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7/25/2019 Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie
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„DIMENSIONEN
DES
HERMENEUTISCHEN“
HEIDEGGER
UND
GADAMER
Herausgegeben
von Günter
Figal
und
Hans-Helmuth Gander
El
VITTORIO
KLOSTERMANN
•
FRANKFURT
AM
MAIN
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Martin Heidegger Gesellschaft
e V
Am
Feldweg
26
D 88605
Meßkirch
Bibliographische
Information
Oer
Deutschen
Bibliothek
Die
Deutsche
Bibliothek
verzeichnet
diese
Publikation
in der
Deutschen
Nationalbibliographie;
detaillierte
bibliographische
Daten
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im
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©
Vittorio
Klostermann
GmbH Frankfurt am
Main
200J
Alle
Rechte
Vorbehalten insbesondere
die des
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der
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des Verlags
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Gedruckt
auf
alterungsbeständigem Papier.
@1S°9706
Satz:
Fotosatz
L.
Huhn
Maintal-Bischofsheim
Druck:
Hanf
Buch- und
Mediendruck
Pfungstadt
Printed
in
Germany
ISSN
1612 7722
ISBN
3 463 03432 3
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Inhalt
Günter
Figal
und
Hans-Helmuth Gander
Vorwort
7
John
Sallis
Das
Ende
der
Übersetzung
Gottfried
Boehm
Das
Bild
und
die
hermeneutische
Reflexion
3
Damir
Barbaric
Hörendes
Denken
37
Dennis
J.
Schmidt
Einige
Betrachtungen zu
Sprache
und
Freiheit aus
einem
hermeneutischen
Blickwinkel
59
Donatella
Di
Cesare
Savoir
vivre
savoir
mourir
Der Tod
als
Grenze
zwischen
Heidegger
und Gadamer
73
Istvän
M. Feher
Verstehen
bei
Heidegger
und
Gadamer
89
Thomas
Schwarz
Wentzer
Phänomenologie
oder
Dialektik?
Zur
Frage
nach
der
Sachlichkeit
der
Philosophie
bei Heidegger
und
Gadamer
Jürgen
Stolzenberg
Hermeneutik der
praktischen
Vernunft.
Hans-Georg
Gadamer
interpretiert
Martin Heideggers
Aristoteles-Interpretation
133
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Inhalt
Gianni
Vattimo
Ist Heidegger ein
Philosoph der
Demokratie?
»13
Zu
den
Autoren
i6i
Personenregister
i6j
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GIANNI
VATTIMO
1st
Heidegger
ein
Philosoph
der
Demokratie?1
Es scheint
mir wesentlich,
die
Analogien
zu
erkennen
zwischen
einem
Buch
wie
Die
offene
Gesellschaft
und
ihre
Feinde
von
Karl
Popper
und
den
Ideen,
die
Heidegger
in
vielen
seiner
Werke
dargelegt
hat,
aber
vor
allem
in
seinem
Vortrag
über
„Das
Ende
der
Philosophie und die
Auf¬
gabe
des
Denkens“2 von
1964
-
wesentlich nicht
nur
für
das
Verständ¬
nis
von
Heidegger, für
dessen
Interpretation,
für dessen
Applikation,
sondern
auch,
um
die Rolle der
Philosophie in
der
gegenwärtigen
Ge¬
sellschaft
überhaupt
zu
überdenken.
Diese beiden
Philosophen
einander
anzunähern,
ist zweifellos
ein
paradoxes
Unterfangen,
weil
Heidegger
nicht
gerade
als
leidenschaftlich demokratischer
Denker
gilt.
Und
doch
sind
die Beweggründe von
Popper,
sich
gegen
Platon
zu
stellen,
grund¬
sätzlich
dieselben,
die
Heidegger
in
seiner
Polemik
gegen
die
Metaphy¬
sik
leiten,
die
-
wie
er
zu
Beginn
des
eben
angeführten
Vortags
schreibt
-
nichts
anderes
als
Platonismus
ist,
von der Antike bis
hin
zu
Kant,
Hegel
und
Nietzsche. Wenn
wir nun
Poppers
Ausdruck
der
„offenen
Gesellschaft“
durch
Heideggers Begriff
des
„Ereignisses“
ersetzen,
ver¬
raten
wir weder
Poppers
noch
Heideggers Intentionen,
auch
wenn
wohl
keiner der
beiden
mit
dieser kleinen
hermeneutischen
Gewalttätigkeit
einverstanden
wäre.
Popper
hält Platon
für
einen
gefährlichen
Feind
der
offenen
Gesell¬
schaft,
weil dieser
eine essentialistische
Auffassung
der
Welt
vertritt:
Alles,
was
wirklich
ist,
gehorcht
einem Gesetz,
das als
Struktur
des
Seins
gegeben
ist,
und
die
Gesellschaft
braucht
nichts
anderes zu
tun
als
sich
dieser
Wesensordnung
anzupassen.
Da
es
die
Philosophen
sind,
welche
diese
Wesensordnung
kennen,
muß
ihnen
die
Führung der
Ge-
1
Eine
erste
Version dieses
Textes
wurde
im August
200)
beim
Weltkongreß
für
Philo¬
sophie
in
Istanbul
präsentiert.
1
Martin
Heidegger;
„Das
Ende
der
Philosophie
und die
Aufgabe
des
Denkens ,
in :
Zur
Sache
dei
Denkern,
Niemeyer
1969,
S. 61-80.
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Gianni
Vattimo
54
Seilschaft
überlassen
werden.
Die höchsten
Berater der
Herrschenden
zu
sein,
diese
Funktion,
die sich
die
Philosophen
oder
heute
die
Wissen¬
schaftler,
die
Techniker,
die
Experten
-
im
Verlaufe
der
Jahrhunderte
angemaßt
haben,
bleibt
eng an
die Grundüberzeugung gebunden:
daß
es
nämlich
für
das
Individuum und
für
die
Gesellschaft
immer
noch
um
eine
Übereinstimmung
mit
einer
objektiv
gegebenen
Ordnung
geht,
die
auch
als
einzig
mögliche
moralische
Norm
gilt.
Ein
modernes
Prinzip
wie
auctoritas,
non
veritas
,
facit
legem
wurde
stets
einer
rationalisti¬
schen
Kritik
metaphysischer
Prägung
unterzogen,
auch wenn
diese
von
den
besten
revolutionären
Absichten
geprägt
war.
Wo auch
immer
in der
Politik
die
Wahrheit
die
Bühne
betritt,
da
besteht
auch
die
Gefahr
des
Autoritarismus,
also
genau
jener
Geschlossenheit
gegen
die
Popper
in
seinem
Werk
anschreibt.
Nun
versteht
Heidegger unter
Metaphysik
genau
die
Auffassung
des
Seins
als
einer
objektiv
und
ein
für
allemal
gegebenen
Ordnung.
Das¬
selbe
warf
Nietzsche
Sokrates
vor;
er sah
in ihm
den Urheber
des
mo¬
dernen Zerfalls,
der
den
größten
tragischen
Geist der
Alten
getötet
hat.
Wenn
das
Sein
eine ein
für allemal
gegebene
Struktur
ist,
dann
ist
weder
die
Offenheit der
Geschichte noch
die
Freiheit
denkbar.
Natürlich
ist
eine
solche Sichtweise
beruhigender
als
eine
tragische,
die
am
Anfang
des
griechischen
Denkens stand. Doch
die Beruhigung
-
so könnten wir
hinzufügen
-
gilt
vor
allem
für
diejenigen,
die bereits
in
der
vorhande¬
nen
Ordnung
stehen und
die sie
genau
deshalb
rational und
ewigwäh¬
rend
begreifen.3
Ich
erinnere
daran,
daß
Heidegger
auf
den
ersten Seiten
des
bereits
zitierten
Vortrags
neben Platon
auch
Marxens
Namen
nennt,
und
zwar
als
denjenigen,
der schon vor Nietzsche die
Umkehrung der
Metaphysik
und
also
des
Platonismus vollzogen
hat. Ich will
damit
nicht
sagen,
daß sich
die
Kluft
zwischen
der
marxistischen
Umkehrung
und
jener
Überwindung,
an die
Heidegger
selbst
denkt,
überbrücken
ließe.
Doch
sicherlich
ist es
nicht
einfach
beliebig, wenn
wir
an
die
marxisti¬
schen
Vorstellungen über den Ursprung
der
Entfremdung
in
der
gesell¬
schaftlichen
Arbeitsteilung
denken,
wo
wir
mit
Heidegger
zu
begreifen
suchen,
warum
und
wie
sich
die Metaphysik
in
der
Geschichte unserer
Welt
so radikal festsetzen
konnte. Die
Diskussion
über
das
geschichtliche
oder
ewige Wesen der Metaphysik in
Heideggers
Denken lasse
ich
hier
beiseite;
denn
dies
würde
zu
Überlegungen
über
die
nie überwundene
Ich
denke hier
neben
Nietzsche
Buch
in Walter
Benjamin
und seine
Thesen
über
die
Geschichttphilosophic.
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Ist
Heidegger ein
Philosoph
der
Demokratie?
M5
und
womöglich
nie
überwindbare
Abhängigkeit
seines
Denkens
vom
bi¬
blischen Mythos
der
Ursünde
hin-
und also vom
Thema
wegführen.
Obgleich
der
Begriff
der
Metaphysik von
Heidegger
in
sehr
eigener
Weise
verwendet wird,
glaube
ich,
daß
der
Vergleich
mit
Popper,
so
pa¬
radox er auch
erscheinen
mag,
durchaus
zu klären
vermag,
in
welchem
Sinne
dieser
Begriff
auch
von einem
Großteil
der
zeitgenössischen
Phi¬
losophie
geteilt
wird.
Es
wäre
zweifellos
nicht
schwierig,
ihn
auch
bei
Wittgenstein
zu
entdecken4
sowie im Pragmatismus
und
im
Neoprag¬
matismus. Ich
weiß
sehr
wohl,
daß sowohl die
Fortsetzer
des
klassischen
Denkens
und der
Neoscholastik
als
auch die
Anhänger
jener
besonderen
Scholastik,
die
eine
gewisse analytische
Philosophie
darstellt,
in
über¬
einstimmender
Weise
von Metaphysik
sprechen
-
wobei
in
der
analy¬
tischen
Philosophie
Begriffe
wie
Ontologie oder Metaphysik
nur
auf
die
in
regionalen Ontotogien
verfestigten
Erkenntnisstrukturen
verweisen,
denen nunmehr jene
Elastizität
und
Geschichtlichkeit
fehlen,
die
sich
noch
im Transzendentalen Kants
und
sogar
Husserls
erkennen
ließen.
Aber wie dem auch
sei:
Es ist ziemlich
klar,
daß
zumindest
ein
Großteil
der
zeitgenössischen
Philosophie
Heideggers
Auffassung
der
Metaphy¬
sik als
Gleichsetzung des wahren
Seins mit
einer
beständigen,
objektiv
erkennbaren
und
normbegründenden
Struktur weitgehend
teilt
-
auch
und gerade
da,
wo
die
Metaphysik
auf theoretischer
Ebene
auf
Ableh¬
nung
stößt.
Gerade
ausgehend
von der
Ablehnung
der
so
verstandenen
Metaphy¬
sik
-
einer
Ablehnung,
die
je
nachdem
Nietzscheanische
und
Heideg-
gersche,
Wittgensteinsche,
Carnapsche oder Poppersche
Gründe
haben
mag
-
läßt
sich
mit
gutem
Recht die
Frage
nach
dem
Ende der
Philoso¬
phie im
Zeitalter
der
Demokratie
stellen.
Oder
besser:
Wenn
wir
über
Heidegger
und
Popper
hinausgehen,
können
wir
das
Ende der
Philoso¬
phie
im Sinne
der
Metaphysik
einfach
mit
der
praktischen
und
politi¬
schen
Bejahung
der
demokratischen
Regierungsform
gleichsetzen.
Wo
es
Demokratie gibt,
kann
es
keine
Klasse
von
Menschen
im Besitze
der
wahren Wahrheit
geben,
die
entweder
die
Macht
direkt
ausüben
-
die
neuen
Philosophen
Platons
-
oder
dem
Herrscher die
Regeln
für
sein
Regieren
vorschreiben.
Genau deshalb
-
ich
wiederhole
-
scheint
mir
der
Verweis
auf
Marx
auf
den ersten
Seiten
in Heideggers
Vortrag
sympto-
4
Ludwig
Wittgenitcin:
Tractatut
logico-philosophicitt.
Tagebücher
I9I4-J9I6
,
Philo-
tophitche
Untenuchungen,
Frankfurt«.
M.
i960,
S,
us
„Die
Wehm
alle«,
w**
der
Fall
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Gianni
Vattimo
J6
matisch.
Auf
eben
diesen Seiten ist die Rede vom
Ende
der
Philosophie
im
Sinne
der
Auflösung,
die sie aufgrund
der
Spezialisierung der
Ein*
zelwissenschaften
erleidet,
von
der Psychologie
über die
Soziologie
und
Anthropologie
bis
zur
Logik
und
Logistik
und
weiter
zur
Semantik und
Kybernetik,
die
wir
heute
Informatik
nennen.
Dabei
handelt es sich
keinesfalls
um
einen
abstrakten
Beweis. Dieje¬
nigen
unter
uns,
welche
Philosophie
an
den
Schulen
und Universitäten
unterrichten,
machen
die
Erfahrung
dieser
fortwährenden
Auflösung
der
Philosophie
jeden
Tag.
An den
Universitäten,
wo
neue
Kurse
der
Psycho¬
logie,
Anthropologie
oder der
Informationswissenschaften
eingeführt
werden,
sind
die
Einschreibungen für
Philosophiekurse
sichtlich
am
Schwinden.
Und
so
schwinden auch
die
für die
philosophischen
Studien
zur
Verfügung
gestellten Gelder.
Letztlich
ist
dies
wohl
alles
richtig
und
unvermeidlich,
wenn
auch
unangenehm
für
viele
von
uns
und vor
allem
für
unsere
Studenten.
Es
ist
jedenfalls
ein sehr konkreter
Aspekt
vom
Ende
der
Philosophie
,
einem
Ende,
das nicht
unmittelbar
mit der
Demokratie
zusammenzuhängen
scheint,
sondern
bloß mit
der
wachsenden
Eigen¬
ständigkeit
der
Humanwissenschaften.
Doch entspricht
es
-
und
darauf
weist auch
Heidegger hin
-
der wachsenden Macht
und
dem wachsenden
sozialen
Prestige
der
Spezialisten, die
von
einer immer stärkeren wissen¬
schaftlichen
Kontrolle der
verschiedenen
Aspekte
des Zusammenlebens
begleitet
werden.
Wenn
man
all
dies
in
Betracht
zieht,
so
sieht
man
auch,
daß das
Ende der
Philosophie
eine
Leere
hinterläßt,
welche
die
demokra¬
tischen
Gesellschaften
unmöglich
nicht
zur
Kenntnis nehmen
können.
Auf
der
einen Seite
ist die Philosophie
im
Sinne
der
Herrschaftsfunktion
der
Gelehrten
in
der Regierung
der
Polis tot und
begraben.
Wie
der
Titel
von
Heideggers
Vortrag
andeutet,
der von einer
„Aufgabe
des
Denkens“
nach
dem
Ende
der
Philosophie-Metaphysik
spricht,
bleibt
aber
auf
der
anderen
Seite
das spezifisch
demokratische
Problem,
wie
sich
vermeiden
läßt,
daß
die
Autorität
der
neuen
Philosophen einfach
durch
die
unkon¬
trollierbare
Macht
der
Techniker
in
den verschiedenen
Bereichen
des
ge¬
sellschaftlichen
Lebens
ersetzt
wird. Es
handelt
sich
dabei um
eine
noch
gefährlichere
Macht,
weil
sie
heimtückischer,
das
heißt
besser
verteilt
und
weniger
faßbar
ist. Die
revolutionäre
Absicht,
das
Herz
des
Staates
zu
treffen,
wird
nachgerade
unsinnig,
weil
die
Macht
objektiv
auf
die
vielen
Zentren
verteilt
ist,
welche
die
verschiedenen
Spezialisierungen betreiben.
Um
eine
psychiatrische
Metapher
zu
benutzen: Es
besteht
die
Gefahr,
eine
schizophrene
Gesellschaft
zu
konstruieren,
in
der
sich
früher
oder
später
eine
neue
höchste
Macht
durchsetzt,
die Macht der
Ärzte,
der
Kranken-
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7/25/2019 Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie
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Ist Heidegger
ein
Philosoph
der
Demokratie?
Wärter,
der
Zwangsjacken
und
der
Fesselbetten.
Versuchen
wir
also den
Titel
von Heideggers
Vortrag
so
zu
ändern:
Das
Ende
der
Philosophie
in
den
demokratischen
Gesellschaften
und
die
politische
)
Aufgabe
des
Den¬
kens.
Die
Herrschaftsrolle
des
Philosophen
ist am
Ende, weil
die
Zeit
der
Herrscher
am
Ende
ist.
Es
ist
nicht einfach
zu
sagen,
ob
diese
Enden
in
einem
Ursache-
und
Wirkungsverhältnis
zueinander
stehen.
Wie
Marx
würde auch
Heidegger
sagen,
daß
das Ende der
Metaphysik
und folglich
die
Souveränitätsansprüche
der
Philosophie
keine
Angelegenheit
ist,
die
sich
vor
allem
durch
die
Philosophen
vollzogen
hat.
Gewiß,
für ihn
ist
dies alles
ein
Ereignis
des Seins,
dem
der
Philosoph
nur
entsprechen
muß.
Aber wie
man
sieht,
stellt sich
die
Differenz
zu
Marx
als sehr
relativ
her¬
aus: Wo
spricht
das
Sein,
dem
der
Philosoph
entsprechen
muß?
Gewiß
nicht
in
der
ökonomisch
materiellen
Struktur der
Gesellschaft
oder
nicht
ausschließlich
in
dieser. Aber
Heideggers
Aufruf,
sich
nicht
mit
der
»vor¬
handenen
Gegenwärtigung
des
Anwesenden“5
zufrieden
zu geben,
erin¬
nert
-
und
zwar
nicht
nur
oberflächlich
-
an Marxens
Ideologiekritik,
an die
Schule des
Verdachts
,
die
zum
Beispiel
in
einem
Spruch
Brechts
zum
Ausdruck
kommt:
„Cio
che
accade
sempre,
non
trovatelo
normale.“6
Auch
die
Möglichkeit für
uns,
einigermaßen unerhörte
Deutungsversuche
zu
formulieren,
die
noch
vor
dreißig
Jahren
nicht einmal denkbar
gewe¬
sen
wären,
indem
wir eine
Nähe
zwischen
Poppers
offener
Gesellschaft
und
Heideggers
Ende
der Metaphysik
herstellen,
diese Möglichkeit
läßt
sich nicht
einfach auf
irgendeinen philosophischen
Einfall
zurückführen,
sondern
ist,
wenn
sie denn
Gültigkeit
hat,
eine
Antwort auf neue
Bedin¬
gungen
unseres
Zeitalters. Verglichen
mit der
Zeit,
in der
sich
Popper
und
Heidegger
situierten,
ist
die
heutige
Welt auf
dem
Weg der
wissenschaft¬
lichen
Integration
und
Rationalisierung
viel
weiter
fortgeschritten.
Aus
diesem
Grunde
ist
das
Ende
der
Philosophie
eine
klarer
sichtbare
und
all¬
gemeine
Tatsache,
sowohl
im
Sinne
ihrer
Auflösung in die
Einzelwissen¬
schaften
als
auch
im
Sinne
der
Leere,
die sie
in
der
Demokratie
hinterläßt.
Indem
wir
die Behauptung
einer
Nähe
zwischen
Heidegger
und
Popper
aufstellen,
entdecken
wir
keine
tiefere
Wahrheit,
denn
dies
wäre in der
Tat
noch
eine
Form des
metaphysischen Denkens
mit
Absolutheitsansprü¬
chen.
Wir entsprechen
beziehungsweise
antworten
vielmehr
auf
das,
was
157
1
Martin Heidegger:
„Das
Endeder
Philosophie
und
die Aufgabe
des
Denkens“,
in : Zur
Sache
des
Denkens
,
Niemeyer
1969,
S.
61-80,
hier: S.
78 .
Freie
Übersetzung
von
Gianni
Vattimo:
„Was
immer
geschieht,
ist
deshalb
noch
lange
nicht
normal.“
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ilsmil
Vsttlmo
f«
geschieht,
auf
das
Ereignis,
such
im
spezifisch
I
leidcggcrichcn
Sinne
des
Begriffs.
Die
Aufgabe
des
Denken»
ln
dieser
Situation
-
wenn wir
uns
sowohl
auf
Heidegger
als
auch
auf Marx,
vielleicht
auch
auf
Popper
berufen
besteht
darin,
das
zu
denken,
was
in der
„vorhandenen
Gcgenwärti-
gung”
dessen,
was immer geschieht,
verborgen
bleibt.
Für
Marx
ist
das
die
dialektische
Konkretheit der
Verhältnisse,
welche
die
Ideologie
uns
verbirgt;
für
Heidegger
ist
dies
die
Wahrheit
als
AXiÿöna,
als
Unverbor¬
genheit,
als
Offenheit
eines Horizontes
oder
eines
Paradigmas,
der
die
Wahrheit
als
Übereinstimmung
mit
den
Sachen,
als
Verifikation
oder
Falsifikation
von
Aussagen
erst
möglich
macht.
Natürlich
kann
Popper
auf
diesem
weiteren
Schritt nicht
begleiten,
weil
die
Anspielung
auf
Marx
oder
auf ein
Verborgenes,
das
cs
zu
denken
gilt, uns
von
der
Vorstellung einer
offenen Gesellschaft
allzu weit zu
entfernen
scheint.
Es
würde
zu viel Zeit
beanspruchen
zu
zeigen, daß
indessen
die
Nähe
zu
Heidegger
und
Marx
in
den
von mir
gebrauchten
Begriffen
noch
immer
gültig
ist. Lassen
wir
Popper
deshalb der
Einfachheit
beiseite.
Die
Annäherung von
Marx
und
Heidegger,
die
letzterer im
Vortrag,
den
ich
kommentiere,
selber
andeutet,
bleibt
jedoch
entscheidend.
Al¬
lein:
Ist es
möglich, von der
verborgenen
dXiÿBeta
zu
sprechen,
auf
die
Heidegger
anspielt, als wäre
es
Marxens
Konkretheit
der
ökonomisch¬
gesellschaftlichen
Verhältnisse?
Anders
gesagt:
Die
Aufgabe
des
Den¬
kens
nach dem
Ende
der
Philosophie,
wenn
die
Philosophen
nicht
mehr
einen privilegierten
Zugang
zu
den Ideen
und
Wesenheiten
zu
haben
glauben,
der
sie
instand
setzt,
zu
regieren
oder dem
Herrscher
Normen
an die
Hand
zu geben
-
wie
gestaltet sich
in
dieser
Situation
die
Aufgabe
des
Denkens?
Wenn
wir
bloß
Marx
folgten,
würden
wir
zu
einer
rati¬
onalistischen
und
historischen
Metaphysik zurückkehren,
wo
den
Phi¬
losophen
die
Aufgabe
zufällt,
die
endgültige
Wahrheit
der
Geschichte
auszudrücken,
die
allein
der
ausgebeutete
Proletarier
erkennt
und
mit
der
Revolution
verwirklicht.
Auch Marx
vermochte
im
Grunde
das
Sein
wirklich
als
Ereignis
zu begreifen;
und
deshalb
hat Popper
Recht,
wenn
er
ihn als
Feind
der
offenen
Gesellschaft
betrachtet.
Wenn
wir
hingegen
bloß
Heidegger
folgten,
würden wir
uns
jene
„grundlose
Mystik“,
in
jene
„schlechte
Mythologie“,
in
jenen
„verderblichen
Irrationalismus“
verstricken,
die
er
selbst
als
Gefahr für seine
Haltung
ansah.7
uns
7
Vgl.
Martin
Heidegger:
„Da»
Ende
der Philosophie
und
die
Aufgabe
des
Denkens ,
in :
Zur Sache
dei
Denkern,
Niemeyer
1969,
S.
6l-8o.
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7/25/2019 Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie
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Ist
Heidegger
ein
Philosoph
der
Demokratie?
Um
diesen
Gefahren
zu
entgehen,
die
nicht
nur
für
Heidegger,
son¬
dern
für
einen
Großteil
der
heutigen
Philosophen
bestehen
-
jedenfalls
für
jene
Philosophie,
die
es
ablehnt,
zu
einem
bloßen
mehr oder
minder
oberflächlichen
Anhang
der
Humanwissenschaften
oder
der
Wissen¬
schaften
überhaupt
zu
werden
-
gilt
es einen Schritt
nach
vorne
zu
ma¬
chen auf dem
Weg
jener
„Urbanisierung
der
Heideggerschen
Provinz ,
wie
er,
nach
einer
bekannten
Formulierung
von
Jürgen
Habermas,
von
Hans-Georg
Gadamer
eingeschlagen
wurde.
Eine
solche
Urbanisierung
setzt
voraus,
daß
sich
Heidegger
von
der
„grundlosen
Mystik“
befreit
und die
Berufung
auf
Marx
jenseits
seiner
Intentionen
ausarbeitet.
Im
Vortrag
„Der
Ursprung des
Kunstwerkes“ GA
5,
1--74 8
hatte
Heideg¬
ger
auf die
verschiedenen
Weisen
hingewiesen,
in
denen
Wahrheit
ge¬
schieht,
nicht
nur
in
der
Kunst,
sondern
auch in
der
Religion,
der
Ethik,
der
Politik,
im
„Fragen
des
Denkens“
(GA
5,
49).
Diese
Winke
blieben
in
seinem
Denken
unausgeführt.
Im Übrigen
geht
es
mir
aber
nicht
darum,
seiner
Lehre mehr
oder
weniger
treu
zu
sein,
sondern
Lösungswege
für
unsere
Frage nach der
Aufgabe
und
der
Zukunft
der
Philosophie
nach
ihrem
Ende
zu
suchen. Im
Zeitalter,
in dem
Metaphysik
an
ihr
Ende
gelangt
ist,
können
wir
nicht
mehr
wie
Heidegger
das
Ereignis
des
Seins
in jenen
privilegierten
Augenblicken
suchen,
denen
er
stets
besondere
Aufmerksamkeit
zuwandte:
in
den
großen
Werken
der Dichtung,
in den
stiftenden
Worten
wie
dem
Spruch des
Anaximander,
dem
Gedicht
von
Parmenides
oder
den
Versen
von Hölderlin. Diese
Texte funktionieren
immer
noch als
Wesenheiten, als
platonische
Ideen,
die allein
die
Phi¬
losophen
zu
erkennen
vermögen
und die
aus
ihnen
noch einmal
herr¬
schaftliche
Stimmen
machen.
Im
Zeitalter
der
Demokratie
is t das
Ereignis
des
Seins,
dem
sich das
Denken
zuwendet,
vielleicht
etwas
viel
Weiteres und
weniger
Bestimm¬
tes
vielleicht
etwas der Politik
Näherstehendes.
Der
einzige
Begriff, der
uns das
Ereignis
zu
denken
erlaubt,
ist
ein
Ausdruck
des
späten Fou¬
cault,
den
wir hier
in
einem
eigenen Sinne
wiederaufnehmen:
Ontologie
der
Aktualität.
Das
Ereignis
des
Seins ,
dem
zu
entsprechen
die
Auf¬
gabe
des
Denkens
ist,
ist
im Zeitalter
der
Demokratie
die Art
und
Weise,
wie
das
Sein
in der kollektiven Erfahrung
immer
mehr
Gestalt
annimmt.
Das
Verborgene, das dazu
neigt,
sich
in
Spezialisierungen
der
Wissen-
*59
Martin
Heidegger:
„Der
Ursprung
des
Kunstwerkes
in:
Hohu egt,
Ge¬
samtausgabe
Band
j
Hrsg,
von Friedrich-Wilhelm
von
Herrmann,
Frankfurt
a.
M.
• 977
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Gianni
Vattimo
60
schäften
zu
entliehen,
ist das
öv
öv, das
Sein
ais
solches,
die
Gesamt¬
heit
der
individuellen
und sozialen
Erfahrung,
die
der
technologischen
Schizophrenie
und dem daraus
folgenden
Rückfall
in
den
Autoritaris-
mus
entzogen
werden
muß.
Hier
von
Ontologie
zu sprechen
und
diese
Aufgabe
-
noch
einmal
-
den nicht
mehr
herrschaftlich
veranlagten
und
nicht
mehr
im
Dienste
der Herrscher
stehenden
Philosophen
anzuver¬
trauen,
bedeutet
gewiß,
eine
neue
und
noch
näher
zu
bestimmende
Rolle
des
Intellektuellen
zu
imaginieren,
eines
Intellektuellen,
der
weder
ein
Wissenschaftler
noch
ein
Techniker
ist,
sondern
dem
Priester
oder
dem
Künstler
näher
steht:
einem Priester
ohne
Hierarchie
freilich
und
viel¬
leicht einem
Straßenkünstler. Weniger
phantasievoll
gesagt: Wir
können
an
eine
Gestalt
denken,
die sehr viel
mit
der Geschichte
und
der
Politik
zu
tun
hat;
an einen,
der
Ontologie
betreibt,
indem
er
gegenwärtige
und
vergangene
Erfahrungen
miteinander
verknüpft
und
eine
Kontinuität
herstellt,
worin
der
grundlegende
Sinn des
Begriffs
Xöyo«;
besteht.
Unter
Kontinuität verstehe
ich
auch
eine
Kontinuität
in
der
Gemeinschaft,
indem
der neue Intellektuelle
zur
Bildung stets
neuer
Verständigungs¬
weisen
beiträgt.9
Hat all das
wirklich
mit
dem
Sein
zu tun?
So könnte
man
fragen.
Wir
antworten:
Aber
ist
das Sein
vielleicht
etwas
Anderes,
etwas Tieferes
und
tiefer
Verborgeneres
als sein Ereignis
?
Noch
einmal
ein
Verweil auf
Habcrmai:
der
Philoaoph
all
Dolmetscher.