1 Harald Schultze Glaubensgewissheit, Gewissensfreiheit und die Vertreibung der Täufer Vortrag beim Symposium der Ev. Akademie Abt Jerusalem in Braunschweig „Reformation und Toleranz“, 25. Oktober 2013 Die Evangelische Kirche in Deutschland hat – in Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum 2017 - zu einem Themenjahr mit dem Titel „Reformation und Toleranz“ aufgerufen. Sie versteht dies Thema als ein Stück der „Scham- und Schuldgeschichte der reformatorischen Kirchen“, es heißt, die Reformation habe „keinen wirklichen Zugang zum Thema Toleranz gefunden“, es gelte, intolerante Haltungen einzugestehen. Margot Käßmann hat einen Aufruf geschrieben, in dem sie davon ausgeht, dass „die ganze Geschichte von Reformation und Gegenreformation“ ein Sinnbild dafür sei, „die Überzeugungen der anderen nicht zu tolerieren“. Sie will daher von der Lerngeschichte der Toleranz in den zurückliegenden Jahrhunderten sprechen. Dagegen hat der Reformationshistoriker Thomas Kaufmann protestiert. Die Reformation sei nicht die „Mutter der Toleranz“, es sei aber ebenso falsch, von der „Schuld- und Schamgeschichte“ zu sprechen. Es gibt ein schiefes Bild, wenn „der“ Reformation das Etikett der Intoleranz angehängt wird. Jene grausamen Verfolgungsgeschichten, die aus den konfessionellen Kämpfen des 16. Jahrhunderts resultieren, sind ein Phänomen der ganzen Gesellschaft des 16. Jahrhunderts – der katholisch verbliebenen Länder wie auch der evangelisch gewordenen Staatswesen. Die Intoleranz in den verschiedenen Staatswesen des 16. Jahrhunderts wird deshalb ein neues Thema, weil mit dem Aufbruch der Reformation, des Humanismus und der verschiedenen religiös-sozialen Protestbewegungen eine Pluralität religiöser Überzeugungen und Lebensformen das Lebensrecht fordert. Damit wird Toleranz nötig – scheint aber, wegen der gänzlich anderen Denkvoraussetzungen, vorerst staatlich nicht möglich zu sein. Dass trotzdem gerade die Reformation zur Erfindung der Toleranz Entscheidendes bewirkt hat, bedarf der Erläuterung. In diesem Themenjahr sind die unterschiedlichen Positionen in der Beurteilung des Verhältnisses der Reformatoren zur Toleranz auf hohem Niveau, aber bleibend kontrovers diskutiert worden. Unser modernes Verständnis von Toleranz unterscheidet sich strukturell von den Denkvoraussetzungen des 16. Jahrhunderts. Wir setzen voraus, dass ein Staatswesen religiös und ideologisch neutral – und das bedeutet: tolerant sein müsse. Luther vertrat nicht eine
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Glaubensgewissheit, Gewissensfreiheit und die Vertreibung der … · 2013. 10. 28. · 1 Harald Schultze Glaubensgewissheit, Gewissensfreiheit und die Vertreibung der Täufer Vortrag
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Harald Schultze
Glaubensgewissheit, Gewissensfreiheit und die Vertreibung der Täufer
Vortrag beim
Symposium der Ev. Akademie Abt Jerusalem in Braunschweig „Reformation
und Toleranz“, 25. Oktober 2013
Die Evangelische Kirche in Deutschland hat – in Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum
2017 - zu einem Themenjahr mit dem Titel „Reformation und Toleranz“ aufgerufen. Sie
versteht dies Thema als ein Stück der „Scham- und Schuldgeschichte der reformatorischen
Kirchen“, es heißt, die Reformation habe „keinen wirklichen Zugang zum Thema Toleranz
gefunden“, es gelte, intolerante Haltungen einzugestehen.
Margot Käßmann hat einen Aufruf geschrieben, in dem sie davon ausgeht, dass „die ganze
Geschichte von Reformation und Gegenreformation“ ein Sinnbild dafür sei, „die
Überzeugungen der anderen nicht zu tolerieren“. Sie will daher von der Lerngeschichte der
Toleranz in den zurückliegenden Jahrhunderten sprechen.
Dagegen hat der Reformationshistoriker Thomas Kaufmann protestiert. Die Reformation sei
nicht die „Mutter der Toleranz“, es sei aber ebenso falsch, von der „Schuld- und
Schamgeschichte“ zu sprechen.
Es gibt ein schiefes Bild, wenn „der“ Reformation das Etikett der Intoleranz angehängt wird.
Jene grausamen Verfolgungsgeschichten, die aus den konfessionellen Kämpfen des 16.
Jahrhunderts resultieren, sind ein Phänomen der ganzen Gesellschaft des 16. Jahrhunderts –
der katholisch verbliebenen Länder wie auch der evangelisch gewordenen Staatswesen. Die
Intoleranz in den verschiedenen Staatswesen des 16. Jahrhunderts wird deshalb ein neues
Thema, weil mit dem Aufbruch der Reformation, des Humanismus und der verschiedenen
religiös-sozialen Protestbewegungen eine Pluralität religiöser Überzeugungen und
Lebensformen das Lebensrecht fordert. Damit wird Toleranz nötig – scheint aber, wegen der
gänzlich anderen Denkvoraussetzungen, vorerst staatlich nicht möglich zu sein. Dass
trotzdem gerade die Reformation zur Erfindung der Toleranz Entscheidendes bewirkt hat,
bedarf der Erläuterung.
In diesem Themenjahr sind die unterschiedlichen Positionen in der Beurteilung des
Verhältnisses der Reformatoren zur Toleranz auf hohem Niveau, aber bleibend kontrovers
diskutiert worden.
Unser modernes Verständnis von Toleranz unterscheidet sich strukturell von den
Denkvoraussetzungen des 16. Jahrhunderts. Wir setzen voraus, dass ein Staatswesen religiös
und ideologisch neutral – und das bedeutet: tolerant sein müsse. Luther vertrat nicht eine
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religiöse Meinung, die neben anderen ihr Lebensrecht haben müsse – sondern er setzte sich
ein für die Wahrheit des Evangeliums, der er den nötigen Freiheitsraum erkämpfte.
Trotzdem muss strukturell klar werden (mit Rainer Forst1 und Wolfgang Huber): Es ist zu
unterscheiden zwischen
- der Ablehnungskomponente: Voraussetzung ist die eigene fest Überzeugung, die
sich im Widerspruch gegen andere Meinungen vorfindet; Toleranz ist nicht
Indifferenz;
- der Akzeptanzkomponente: der andersdenkende wird als Partner
wahrgenommen, dessen Überzeugung zu achten ist; und
- der Zurückweisungskomponente: es gibt Grenzen der Toleranz gegenüber
Gewaltanwendung und Verletzung von Menschenrechten.
Ausgangspunkt aller Klärungen zum Toleranzverständnis muss es sein, die eigene
Glaubensgewissheit als Wahrheitsüberzeugung zu begreifen. Das ist nicht ein
„wahrscheinlich ist…“ oder „Ich vermute…“ sondern, wie im Heidelberger Katechismus,
Frage 1: „Was ist dein einiger Trost im Leben und im Sterben?“
Toleranz als Forderung der Religionsfreiheit setzt also die Anerkennung der
Gewissensbindung des Gläubigen voraus. Ich vertrete daher die These, dass Luther mit
seinem Postulat der Freiheit des Gewissens gegenüber jeder Regierungsgewalt der
Entdeckung des Grundsatzes der Toleranz die Bahn geöffnet hat. Es gibt eine zögerliche
Erfindung der Toleranz im Jahrhundert der Reformation, die ihren Ausgangspunkt in Luthers
revolutionierendem Ansatz der Gewissensfreiheit hat.
Mit der Einsicht, dass mit Luthers Forderung der Gewissensfreiheit in Glaubenssachen eine
entscheidende Weichenstellung erfolgte, steht aber im Widerspruch, dass Melanchthon,
Luther und Bugenhagen sich sehr ausdrücklich damit einverstanden erklärt haben, dass man
gegen Wiedertäufer die Todesstrafe anwende. Wieso kann die Verweigerung der
Säuglingstaufe als ein todeswürdiges Verbrechen gewertet werden?
Es hat in mehreren deutschen Territorien zwischen 1527 und 1536 zahlreiche Hinrichtungen
von Täufern gegeben. Etliche davon auch in Kursachsen. Dagegen gab es zwar
Landesverweisungen, aber keine Hinrichtungen in Braunschweig, in der Landgrafschaft
Hessen und in Straßburg.
Wie kommt es, dass Johannes Bugenhagen, der sich in Braunschweig für eine gewaltlose
Klärung dieses Streites eingesetzt hat, 1536 aber das Gutachten der Wittenberger über die
Todesstrafe für Wiedertäufer neben Luther, Melanchthon und Cruciger unterzeichnet hat?
1 Forst, Rainer: Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen
Begriffs. 2003
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Martin Luther
Luther hat nicht eine eigene, neue Kirche gründen wollen. Es ging ihm darum, Missstände in
seiner Kirche zu bekämpfen. Er forderte Freiheit für die reine Predigt des Wortes Gottes. Es
ging ihm um die Wahrheit des Evangeliums, die unkenntlich geworden war im Herkommen
der spätmittelalterlichen Kirche. Dass einer der bedeutendsten Prediger solcher
Reformbemühungen, Jan Hus, in Konstanz vom Konzil als Ketzer verurteilt und hingerichtet
worden war, war ihm ein Signal des Missbrauchs. Mit seinem Satz „„Dass Häretiker
verbrannt werden, ist gegen den Willen des Geistes“ forderte er die Papstkirche heraus.
Diese These wurde einer der Anklagepunkte, deretwegen Papst Leo X. Luther den Bann
androhte und später aussprach. War Luther, mit seinem Protest gegen das Papsttum, selbst
zum Häretiker geworden?
Es war ein Autoritätskonflikt von historischer Dimension: Auf dem Reichstag sollte Luther die
beanstandeten Sätze seiner Schriften widerrufen. Die Vertreter der Fürsten und
Reichsstädte, der junge Kaiser Karl V. und die Vertreter der Kirche erklärten, dass dieser
eigensinnige junge Theologieprofessor im Irrtum sei. Dieser aber weigerte sich, etwas
zurückzunehmen – und berief sich auf sein Gewissen:
„Da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich
nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das
Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.“
Hier wird nicht über Toleranz und Intoleranz diskutiert. Aber der Vorgang selbst, dass da ein
einzelner Mann einfordert, dass diese seine Gewissensentscheidung Anerkennung finde,
wird zum Exempel der Toleranzforderung. Die höchste politische und kirchliche Autorität
solle es akzeptieren, dass ihr öffentlich widersprochen werden dürfe.
Jene Autoritäten haben das nicht akzeptiert. Auf dem Reichstag in Worms 1521 wurde
Luther in die Acht getan, d.h. für vogelfrei erklärt. Gegen diesen Missbrauch staatlicher
Autorität (im Gefolge des kirchlichen Fehlurteils!) protestierte er in seiner Kampfschrift „Von
weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ (1523). Was er veröffentlicht
hatte, waren Vorwürfe gegen kirchliche Korruption, gegen die Kommerzialisierung der
Seelsorge im Ablasshandel, gegen die Verfälschung des Evangeliums in der Liturgie des
Abendmahlsgottesdienstes. Das waren Themen der Predigt und der theologischen Lehre –
keinesfalls aber Gegenstände staatlicher Zensur und Jurisdiktion. Dagegen stellte er die
Autonomie des Gewissens: nur das Gewissen könne in Glaubensfragen urteilen, nicht ein
Reichstag.
„Ohnehin glaubt jeder auf seine eigene Gefahr. Er muss selbst darauf sehen, dass er recht
glaubt. […] Weil es also einem jeden auf seinem Gewissen liegt, wie er glaubt oder nicht
glaubt, und damit der weltlichen Gewalt kein Abbruch geschieht, muss sie damit
zufrieden sein, sich um ihre Angelegenheiten zu kümmern, glauben zu lassen so oder
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anders, wie man es kann und will, und niemanden zu zwingen. Denn der Glaube ist frei.
Niemand kann dazu zwingen.“ (WA 11, S. 265)
„Keine menschliche Ordnung kann doch bis in den Himmel reichen und über die Seelen
gebieten, sondern betrifft nur den äußerlichen Umgang der Menschen untereinander auf
der Erden, wo Menschen sehen, erkennen, urteilen, strafen und erretten können.“ (WA
11, S. 266)
Keine menschliche Ordnung kann über die Seelen gebieten – das ist der Kernsatz der
Religionsfreiheit. Und die Konsequenz der Religionsfreiheit ist die Toleranz, die von den
Andersglaubenden und von der Regierungsgewalt gewährleistet werden muss. Mit diesen
Sätzen hat Luther den Weg eröffnet zur Erfindung der Toleranz in seinem Jahrhundert.
Hatte Luther Vorgänger auf diesem Weg zur Einforderung der Gewissensfreiheit?
Offensichtlich muss man zwei unterschiedliche Stränge der Traditionsbildung wahrnehmen:
Gegenüber Juden und „Türken“, d.h. Muslimen, hatte sich die mittelalterliche Kirche
dahingehend verständigt, dass es keine Zwangsbekehrungen geben dürfe; zugleich aber
bestand ausdrücklich die Hoffnung, dass gerade die Juden zur Einsicht kommen würden,
dass Gott ihnen durch Christus das Heil angeboten habe. Dialoge zwischen Arabern, Juden
und Christen gab es gelegentlich in Andalusien im hohen Mittelalter – in Cordoba gibt es
dafür einen Gedenkort.
Kein Geringerer als der Kardinal Nikolaus von Kues (1401- 1464) hat eine „Prüfung des
Koran“ geschrieben (1459) und wohl 1454 den Traktat „De pace fidei“ (Über den Frieden im
Glauben), zunächst als Handschrift verbreitet, zuerst 1488 in Straßburg gedruckt. In diesem
Büchlein – das unter dem Eindruck der Eroberung von Konstantinopel durch die Türken
geschrieben wurde – schildert er den Dialog zwischen Angehörigen verschiedener Nationen
und Religionen. Sie unterhalten sich über die Grundwahrheiten der Religionen. Nikolaus von
Kues ist davon überzeugt, dass sich in den Grundaussagen des Christentums die
wesentlichen Anliegen der monotheistischen Religionen vereinen und daher ein Konsens
möglich werde. Ob aber Luther die Schriften des Kusaners gekannt hat?
Ähnlich steht es mit der humanistischen Tradition, die besonders in der Florentiner
Akademie der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts ausgebildet war: Pico della Mirandola (1463-
1494) trat ebenfalls in seiner Rede „De dignitate hominis“ für das Ziel einer Verständigung
der Religionen in der Einheit des Gottesbegriffs ein. Ähnliche Gedanken finden sich auch in
der „Utopia“ des Thomas Morus (1516). Bei diesen Denkansätzen handelt es sich jedoch
darum, in einem Abstraktionsvorgang zu einem allgemeinen, eher philosophisch
formulierten Gottesbegriff zu kommen – der freilich etwa bei Nikolaus von Kues durchaus
erweitert wird um die Dimension der Trinität und der Erlösungsrolle Jesu Christi. Auf solche
Gedankengänge stoßen wir später wieder, bei Sebastian Castellio und Jean Bodin in der
zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Luthers Postulat der Gewissensfreiheit gründet sich
nicht auf die Deduktion von religiösen Grundvorstellungen, deren Bejahung zur Basis für eine
Meinungsfreiheit in der christlichen Verkündigung berechtige. Es geht bei dieser Forderung
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der Gewissensfreiheit vielmehr um einen eher politischen Grundsatz: um die Grenzen
staatlicher Gewalt. Das ist das Thema der kommenden Jahrhunderte: wie konsequent ist die
Religionsneutralität des Staates zu denken? Dass Luther in seinem Verständnis des
Verhältnisses von Kirche und Staat noch keineswegs in der Struktur des modernen
demokratischen Verfassungsrechts denkt, wird sich noch zeigen. Aber mit dem Postulat,
dass der Staat sich nicht anmaßen dürfe, über die Seelen zu regieren, stellt er die Weichen.
Das hat eine für das Reformationszeitalter maßgebliche Konsequenz: Es kommt dem Staat
daher nicht zu, zu definieren, was Häresie sei.
„Die Ketzerei kann man niemals mit Gewalt abwehren. Dazu gehören andere
Mittel. Hier muss ein anderer Streit ausgefochten werden als mit dem Schwert. Hier
muss Gottes Wort streiten.“ (WA 11, S. 268)
Wie ernst es Luther mit dieser These war, erhellt aus der Stellungnahme zu dem streitbaren
theologischen Gegenentwurf von Thomas Müntzer. 1524 schreibt er an „die Fürsten von
Sachsen“, in einer scharfen Polemik gegen Müntzer. Aber er ruft keineswegs nach
rechtlichen Konsequenzen.
„Man lasse sie nur getrost und frisch predigen, was sie können und gegen wen sie wollen.
Denn, wie ich gesagt habe: Sekten müssen sein, und das Wort Gottes muss im Streit liegen
und kämpfen […] Man lasse die Geister aufeinanderplatzen und miteinander kämpfen.
Werden inzwischen einige verführt, wohlan, das passiert in jedem Kriege.“ (WA 15, S. 218).
Verfolgung der Wiedertäufer
Es gibt in der Geschichte der Reformation in der Tat das dunkle Kapitel der Verfolgung der
Wiedertäufer und der Antitrinitarier. Luther und die anderen Reformatoren – in Wittenberg,
Zürich und Genf – haben jenen Grundsatz der Gewissensfreiheit nicht durchgehalten. Die
Opposition der Täufer werteten sie als ein politisches Problem. Damit verletzten sie aber
ihren eigenen Grundsatz, dass der Staat keine Entscheidungsvollmacht in Glaubensfragen
habe.
Die Vorgänge sind so komplex, dass die Hintergründe erläutert werden müssen. Die
Ablehnung der Kindertaufe mit der Konsequenz, dass sich Erwachsene erneut taufen ließen,
galt seit der Spätantike als eine Straftat, die mit der Todesstrafe geahndet wurde.
Bürgerrecht in den Staatswesen des Abendlandes besaßen – mit Ausnahme der
Sonderrechte für Juden – nur Christen. Sofern nun Ungetaufte, gleich welchen Alters, im
Reich, in der Stadt lebten, gab es also neben den Christen auch Heiden. Das war noch im 16.
Jahrhundert schier undenkbar. Es sei eine Verachtung des klaren Gebotes Gottes, wenn die
Kindertaufe verweigert werde. Verachtung des Gebotes Gottes aber ist Blasphemie. Sie wird
mit dem Tode bestraft.
So galt es noch im Deutschen Reich der Lutherzeit. Als in den habsburgischen Ländern 1526 /
1527 Täufer auftauchten, sah König Ferdinand I., der Bruder Karls V., darin die Gefahr des
Aufruhrs. Er griff ausdrücklich auf das herkömmliche Recht zurück und ließ es 1528 durch ein
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eigenes Mandat, 1529 durch einen förmlichen Beschluss des Reichstags von Speyer (15.3.-
22.4.1529) erneuern.
Kernsatz des ausführlichen Beschlusses ist:
„So erneuern wir die vorigen kaiserlichen Gesetze, auch mit dem genannten darauf
verkündeten Mandat, ordnen, setzen, machen und deklarieren demnach aus kaiserlicher
Machtvollkommenheit und rechtem Wissen und Wollen, dass alle und jede Wiedertäufer
und Wiedergetauften, Mann- und Weibspersonen verständigen Alters, vom natürlichen
Leben zum Tode mit dem Feuer, Schwert oder dergleichen nach Gelegenheit der
Personen, ohne vorhergehende Inquisition der geistlichen Richter, gerichtet und gebracht
werden.“ Wer aber seinen Irrtum widerruft und Reue zeigt, kann begnadigt werden.
(Zitiert nach: Hans-Jürgen Goertz, Die Täufer. Geschichte und Deutung. Berlin 1988, S.
196)
Das also war ein gültiges Reichsgesetz: die Todesstrafe für die aktive und die passive
Wiedertaufe. Auffallend ist dabei, dass es für die Feststellung des „Vergehens“ keines
geistlichen Gerichts bedurfte: die Tatsache der Erwachsenentaufe war hinreichend für das
Todesurteil. Beschlossen wurde das auf dem gleichen Reichstag, auf dem das Wormser Edikt,
das über Luther die Reichsacht verhängte, erneuert wurde. Dagegen haben die
evangelischen Stände protestiert – ein Minderheitsvotum, das politisch relevant war. Das
Gesetz über die Strafbarkeit der Wiedertaufe wurde aber von allen Ständen
unwidersprochen angenommen.
Die Strafverfolgung der Wiedertaufe ist also Thema des Reichsrechts, d.h. der lutherischen
wie der römisch-katholischen Herrschaften. Zu beachten ist, dass Todesstrafen nach dem
geltenden Recht für eine größere Zahl von Verbrechen verhängt wurden: Verrat wurde mit
Vierteilen; Zauberei, Münzfälschung und Brandstiftung wurde mit dem Feuertod bestraft;
das Rad war die Strafe für Mord und Vergiftung, der Galgen bei schwerem Diebstahl;
Notzucht und Raub wurden mit dem Schwert geahndet.
Auch in der Schweiz wurde so streng geurteilt: Zwingli hatte in Zürich erreicht, dass die
Reformation als städtische Ordnung eingeführt wurde – mit der Konsequenz, dass
Wiedertäufer verfolgt wurden. Im März 1526 bereits erließ der Rat der Stadt Zürich ein
Mandat gegen die Täufer; Anfang des Jahres 1527 wurde der Wiedertäufer Felix Mantz in
der Limmat ertränkt. Im Mai 1527 wurde in Rottenburg am Neckar der Täuferführer Michael
Sattler auf bestialische Weise hingerichtet. Hinrichtungen erfolgten auch in Tirol. Hans Hut
starb 1527 in Augsburg im Gefängnis, Balthasar Hubmaier wurde 1528 in Wien verbrannt.
Die Wiedertäufer galten als doppelt gefährlich: die Verweigerung der Kindertaufe richtete
sich auf eine staatlich garantierte kirchliche Ordnung; härter gewertet wurde aber die
Distanzierung der Täufer von Regierungsämtern, von Eid und Justiz. Es ist daher kein Zufall,
dass in der Confessio Augustana, d.h. dem gemeinsamen Bekenntnis der evangelischen
Stände auf dem Augsburger Reichstag im Juni 1530 die Wiedertäufer in Artikel XVI (De rebus
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civilibus = Von der Polizei und weltlichem Regiment. „quod legitimae ordinationes civiles
sunt bona opera dei…“) verdammt werden:
„Damnant Anabaptistas, qui interdicunt haec civilia officia christianis = Hier werden
verdammt die Wiedertäufer, so lehren, dass der obengezeigten keines christlich sei.“
Es war erst 5 Jahre her, dass der Bauernkrieg niedergeschlagen wurde. Das hatte eine
Traumatisierung bewirkt. Die Verfolgung der Wiedertäufer ist Zeichen der Angst, dass
solcher Aufruhr erneut aufflammen könne.
Verfolgungen in Kursachsen
Am 18. Januar 1530 wurden in Reinhardsbrunn sechs Wiedertäufer hingerichtet: Barbara
Unger, Andreas Kolb, Katharina Kolb, Katharina König, Elsa Kunitz und Christoph Ortlepp. Sie
waren aus Oberdeutschland nach Zella-Mehlis gekommen. Der Kurfürst Johann der
Beständige hielt sich also an das 1529 ausdrücklich erneuerte Reichsrecht und verhängte die
Todesstrafe. Friedrich Myconius (1490-1546), Superintendent von Eisenach, hatte sie
verhört und sich bemüht, sie zum Widerruf zu bewegen. Das blieb erfolglos.
Für uns ist besonders aufregend, dass Melanchthon und Luther in einem Gutachten für den
Kurfürsten die Todesstrafe für die Wiedertäufer ausdrücklich billigten. Im Februar 1531
erstattete Melanchthon dem Kurfürsten ein Gutachten zu dessen Mandat gegen die
Wiedertäufer. In diesem Schriftsatz wird die Todesstrafe für rechtens erklärt, weil die
Wiedertäufer sich in Konventikeln versammeln und lehren, dass das Amt der Obrigkeit
unchristlich sei, dass sie Eid und Steuern verweigern. Ja es wird referiert, dass die
Wiedertäufer die Gottlosen alle umbringen wollten. Das seien aufrührerische Artikel “Wer
darauf nach geschehener Vermahnung und Unterricht beharret, soll als ein Aufrührer
gerichtet werden.“ Es müsse auch als Blasphemie gewertet werden, dass die Wiedertäufer
das öffentliche Ministerium Verbi verdammen und keine Kirche akzeptieren wollen. Der
Kurfürst könne also die Strafe mit gutem Gewissen vollziehen lassen.
Selbstverständlich werden solche Personen, die als verführt gelten können, die bereit sind
abzuschwören usw. nicht bestraft. Wenn sie allerdings beim Rückfall ertappt werden, gilt die
volle Strafe. Trotzdem gilt: jene Sekte der Wiedertäufer ist ein Werk des Teufels, der die
rechte Lehre zerstören will.
Luther hat es unterzeichnet mit dem Zusatz: „Placet mihi Martino Luthero. Wiewohl es
grausam anzusehen, dass man sie mit dem Schwert straft, so ist es doch grausamer, dass sie
das Predigtamt damnieren und kein gewisse Lehre treiben und rechte Lehre unterdrücken
und dazu die Reiche dieser Welt zerstören wollen.“ (Melanchthon, Briefwechsel Nr. 1119)
Dieser Vorgang ist charakteristisch: Melanchthon argumentiert auf der Basis des
Reichsrechts. Luther erkennt offenbar die Inkonsequenz dieses Urteils: wird hier nicht doch
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durch den Staat über die Gewissen regiert – entgegen dem eigenen Postulat der
Reformation? Aber er unterzeichnet das Gutachten – möglicherweise wegen der Gefahr des
Aufruhrs. Ist aber diese Diagnose richtig?
Wenige Jahre später gibt es einen neuen Vorgang. Im November 1535 wurden in dem Dorf
Kleineutersdorf bei Kahla 11 Männer und 5 Frauen verhaftet: eine täuferische Gruppe, die
sich dort versammelt hatte. Dazu gehörten Prediger, die aus Sachsen oder Hessen
hierhergekommen waren. Alle wurden auf der Leuchtenburg gefangen gesetzt, anschließend
z.T. in Kahla und Jena verhört. Melanchthon und Caspar Cruciger waren gerade als
Visitatoren im Saaletal tätig, so dass sich Melanchthon an den – offenbar gründlichen -
Verhören persönlich beteiligte und darüber dem jungen Kurfürsten Johann Friedrich (1503-
1554) berichtete. Die Nachrichten vom Reich der Wiedertäufer und dessen Niederschlagung
im Juni 1535 in Münster hatte Schrecken ausgelöst. Die Verhöre wurden mit der Zielstellung
geführt, die Täufer und die Getauften wiederum zur Anerkennung der evangelischen Lehre
zu führen, was bei einigen gelang. Drei von ihnen blieben aber standhaft bei ihren
geistlichen Gegenthesen: Heinz Krauth, Jobst Moller und Hans Peißker. Mit dem
kurfürstlichen Hof wurde noch von Amts wegen rückgekoppelt, die Todesstrafe sollte
vermieden werden. Als aber jene drei Männer auch nach der „Peinlichen Befragung“ nicht
zum Widerruf bereit waren, wurden sie am 26. Januar 1536 in Jena enthauptet.
Übrigens hatte es im September 1535 schon die Hinrichtungen von Georg Möller, Georg
Köhler, Petronella und deren Tante in Sangerhausen gegeben, ebenso waren 1535 Hans
Höhne und Adrian Richter bei Gröningen in der Bode ertränkt worden. Jene Hinrichtungen
waren aber auf Befehl anderer, katholischer Fürsten erfolgt: Georg der Bärtige war der
Landesherr von Sangerhausen, Kardinal Albrecht von Brandenburg im Fürstbistum
Halberstadt. Die Durchführung der Täuferverfolgung war abhängig von den territorialen
Verwaltungen. In den verschiedenen Berichten über die Verfolgung der Täufer ist erkennbar,
dass die Behörden mehrfach versuchten, die Todesstrafe zu vermeiden. Beispielhaft ist die
Lage in Straßburg: zunächst eine offene Stadt, in der sich Menschen ganz unterschiedlicher
Bekenntnisse trafen; seit Beginn der 30er Jahre wurde aber strenger beaufsichtigt:
Dissidenten wurden aus der Stadt verwiesen. Es gab aber in Straßburg keine Hinrichtung.
Eine Ausnahmestellung nahm ebenfalls Landgraf Philipp von Hessen ein, der Täufer zwar
gefangen setzte, die Todesstrafe aber vermied.
In dieser Phase der Verunsicherung, wie weit die Verfolgung von Wiedertäufern gehen
müsse, gibt es noch einmal ein Gutachten der Wittenberger Theologen, das für den
Landgrafen Philipp von Hessen im Juni 1536 erstellt wurde2
2 Ob Christliche Fürsten schuldig sind, der Widerteuffer unchristlichen Sect mit leiblicher straffe, und mit dem
schwert zu wehren. Am 5. Juni 1536 an Landgraf Philipp von Hessen gesandt. Druck: August 1536 in
Wittenberg. (WA 50, S. 9-15).
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Es wird auf den Grundsatz, dass die Fürsten nicht über geistliche Sachen zu richten hätten,
Bezug genommen. Anders aber wird es gewertet, wenn es sich um Abgötterei und
Blasphemie handle. Dann sei es Pflicht der Fürsten, Gottes Ehre zu wahren. Auch die
Gründung einer anderen Kirche dürfe nicht geduldet werden, wenn die reine Lehre geübt
und in der eigenen Kirche die Abgötterei abgewiesen ist. Das Gutachten geht auf das
Argument der Taufgesinnten ein, dass nach dem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen
doch Menschen nicht Gottes Strafe vorwegnehmen dürften. Das habe das Predigtamt zu
beachten. Aber: es bleibt die Pflicht des weltlichen Regiments, „Gottes Lästerung, falsche
Lehre, Ketzereien zu wehren und die Anhänger am Leib zu strafen.“
„Die weltliche Obrigkeit soll nicht allein dem Menschen dienen zu leiblichen
Wohlfahrt, sondern zu förderst zu Gottes Ehre. Denn sie ist Gottes Dienerin, den soll
sie erkennen und mit ihrem Exempel preisen.“
Das Gutachten wurde von Martin Luther, Johannes Bugenhagen, Caspar Cruciger und Philipp
Melanchthon unterzeichnet. Luther fügte wieder einen Zusatz an: „Dies ist die gemeine
Regel, doch mag unser gnädiger Herr, allezeit Gnade neben der Strafe gehen lassen, nach
Gelegenheit der Zufälle.“
Dies Gutachten, nach der Niederschlagung der von den Wiedertäufern in Münster
errichteten Theokratie erstattet, macht deutlich: die Wittenberger Reformatoren hatten sich
von dem allgemeinen Konsens des Deutschen Reiches, dass der Staat Gotteslästerung nicht
zulassen dürfe, nicht getrennt. Im Vordergrund stand die Ablehnung des Aufruhrs, aktuell
geworden durch die Vorgänge in Münster. Doch darüber hinaus ging es auch um die Abwehr
von Sektengründungen gegen die bestehende reformatorische Kirchenordnung.
„In einem weiten, aber durchaus bestimmten Sinne ist also Luthers Intoleranz politisch
begründet; politisch so verstanden, dass der Staat an den Auftrag Gottes, die Ordnung
der Welt zu erhalten, gebunden ist. Nicht um des Evangeliums willen […], sondern um
des geordneten Lebens willen muss die ketzerische Lehre durch die Obrigkeit
unterbunden werden.“ i3
Im Hintergrund steht die selbstverständlich erscheinende Voraussetzung, dass der Staat als
Diener Gottes es nicht zulassen dürfe, dass Gott verleugnet wird. Gerade hier wird Luthers
Zwei-Reiche-Lehre aktuell wirksam: Das weltliche Regiment hat ein anderes Mandat als die
Kirche. Aber auch der Staat muss Gottes Gebot folgen. Das Römische Reich von 1536 ist ein
corpus christianum, in dem wohl Juden mit ihren Sonderrechten von Fall zu Fall geduldet
werden , aber nicht „Heiden“, also Atheisten. Offenbar ist sich Luther deutlicher als
Melanchthon der Inkonsequenz bewusst gewesen. Es belastet unser Reformationsgedenken,
dass es nicht nur im katholischen Raum, sondern auch in Kursachsen Hinrichtungen von
3 Heinrich Bornkamm, Das Problem der Toleranz im 16. Jahrhundert. In: ders., Das Jahrhundert der
Reformation. 2. Aufl. Göttingen 1966. S. 271.
10
Täufern gegeben hat. (Allerdings sind nirgends Anhänger des alten römisch-katholischen
Glaubens hingerichtet worden!)
Luther und die Reformatoren hielten „an der traditionellen Vorstellung des corpus
christianum als Grundlage des gesellschaftlich-politischen Zusammenlebens“ fest. „Denn
nach jener Vorstellung gab es falsche Lehre, die keine bloße Glaubensdifferenz markierte,
sondern den Grundkonsens der christlichen Gesellschaft in Frage stellte.“ 4
Situation in Braunschweig
Bevor Bugenhagen die Braunschweiger Kirchenordnung 1528 konzipieren konnte, gab es in
Braunschweig ganz unterschiedliche reformatorische Bestrebungen. 5
Eine breite Bewegung der Wiedertäufer entstand offenbar nicht. Einzelne Prediger wurden
zur Disputation geladen, zum Widerruf aufgefordert – und bei Weigerung der Stadt
verwiesen.
Heinrich Knigge und Richard Schweinfuß werden von Bugenhagen zur Disputation auf
dem Neustadtrathaus geladen und – wegen ihrer Irrlehre – ihrer Ämter enthoben,
der Stadt verwiesen.
Die Prediger Johann Kopmann, Konrad Dume und Hermann Hoyer von St. Andreas
werden zum Widerruf aufgefordert. Dume verweigert dies und verlässt die Stadt –
die beiden anderen fügen sich.
Das größere Problem bildete die Auseinandersetzung mit denjenigen Gruppen und
Amtsträgern, die sich der reformatorischen Predigt verweigerten. Die komplizierte
Rechtssituation der Patronatsrechte des katholischen Landesherrn an der Stiftskirche St.
Blasii und am Kloster St. Ägidien machten es unmöglich, zwangsweise die Reformation
einzuführen.
Für unseren Zusammenhang ist von Bedeutung: Die Reformatoren in Wittenberg ebenso wie
der Rat in Braunschweig haben gegenüber den beharrlichen Anhängern der römischen
Kirche keine Strafverfolgung angeordnet. Die Gewissensfreiheit wurde gewährleistet.
Es handelt sich um das Spiegelbild zu der Bewertung der Wiedertaufe. Nur die Wiedertaufe,
nicht dias Festhalten an der römischen Kirche verstieß gegen das Reichsrecht. Es blieb
selbstverständlich, dass es im christlichen Staat keine Heiden geben dürfe. Für Juden gab es
die (höchst eingeschränkten) Sonderrechte. Muslime lebten außerhalb des Reiches.
Dass aber gerade die Kindertaufe zum entscheidenden Kriterium für die Gewährleistung des
Bürgerrechts wurde, zeigt sich indirekt auch in der Braunschweiger Kirchenordnung von
1528: der Artikel über die Kindertaufe ist besonders ausführlich, besonders ausdrücklich
formuliert. Die Nachrichten über die Predigt der Wiedertäufer und die Reaktionen der
Schweizer und der Habsburger stehen im Hintergrund.
4 So Michael Beintker /Heinz Schilling / Dorothea Wendebourg im Auftrag des wiss. Beirates der Lutherdekade:
Reformation, Gewissensfreiheit und Toleranz“. Im Themenheft der EKD Reformation und Politik, 2014, S. 30)
5 Ausführliche Darstellung bei Klaus Jürgens, Um Gottes Ehre und unser aller Seelen Seligkeit, Die Reformation
in der Stadt Braunschweig von den Anfängen bis zur Annahme der Kirchenordnung 1528. (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig, H. 13, 2003, 7-82.
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Weiterentwicklung im Kompromiss
Eine dauerhafte Klärung findet das Thema der Glaubensverschiedenheit innerhalb des
Deutschen Reiches mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555. Der durch Jahrzehnte
währende Streit um die Durchsetzung der Reformation endet mit einem Patt: weder die alte
Kirche, noch die neue Lehre hatten gesiegt. Geblieben war der Grundsatz, dass es in einem
Territorium einer einheitlichen Konfession bedürfe. Die Einheit war aber nicht mehr durch
das Reich zu gewährleisten. Die Territorien hatten die Entscheidung. Gewinn für die Toleranz
war nun das „ius emigrandi“: dissentierende Einwohner wurden nicht unter Zwang zur
herrschenden Konfession genötigt, sondern konnten das Fürstentum oder die Stadt
verlassen. Ein Meilenstein auf dem Weg zur Toleranz.
Er bedeutete aber noch nicht die Durchsetzung der allgemeinen Religionsfreiheit. Weder
Calvinisten noch Täufer waren geduldet.
In den drei Jahrzehnten von 1523 (Luthers Schrift über die Obrigkeit) bis 1554 (Castellios
Protest gegen die Hinrichtung Servets) ist ein weiter Erkenntnisweg zurückgelegt worden.
Luther hatte mit seiner Forderung, dass der Staat nicht über die Gewissen regieren dürfe,
das Tor aufgestoßen zu der künftigen Klärung der Religionsneutralität des Staates
überhaupt. Das haben die Reformatoren jedoch nicht durchgehalten, weil der Sozialprotest
der Täuferbewegung zugleich die Infragestellung der Heilsnotwendigkeit der
reformatorischen Glaubensüberzeugung war. Die konsequentere Forderung nach
Glaubensfreiheit durch Täufer und Spiritualisten provozierte Verfolgungen, die etliche von
ihnen zu Märtyrern machten. Wer an seinem Bekenntnis festhielt, musste auswandern –
zunächst in die Niederlande, nach Polen oder Siebenbürgen. Ein Minimalerfolg zeichnete
sich aber ab, wie er dann 1555 im Augsburger Religionsfrieden bestätigt wurde: Zwei sich
gegenseitig ausschließende Formen christlichen Glaubens erhielten das Existenzrecht im
Reich. Und die Dissidenten durften auswandern – das bedeutete die Etablierung eines
Menschenrechtes.
Mit dieser juristischen Lösung wurde aber die Grundsatzfrage, die die Toleranzdiskussion bis
heute bestimmt, nicht gelöst: Welche Konsequenz ergibt sich, wenn ein Glaubender, wenn
die Gemeinschaft der Glaubenden in einer Kirche überzeugt ist, Gottes Wahrheit erkannt zu
haben? Wenn sie sich verpflichtet weiß, dieser Wahrheit Anerkennung unter den Menschen
zu verschaffen? Wenn diese Glaubenswahrheit sich in gegliederten, differenzierenden
Lehraussagen konkretisiert?
Toleranz als rechtliche Gewährleistung der Meinungsfreiheit auch des Andersdenkenden ist
im wörtlichen Sinn eine Duldung. Sie bedeutet aber nicht die Relativierung der eigenen
Wahrheitserkenntnis. Toleranz kann umschlagen in eine Gleichgültigkeit in der
Wahrheitsfrage – als Indifferentismus kann sie sich leicht mit erkenntnistheoretischer
Skepsis verbünden. Das war für Luther, Melanchthon, Bugenhagen, Zwingli und Calvin aber
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undenkbar. Gerade die gegenwärtige Situation unserer Welt zeigt, wie nötig es ist, Toleranz
zu gewähren – und wie schwer die Aufgabe geworden ist, in einer pluralistischen
Gesellschaft die Suche nach Wahrheit lebendig zu erhalten.