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Die souveräne Macht und das nackte Leben edition suhrkamp SV Giorgio Agamben Homo sacer
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Jan 14, 2019

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Die souveräne Macht und das nackte Leben

edition suhrkampSV

Giorgio Agamben Homo sacer

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Jung

Suhrkamp es 2068 Agamben, Homo sacer (Erbschaft unserer Zeit) 2. Lauf

Erbschaft unserer ZeitVorträge über den Wissensstand der Epoche

Band 16

Im Auftrag des Einstein Forumsherausgegeben von Gary Smith und Rüdiger Zill

In

Homo sacer

stellt Giorgio Agamben im Anschluß an Foucault und alsphilosophische Korrektur von dessen Konzept der Biopolitik die Theseauf, daß diese, indem sie den Menschen auf einen biologischen Nullwertzurückzuführen versucht, das

nackte Leben

zum eigentlichen Subjektder Moderne macht. Im archaischen römischen Recht wurde das nackteLeben von der Figur des

homo sacer

verkörpert: Zwar durfte er straflosgetötet, nicht aber geopfert werden, was auch seine Tötung sinnlos undihn gleichsam unberührbar machte (woraus sich der Doppelsinn vonsacer als »verflucht« und »heilig« ableitet). Der

homo sacer

markiert dieGrenze zwischen dem nackten und dem rechtlich eingekleideten Leben.Er steht für das rechtlich ungeschützte, nur dem Souverän verfügbareLeben und charakterisiert so die Souveränität als solche.Ausgehend von Carl Schmitts Souveränitätskonzept und im Umwegüber historische Stationen der politischen Kulturgeschichte kommtAgamben zu einer Analyse des Konzentrationslagers als »nómos der Mo-derne«, wo Recht und Tat, Regel und Ausnahme, Leben und Tod unun-terscheidbar werden. In den zwischen Leben und Tod siechenden Häft-lingen, aber auch in den Flüchtlingen von heute sieht er massenhaftrealgewordene Verkörperungen des homo sacer und des nackten Lebens.Die philosophische Begründung dessen, daß diese Möglichkeit keines-wegs nur historisch ist, hat eine Diskussion entfacht, die weit über Italienund Europa hinausreicht.

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Giorgio AgambenHomo sacer

Die souveräne Macht und das nackte Leben

Aus dem Italienischenvon Hubert Thüring

Suhrkamp

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Diese Buchreihe wurde ermöglicht durch die BerlinerFestspiele GmbH

Originaltitel: Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita© 1995 Giulio Einaudi editore s. p. a., Torino

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012© der deutschen Ausgabe: Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002

Deutsche ErstausgabeAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag gestaltet nach einem Konzeptvon Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

978-3-518-78421-1eISBNwww.suhrkamp.de

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Erbschaft unserer Zeit

Das

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. Jahrhundert, dessen geistiges Erbe in dieser Buchreihegeprüft werden soll, hat durch einen unvorstellbaren Verlust anEthik Geschichte gemacht. Es war uns vorbehalten, die Tech-niken der Naturbeherrschung so zu entfalten, daß sie auch ander inneren Natur des Menschen keine Grenze mehr fanden unddamit das Jahrhundert der Völkermorde ermöglichten. Verdunund Vietnam, Auschwitz und der Archipel Gulag waren die in-humanen Stationen jenes Fortschrittszuges, den wir lieber zuFreud und Benjamin, Picasso und Godard fahren sahen.

Kann man diese Paradoxie in einer Synthese unseres heutigenWissens aufheben? Die Bände der »Erbschaft unserer Zeit« ver-suchen es mit einem Zugang, der an die Enzyklopädisten erin-nert. Sie gehen auf Vorträge zurück, die bis zur Jahrtausend-wende in Berlin gehalten wurden. Führende Wissenschaftler ausunterschiedlichen Disziplinen leisten auf Einladung des Ein-stein Forums und der Berliner Festspiele GmbH Beiträge zueiner Bilanz der Moderne, die nur einen gemeinsamen Flucht-punkt kennt: gänzliche Illusionslosigkeit über das Zeitalter –aber dennoch ein rückhaltloses Bekenntnis zu ihm.

Gary Smith

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Inhalt

Einleitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Erster Teil

Logik der Souveränität

1. Das Paradox der Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252. Nomos basileus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413. Potenz und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504. Rechtsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

Schwelle

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

Zweiter Teil

Homo sacer

1. Homo sacer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 812. Die Ambivalenz des Heiligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 853. Das heilige Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 914. Vitae necisque potestas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 975. Souveräner Körper und heiliger Körper . . . . . . . . . . . . . 1016. Der Bann und der Wolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

Schwelle

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

Dritter Teil

Das Lager als biopolitisches Paradigma der Moderne

1. Die Politisierung des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1272. Die Menschenrechte und die Biopolitik . . . . . . . . . . . . . 1353. Lebensunwertes Leben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1454. »Politik, d. h. die Gestaltung des Lebens der Völker« . . 1535.

VP

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1636. Politisierung des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1697. Das Lager als

nómos

der Moderne. . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Schwelle

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

Anmerkungen zur Übersetzung und zur Zitierweise

. . . . . 199

Bibliographie .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

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Homo sacer

Die souveräne Macht und das nackte Leben

I

»Das Recht hat kein Dasein für sich, sein Wesen viel-mehr ist das Leben der Menschen selbst, von einer be-sonderen Seite angesehen.«

Friedrich Carl von Savigny

»Ita in iure civitatis, civiumque officiis investigandisopus est, non quidem ut dissolvatur civitas, sed tamen uttanquam dissoluta consideretur, id est, ut qualis sit na-tura humana, quibus rebus ad civitatem compaginan-dam apta vel inepta sit, et quomodo homines inter secomponi debeant, qui coalescere volunt, recte intelliga-tur.«

1

Thomas Hobbes

1 »Ebenso muß bei der Ermittlung des Rechtes des Staates und der Pflichtender Bürger der Staat zwar nicht aufgelöst, aber doch gleichsam als auf-gelöst betrachtet werden, d. h., es muß richtig erkannt werden, wie diemenschliche Natur geartet ist, wieweit sie zur Bildung des Staates geeignetist oder nicht, und wie die Menschen sich zusammentun müssen, wenn sieeine Einheit werden wollen.« (Hobbes 1, S. 79f.)

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Einleitung

Die Griechen kannten für das, was wir mit dem Begriff

Leben

ausdrücken, kein Einzelwort. Sie gebrauchten zwei Begriffe, diemorphologisch und semantisch verschieden sind, auch wennman sie auf eine gemeinsame Wurzel zurückführen kann:

zo-

e

-meinte die einfache Tatsache des Lebens, die allen Lebewesengemein ist (Tieren, Menschen und Göttern),

bíos

dagegen be-zeichnete die Form oder Art und Weise des Lebens, die einemeinzelnen oder einer Gruppe eigen ist. Wenn Platon im

Philebos

drei Lebensarten anführt und Aristoteles in der

Nikomachi-schen Ethik

das kontemplative Leben des Philosophen (

bíostheo-re

-

tikós

) vom Leben der Lust und des Vergnügens (

bíos apo-laustikós

) und vom politischen Leben (

bíos politikós

) unter-scheidet, hätten sie niemals den Begriff

zo-

e

- gebrauchen können(dem bezeichnenderweise im Griechischen die Pluralformfehlt); und zwar aus dem einfachen Grund, weil es beiden in kei-ner Weise um das natürliche Leben, sondern um ein qualifizier-tes Leben, um eine besondere Lebensweise zu tun war. Aristo-teles kann sehr wohl von einer

zo-

e

-

aríste

-

kaì aídios

, einemhöheren und ewigen Leben sprechen (Met.

1072

b,

28

), aber nur,um die nicht banale Tatsache herauszustreichen, daß auch Gottein Lebewesen ist (so wie er sich im selben Kontext des Begriffs

zo-

e

- bedient, um in ebensowenig trivialer Weise den Akt desDenkens zu bestimmen); von einer

zo-

e

-

politik

e- der AthenerBürger zu sprechen hätte jedoch keinen Sinn ergeben. Nicht daßder Antike die Idee nicht vertraut gewesen wäre, daß das natür-liche Leben, die einfache zo-e- als solche, an sich ein Gut sei; Ari-stoteles drückt dieses Bewußtsein in einem Abschnitt der Politiksogar mit unübertrefflicher Klarheit aus. Nachdem er daran er-innert hat, daß der Zweck des Gemeinwesens sei, dem Guten ge-mäß zu leben, sagt er:

»Und das [dem Guten gemäß zu leben] ist nun besonders das Ziel, so-wohl für alle in Gemeinschaft als auch voneinander getrennt. Sie kom-men aber auch bloß um des Lebens willen zusammen, und sie verfügenzusammen über eine politische Gemeinschaft. Vielleicht liegt nämlichschon ein Teil des Guten im Leben allein an sich [katà tò ze-n autòmónon]. Wenn die Beschwerlichkeiten des Lebens nicht zu sehr über-

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handnehmen [katà tòn bíon], so ist es klar, daß viele Menschen in ih-rem Verlangen nach Leben [zo-e-] reichlich Not ertragen, als gäbe es indiesem ein gewisses Glücksgefühl [euhe-mería: schöner Tag] und einenatürliche Annehmlichkeit.« (Pol. 1278b, 23-30)

In der antiken Welt ist das einfache natürliche Leben jedoch ausder pólis im eigentlichen Sinn ausgeschlossen und als rein repro-duktives Leben strikt auf den Bereich des oîkos eingeschränkt(1252a, 26-32). Am Anfang seiner Politik verwendet Aristotelesalle Sorgfalt darauf, den oikonómos (Kopf eines häuslichen Un-ternehmens) und den despótes (Familienoberhaupt), die sich umdie Fortpflanzung und Erhaltung des Lebens kümmern, vomPolitiker zu unterscheiden, und verspottet diejenigen, die glau-ben, es handle sich um einen quantitativen Unterschied undnicht um einen Unterschied in der Art. Und wo er den Zweckder Gemeinschaft bestimmt – eine Stelle (1252b, 30), die für dieabendländische Tradition kanonisch bleiben sollte –, tut er diesgerade, indem er die einfache Tatsache des Lebens (tò ze-n) gegendas politisch qualifizierte Leben abgrenzt (tò eû ze-n): ginoméne-mèn oûn toû ze-n héneken, oûsa dè toû eû ze-n, »enstanden um desLebens willen, aber bestehend um des guten Lebens willen« (inder lateinischen Übersetzung des Wilhelm von Moerbeke, diesowohl Thomas von Aquin wie Marsilius von Padua vor sichhatten: facta quidem igitur vivendi gratia, existens autem gratiabene vivendi).

Es stimmt, daß an einer sehr berühmten Stelle desselben Wer-kes der Mensch als politikòn zo-on definiert wird (1253a, 4); hieraber (abgesehen davon, daß in der attischen Prosa das Verbbio-nai kaum im Präsens gebraucht wird) ist »politisch« nicht einAttribut des Lebewesens als solches, sondern eine spezifischeDifferenz zur Bestimmung der Gattung zo-on. (Im übrigen wirdunmittelbar danach die menschliche Politik von derjenigen deranderen Lebewesen unterschieden, weil sie durch einen sprach-gebundenen Zusatz an Politizität auf einer Gemeinschaft vonGutem und Bösem, Gerechtem und Ungerechtem und nichteinfach nur von Lust- und Schmerzvollem gegründet ist).

Auf diese Bestimmung bezieht sich Michel Foucault, wenn eram Schluß von Der Wille zum Wissen den Prozeß zusammen-faßt, aufgrund dessen man auf der Schwelle zur Moderne das na-türliche Leben in die Mechanismen und Kalküle der Staats-macht einzubeziehen beginnt und sich die Politik in Biopolitik

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verwandelt: »Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblie-ben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einerpolitischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier,in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.«(Foucault 1, S. 171)

Foucault zufolge liegt die »›biologische Modernitätsschwelle‹einer Gesellschaft« dort, wo die Gattung und das Individuumals einfacher lebender Körper zum Einsatz ihrer politischenStrategie werden. Im Brennpunkt seiner Vorlesungen amCollège de France steh von 1977 an der Übergang vom »Territo-rialstaat« zum »Bevölkerungsstaat« und damit die schwindel-erregend wachsende Bedeutung des biologischen Lebens undder Volksgesundheit für die souveräne Macht, die sich zuneh-mend in eine »Regierung der Menschen« verwandelt (Foucault2, S. 719). Daraus ergibt sich eine gewisse Animalisierung desMenschen, die durch die ausgeklügeltsten politischen Techni-ken ins Werk gesetzt wird. Gleichzeitig mit der Ausbreitung derMöglichkeiten der Human- und Sozialwissenschaften entstehtnun auch die Möglichkeit, das Leben sowohl zu schützen wieauch seinen Holocaust zu autorisieren. Von dieser Seite her be-trachtet wären insbesondere die Entwicklung und der Triumphdes Kapitalismus ohne die disziplinarische Kontrolle nichtmöglich gewesen, welche die neue Biomacht ausgeübt hat; mit-tels einer Reihe geeigneter Technologien schuf sie gewisserma-ßen die »gelehrigen Körper«, deren sie bedurfte.

Auf der anderen Seite hat Hannah Arendt in The HumanCondition1 bereits Ende der fünfziger Jahre (also fast zwanzigJahre vor Der Wille zum Wissen) den Prozeß analysiert, der denhomo laborans und mit ihm das biologische Leben zunehmendins Zentrum der politischen Bühne der Moderne rückt. Sogardie Veränderung und den Niedergang des öffentlichen Raumeshat Hannah Arendt auf diesen Vorrang des natürlichen Lebensvor dem politischen Handeln zurückgeführt. Daß ihre For-schungen praktisch ohne Nachfolge geblieben sind und Fou-cault sein biopolitisches Feld ohne Bezug auf sie hat eröffnenkönnen, zeugt von den Schwierigkeiten und den Widerständen,die das Denken in diesem Bereich zu gewärtigen hatte. Und ge-

1 Deutsche Ausgabe unter dem Titel Vita activa oder Vom tätigen Leben;der auch im Original genannte Titel der amerikanischen Ausgabe (1959)entspricht dem referierten Inhalt thematisch besser.

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rade diesen Schwierigkeiten ist wahrscheinlich sowohl die son-derbare Tatsache geschuldet, daß Hannah Arendt in The Hu-man Condition keinerlei Anschlüsse an die tiefgehenden Analy-sen herstellt, die sie zuvor der totalitären Macht gewidmet hat(und in denen jegliche biopolitische Perspektive fehlt), als auchder ebenfalls merkwürdige Umstand, daß Foucault seine Unter-suchungen nie auf das Feld schlechthin der modernen Biopolitikverlegt hat: das Konzentrationslager und die Struktur der gro-ßen totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts.

Der Tod hat Foucault daran gehindert, alle Implikationen desKonzepts der Biopolitik zu entfalten und die Richtung anzuzei-gen, in der er die Untersuchung vertieft hätte. Doch das Eintre-ten der zo-e- in die Sphäre der pólis, die Politisierung des nacktenLebens als solches bildet auf jeden Fall das entscheidende Ereig-nis der Moderne und markiert eine radikale Transformation derklassischen politisch-philosophischen Kategorien. Es ist sogarwahrscheinlich, daß es, wenn die Politik heute eine fortwäh-rende Finsternis zu durchqueren scheint, genau daran liegt, daßsie versäumt hat, es mit diesem Gründungsereignis der Moderneaufzunehmen. Die »Rätsel« (Furet, S. 7), die unser Jahrhundertdem historischen Verstehen aufgegeben hat und die ihre Aktua-lität behaupten (der Nazismus ist davon bloß das beunruhi-gendste), wird man nur auf dem Boden – demjenigen der Bio-politik – lösen können, auf dem sie gewachsen sind. Nur ineinem biopolitischen Horizont wird man entscheiden können,ob die Kategorien, auf deren Opposition sich die moderne Poli-tik gegründet hat (rechts/links, privat/öffentlich, Absolutis-mus/Demokratie etc.), die nun aber immer mehr verschwim-men und heute in eine eigentliche Zone der Ununterscheidbar-keit geraten, endgültig aufzugeben sind oder ob sie womöglichdie Bedeutung wiedergewinnen können, die sie gerade in jenemHorizont zeitweilig verloren haben. Und nur eine Reflexion, dieausgehend von Foucaults und Walter Benjamins Ansätzen dieBeziehung zwischen nacktem Leben und Politik thematisch be-fragt – eine Beziehung, die im geheimen auch die scheinbar amweitesten entfernten Ideologien regiert –, wird das Politischeaus seiner Verborgenheit heraus- und das Denken zu seinerpraktischen Aufgabe zurückführen.

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Eine der konstantesten Ausrichtungen von Foucaults Arbeit istdie entschiedene Abkehr von den traditionellen Zugangsweisenzum Machtproblem, weg von den juridisch-institutionellenModellen (die Definition der Souveränität, die Theorie des Staa-tes) in Richtung einer vorbehaltlosen Analyse der konkretenWeisen, in denen die Macht selbst den Körper der Subjekte undihre Lebensformen durchdringt. In den letzten Jahren, wie dasetwa ein an der Universität von Vermont gehaltenes Seminarzeigt, scheint diese Analyse zwei gesonderte Forschungsrich-tungen einzuschlagen: auf der einen Seite das Studium der poli-tischen Techniken (wie die Polizeiwissenschaft), mit denen derStaat die Sorge um das natürliche Leben der Individuen über-nimmt und in sich integriert; auf der anderen Seite das Studiumder Technologien des Selbst, mittels deren sich der Subjektivie-rungsprozeß vollzieht, der die Individuen dazu bringt, sich andie eigene Identität und zugleich an eine äußere Kontrollmachtzu binden. Es ist offensichtlich, daß diese beiden Linien (sie fol-gen übrigens zwei seit Beginn von Foucaults Arbeit vorhande-nen Tendenzen) sich an mehreren Punkten verknoten und aufein gemeinsames Zentrum verweisen. In einer seiner letztenSchriften stellt Foucault fest, daß der moderne westliche Staatin einem bislang unerreichten Maß subjektive Techniken derIndividualisierung und objektive Prozeduren der Totalisierungintegriert hat; er spricht von einem eigentlichen »politischendouble bind, das die gleichzeitige Individualisierung und Totali-sierung der modernen Machtstrukturen bildet« (Foucault 3,S. 229-232).

Der Punkt, in dem diese beiden Aspekte konvergieren, ist inseinen Forschungen dennoch seltsam unbeleuchtet geblieben,so daß man bemerkt hat, er habe sich einer einheitlichen Theorieder Macht konsequent verweigert. Doch wenn Foucault dentraditionellen Zugang zum Machtproblem von juridischen(»was legitimiert die Macht?«) oder institutionellen (»was ist derStaat?«) Modellen her ablehnt und vorschlägt, sich »von dertheoretischen Privilegierung des Gesetzes und der Souveräni-tät« zu lösen (Foucault 1, S. 111) und eine Analytik der Machtaufzubauen, deren Modell und Code nicht mehr das Recht ist,wo im Körper der Macht befindet sich dann jene Zone der Un-unterscheidbarkeit (oder wenigstens der Schnittpunkt), in dersich die Techniken der Individualisierung und die Prozeduren

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der Totalisierung berühren? Gibt es, allgemeiner gesagt, ein ein-heitliches Zentrum, in dem das »double bind« seinen Ort hat?Daß es in der Genese der Macht einen subjektiven Aspekt gibt,war bereits im Begriff der servitude volontaire von La Boétieimplizit enthalten; doch welches ist der Punkt, in dem die frei-willige Knechtschaft der einzelnen mit der objektiven Machtkommuniziert? Ist es möglich, daß man sich in einem so ent-scheidenden Bereich mit psychologischen Erklärungen begnügtwie jener (gewiß nicht reizlosen), die eine Parallele zwischen äu-ßeren und inneren Neurosen zieht? Und ist es angesichts vonPhänomenen wie der Medien-Spektakel-Macht, die heute über-all den politischen Raum verwandelt, überhaupt noch legitimoder auch nur möglich, subjektive Technologien und politischeTechniken auseinanderzuhalten?

Obwohl eine solche Ausrichtung in Foucaults Forschungenlogisch impliziert zu sein scheint, bleibt sie ein blinder Fleck imGesichtsfeld des Forschers oder eine Art Fluchtpunkt, der sichunendlich entzieht, auf den die verschiedenen Perspektivlinienseiner Untersuchungen (und allgemeiner die ganze abendländi-sche Reflexion über die Macht) zulaufen, ohne ihn je erreichenzu können.

Die vorliegende Untersuchung betrifft genau diesen verbor-genen Kreuzpunkt zwischen dem juridisch-institutionellenModell und dem biopolitischen Modell der Macht. Und was sieals eine der wahrscheinlichen Folgerungen hat festhalten müs-sen, besteht genau darin, daß die beiden Analysen nicht getrenntwerden können und daß die Einbeziehung des nackten Lebensin den politischen Bereich den ursprünglichen – wenn auch ver-borgenen – Kern der souveränen Macht bildet. Man kann sogarsagen, daß die Produktion eines biopolitischen Körpers die ur-sprüngliche Leistung der souveränen Macht ist. In diesem Sinnist die Biopolitik mindestens so alt wie die souveräne Aus-nahme. Indem der moderne Staat das biologische Leben insZentrum seines Kalküls rückt, bringt er bloß das geheime Bandwieder ans Licht, das die Macht an das nackte Leben bindet, undknüpft auf diese Weise (gemäß einer hartnäckigen Entsprechungzwischen Modernem und Archaischem, die man in den ver-schiedensten Bereichen antrifft) an das Unvordenkliche der ar-cana imperii an.

Wenn das zutrifft, dann muß man die aristotelische Defini-

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tion der pólis in der Opposition von leben (ze-n) und gut leben(eû ze-n) mit erneuter Aufmerksamkeit betrachten. Tatsächlichvollzieht die Opposition im selben Zug eine Einbeziehung desersten in das zweite, des nackten Lebens in das politisch qualifi-zierte Leben. In der aristotelischen Definition gilt es nicht nur,wie das bis anhin geschehen ist, den Sinn, die Modi und die mög-lichen Einteilungen des »guten Lebens« als télos des Politischenzu untersuchen; vielmehr ist es notwendig, sich zu fragen,warum die abendländische Politik sich vor allem über eine Aus-schließung (die im selben Zug eine Einbeziehung ist) des nack-ten Lebens begründet. Welcher Art ist die Beziehung von Poli-tik und Leben, wenn das Leben sich als das darbietet, was durcheine Ausschließung eingeschlossen werden muß?

Die Struktur der Ausnahme, die wir im ersten Teil dieses Bu-ches nachgezeichnet haben, scheint in dieser Perspektive kon-substantiell mit der abendländischen Politik zu sein. FoucaultsFeststellung, der Mensch sei Aristoteles zufolge »ein lebendesTier, das auch einer politischen Existenz fähig ist«, muß konse-quent integriert werden, und zwar in dem Sinn, daß gerade dieBedeutung dieses »auch« problematisch ist. Die eigentümlicheFormel »Enstanden um des Lebens willen, aber bestehend umdes guten Lebens willen« kann nicht nur als Einbeziehung derZeugung (ginoméne-) in das Sein (oûsa), sondern auch als eineeinschließende Ausschließung (eine exceptio) der zo-e- aus derpólis gelesen werden, beinah als ob die Politik der Ort wäre, andem sich das Leben in gutes Leben verwandeln muß, und als obdas, was politisiert werden muß, immer schon das nackte Lebenwäre. Dem nackten Leben kommt in der abendländischen Poli-tik das einzigartige Privileg zu, das zu sein, auf dessen Ausschlie-ßung sich das Gemeinwesen der Menschen gründet.

Es ist also kein Zufall, wenn ein Abschnitt der Politik deneigentlichen Ort der pólis im Übergang von der Stimme zurSprache ansiedelt. Das Band zwischen nacktem Leben und Po-litik ist dasselbe, das auch die metaphysische Definition desMenschen als »Lebewesen, das über die Sprache verfügt« in derVerbindung zwischen phone- und lógos sucht:

»Über die Sprache aber verfügt allein von den Lebewesen der Mensch.Die Stimme nun bedeutet schon ein Anzeichen von Leid und Freud,daher steht sie auch den anderen Lebewesen zu Gebote; ihre Natur istnämlich bis dahin gelangt, daß sie über Wahrnehmung von Leid und

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Freud verfügen und das den anderen auch anzeigen können. Doch dieSprache ist da, um das Nützliche und das Schädliche klarzulegen undin der Folge davon das Gerechte und das Ungerechte. Denn das ist imGegensatz zu den anderen Lebewesen den Menschen eigentümlich,daß nur sie allein über die Wahrnehmung des Guten und des Schlech-ten, des Gerechten und des Ungerechten und anderer solcher Begriffeverfügen. Und die Gemeinschaft mit diesen Begriffen schafft Hausund Staat.« (1253a, 10-18)

Die Frage: »In welcher Weise verfügt das Lebewesen über dieSprache?« entspricht genau der Frage: »In welcher Weise be-wohnt das nackte Leben die pólis?« Das Lebewesen verfügt überden lógos, indem es in ihm die eigene Stimme aufhebt und be-wahrt, so wie es die pólis bewohnt, indem es das eigene nackteLeben in ihr ausgenommen sein läßt. Die Politik erweist sichdemnach als im eigentlichen Sinn fundamentale Struktur derabendländischen Metaphysik, insofern sie die Schwelle besetzt,auf der sich die Verbindung zwischen Lebewesen und Sprachevollzieht. Die »Politisierung« des nackten Lebens ist die Aufgabeschlechthin der Metaphysik, in der über die Menschheit und denlebenden Menschen entschieden wird; und wenn die Modernediese Aufgabe annimmt, tut sie nichts anderes, als der wesent-lichen Struktur der metaphysischen Tradition ihre Treue zu be-kunden. Das fundamentale Kategorienpaar der abendländischenPolitik ist nicht jene Freund/Feind-Unterscheidung, sonderndiejenige von nacktem Leben/politischer Existenz, zo-e-/bíos,Ausschluß/Einschluß. Politik gibt es deshalb, weil der Menschdas Lebewesen ist, das in der Sprache das nackte Leben von sichabtrennt und sich entgegensetzt und zugleich in einer einschlie-ßenden Ausschließung die Beziehung zu ihm aufrechterhält.

Der Protagonist dieses Buches ist das nackte Leben, das heißtdas Leben des homo sacer, der getötet werden kann, aber nichtgeopfert werden darf, und dessen bedeutende Funktion in dermodernen Politik wir zu erweisen beabsichtigen. Eine obskureFigur des archaischen römischen Rechts, in der das menschlicheLeben einzig in der Form ihrer Ausschließung in die Ordnung1

1 »Ordinamento« meint im Unterschied zu »ordine« (auch »Befehl«) die»politisch-rechtliche Ordnung«, wie der Begriff in dem von Carl Schmittgeprägten Zusammenhang in der Folge gebraucht wird; zur Verdeut-lichung steht hier bisweilen »Rechtsordnung«.

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eingeschlossen wird, liefert also den Schlüssel, dank dessen nichtnur die heiligen Texte der Souveränität, sondern allgemeinernoch die Kodices der politischen Macht selbst ihre

arcana

ent-hüllen. Aber zugleich stellt uns diese vielleicht älteste Bedeu-tung des Begriffs

sacer

vor das Rätsel einer Figur des Heiligendiesseits oder jenseits des Religiösen, die das erste Paradigma despolitischen Raumes im Abendland bildet. Die FoucaultscheThese muß mithin berichtigt oder wenigstens ergänzt werden:Was die moderne Politik auszeichnet, ist nicht so sehr die an sichuralte Einschließung der

zo-

e

- in die

pólis

noch einfach die Tatsa-che, daß das Leben als solches zu einem vorrangigen Gegen-stand der Berechnungen und Voraussicht der staatlichen Machtwird; entscheidend ist vielmehr, daß das nackte Leben, ur-sprünglich am Rand der Ordnung angesiedelt, im Gleichschrittmit dem Prozeß, durch den die Ausnahme überall zur Regelwird, immer mehr mit dem politischen Raum zusammenfälltund auf diesem Weg Ausschluß und Einschluß, Außen und In-nen,

zo-

e

- und

bíos

, Recht und Faktum in eine Zone irreduziblerUnunterscheidbarkeit geraten. Der Ausnahmezustand, in demdas nackte Leben zugleich von der Ordnung ausgeschlossenund von ihr erfaßt wurde, schuf gerade in seiner Abgetrennt-heit das verborgene Fundament, auf dem das ganze politischeSystem ruhte. Wenn seine Grenzen bis ins Unbestimmte ver-schwimmen, dann setzt sich das nackte Leben, das ihn be-wohnte, im Staat frei und wird zum Subjekt und Objekt derKonflikte der politischen Ordnung, dem einzigen Ort sowohlder Organisation der staatlichen Macht als auch der Emanzipa-tion von ihr. Es scheint ganz so, als ob im Gleichschritt mit demProzeß der Disziplinierung, durch den die Staatsmacht denMenschen als Lebewesen zu seinem eigenen spezifischen Ob-jekt erhebt, ein weiterer Prozeß in Gang gekommen wäre, derim großen und ganzen mit der Geburt der modernen Demokra-tie zusammenfällt, in der sich der Mensch als Lebewesen nichtmehr als

Objekt

, sondern als

Subjekt

der politischen Macht prä-sentiert. Diese Prozesse, die einander in vielem entgegengesetztsind und (wenigstens scheinbar) in hartem Konflikt stehen,stimmen jedoch in der Tatsache überein, daß in beiden dasnackte Leben des Staatsbürgers, der neue biopolitische Körperder Menschheit, auf dem Spiel steht.

Demnach kennzeichnet sich die moderne Demokratie gegen-

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über der antiken dadurch, daß sie von Anfang an als eine Einfor-derung und Freisetzung der zo-e- erscheint, daß sie unablässigversucht, das nackte Leben selbst in Lebensform zu verwandelnund sozusagen den bíos der zo-e- zu finden. Daher rührt auch diespezifische Aporie, die darin besteht, die Freiheit und Glückse-ligkeit der Menschen am selben Ort – dem »nackten Leben« –ins Spiel bringen zu wollen, der doch ihre Verknechtung be-zeichnete. Hinter dem langen antagonistischen Prozeß, der zurAnerkennung der Menschenrechte und der formalen Freiheitenführt, steht noch einmal der Körper des homo sacer [uomosacro] mit seinem souveränen Doppel, seinem nicht opferbaren,jedoch tötbaren Leben. Diese Aporie ins Bewußtsein zu heben,bedeutet nicht, die Errungenschaften und Anstrengungen derDemokratie zu entwerten, sondern ein für allemal verstehen zuwollen, warum sie in dem Moment, da sie endgültig über ihreGegner zu triumphieren und den Gipfel erreicht zu habenschien, sich wider alles Erwarten als unfähig erwies, jene zo-e- voreinem nie dagewesenen Ruin zu bewahren, zu deren Befreiungund Glückseligkeit sie alle ihre Kräfte aufgeboten hatte. DerNiedergang der modernen Demokratie und ihre zunehmendeKonvergenz mit den totalitären Staaten in den postdemokrati-schen Spektakel-Gesellschaften (was sich bereits mit Alexis deTocqueville abzeichnet und in den Analysen Guy Debords klarzutage tritt) finden ihre Wurzel vielleicht in dieser Aporie, dieden Beginn der Demokratie markiert und sie zu einer geheimenKomplizenschaft mit ihrem erbittertsten Feind zwingt. UnserePolitik kennt heute keinen anderen Wert (und folglich keinenanderen Unwert) als das Leben, und solange die Widersprüche,die sich daraus ergeben, nicht gelöst sind, werden Nazismus undFaschismus, welche die Entscheidung über das nackte Lebenzum höchsten politischen Kriterium erhoben haben, bedrohlichaktuell bleiben. Der Zeugenschaft von Robert Antelme zufolgebestand die Lektion, welche die Konzentrationslager ihren In-sassen beigebracht hatten, darin: »Sobald das eigentlicheMenschsein in Frage gestellt wird, stellt sich ein fast biologischerAnspruch auf Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung ein.«(Antelme, S. 10)

Die These von einer innersten Solidarität zwischen Demo-kratie und Totaliarismus (die wir hier, wenn auch mit aller Vor-sicht, aufstellen müssen) ist offensichtlich keine historiographi-

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sche These (übrigens ebensowenig wie Leo Strauss’ These voneiner geheimen Konvergenz zwischen Liberalismus und Kom-munismus, was ihr Endziel angeht), die der Ausräumung undEinebnung der enormen Unterschiede, die ihre Geschichte undihre Gegnerschaft kennzeichnen, Vorschub leisten soll. Trotz-dem muß auf der historisch-philosophischen Ebene, die ihreigen ist, an der These entschieden festgehalten werden; denn sieallein erlaubt es, uns angesichts der neuen Realitäten und der un-vorhergesehenen Konvergenzen dieses Jahrtausendendes zuorientieren und das Feld für jene neue Politik frei zu machen, dieim wesentlichen noch zu erfinden bleibt.

Indem Aristoteles im oben zitierten Abschnitt den »schönenTag« (euhe-mería) des einfachen Lebens den »Beschwerlich-keiten« des politischen bíos entgegensetzte, gab er der Aporie,die der abendländischen Politik zugrunde liegt, ihre vielleichtschönste Ausformulierung. Die vierundzwanzig Jahrhunderte,die seither verflossen sind, haben keine anderen als vorläufigeund unwirksame Lösungen gebracht. Es ist der Politik in derAusführung des metaphysischen Auftrags, der sie zunehmenddie Form einer Biopolitik hat annehmen lassen, nicht gelungen,die Verbindung herzustellen, die den Bruch zwischen zo-e- undbíos, zwischen Stimme und Sprache hätte überwinden sollen.Das nackte Leben bleibt in diesem Bruch in der Form der Aus-nahme eingefaßt, das heißt als etwas, das nur durch eine Aus-schließung eingeschlossen wird. Wie ist es möglich, die »natürli-che Annehmlichkeit« der zo-e- zu »politisieren«? Und vor allem:Bedarf die zo-e- wirklich der Politisierung, oder ist das Politischeetwa bereits als ihr wertvollster Kern in ihr enthalten? Die Bio-politik des modernen Totalitarismus auf der einen, die Massen-gesellschaft des Konsums und des Hedonismus auf der anderenSeite geben gewiß, jede auf ihre Art, eine Antwort auf diese Fra-gen. Doch solange keine völlig neue – das heißt nicht mehr aufdie exceptio des nackten Lebens gegründete – Politik da ist, wirdjede Theorie und jede Praxis in einer Sackgasse steckenbleiben,und der »schöne Tag« des Lebens wird das politische Bürger-recht nur über Blut und Tod erlangen oder in der vollkommenenSinnlosigkeit, zu der es die Spektakel-Gesellschaft verdammt.

Carl Schmitts Definition der Souveränität (»Souverän ist, werüber den Ausnahmezustand entscheidet«; Schmitt 1, S. 13) ist,

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noch bevor man begriffen hätte, wovon sie wirklich handelt, zueinem Gemeinplatz geworden. Es ist nicht weniger als derGrenzbegriff der Staats- und Rechtslehre, die in ihm (da jederGrenzbegriff die Grenze zwischen zwei Begriffen ist) an dieSphäre des Lebens anstößt und sich mit ihr vermischt. Solangeder Horizont der Staatlichkeit den weitesten Kreis des Gemein-schaftslebens bildete und die politischen, religiösen, juridischenund ökonomischen Lehren, die ihn stützten, noch Bestand hat-ten, konnte diese »äußerste Sphäre« (ebd.) nicht wirklich ansLicht kommen. Das Problem der Souveränität war damals dar-auf beschränkt, zu bestimmen, wer innerhalb der Ordnung mitgewissen Machtbefugnissen ausgestattet wurde, ohne daß dieSchwelle der Ordnung selbst je in Frage gestellt wurde. Heute,da die großen staatlichen Strukturen in einen Prozeß der Auflö-sung geraten sind und der Notstand, wie das Benjamin voraus-ahnte, zur Regel geworden ist, wird es Zeit, das Problem derGrenzen und der originären Struktur der Staatlichkeit erneutund in einer neuen Perspektive aufzuwerfen. Denn die Unzu-länglichkeit der anarchistischen und marxistischen Kritik desStaates bestand genau darin, diese Struktur nicht einmal erahntund deshalb das arcanum imperii voreilig beiseite geschoben zuhaben, wie wenn es außerhalb der Simulakren und der Ideo-logien, die ihm zur Rechtfertigung beigestellt wurden, keinenBestand hätte. Der Kampf gegen einen Feind, dessen Struktureinem unbekannt bleibt, endet früher oder später damit, daßman sich mit ihm identifiziert. Und die Theorie des Staates (undbesonders des Ausnahmezustandes, das heißt die Diktatur desProletariats als Übergangsphase zu einer staatslosen Gesell-schaft) ist gerade die Klippe, an der die Revolutionen unseresJahrhunderts gescheitert sind.

Dieses Buch, das anfänglich als Antwort auf die blutige My-stifikation einer neuen globalen Ordnung konzipiert wordenwar, mußte sich indes Problemen stellen – zuvorderst der Hei-ligkeit des Lebens –, mit denen es nicht gerechnet hatte. Aber imVerlauf der Untersuchung ist klar geworden, daß in einem der-artigen Bereich keiner der Begriffe, welche die Humanwissen-schaften (von der Jurisprudenz bis zur Anthropologie) zu defi-nieren glaubten oder als evident voraussetzten, als verbürgtanzunehmen ist und daß viele dieser Begriffe – in der Dringlich-keit der Katastrophe – einer rückhaltlosen Revision bedurften.