu erinnern,

b) eine knappe Analyse von Ia zu geben, die nicht nur Rekapitulation dervorliegenden ist,

c) eine Kurzanalyse von Ic vorzustellen, um unterschiedliches komposito-risches Vorgehen von Boulez aufzuzeigen.

Zur Vermeidung von unnötigen Wiederholungen werden manche Detailsund Anschauungshilfen entfallen; der Leser möge o. g. Literatur und denNotentext in jedem Falle heranziehen.

11.P. Boulez: Form und Analyse

Boulez wünschte sich die Form seiner Komposition dergestalt, daß sie inder Zeit selbst erlebt würde: " ... und nicht in einer Zeit, die sich als Zeit.raum begreift, dem sichtbaren Raum vergleichbar, wobei die Erinnerungdie Rolle des Auges spielt, das einen bestimmten Blickwinkel einnimmt"(Boulez, 1972, 73). Angesichts dieser Vorstellung gewann die Analysebesondere Bedeutung. Wichtig war dabei der Terminus "Klangphänomen",mit dem er ein bedeutsames musikalisches Ereignis bezeichnete: "EineAnalyse darf nicht die diversen Aspekte des Klangphänomens in unter.schiedlicher Beleuchtung untersuchen, sie muß die verschiedenen Kompo'nenten im Inneren des Werkes aufzeigen, die zu seiner Realisation beitra.gen" (Boulez, 1972,64 f). Komponenten sind nicht Einzelfaktoren, "diesich in ungeheuer wirklichkeitsferner Addition aneinanderftigen, man mußsie vielmehr als vektorielle Komponenten sehen, welche in ihrem vekto.riellen Zusammenwirken eine Resultante ergeben" (Boulez, 1972,65).Der physikalische Begriff "vektoriell" zeigt an, daß die Komponen~en alsTeilkräfte zu verstehen sind, die im Kompositionsgeftige eine besttrnrnt~Richtung und Wertigkeit in jener vorgeschriebenen Richtung haben. Beleiner Analyse sollte man so vorgehen, "daß das Werk nicht als aufgestellteBilanz erscheint, sondern als Ableitung von Strukturen" (Boulez, 1972,66).

UrsulaEckart-BäckerPierre Boulez: Structures I pour 2 pianos

390

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i> 120 I J1l44 : - : - @ 1}1 144 ' - I J', 1201 8 ),144 ~ J',144 I }\120 I J>120 I

10 11

Ablauf einer 12-Ton-Reihe gemeint (Ligeti, 1958, 46). Während sich die48 Rf. durch je unterschiedliche Tonhöhen- und Dauernfolgen auszeich-nen, bleiben die Artikulation und die Dynamik pro Rf. konstant, d. h.jeder Ton der Reihe ist von jedem anderen nur durch zwei Parameterunterschieden. Die Rf. sind im musikalischen Ablauf der 115 Takte unter-schiedlich dicht geführt, aber jeweils so gebündelt, daß sie in KI. I und KI.11 gleichzeitig beginnen und enden. Es ergibt sich eine Dichte von derEin- bis zur Sechsstimmigkeit. Durch diese Art der Bündelungen wirdeine klare Gliederung des Stückes in 14 Abschnitte (a 78 Jl ) erreicht.

Drei Tempi - /1120, J', 144, ;. 120 - werden im Satz in folgender Anord-nung verwendet:

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

1'. 120 I 1'. 1441111201 j) 1441 j) 1201). 120 11'.144 l.h 120 11'.144 I). 120 '.h 120 I

393

Die Tempowechsellassen 11 Abschnitte erkennen, die sich qualitativ undquantitativ unterscheiden: je viermal J', 120 und J', 144, dreimal )j 120.Eine besondere Bedeutung kommt dem Tempo J', 144, vor allem im 1. Teildes Satzes zu (s. u.).

2. Das Tempo in der Gestaltung: Das Tempo J1 120 kehrt am Anfang, in derMitte und am Ende, aber ohne symmetrische Exaktheit wieder. Die Tem-poabschnitte (= TA) 1-5 stellen unter qualitativem Aspekt eine symmetri-sche Struktur dar (Spiegelungspunkt ist TA 3: ;. 120), zu der die TA 7-11qualitativ analog sind: je 5 Tempowechsel, in denen zweimal die TempiJl 120 und j) 144 und einmal das Tempo;' 120 in unterschiedlicher zeit-licher Ausdehnung und Reihenfolge enthalten sind. Der Ablauf des Stückesläßt also zwei große Abschnitte zu beiden Seiten eines Mittelstücks (Jj 120)erkennen. Im Gesamtablauf wird diese Gliederung durch Verflechtung mitzwei weiteren Strukturgestalten verdeckt: die TA 5-11 stellen qualitativeine symmetrische Struktur dar (Spiegelungspunkt ist TA 8: )\ 120), wäh-rend die TA 1-8 sich nur qualitativ als Einheit begreifen lassen (Mittel-punkt ist TA 4 + 5: /1 144 + )) 120); beide Strukturen verzahnen dieZunächst offenkundige Zweigliedrigkeit zu einem lückenlosen Gewebe.

So sind im Ablauf des Stückes verschiedene Gestalten der KomponenteTempo miteinander verflochten. Die einzelnen Tempi haben in dieser Tex-tur unterschiedliche Wertigkeit - vor allem J', 144, das im 1. Teil desStückes zunächst drei Abschnitte, danach zwei zu einem größeren Kom-plex zusammenfaßt:

>>

12

8sfi1:\

9

3 121"\

1"\ ,

6 11

normal

12 111"\ -;-

7 11 11 5 5 11 11 7 7 12

mß .Iff .Iff quasi P quasi p f.ff .Iff mf mf.ffff

>

7

mf

R2: 2 8 4 5

5 11 3norm. norm. -;-

12

.fff.f

deren serielle Anordnung spiegelbildlich zu den Dynamik-Werten in denZahlenquadraten geregelt wurde; z. B. lautet die einfachste Artikulations-reihe:

4. Die Artikulation. Die Anschlagsarten ordnete Boulez unabhängig vonMessiaen. Er schuf eine Skala von 10 Werten,

Auf die Problematik dieser Art der Material-Determination, z. T. auch aufWidersprüche mit grundsätzlichen überlegungen zu seriellem Denken gehtLigeti ausführlich ein (Ligeti, 1958,41 ff.). Für eine Analyse von Ia ist dasWissen um diese Problematik nicht unbedingt erforderlich, wohl aber,wenn eine Einführung in die Prinzipien von strengem Serialismus in derMusik der 1950er Jahre beabsichtigt ist.

Die serielle Anordnung wurde ebenfalls durch die Zahlenquadrate geregelt,die Boulez diagonal durchschritt, wobei mitunter auch 6er-Reihen addiertwerden mußten; z. B. lautet die einfachste Intensitäten-Reihe:

3. Die Intensitäten: Die von Messiaen für "Mode" gewählte Skala weiteteBoulez auf 12 Werte aus:

pppp - ppp - pp - p - quasi p - mp - mf - quasi f ~f - ff - f.ff-.fff.f

Aus ihnen sind ebenfalls die zur Verfügung stehenden 48 Dauernreihenleicht ablesbar; z. B.lautet die Dauernreihe R2:

392

IV. Die Komposition Ia

Da der Teil Ia leicht durchschaubar komponiert ist, soll er zuerst betrach.tet werden.

1. Übersicht: Das Stück Ia, in dem die beiden Klavierparte (= KI. I und Kl.11) völlig selbständig komponiert sind, ist aus 48 verschiedenen zweifachdeterminierten Reihenfaden kompOniert; mit Reihenfaden (= Rf.) ist der

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3. Die Dichte in der Gestaltung: Die 6 Dichtegrade wechseln im Gesamtab-lauf - bis auf eine Ausnahme - analog den 14 Abschnitten z. T. kontra-stierend, so daß dieser Parameter zu einer bewegenden Kraft wird.

)l 144

)l 120

)I 120

10 11 12 J3 14

Tempo% • Dichte

Eine Betrachtung von Tempoverlauf und Dichte (s.o.) läßt 4 Abschnitteerkennen: TA 1-2: fast gleichbleibend hohes Tempo und mittlere Dichte;relativ durchsichtiges Klangbild. TA 3-7: extreme Tempo- und Dichte-unterschiede; permanente Abwechslung. TA 8-9: hohes Tempo undmäßige Dichte; vergleichbar dem Anfang. TA 10-11: Tempo und Dichtenehmen sprunghaft zu; Stretta-Effekt.

4. Die Dynamik in der Gestaltung: Von den 12 festgelegten Intensitäts-graden ordnete Boulez im Verlauf jedem neuen Rf. entsprechend der zu-grundeliegenden Gesetzmäßigkeit (= Diagonale in den Zahlenquadraten)jeweils einen anderen Wert zu. Eine Ausnahme findet sich in Kl. TI vom3. - 6. Abschnitt (T. 16-45: je 1 Rf. quasi f) sowie in den Abschnitten11 und 12, in denen in Kl. I und Kl. 11 die Dynamik konstant bleibt(T. 82-97: f, mf, mp, ppp), so daß insgesamt 13 unterschiedliche Dy-namikabschnitte existieren.

Während die Dynamik in TA 1-6 häufig bei zwei oder auch drei parallelgezogenen Rf. gleich ist, findet sich im weiteren Verlauf nur im letztenAbschnitt gleiche Dynamik in zweimal zwei Stimmen (T. 106-115:2 Rf. = pp, 2 Rf. = pppp).

So ist der 1. Teil durch deutlich erkennbare dynamische Kontraste imhorizontalen Ablauf und im vertikalen Klangbau charakterisiert, währendder dynamisch differenzierter gestaltete 2. Teil dynamisch homogener und

394

ruhiger wirkt, was u. a. natürlich auch auf das FeWen hoher Intensitäts-werte zurückzuflihren ist.

5. Die Artikulation in der Gestaltung: Die Artikulation bleibt in einigenAbschnitten während zwei oder auch drei aufeinanderfolgenden Rf. gleich(z. B. T. 1-15) und wirkt im horizontalen Ablauf vereinheitlichend. Über-dies gibt es u. a. innerhalb einzelner Abschnitte gleiche Artikulationsstufenftir parallel gezogene Rf. (z. B. T. 48-56: 3 Rf. = ». Beide Konstruktions-prinzipien zur Vereinheitlichung im horizontalen und vertikalen Klangge-schehen finden sich verstärkt im 2. Teil.

6. Tonhöhe und -dauer in der Gestaltung: Im Blick auf die Parameter, diesich von Ton zu Ton ändern und den Rf. ihre individuelle Gestalt geben,ist zu bemerken, daß sich die TA 1-5 und 6-11 in der Verwendung derTonqualitätsreihen unterscheiden. Der 1. Teil bringt Reihen in der Grund-gestalt und in der Umkehrung, während der 2. Teil die Reihe als Krebs undUmkehrung des Krebses erklingen läßt.

Die Dauernreihen, die entsprechend den Ziffernfolgen in den ZaWenqua-draten gebildet werden, sind flir den 1. Teil aus Formen des Krebses unddei Umkehrungen des Krebses genommen, und flir den 2. Teil aus Umkeh-rungs- und Grundreihen-Formen. Die Selbständigkeit von Kl. I und Kl. 11ist vollständig nachzuweisen. Boulez verfolgte also in der Tonhöhengestal-tung und in den Regelungen der Dauern ein Ergänzungsprinzip: alle 48Tonqualitätsreihen und alle 48 möglichen Dauernreihen wurden in la beiden 48 Rf. verwendet.

V. Zusammenfassung von Ia

1. Die Verwendung der Tonqualitäts- und Dauernreihen läßt eine Zwei-teiligkeit im Ablauf erkennen, an der die anderen Gestaltungsmittelaber keinen Anteil haben.

2. Tempo, Dichte, Dynamik und Artikulation sind Gestaltungselemente,an denen sich der Hörer orientieren kann, weil sie - im Unterschied zuTonhöhe und -dauer - jeweils über eine längere Strecke (mindestens1 Rf.) konstant bleiben und z. T. auch bei parallel gezogenen Rf. kon-stant sind.

3. Das Tempo ist die stabilste Komponente (= 11 TA); es bleibt in dendurch Dynamik und Dichte bewegten Abschnitten 2 und 4 über 24bzw. 17 Takte konstant und schafft Zusammenhang.

4. Die 11 TA und die 14 Rf.-Abschnitte sind individuell gestaltet: es gibtkeine WiederhOlungen.

5. Tonqualitäts- und Dauernreihen wurden nach einem Prinzip der Ergän-Zung zur vollständigen Auswertung des aufgestellten Materials gestaltet.

395

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Das Ergänzungs- bzw. Ausgleichsprinzip ist wie folgt vorhanden: In beidenKlavierparten ist die Menge 12 intendiert bzw. die verwendeten Parameterwerden jeweils ausgleichend-ergänzend behandelt (s. u.).

Kl. 1: Die Tonqualitätsreihen von sieben Rf. folgen Grundreihen- undKrebs-Formen, während die restlichen fünf Rf. Formen der Umkehrungund Umkehrungen des Krebses darstellen. Sieben Rf. sind durch einekonstante Dynamik ausgezeichnet, während die Artikulation stets wech-seIt; die restlichen fünf Rf. weisen konstante Artikulation pro Rf. undstets wechselnde Dynamik auf. Je sechs Rf. haben Dauern aus dem 1. bzw.dem 2. Zahlenquadrat und wurqen in der Horizontalen bzw. in diagonalemVerlauf aus den Zahlenquadraten gewonnen.

Die Tonqualitäten sind so geregelt, daß Kl. I die vier Reihengestalten nach-einander in je drei unterschiedlichen Formen bringt (Grundreihe, Krebs,Umkehrung, Umkehrung des Krebses). Ihnen sind sieben Dauernreihen mitkonstanten Dauern (6 ~ , 9 ~ , 2 ~ ,7ft, 8 ~, 2~, 5~) und fünf her-körnm1ich gefundene Dauernreihen zugeordnet.

Der Part in Kl. 11 ist analog zu Kl. I gebaut - nur in umgekehrter Aufein-anderfolge der Reihengestalten. Den Tonqualitätsreihen sind fünf Dauern-reihen mit konstanten Werten (8 J\ , 12 J\ , 2 1\, 3 J\ , 1 .!\ ) und siebenDauernreihen aus den Zahlenquadraten zugeordnet.

Komplementär zueinander sind auch die Intensitätswerte und die Artikula-tionsstufen gestaltet: In Kl. I gibt es für die ersten sechs Rf. eine je festge-legte Artikulation, während sich die Intensität von Ton zu Ton ändert. Diefolgenden sechs Rf. sind hingegen von einer je konstanten Intensitätsstufebegleitet, während sich die Artikulation von Ton zu Ton ändert.

In der Dichte zeigt sich ebenfalls komplementäres Vorgehen: in Kl. I undKl. 11 erklingen je 12 Rf., die sich in der Dichte komplementär zueinanderverhalten. Da die Abschnitte in Kl. I und Kl. 11von unterschiedlicher zeit-licher Dauer sind, also im Gesamtablauf verschränkt erscheinen, ist an kei-ner Stelle ein vertikaler Einschnitt erkennbar.

Insgesamt verhält sich die musikalische Gestaltung von Kl. 11streng kom-plementär zu den musikalischen Charakteristika in Kl. 1.

3. Der B-Teil: Dieser Teil besteht in beiden Klavierparten wiederum ausvier Abschnitten von unterschiedlicher Ausdehnung, in denen jeweils12 Rf. verarbeitet sind:

6. Der Teil Ia erwächst aus der Verflochtenheit verschiedener Strukturen;es handelt sich nicht um eine Reihung isolierter, total determinierterKlangereignisse, sondern um eine Textur, in die vieWHtige Kräfte ver-woben sind.

7. Der Teil Ia ist als Ganzes zu sehen, denn dem Hörer bleibt Wesentlichesverborgen, wenn er einzelne Komponenten isoliert betrachtet; erst ihreBeziehungen untereinander, ihre Wertigkeit in der Horizontalen undVertikalen vermögen einen Einblick in dieses Stück zu geben.

VI. Die Komposition Ic

1. Übersicht: Da das Stück Ia nicht schlechthin für serielles Komponierenbei Boulez stehen darf, soll am Teil Ic ein Einblick in eine andere Verfah-rensweise von Boulez gegeben werden. Aus gleichem Ausgangsmaterialentstand ein in der Struktur und Wirkung anderes Stück. Dabei ist eswichtig zu erkennen, daß er die Gestaltungsmittel nicht zuHillig wählte,sondern in diesem Teil ein Prinzip der Ergänzung - auf die Menge zwölf _verfolgte. Ein weiteres Merkmal dieses Stückes ist das Streben nach Aus-gleich, d. h. ein in Kl. I z. B. nicht vorhandener Parameter erklingt alsAusgleich in Kl. 11. Nach diesem ausgleichenden Verfahren wurden auchhorizontale Abläufe gestaltet (s. u.).

Aus Platzgründen müssen im folgenden etliche Feinheiten entfallen, weilvornehmlich die Unterschiede in der Behandlung des vorgegebenen Mate-rials im Vergleich zu Ia herausgestellt werden sollen.

Das Stück gliedert sich äußerlich in drei etwa gleich lange Abschnitte,die sich durch unterschiedliche Tempi auszeichnen:

A: J 80, assez rapide, T. 1-48B: J 120, tres rapide, T.49-104C: J 100, rapide, T.105-149.

2. Der A-Teil: Der 1. Abschnitt besteht in Kl. I aus vier Abschnitten, diesich durch die Anzahl gebündelter Rf., deren Gestaltung und in ihrer zeit-lichen Dauer unterscheiden:

a) T. 1-13: 4 Rf., b) T. 13-22 : 2 Rf.,c) T. 25-37 : 3 Rf., d) T. 38-48 : 3 Rf ..

In Kl. 11finden sich folgende vier Abschnitte:

a) T. 1-17: 3 Rf., b) T. 18-25 : 3 Rf.,c) T. 26-35 : 2 Rf., d) T. 36-48 : 4 Rf..

Das Ergänzungs- bzw. Ausgleichsprinzip findet sich in diesem Teil auf ver·schiedenen Parameter-Ebenen.

396

Kl.1: a) T.49-64 : 3 Rf.,c) T. 81-96 : 4 Rf.,

Kl.I1: a) T.49-57 : 3 Rf.,c) T.74-96 : 5 Rf.,

b) T. 64- 81 : 4 Rf.,d) T. 96-104 : 1 Rf.,

b) T. 57- 74: 3 Rf.,d) T. 96-104 : 1 Rf ..

397

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Kl. 11ist bis auf eine Ausnahme komplementär bzw. quantitativ und quali-tativ ausgleichend zu Kl. I gestaltet.

4. Der C-Teil: Dieser Teil besteht in beiden Klavierparten aus je drei Biin-delungsabschnitten mit insgesamt 12 Rf.:

Kl. I: a) T. 105-120 : 4 Rf., b) T. 120-133 : 6 Rf.,c) T. 134-147 : 2 Rf.

Kl. II: a) T. 105-115 : 4 Rf., b) T. 116-130: 2 Rf.,c) T. 130-149 : 6 Rf..

Wieder sind die Abschnitte von unterschiedlicher Dauer, so daß eine Bin-nengliederung wegen des Ineinandergreifens der Abschnitte nicht erkenn-bar ist.

Das Ergänzungs- und Ausgleichsverfahren wird hier - wie im A-Teil _auch wieder auf die Dichte innerhalb der Biindelungsabschnitte übertragen(s.o.). Kl. I: Die Tonqualitätsreihen der 12 Rf. sind Formen der Umkeh-rung und der Umkehrungen des Krebses; sechs Rf. haben Dauern aus dem1. Zahlenquadrat, fiinf Rf. haben Dauern aus dem 2. Quadrat, und alle11 Rf. haben Dauernreihen, die nach diagonalen Abläufen innerhalb derQuadrate gefunden wurden. Ein Rf. hat konstante Dauern (12 ), ). DieIntensität und die Artikulation sind bei keinem Rf. konstant. Die Ausnah.men vom Komplementärprinzip in Kl. II beziehen sich auf die Dauern: Jeftinf Rf. sind dem 1. und 2: Zahlenquadrat entnommen (8 diagonale Ab-läufe, 2 horizontale Reihen), während zwei Rf. konstante Dauern (1 ), ;9),) haben.

VII. Zusammenfassung von Ie

1. Das Tempo ist eigentliches Gliederungselement im Sinne traditionellerAbschnittbildungen.

2. In den drei Tempoabschnitten sind je 24 Rf. verarbeitet, deren Einzel-glieder im Unterschied zu Ia sich in mehr als zwei Parametern vonein.ander unterscheiden.

3. Wichtig für die Gestaltung eines polyphonen Gewebes sind unterschied-liche Dauernreihen und ein freizügiger Umgang mit den Rf.; die Stimm.dichte innerhalb der Biindelungsabschnitte ist nicht mehr identisch mitder Anzahl der zusammengefaßten Rf ..

4. Für den Hörer treten Dichtewechsel in bestimmten Proportionen unddynamische Kontraste als Gestaltungsmittel in den Vordergrund.

5. Das Stück beinhaltet im Unterschied zu Ia keine traditionellen Grien-tierungshilfen. Es ist ein Ganzes, in dem alle verwendeten Mittel nur inder Zeit erlebt und nicht isoliert betrachtet werden dürfen.

398

6. Das Streben nach Vollständigkeit und Ergänzung bei der Arbeit mitdem Ausgangsmaterial, das hier strenger als in Ia gehandhabt wurde, istcharakteristisch für die integral-serielle Musik (Boehmer, 1967,53).

7. Im Unterschied zu Ia fallen zahlreiche Tempovarianten (presser, eederetc.) auf, die von der "Automatik" unabhängig sind.

8. Die freie Lagenverteilung der Töne im Raum in Ia und Ic ist bemerkens-wert, weil sie Bewegungsgestaltung in bestimmten Richtungen ermög-licht (Ligeti, 1958,56).

Literatur

Boehmer, K.: Zur Theorie der offenen- Form in der Neuen Musik. Tonos-VerlagDarmstadt 1967.

Boulez, P.: Structures. premier livre. a 2 pianos a 4 mains. Universal Edition London.1955. Nr. 12267. Ders.: Nahsicht und Fernsicht, in: Werkstatt-Texte. Propyläen-Verlag Frankfurt-Berlin 1972, S. 58-75.

Fuhrmann, R.: Pierre Boulez. Structures I (1952), in: Zimmerschied, D. (Hrsg.); Per-spektiven Neuer Musik. Schott-Verlag Mainz 1974, S. 170-187.

Ligeti, G.: Pierre Boulez. Entscheidungen und Automatik in der Structure Ja, in:die Reihe 4 Universal Edition Wien 1958, S. 38-63.

399

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Elmar Bozzetti

Karlheinz Stockhausen: Gesang der Jünglinge

"Ich kann nicht oft genug davor warnen, diese Analysen zu überschätzen,da sie ja doch nur zu dem fUhren, was ich immer bekämpft habe: zur Er-kenntnis, wie es gemacht ist; während ich immer erkennen geholfen habe:was es ist" (Schönberg, A.: Ausgew. Briefe, Hrsg. E. Stein, 1958, S. 178).Dem Versuch zu erkennen, "wie es gemacht ist", sind bei Stockhausens"Gesang der Jünglinge" (uraufgeführt 1956) allemal enge Grenzen gezo-gen. Abgesehen vom Abdruck einer Seite der Realisationspartitur (Stock-hausen 1971, 239) liegt eine Partitur, die man studieren könnte, nichtvor; veröffentlicht ist das Werk als Schallplattenproduktion (DG 138811IMS). Auch die Informationen des Komponisten zu seinem Werk beschrän-ken sich auf Andeutungen: ein Studium der technischen Faktur des Wer-kes erscheint dem Komponisten für eine adäquate Rezeption offenbarwenig relevant. Für "durchgeordnete Musik" als "Vor-Stellung von Ord-nung überhaupt" fordert Stockhausen schon im Jahre 1952 das "medita-tive Hören". "Musik als Tonordnung richtet sich auf die menschlicheFähigkeit, Ordnung von Tönen wahrzunehmen. Wahrnehmen ist hierverstanden als: darin existieren und aushalten ohne Absicht" (Stockhau-sen, 1963, 18). Bei der Analyse des Werkes kann es also weniger um de-tailliertes Offenlegen musikalischer Strukturen gehen, als vielmehr umBewußtmachen und Interpretieren der zugrundeliegenden Prinzipien.

Will man Schönberg folgen und zu der Erkenntnis beitragen, was ein Werkist, so muß man bedenken, daß Musik das, was sie "ist", nie aus sich selbstheraus und nie für sich selbst ist, sondern immer aufgrund vielfältigerKorrespondenzen und historischer Zusammenhänge. Die Frage, wie neuoder wie traditionsgebunden ein Werk ist, hängt mit der Frage, "was esist", eng zusammen. Unter besonderer Berücksichtigung historischer Zu-sammenhänge sollen drei eng aufeinander bezogene Aspekte herausgegrif-fen werden: die serielle Struktur, das Verhältnis Musik-Sprache und derreligiöse Charakter des Werkes.

Zur seriellen Struktur des Werkes

Die elektronische Komposition "Gesang der Jünglinge" gliedert sich insechs Abschnitte, vom Komponisten "Texturen" genannt. Die Texturenlassen sich beim Hören leicht erkennen anhand der jeweils vertonten Ver-se des Textes und bestimmter kompositorischer Merkmale.

400

Textur

II

III

IV

V

VI

Min/Sek

0'00"

1'02"

2'52"

5'15,5 "

6'22"

8'40"

Verse des Textes

Preiset (Jubelt) den(m)Herrn,ihr Werke alle des Herrn,lobt ihn und über alleserhebt ihn in Ewigkeit.

Preiset den Herrn, ihrEngel des Herrn,preiset den Herrnihr Himmel droben.Preiset den Herrn, ihrWasser alle, die über denHimmeln sind,preiset den Herrn,ihr Scharen alle des Herrn

Preist den Herrn,Sonne und Morid,preiset den Herrn,des Himmels SterneAller Regen und Tauden Herrn preist,ihr Windelobt ihn

Preiset den Herrn,Feuer und Sommersglut,preiset den Herrn,Kälte und starrer Winter

Preiset den Herrn,Tau und des Regens Fall-preiset den Herrn,Eis und Frost.Preiset den Herrn,Reif und Schnee -preist den Herrn,Nächte und Tage.

Preiset den Herrn,Licht und Dunkel -preiset den Herrn,Blitze und Wolken

Besondere Merkmale(Stockhausen, 1964,62 f.)

Mittlerer Verständlichkeitsgraddes Textes,Laute- und Silben-Komplexe,Gesangsakkorde, Impulsscharen,farbige Rauschbänder

Hoher Verständlichkeitsgrad desTextes wechselt mit mittleremund niedrigem,"Größere räumliche Tiefenstaf-felung, Dichte, Lagenwechsel"

Durchweg hoher Verständlich-keitsgrad des Textes. "Die Sil-ben sind ganz klar, dafür sind esaber meistens auseinandergeris-sene Teilsilben von Worten, Worteim Satzgefüge, und so übernimmtjetzt die Pause zwischen denSilben eine Graduierung derSprachverständlichkeit. "

"Die Textur IV mündet in die'feine Sprachsphäre, die nur Sil-ben und Pausen enthält" (beiden Worten: ,Kälte und starrerWinter') "Deutlicher kann Spra-che nicht mehr aus der musikali-schen Textur hervorgehen."

Niedriger Verständlichkeitsgradvorherrschend, gesungene Spra-che wird dem Klang angenähert.Die "klangliche Seite der Spra-che" "überspült" in "vielfältigenGraden" die "Bedeutung mehroder weniger" .

Der Text des letzten Verses er-scheint mit Worten aus anderenVersen kombiniert.Niedriger Verständlichkeitsgraddes Textes.

401

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403

15 "

30"

lobt ihnlobt ihn

45"

60"

ju_

belt

10 "

-25"

ihr werke alle des herrnihr werke alle des

ihr werke alle des

hebt __ ihn_

40"

55 "

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ihn

lobt

20"

jubelt

demdem Herren

Herren beltju

5"

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1. TEXTUR

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e__ I

II

50 "

35"

I

I1_-I.=-==-~ ....JIIIIIII

Um ein bewußteres Hören zu ermöglichen, haben wir versuchsweise von derersten Textur eine ,Hörpartitur' erstellt, die die Folge der Klangereignisse(Sprachkomplexe, Impulskomplexe, farbige Rauschbänder) in ungefahrerEntsprechung graphisch veranschaulicht (siehe gegenüberliegende Seite).

Die erste Textur wird eröffnet von einer Art "Vorspiel", dessen Hauptbe-standteil ein aufsteigender Impulskomplex ist. Stereophone Klanggestal-tung und Halltechnik reißen einen Klangraum auf, in den hinein nach einerSpannungspause, solistisch gesungen, zwischen elektronischem und voka-lem Klang die Mitte haltend das "Ju-belt" ertönt. Vom musikalischen Kon-text durch Pausen isoliert und vom Ohr als fallendes Quartmotiv regi-striert, wirkt es signalhaft, wie ein Motto. Es folgen mehrere halb verständ-liche "polyphone" Laute- und Silben-Komplexe als vokale Entsprechungenzu dem Impulskomplex des "Vorspiels", die aber nach ca. 32 Sekundenvon den jetzt wieder klar verständlichen Worten ,Jobt ihn" in fallendemOktavintervall unterbrochen werden: man glaubt, eine Korrespondenz zumanfanglichen "Ju-belt" zu erkennen. Einen deutlichen Schlußpunkt erfahrtder erste Vers durch ein neuartiges Klangereignis, eine Gruppe von vierGesangsakkorden, gesungen auf die Worte ,~n Ewigkeit". Das Ganze be-kommt Zusammenhalt durch dem Singen oder Summen näher oder fernerstehende Rauschbänder mehr oder weniger klar definierter Tonhöhe. In sichabgerundet wirkt die Textur durch ein dem "Vorspiel" vergleichbares"Nachspiel", in dem wieder wie zu Beginn ein Impulskomplex dominiert.

Zwei Besonderheiten der Komposition sind unmittelbar zu hören. Dieerste besteht darin, daß es zwischen vokalen und elektronischen Klängengleitende übergänge gibt. Wenn zum zweiten Male die Worte "Lobt ihn"erklingen, identifiziert man sie relativ eindeutig als vokale Klänge, währendman beim ersten "Ju-belt" schon zweifelt, ob das nicht auch ein elektro-nischer Klang sein könnte. Schließlich hört man auch Klänge - z. B. nach52 Sekunden in der Höhe -, die man für elektronisch hält, die aber aucheinen gewissen vokalen Charakter haben. Klang und Artikulation dermenschlichen Stimme erscheinen als Sonderfall in einem Kontinuum viel-faltiger Klänge und Artikulationsweisen. Das Lob Gottes aus menschli-chem Mund erscheint eingebettet in Klänge aller möglichen Art, in dasLob der ganzen Schöpfung. Was sagt der vertonte Text anderes?

Zum zweiten hört man auch bei der zweikanaligen Stereo-Schallplatten-Version - das Original ist für die übertragung durch fünf Lautsprecher-gruppen komponiert -, daß der Klang im Raum mit in die kompositori-sche Gestaltung einbezogen ist, und zwar sowohl hinsichtlich der Schall-nähe bzw. -ferne, als auch hinsichtlich der Schallrichtung und der Bewe-gung der Klänge im Raum. Auch diese kompositorische Besonderheitsteht offenbar in Bezug zu dem universalen Gestus des Textes.

402

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A-SK

•• IARA

SAGA

..

..

sv.. Ra

•• 10

RLS

..

1K

-+ X bekommt eine Struktur mitSonderbestimmung, die sich aus derGesamtanlage des Werkes ergibt.

B--- - - c-

- - D- ••E-F -G- ••H- ••I - ••

-----]- ..K- ••L-M-N-0-p-Q-R-S -T-

- - - u-- - - v-- - - -w-

- (X)

RI R2 R3 R4

405

Abkürzungen:

SK Sinuskomplexe (Sinustonscharen definierter Frequenz, Dauer und Intensitätin sehr komplexer rhythmischer Feinstruktur);

IK Impulskomplexe (Impulsscharen wie SK);LS Laute und Silben;R Rauschen ca. 2% in (Hz) breit gefiltert;I Impulse einzeln

SV Synthetische Vokalklänge (obertonreiche Spektren in unterschiedlichenFormantkombinationen) ;

RO Rauschen 1-6 Oktaven breit gefiltert;

10 Impulsscharen statistisch bestimmter Dichten, 1-6 Oktaven breit gefiltert;IA Einzelne Impulse in Akkorden (Tonhöhen jeweils benutzter Skalen);RA Akkorde aus 2% (in Hz) breiten Rauschbändern (mittlere Tonhöhen je

nach Skala);

S(A) Sinustonakkorde (-gemische bei unharmonischen Skalentypen, Klänge alsGrenzfall bei harmonischen Skalen);

GA Gesangsakkorde (Zusammenklänge gesungener Laute).

Nicht direkt hören kann man, daß das Werk streng seriell durchorganisiertist, das Reihenprinzip also auf alle Parameter (Höhe, Dauer, Stärke, Far-be, und hier auch Textverständlichkeit und Raumklang) angewendetwird, was schon die Bezeichnung der Kompositionsabschnitte als ;,Textu-ren" deutlich macht. Im Wort "Textur" (frz. texture = Gewebe) kommtZum Ausdruck, daß graphische Darstellungen permutierender Parameter-ordnungen gewebeähnliche Strukturen zeigen. Wie die serielle Gesamt-struktur einer elektronischen Komposition beschaffen ist, können Ana-lysen von Stockhausens "Studie 11" zeigen (z. B. Bozzetti, E., zfmth 1973/11). Die serielle Gesamtstruktur der Komposition "Gesang der Jünglinge"ist aufgrund des vorliegenden Informationsmaterials nicht zu ermitteln.Exemplarisch sei jedoch dargestellt, wie die Folge der Schallelernente, dieOrdnung der "Klangfarben" also, in der sechsten Textur seriell strukturiertist (siehe gegenüberliegende Seite). (Stockhausen, 1964,63 ff.)

In Teilstrukturen (A, B, C, D ...) erscheinen die in einer 12-stufigen Skalageordneten Schallelemente zu Gruppen unterschiedlicher Größe zusam-mengefaßt. Gewährleistet ist, daß jedes Schallelement in der Gesamtstruk.tur gleich oft, nämlich zwölfmal vorkommt. Aus der Tabelle geht nichthervor, daß die Anzahl der einzelnen Schalle lernen te in der Gruppe variiertund noch einmal einem Permutationsprozeß unterworfen ist: TeilstrukturD enthält beispielsweise 3 IK, 2 LS, 4 Rund 1 SK. Komponiert wird mitden Reihen R 1 - R 4, die, wie die graphische Darstellung zeigt, aus denTeilstrukturen gebildet sind. So enthält R 1 z. B. die Teilstrukturen A, E.I, M, Q und U. Typisch für eine serielle Struktur ist, daß eine bestimmteZahl eine zentrale Ordnungsfunktion bekommt: im "Gesang der Jünglinge"ist es die Zahl 6. Das Werk besteht aus 6 Texturen, es wird offenbar in 6Parametern seriell organisiert, die 6. Textur benutzt eine Schallelernent.skala aus 2x6 Elementen, die in 4x6 Teilstrukturen zusammengefaßt wer-den, aus denen wiederum 4 Reihen zu je 6 Teilstrukturen gebildet werden.Derartige serielle Strukturen sind natürlich im einzelnen nicht hörbar; zubedenken ist jedoch, was Hans Heinrich Eggebrecht sagt: " ... die Idee derseriellen Permutation mißt sich nicht am Kriterium der Hörbarkeit dermathematischen Operation ... Was ,man nicht hört', ist in der Regel gleich.wohl hörbar auf Grund des Prinzips, dem es subordiniert ist, und der Kon.sequenzen, die es hat" (Sinn und Gehalt, 1979, S. 32).

Erinnern wir uns der Gründe, die Stockhausen zur elektronischen Musikgeftihrt haben: nicht der neuartige Klangreiz war es, der ihn fesselte _"derartige modische Chocs verbrauchen sich schnell" (Stockhausen, 1963,35) .- sondern die Möglichkeit, nicht länger auf vorgeformte Instrumental-klänge angewiesen zu sein, vielmehr auch Klänge komponieren zu können,auf diese Weise die serielle Organisation auf den Parameter Klangfarbeauszudehnen und so den Wunschtraum nach einem Komponieren zu er-

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Ton, Rhythmus, Stärke, Schwäche im ganzen Universum sich finden, sofindet der Mensch wieder in der Musik das ganze Universum" (vom Mu-sikalisch .schönen 1854, S. 104).

Im 19. Jahrhundert diente vor allem die thematisch-motivische Arbeit unddie tonale Harmonik dazu, jene von der metaphysischen Bestimmung derMusik her geforderte Ganzheit und Geschlossenheit zu erreichen. Nach-dem Schönberg das Element der tonalen Harmonik durch die Reihenkom-position mit Tonhöhen ersetzt hatte, so daß Reihenkomposition in engemZusammenhang mit der thematisch-motivischen Arbeit die Einheit desWerkes stiftete, gibt das serielle Verfahren nun auch die thematisch-motivi-sche Arbeit auf und setzt in der Absicht, eine widerspruchslose und lücken-lose musikalische Gesamtordnung zu verwirklichen, das Reihenverfahrenflir alle Parameter ein; das serielle Verfahren aber fUhrt mit innerer Konse-quenz zur elektronischen Musik. Als erstes künstlerisch eigenständiges, mitden Mitteln der elektronischen Musik konsequent seriell gestaltetes Werkder Musikgeschichte stellt der "Gesang der Jünglinge" einen neuen Ver-such zur Erftillung eines alten, im Grunde genommen "romantischen"Traumes dar, die Idee einer absoluten Musik zu realisieren, das musikali-sche Kunstwerk als ein in sich abgerundetes, eigengesetzliches Gebilde, alsKosmos flir sich, als "Metapher des Universums" (Dahlhaus, a. a. 0., S. 34)zu konzipieren. Der Widerspruch, eine irrationale Vorstellung mit rationa-ler - nicht selten als kunstfremd angesehener - Konsequenz zu verwirkli-chen, ist nur flir den ein Ärgernis, der der Kunst Widerspruchslosigkeitund damit eben jene Rationalität verordnet, die er gerade noch an ihr ge-tadelt hat.

Musik als "Sprache" - Sprache als Musik

Stockhausen spricht mit Bezug auf seine Komposition "Gesang der Jüng-linge" von einem neuen Erlebnis musikalischer Sprache. Das Verfahren derSprachvertonung im 19. Jahrhundert - sagen wir etwa: im romantischenKunstlied - ließ zwei verschiedene Arten von Sprache gleichsam neben-einander herlaufen (Schnebel, D., 1972, 10), einmal die begrifflich be-stimmte Sprache des vertonten Textes und zum anderen die im ästheti-schen Bewußtsein der Zeit höher bewertete "Sprache" der Musik, die sichja keinesfalls dazu herabließ, den Text zu illustrieren und ,gehorsame Die-nerin' der begrifflichen Textaussage zu sein, sondern den Anspruch erhob,den Sinn des Textes in Musik zu transponieren und dadurch, daß sie denTextsinn der begrifflichen Grenzen entkleidete und ihm als "Sprache,wo Sprachen enden" (Rilke) eine höhere Wahrheit verlieh, der eigentlicheTräger der Aussage zu sein - freilich einer Aussage von einer Tiefe, die inBegriffen nicht mehr faßbar war. übergänge zwischen der Sprache der Be-griffe und der musikalischen "Sprache" hat es immer gegeben: von der

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"Sprache" der Musik zur distinkteren Sprache der Begriffe etwa im Schluß-satz von Beethovens 9. Symphonie, von der Sprache der Begriffe zur"Sprache" der Musik immer da, wo syllabischer Gesang sich zu instru-mental konzipierten Melismen weitete.

Stockhausen will im "Gesang der Jünglinge" das Nebeneinander dieserbeiden Spracharten und die abrupten übergänge von einer in die andereüberwinden - weil es dem Integrationsdenken der seriellen Musik wider-spricht - und ein bruchloses Kontinuum zwischen der Begriffsprache undder musikalischen Ton- und Form"sprache" schaffen. Da wo der Verständ-lichkeitsgrad der Sprache abnimmt, wird die Wortsprache zu Musik undoffenbart als musikalische "Sprache", "die wir sprechen, verstehen, jedochzu übersetzen nicht imstande sind" (Hanslick, a. a. 0., S. 35) einen vommusikalisch Geformten nicht ablösbaren Sinn, da wo Wortverständlichkeitaus den Klanggestalten hervorgeht, erhebt sich der unbestimmte musikali-sche Sinn zur Klarheit rational verstehbarer Bedeutung. Die Lösung eineshistorischen Problems wird anvisiert. Thrasybulos Georgiades hat "die'Musikalisierung der Sprache' oder auch die ,Versprachlichung' der Musik"als "Aufgabe der abendländischen Musik" bezeichnet (Musik und Sprache,1984, S. 30). Mit diesen Worten ist genau die Aufgabe angesprochen, fürdie Stockhausen im "Gesang der Jünglinge" eine neue konsequente Lösungvorstellt. Erinnern wir uns, daß die Idee der absoluten Musik im 19. Jahr-hundert sich nur auf die Instrumentalmusik bezog. Die Sprache wurde imeigengesetzlichen Beziehungsgewebe der Musik als Fremdkörper empfun-den. Das absolute Kunstwerk, so wie es sich im "Gesang der Jünglinge"darstellt, schließt die Sprache nicht länger aus, sondern integriert sie in diemusikalische Ordnung. Weder gibt es die Inferioritätsstellung der Musikgegenüber der Sprache wie etwa im Barock noch die Superioritätsstellungder Musik gegenüber der Sprache wie in der Romantik, sondern Musikund Sprache werden als gleichwertig angesehen. Das ist nicht nur einefromme Absichtserklärung, sondern die Gleichwertigkeit ist gleichsam imKompositionsverfahren ,thematisiert'.

Religiöse Musik in doppelter Bedeutung

Die biblische Erzählung von den drei Jünglingen im Feuerofen entstammtden Apokryphen zum Buch Daniel. Nebukadnezar, König von Babyion,hat seinen Untertanen befohlen, ein goldenes Götterbild anzubeten. Dreijüdische Jünglinge weigern sich, werden zur Strafe in einen Feuerofen ge-Worfen, rufen aber singend die ganze Schöpfung zum Lobe Gottes auf undbleiben auf wunderbare Weise unversehrt. Dem jahrtausendealten Toposvon der rettenden Macht der Musik entspricht das ästhetische Credo derRomantik, daß Musik als ,überwelt der Töne' Erlösungsfunktion habe unddaß hierin ein gewisser religiöser Charakter der Musik begründet liege.

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Stockhausens Wahl des biblischen Textes vermag zu zeigen, daß der ge-nannte Traditionszusarnmenhang noch nicht völlig abgerissen ist. Erläßt jedenfalls keinen Zweifel daran, daß er seine Musik insgesamt religiösverstanden wissen will: ,,Man wird ... einsehen, daß eine Kompositions-methode wie die ,serielle' im Sinne der jüngsten Entwicklung nicht ein-fach irgendeine unter anderen ist, sondern daß sie ihren eigentlichen Grundin einer neuen geistigen Haltung hat ... Die neue Funktion der Musik mußeine geistliche sein ... Daß ... der Glaube an die Funktion der Musik imSinne der Strawinskyschen Widmung zur PSalmensymphonie (,Cettesymphonie composee a la gloire de DIEV' ...) die Richtung sein undGültiges hervorbringen wird, ist unsere überzeugung" (Stockhausen,1964,213).

Der religiöse Charakter der Komposition resultiert offenbar aus zweiunterschiedlichen Gegebenheiten. Einmal liegt er in der Verwendungdes geistlichen Textes begründet: "Wo immer ... aus den Klangzeichender Musik für einen Augenblick Sprache wird, lobt sie Gott" (Stock-hausen, 1964, 49). Zum anderen gibt es aber offenbar noch einen"religiösen" Charakter anderer Art, der sich nur aus der Musik und ihrerOrdnung ergibt, aus der Tatsache nämlich, daß Musik verstanden wird"als Vorstellung jener umfassendsten ,globalen' Struktur ..., in die alleseinbezogen ist." Die Vorstellung, daß Musik "jene symbolische, diegroßen Weltgesetze widerspiegelnde Bedeutsamkeit" gerade dann be-sitzt, wenn "Inhalt und Gegenstand der Musik" einzig und allein "tönendbewegte Formen" sind (Hanslick, a. a. 0., S. 32) und daß hierin ihr all-gemein-religiöser Charakter liegt, war schon ein Lieblingsgedanke derKunstästhetik des 19. Jahrhunderts. "Die Kunst selbst ist Religion"(Schinkel). "Ich vergleiche den Genuß der edleren Kunstwerke demGebet" (Wackenroder).

Stockhausens Komposition vermittelt zwischen dem religiösen Charakterder Musik im engeren Sinn, der in der Präsentation eines geistlichenTextes begründet liegt und einem religiösen Charakter der Musik imweiteren Sinne, der darauf beruht, daß musikalische Ordnung als "Vor-Stellung von Ordnung überhaupt" fungiert, und der aus dem Denkendes 19. Jahrhunderts vom Komponisten in das 20. Jahrhundert hinüber-gerettet wird.

Die drei Aspekte unserer analytischen Betrachtung hängen eng zusammen.Der religiöse Charakter in doppelter Bedeutung, die Integration der Mu-sik"sprache" und der Wortsprache sowie die serielle Struktur des Werkesbedingen sich wechselseitig.

410

Literatur

Danuser, H: Die Musik des 20. Jahrhunderts (= Neues Handbuch der Musikwissen-schaft, Bd. 7), 1984, S. 321 f.

Harvey, J.: The Music ofStockhausen, 1975, S. 78-80Heikinheimo, S.: The Electric Music of K. Stockhausen, 1972, S. 61-103Krüger, W.: Allmacht und Ohnmacht in der Neuesten Musik. Karlheinz Stockhausen,

1974, S. 66-71

Maconie, R.: The Works of Karlheinz Stockhausen, 1976, S. 95-99Schnebel, D.: Vokalkomposition bei Schumann - und nachher, in: Ders. Denkbare

Musik, 1972, S. 102-115

Stockhausen, K.: Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Band 1, 1963ders.: Texte zu eigenen Werken, zur Kunst Anderer, Aktuelles, Band 21964. Darin:

Gesang der Jünglinge, Vorgeschichte, Analyse, S. 49-68ders.: Texte zur Musik 1963-1970, Band 3, 1971ders.: Texte zur Musik 1970-1977, Band 4,1978Wörner, K.: K. Stockhausens Werk und Wollen, 1963, S. 88 f.

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in vieWiltiger Brechung ergibt. So wie sich der weiße Lichtstrahl in denFächer der Regenbogenfarben auflösen läßt, so kann das Total der Fre-quenzen (in der elektronischen Musik "Weißes Rauschen" genannt) in einmusikalisches Farbspektrum aufgebrochen werden. Hierbei darf freilichnicht übersehen werden, daß das vollständige Kontinuum des weißenRauschens, wie es in der elektronischen Musik möglich ist, mit Mittelnder Instrumentalmusik nur annäherungsweise erreicht werden kann (Mül-ler, 1974,217).

Die Besetzungsliste gibt bereits einen wichtigen Hinweis auf die leitendeIdee des Werkes: Streich- und Schlaginstrumente stehen sich gegenüberund durchdringen sich, woraus sich die Großform ergibt:

C

Streicherund Schlagzeug

Synthese

B

Antithese

Schlagzeug

A

Streicher

These

Gedacht ist allerdings nicht an eine bloße Konfrontation des zum Flächi-gen neigenden Streicherklangs mit dem zum Punkthaften neigenden Schlag-zeugklang, sondern auch an eine Annäherung der bei den Klanggruppen, sodaß der Begriff Synthese auf die Klangereignisse ausgedehnt werden darf:auch Streicher können punkthaft spielen, auch Schlaginstrumente könnenflächige Eindrücke erzielen.

Das Instrumentarium besteht im einzelnen aus einem Streichorchester mit20 Violinen8 Violen8 Violoncelli6 Kontrabässen

Dazu kommen: CelestaHarfeKlavier (der Pianist spielt zusätzlich Claves - hölzerne Klangstäbe)

Die Schlagzeugbatterie wird von 6 Spielern bedient:1. Xylorimba, 2 Congas, 3 Casse di legno (HolztromrneIn)2. Vibraphon, 2 Bongos, 3 Campane (Glocken)3. 2 Piatti (Becken), Campanelli (Glockenspiel)4. 2 Piatti, 3 Tom-Tom, Campane, Triangel5. 2 Piatti, 3 Tom-Tom6. Gong, Tamtam, 4 Timpani (Pauken)

Die folgende Analyse versucht dem Werk dadurch gerecht zu werden, daßsie zunächst den akustischen Phänomenen nachgeht, also das Hören in denVordergrund stellt. Dann erst wird die Partitur herangezogen, in der Pen-derecki .den seinerzeit sensationellen Versuch gemacht hat, für neuartige,

Klaus Trapp

Krzysztof Penderecki: Anaklasis für Streicher und Schlagzeug-gruppen (1959/60)

Krzysztof Penderecki (geb. 1933) schrieb sein Orchesterwerk "AnaklasisfUr Streicher und Schlagzeuggruppen" als Kompositionsauftrag des Süd.westfunks Baden-Baden fUr die Donaueschinger Musiktage für zeitgenös-sische Tonkunst 1960. Im Jahr zuvor hatte Penderecki alle drei Preiseeines polnischen Kompositionswettbewerbs mit den anonym eingereichtenWerken "Strophen", "Emanationen'- und ,,Psalmen Davids" gewonnenund war damit rasch bekannt geworden.

Die genannten Werke stehen nicht nur im Schaffen Pendereckis, son-dern auch in der Gesamtentwicklung der Neuen Musik an einem Wende-punkt. Es ist, am Ende der 50er Jahre, der Umbruch von serieller Kon-struktion zum Experimentieren mit allen Klangbereichen zwischen Tonund Geräusch, der Umbruch von totaler Durchorganisation des musikali-schen Materials zu einem offeneren, gleitenderen Umgang mit Klangfar-ben und Klangflächen. Wenn in der seriellen Musik das Reihendenken alleParameter (also in erster Linie Tonhöhe, Lautstärke, Tondauer und Klang-farbe) erfaßt hatte, so gewinnt nun die Klangfarbe ein besonderes Gewicht.Doch vollzieht sich der beschriebene Umbruch keineswegs übergangslos.Alle genannten Werke Pendereckis enthalten Elemente beider Stilrichtun-gen, und erst die genaue Analyse vermag zu zeigen, wie sich mathema-tisch-minuziöse und experimentell-flächige Verfahrensweisen durchdrin-gen. Dabei werden auch historische Verflechtungen sichtbar, die überPendereckis unmittelbare Vergangenheit zurückreichen. Schönbergs Klang-farbenmelodie, wie sie im dritten der Orchesterstücke op. 16 intendiertwar, Häbas Vierteltontechnik, Cowells Versuche mit Clustern und VanlsesBevorzugung von Schlagklang und Geräusch finden einen Nachhall, wennauch in persönlich anverwandelter Form.

Vielleicht ist es kein Zufall, daß der Titel "Anaklasis" zwei Bedeutungenhat, die in etwa jenen bei den Stil richtungen des strengen Kalkulierens unddes freien Experimentierens entsprechen. ,Anaklasis , ist zum einen einTerminus der altgriechischen Metrik für das Vertauschen kurzer und langerTaktteile bei Chorjamben (Hammer und Gleditsch, 1901), womit die exaktgeplante rhythmische Organisation angesprochen wäre. Auf diese Bedeu-tung beruft sich Penderecki im Donaueschinger Programmheft anläßlichder Uraufführung seines Werks. Zum anderen bedeutet ,Anaklasis' licht-brechung, und diese Bedeutung könnte man als Anspielung verstehen aufden klanglichen Eindruck, der sich aus dem Irisieren von Geräuschfarben

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ungewohnte Spieltechniken, die ja Voraussetzung fUr jene akustischenPhänomene sind, entsprechende grafische Symbole zu finden.

Dem Festhalten der Höreindrücke dient eine bewußt einfache Hörpartitur(s. gegenüber), die den formalen Umriß, das Verhältnis von Streich- undSchlaginstrumenten, die überschneidung von flächigen und punkthaftenKlängen, die dynamische Entwicklung und die ungefahren Zeitverhältnisseveranschaulicht (aus der Originalpartitur sind lediglich die Ordnungsziffernübernommen, um den Vergleich zu erleichtern).

Dieser überblick zeigt zugleich, daß fUr den Hörer die konstruktive Kom-ponente weit weniger ins Gewicht fallt als die sinnliche Erscheinung, diegeprägt ist von den Prinzipien des Kontrasts und des übergangs. Als tra-ditionelles Element und damit als Orientierungshilfe wirkt die dreiteilige,übersieh tliche Formgestal t.

Die von Penderecki für "Anaklasis" entwickelte Notation ist vor allemdurch die charakteristischen schwarzen Balken geprägt, die für die Cluster(eng!. Tontrauben) stehen. Die Breite der Balken zeigt den Tonumfang an,die Dichte der übereinanderliegenden Töne ergibt sich aus besonderen Hin-weisen, meist handelt es sich um Vierteltonabstände.

Die Richtung von Glissandi wird durch auf- oder absteigende Linien ange-deutet. Temposchwankungen werden durch besondere Tempolinien ange-geben, die unter dem Notensystem zu finden sind:

* Jeder Instrumentalist spielt den seinem Instrument zugeordneten Ton, so daßgleichzeitig die ganze Vierteltonskala zwischen den angegebenen unteren undoberen Grenztönen erklingt.

414

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417

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Bereits am Beginn wird auf den Grundgedanken angespielt, die Kontrastie-rung von Fläche und Punkt. Solostreicher bauen, vom Ton a ausgehend,einen aus Vierteltönen geschichteten Kleincluster (zwischen g und .( a) auf,der bei geringer Lautstärke angehalten wird, während größere Streicher-gruppen scharfe, kurze Akzente zu jedem einsetzenden Ton hinzufUgen.Auch diese Akzente sind als Vierteltoncluster zusammengesetzt.

Via sola Mi 11 ;; 22

IPPP,IIIIIII,,IIII

II

Im weiteren Verlauf werden die Möglichkeiten der Flächenbildung weiterabgetastet. Die Bratschen spielen von b aus auf- und absteigende Glissandiim Tremolo con sordino - das Glissando wirkt gleichsam als ein aus derVertikalen in die Horizontale verlagerter Cluster (Ziffer 2). Die Violinen11-20 spielen einen flirrenden Geräuschklang in unbestimmter Tonhöhe(Ppp), 6 Kontrabässe fiihren einen Flageolett-Cluster col legno, sul ponti-cello im Tremolo aus, wiederum vierteltönig strukturiert, und lassenihn glissandierend verschwinden (Ziffer 3). Ein Fortissimo-Cluster aller42 Streicher, mit der größtmöglichen Vierteltondichte von C bis a, wirdmit unregelmäßigen Bogenwechseln gespielt, es folgen 10 Bratschen und

Erhöhung um 1/4 TonErhöhung um 3/4 TonErniedrigung um 1/4 TonErniedrigung um 3/4 Ton

collegnolegno battutoordinariosul ponticellosenza vibratomolto vibratosehr langsames Vibrato mit 1/4-Ton Frequenz-differenz durch FingerverschiebungTonrepetition so schnell wie möglichTon ausklingen lassensofort abdämpfensehr schne1l1es, nicht rhythmisiertes Tremolomehrere unregelmäßige Bogenwechsel nachein-anderzwischen Steg und Saitenhalter spielenhöchster Ton des Instrumentes (unbestimmteTonhöhe)Schlagzeugeffekt: mit offener Hand auf die Sai-ten schlagen

TriangelschlegelTrommelschlegel (fur Xylorimba und Vibrafonmit Porzellan kopf)Paukenschlegel (weich)mit] azzbesenSchlag auf die Mitte eines auf Trommel- oderPaukenfell gelegten Schlegels mit einem zweitenTrommel- oder Paukenfell und -rand mit dem-selben Schlegel gleichzeitig anschlagenSchlag auf den Rand des InstrumentsInstrument mit der Griffseite des Schlegels an-schlagen

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416

allgemein:

11. Schlagzeug

ABKÜRZUNGEN UND SYMBOLE

I. Streichinstrumente

Versetzungszeichen : flf

Dies gilt fUr den Mittelteil des Werks, während in den Rahmenteilen Se-kundenangaben den Zeitablauf abschnittweise ungefähr regeln. Metrischfestgelegte Teile sind im traditionellen Taktschema geschrieben, und zwardurchweg im 2/4-Takt. Eine Fülle von Symbolen und Abkürzungen ist denSpieltechniken und Artikulationsmöglichkeiten zugeordnet, die den Klang-charakter der Instrumente verbreitern helfen, die Streichinstrumente bishin zu ScWag- und Geräuscheffekten flihrend, die ScWaginstrumente inihren Farbwerten bereichernd.

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8 Violinen im Forte mit starkem Vibrato und schließlich (Z. 4) 8 Celliund 6 Bässe im ppp mit langsam vibrierendem Flageolett. Diese Klang-ereignisse überlappen sich jeweils oder schließen aneinander an. Unseregenaue Beschreibung der ersten Abschnitte macht vor allem einesdeutlich: Ziel Pendereckis ist das Arbeiten mit Geräuschfarben. Dertraditionelle Streicherklang wird schon durch die Vierteltonschichtungenvermieden, dazu kommen ständig wechselnde Spieltechniken, mitderen Hilfe jene "Brechungen" erzielt werden, die Thema der Kompositionsind.

Bei Ziffer 5 ist ein neues Element zu beobachten. Die Streicher innerhalbder Gruppen verselbständigen sich, die Cluster lockern sich, allmählichwird eine genauere Rhythmisierung angestrebt, bis dann (Z. 10) Pizzikatiund Schläge mit dem Bogen das punkthafte Moment wieder einbringen.Vom Beginn dieser Passage ab (Z. 5) geht Penderecki teilweise zurtraditionellen Notation über. Die Partitur ist nun im 2/4-Takt geschrie-ben, die diffusen Cluster sind durchnotiert. Damit beginnt eine Phase,di~ c~rakterisiert ist durch zunehmend genaue rhythmische Fixierung.DIe Bildung von Rhythmen beruht auf drei Teilungsmöglichkeiten desViertelwertes, und zwar in

~5~ 6

Quartolen, J =.f771 Quintolen J =Jfflj und Sextolen: J =m JnDie Einzelwerte können dabei auch durch Pausen ersetzt oder zu längerenDauern kombiniert werden,

,--5---, r--6---,etwa .,. ~ oder ., j--- j

Typisch flir die Phase bis Ziffer 22 ist die Anbindung kürzerer Werte aneine lange Note, wodurch die Nähe zu den vorher herrschenden Geräusch-bändern immerhin noch gewahrt bleibt.

Der übergang zwischen dem von Streichern bestimmten A-Teil unddem vom Schlagzeug bestimmten B-Teil vollzieht sich in den Abschnit-ten von Ziffer 14 bis Ziffer 22. Nacheinander setzen die Schlagzeuger3, 5 und 4 mit den Becken ein, dazu tritt Spieler 6 mit Tamtam undGong; charakteristisch ist der wirbelnde Anschlag mit weichem Pauken-schlegel - so entsteht ein flächiger Klang, der sich mit den Streicher-clustern gut verbindet. Man kann übrigens darüber streiten, ob man dieübergangsphase mit dem Beginn der Rhythmisierung (bei Z. 5) odermit den ersten Pizzikati und Schlagklängen (bei Z. 10) ansetzen will.Hinter solcher Diskussion steckt schließlich die Tatsache, daß Pendereckisich besonders um das Auskomponieren eines allmählichen übergangsbemüht.

Für den B-Teil, bei Ziffer 22 beginnend, werden die Schlaginstrumentebestimmend. Neben der Eigenfarbung dieser Instrumente - ausgerichtetnach Metall-, Fell- und Holzklang - spielt die Vielzahl der Anschlag-techniken eine Rolle, eingesetzt im Sinn der erweiternden Differen-zierung. Zu den bereits im übergangsabschnitt erklingenden Metall-instrumenten Becken, Gong und Tamtam treten ab Ziffer 22 alsFellinstrumente Tom-Toms, Bongos und Pauken, ab Ziffer 26 alsweitere Metallinstrumente Glocken und ab Ziffer 27 Holztrommelnund Xylorimba für den Holzklang. Die Artikulation wird zunehmendpunkthaft, grundiert allerdings durch die weiterhin flächig eingesetz-ten Becken. Ein Beispiel soll verdeutlichen, wie die rhythmischenVorgänge durch Mikrostrukturen bestimmt sind, die sich letztlichaus seriellem Denken ableiten lassen. So beruhen die Rhythmen derSchlagzeuger ab Ziffer 27 auf Krebsbildungen, die sich zeitlich über-schneiden:

Das Tempo soll von J = ca 44 auf J = ca 58 beschleunigt werden.

Ein neuer Abschnitt beginnt bei Ziffer 37: 6 Tom-Toms und 4 Paukenspielen ff, flächigen und punktförmigen Klang mischend, die Becken be-harren orgelpunktartig auf ihrem Flächenklang. Es bleibt bei dieser Farb.mischung von Fell· und Metallinstrumenten, doch verdichtet sich die rhyth-mische Struktur. Sie nimmt ab Ziffer 53 in den Congas und Bongos feste·re Formen an, die auf der schon beschriebenen Viertelteilung (Quartolen,Quintolen, Sextolen) beruhen. Nun aber werden die kleinen Werte zueinem rhythmischen Muster zusammengefaßt, das durch gliedernde Pau-sen ein kompliziertes Klangbild bewirkt. Eine Steigerung wird dadurcherreicht, daß die Tongruppen innerhalb dieses Musters immer größer wer.den; sie beginnen bei einem Ton pro Gruppe (Z. 53) und enden bei 8Tönen pro Gruppe (Z. 73-74).

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1Cgs :[IIIIII

Durch Überschneidung dieser Rhythmen entsteht eine beim Hören nichtaufschlüsselbare "statistische Klangfläche" . Mit diesem Terminus hat derslowakische Komponist Petr KoIman Flächen bezeichnet, "deren Fre-quenzinhalt durch eine Vielzahl von Punkten oder Linien bestimmt ist, dieeinzeln nicht wahrgenommen werden können" (KoIman, 1970,9). Dieservon Congas und Bongos im einheitlichen Forte durchgehaltenen stati-stischen Klangfläche steht eine dynamisch sehr differenzierte Schichtgegenüber, die aus vereinzelten Wirbeln besteht, denen meist ein P sfvorausgeht; Tom-Toms, Pauken und - immer wieder - Becken ftihrendiese Schicht aus.

Bei Ziffer 74 setzen neue Farben ein, während die seitherigen Klänge all-mählich abebben. Glockenspiel, Celesta, Vibraphon, Klavier und Harfe _später auch Xylorimba - verlagern den Farbton ins Metallische und brin-gen zugleich definierte Tonhöhen ein im Gegensatz zu dem vorher herr-schenden Geräuschcharakter. Damit entsteht für Penderecki das Problemder Organisation jener Tonhöhen, die zunächst in raschen Repetitionen,später als Einzelpunkte angeschlagen werden. Er verzichtet hier auf dieVierteltönigkeit, die ja lediglich der Bildung enger Cluster diente, und be-nutzt die chromatische Skala. Gleich die ersten Töne sind im Sinn einerZwölftonreihe exponiert, ohne daß im weiteren Verlauf streng gemäßserieller Technik verfahren würde.

Takt 74 75 76 77 78 79 80Instr. Cmpli Pfte Ar Cel Vbf Cmpli Ar Pfte Xii Vbf Cel

Ton e 111 filII es" cis ltll C' dill fis '" g'" gis I a" hili

bReihe 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

12420

Charakteristisch sind die bevorzugten Intervalle, die simultan oder sukzes-siv auftreten: kleine und große Septime (auch über mehrere Oktaven ge-streckt), kleine und große None; gesucht ist also der Dissonanzgehalt, derdie Nähe zum Geräusch noch spüren läßt. An diesen Intervallspielen betei-ligen sich ab Ziffer 87 auch die Streicher, zunächst fast unmerklich einset-zend: Pizzikati, Flageoletts, col legno-Schläge sorgen für Angleichung andie Schlagzeugklänge.

Damit ist der übergangsabschnitt von B zu C erreicht. Auch dieser über-gang enthält eine Entwicklung. Die punkthaften Klänge nämlich schließensich zu Gruppen zusammen, und diese Gruppen wiederum sind rhythmischbehandelt wie jene in dem von Congas und Bongos beherrschten Abschnitt,also mit 4-, 5- und 6-facher Teilung der Viertel. Eine Phase größter Kom-plexität reicht von Ziffer 96 bis 101; die Dynamik liegt durchweg bei ff,das Tempo bleibt bei größter Schnelligkeit, ~ = 80. Ab Ziffer 101 folgtein rascher Abbau ins Flächige bei abnehmender Lautstärke und Reduk-tion des Instrumentariums zum Metallklang von Vibraphon, Becken,Glocken, Gong und Tamtam.

Der C-Teil beginnt bei Ziffer 110 mit einem äußerst zarten Cluster im Be-reich von d' bis fis', von 5 Violinen in langsamem Vibrato und 5 Violinenohne Vibrato ausgeführt. Dieser C-Teil stellt sich zunächst als eine Remi-niszenz an den Beginn des Werks dar, wenn auch ohne dessen Sforzato-Einwürfe. Die Klangbänder von je 10 Violinen, 8 Violen, 8 Celli und 6Kontrabässen differieren vor allem in der Lautstärke (pppp - ff - pp),in der Dichte (aus Viertelton- werden Halbtonc1uster) und in der Formdes Vibratos; sie verändern, allmählich glissandierend, ihre Höhe, wobei dieViolingruppen ihre Höhenlagen ebenso austauschen wie Bratschen undVioloncelli.

Im C-Teil kommt es zu einer Synthese von Fläche und Punkt, Streichernund Schlaginstrumenten, und zwar mit wiederum verändertem Klangmate-rial. Diese Veränderungen beruhen auf verfremdenden, oder, in Pen-dereckis Sprache, erweiternden Effekten. Die Klaviersaiten werden zumKlingen gebracht durch ein Stück Holz, das der Spieler auf die Saiten fal-len läßt, später werden sie mit einem Jazzbesen oder mit einem Pauken-schlegel angeschlagen und mit dem Finger angerissen. Jazzbesen werdenauch zum Anschlagen der Harfensaiten und der Glocken verwendet. Gongund Becken werden mit einem Triangelschlegel berührt. Das so entstehen-de diffuse Klangbild löst sich weiter auf, die Streicherbänder verwehen imGlissando nach oben. Und es bleiben, wie eine Frage im Raum schwebend,drei gezl!pfte Klaviertöne, verhallend mittels Pedal.

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Aufschlußreich ist, daß Penderecki zugunsten dieser Schlußwirkung eineCoda gestrichen hat, die ursprünglich das Ende von "Anaklasis" bildensollte. Dieser Abschnitt (Z. 116 bis 126 der alten Partitur) greift nochmalsdie rhythmische Aufsplitterung des B-Teils auf, stellt diesmal aber diedurchweg pizzikato mit bestimmten Tonhöhen (wiederum chromatischreguliert) spielenden Streicher mit Metallinstrumenten (einschließlichKlavier) zusammen, wobei diese unbestimmte Tonhöhen erklingen lassen.Hier war also an eine letzte Form der Synthese gedacht, bevor ein Tremo-locluster der 20 Violinen, in unbestimmter Tonhöhe zu spielen, das Werkverhallen lassen sollte (fff - pppp).

Wenn man bei der Uraufführung von "Anaklasis" 1960 vor allem den revo-lutionären Zug vermerkte, sieht man heute, wie stark auch traditionelleElemente vertreten sind. Penderecki selber führte in seiner Programmheft-Notiz die Concerto-grosso-Technik als vorbildhaft an und bezog sie auf dasVerhäl tnis der ,,konzertanten" Schlaginstrumente gegenüber den mehrorchestral eingesetzten Streichern. Traditionell sind auch die verwendetenInstrumente, deren Klangradius allerdings durch "besondere Effekte" er-weitert wurde. Einen Komprorniß mit der Tradition darf man auch in derformalen Gestaltung sehen.

Penderecki betont, daß die Schichtung der Streicherklänge an die "Farb-wirkung der elektronischen Musik" erinnere. Darin wäre ein neues Elementzu sehen und zugleich eine Erklärung für die Emanzipation des Geräuschs.Was in der klassischen Musik als bloße Reizbeigabe empfunden wurde,der Klang von Trommeln oder Becken beispielsweise, und was in derNeuen Musik der 20er und 30er Jahre als "unerhörte" Provokation erlebtwurde, etwa in Vareses Schlagzeugpassagen, wird nun von der elektroni-schen Musik her legitimiert und akzeptiert (Schmidt, o. J., 120). Daß Ge-räuschkomposition immer in Gefahr steht, die Grenze zwischen Kunst-und Alltagscharakter zu verwischen, kennzeichnet eine lange Phase derNeuen Musik, die durch Werke wie "Anaklasis" eingeleitet wurde und die,wenn auch nur auf einem bestimmten Sektor der heutigen pluralistischenMusiklandschaft, noch fortwirkt.

NotenPenderecki, K., Anaklasis fUr Streicher und Schlagzeuggruppen, Partitur, Moeck Ver-

lag, Celle 1960

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LiteraturDibelius, u.: Moderne Musik 1945-1965, 1966Fuhrmann, P.: Untersuchungen zur Klangdifferenzierung im modernen Orchester,

1966Hammer und Gleditsch: Rhetorik und Metrik der Griechen und Römer. In: Handbuch

der klassischen Altertumswissenschaft, 3. Auflage 1901Häusler, J.: Musik im 20. Jahrhundert, 1969ders.: Textbeilage zur Wergo-Schallplatte von "Anaklasis". In: Musik und Bildung

1969,S. 342Huber, A.: Pendereckis "Anaklasis". In: Melos 1971, S. 87Kolmann, P.: Der Weg zur Flächenkomposition. In: Melos 1970, S. 8Müller, K.·J.: Traditionelles bei Penderecki. In: Musik und Bildung 1972, S. 234ders.: K. Penderecki, Anaklasis. In: Zimmerschied, D. (Hrsg.), Perspektiven Neuer

Musik, 1974Schmidt, H-Chr.: Jugend und Neue Musik. o. J.Schwinger, W.: Penderecki, 1979Stroh, W. M.: Penderecki und das Hören erfolgreicher Musik. In: Melos 1970, S. 452Zielinski, T. A.: Der einsame Weg des Krzysztof Penderecki. In: Melos 1962, S. 318ders.: Neue Klangästhetik. In: Melos 1966, S. 210

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