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Max Stirner, der Philosoph Ein Versuch der Versöhnung seines Denkens mit der philosophischen Tradition Nikos Psarros
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Max Stirner, der Philosoph

Mar 11, 2023

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Page 1: Max Stirner, der Philosoph

Max Stirner, der Philosoph Ein Versuch der Versöhnung seines Denkens mit der philosophischen Tradition

Nikos Psarros

Page 2: Max Stirner, der Philosoph

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 1

Anti-Koerzionismus bei Aristoteles und Max Stirner 5

Einleitung 5 Definitionen 6 Aristotelischer Anti-Koerzionismus 7 Der Anti-Koerzionismus Max Stirners 11 Formursachen- vs. Situationserkenntnis: Kognitivismus bei Aristoteles und Stirner 16 Contra Aristoteles und Stirner: Ein Plädoyer für einen milden epistemischen Koerzionismus 17

Max Stirners Cartesische Meditationen 21

Stirner – Ein radikaler Ikonoklast? 21 Die Cartesische Reduktion 22 Die Zurückweisung des Geistes Der erste Schritt der Stirnerschen Reduktion 25 Wider Gott – Die zweite Stufe der Stirnerschen Reduktion 26 Cartesischer und Stirnerscher Wille 30 Cartesische und Stirnersche natürliche Sittlichkeit 32 Die Idee des Eigners 36

Der edle Einzige und sein wildes Eigentum – Der Begriff des Menschen bei Jean-Jaques Roussau und Max Stirner 37

... wo Rousseau auf Stirner trifft, oder die intrinsische Privativität der Gesellschaft 37 Die zwei grundlegenden Arten der Definition 40

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Rousseau und Stirner: Zwei Entwürfe des zureichenden Grundes des Menschen 45 Die problematischen Konsequenzen der Rousseauschen Konzeption des Menschen und ihre Stirnersche Überwindung 47 Die fixe Idee des Menschen als Voraussetzung des Einzigen 49

Die Leere der Gesellschaft bei Franz Kafka und Max Stirner 51

Kafkas Gemeinschaft und Stirners Gesellschaft 51 Eine Mauer, die verbindet 55

Max Stirner, die Freiheit und das Eigentum 59

Der Stirnersche Widerspruch und seine Überwindung 59 Simone Weil: Die Bedürfnisse der menschlichen Seele 60 Bedürfnis, Begierde, Sucht und Gier 63 Ordnung, Freiheit und Eigentum 66 Süchtig nach Freiheit und Eigentum – Der Stirnersche Egoist 75

Literatur 77

Register 79

Page 4: Max Stirner, der Philosoph

1

Vorwort

Max Stirner gehört zu den exzentrischeren der sogenannten Junghegeli-aner, jener Intellektuellengruppe des 19. Jahrhunderts, deren Denken von den Lehren Hegels beeinflusst worden ist. Ihnen sind auch Marx und Engels zuzurechnen. Max Stirner, mit weltlichem Namen Johann Kaspar Schmidt, nimmt innerhalb dieser inhomogenen aber illustren Gruppe eine besondere Stellung ein, weil seine Thesen dem gesamten Spektrum der junghegelianischen Philosophien widersprechen, angefan-gen beim idealistischen Materialismus eines Ludwig Feuerbach bis zu den bis heute wirksamen Ideen von Karl Marx und Friedrich Engels.

Stirner lehnt in seinem Hauptwerk „Der Einzige und sein Eigentum“ sowohl jede Orientierung an einem Ideal oder an einem höchsten Ziel des Menschen – gleichgültig ob dieses als transzendentale Idee, katego-rischer Imperativ, oder als eschatologischer Zustand dargestellt wird – als auch jede Akzeptanz eines formalen Prinzips ab – wie etwa die na-turrechtlichen Grundsätze pacta sunt servanda und neminem laedere. Ein derartiges Festhalten betrachtet er als Unterwerfung unter eine „fixe Idee“ oder einen „Sparren“. Sogar die bürgerliche Gesellschaft und die Familie betrachtet Stirner als fixe Ideen, weil diese eine Person zwingen, ihren Willen dem Willen anderer Personen oder einem kollektiven Wil-len zu unterwerfen, unabhängig davon, ob diese Person zur Kooperation bereit ist oder nicht.

Die einzige Weise der Zusammenarbeit und des Umgangs mit ande-ren, die Stirner als kompatibel mit der individualistischen Lebensweise des „Egoisten“ oder des „Eigners“ betrachtet, ist der „Verein“. Darunter versteht Stirner eine Zusammenkunft von Menschen, die sich zusam-menfinden, um einen Zweck zu erreichen, den zwar jedes Individuum

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für sich anstrebt, der aber nur durch die Kooperation aller Vereinsmit-glieder erreicht werden kann. Das eigentümliche Merkmal eines Stirner-schen Vereins besteht darin, dass jedes seiner Mitglieder zu jeder Zeit austreten kann, sei es weil der individuelle Zweck erreicht worden ist oder weil das betreffende Mitglied das Interesse an einer Kooperation verloren hat.

Es ist klar, dass diese häretischen Ansichten bezüglich der Kooperati-on und seine kritische – geradezu ablehnende – Haltung gegenüber jeder Form von Sozialität, die über den momentanen und egozentrischen Ver-kehr von „absoluten Personen“ – oder in der Stirnerschen Terminologie von „Egoisten“ bzw. „Eignern“ – hinausgeht, auf einer eigentümlichen Bestimmung des Begriffes des Menschen durch Stirner beruhen.

Die deutsche Philosophie im Umkreis der so genannten Junghegelia-ner ist von der Tendenz gekennzeichnet, die historischen Wurzeln ihrer Ideen und Positionen jenseits der Philosophie Hegels aus den Augen zu verlieren oder gar bewusst herunterzuspielen – und dies trotz (oder viel-leicht wegen) der These der historischen Bedingtheit menschlichen Denkens und Lebens, die in den Philosophien der Junghegelianer von fundamentaler Bedeutung ist. Dies bedeutet nicht, dass sich die Junghe-gelianer in der Philosophiegeschichte nicht ausgekannt oder dass sie ihre philosophischen Vorgänger aus Antike, Mittelalter und Neuzeit nicht intensiv genug studiert hätten. Das Gegenteil ist der Fall und dies kann zumindest für Autoren wie Marx und Stirner nachgewiesen werden. Doch der Bezug auf die Philosophiegeschichte scheint hauptsächlich im Modus der Kritik und der Distanzierung stattgefunden zu haben.

1 Im

Kreis der Junghegelianer bestand wohl die Tendenz, sich als Pionier neuer Wege zu stilisieren und die eigene Position als radikalen Gegen-satz zu allem bisher Gedachten auszuweisen – eine Tendenz, die über die Grenzen dieses Kreises hinausging und in der Philosophie des späten 19. und des 20. Jahrhunderts zu einer Mode der „Revolutionen“, „Wen-den“ und „Entmythisierungen“ ausuferte.

Max Stirner folgt in dieser Hinsicht dem allgemeinen Muster seiner junghegelianischen Mitstreiter. In Bezug auf die ihm vorausgegangenen Philosophen ist er sogar noch sparsamer mit Verweisen und Bezügen und begnügt sich mit kursorischen Bemerkungen. Dadurch, wie bei sei-nen Mitstreitern, wird jedoch verschleiert, dass auch er, wie die übrigen Junghegelianer, an philosophische Denktraditionen anknüpft, die über Hegel und Fichte hinausgehen – Traditionen, die schon in der Frühzeit der Philosophie begründet worden sind – und diese Traditionen pflegt

1 Diese Haltung ist sehr gut bei Karl Marx zu beobachten, vgl. dazu Haug

2002.

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3

und fortentwickelt. Diese Selbstbezogenheit hat dazu geführt, dass so-wohl die Auseinandersetzungen Stirners mit den anderen Junghegelia-nern einschließlich Karl Marx als auch die Kämpfe, die die anderen Junghegelianer unter sich ausgefochten haben, lange Zeit als „lokales Phänomen“ der deutschen Philosophie angesehen wurden, das von ge-ringer Bedeutung für die philosophische Entwicklung gewesen ist, wenn man von der marxistischen Tradition absieht, die sich ihrerseits auch als philosophische „Neugründung“ versteht. Dadurch geriet eine ganze Epoche in die Isolation und wichtige philosophische Beiträge in Verges-senheit oder in das Abseits ideologischen Sektierertums.

Diese isolationistische Haltung, die von den Rezeptionskreisen so-wohl der Junghegelianer als auch der Marxisten im 20. Jahrhundert ein-genommen wurde, ist in den letzten zwei Jahrzehnten dieses Jahrhun-derts zumindest innerhalb der Marx-Rezeption zunehmend aufgegeben worden.

2 Bereits im Jahre 1954 hat jedoch Henri Arvon in seinem Buch

„Aux sources de l’existentialisme: Max Stirner“3

Stirner aus dem Um-kreis der Hegel-Adepten herausgelöst und ihn zusammen mit Sören Kierkegaard an den Anfang einer neuen philosophischen Tradition ge-stellt, des Existentialismus. Arvon entlarvt den Hegelianismus Stirners als eine bloße Methode. Die im „Einzigen“ vollzogene dialektische Be-wegung vom Realismus über den Idealismus hin zum Egoismus ist nicht Stirners spekulative Beschreibung eines „realmetaphysischen“ Prozes-ses, so wie etwa Hegel oder Marx den geschichtlichen und Wandel be-trachten, sondern eine Art Cartesische „Reductio“, mittels derer Stirner zum Ursprung des menschlichen Willens und der menschlichen Tuns vordringen will – zum Ich.

Ohne diese „Schlussfolgerung“4 wäre Arvons Stirner-Buch eine bra-

ve, fleißige, detailreiche Rekonstruktion einer Randposition in einer po-litisch-philosophischen Debatte des 19. Jahrhunderts geblieben, die bis auf die Tatsache, dass sie eine Hebammenfunktion bei der Entwicklung der Philosophie Marx’ und Engels gehabt hat, keine weiteren Spuren im philosophischen Denken des 20. Jahrhunderts hinterlassen hat. Dadurch aber, dass es Arvon gelingt, Stirner in die Tradition des Existentialismus zu positionieren, hat er ihn sowohl aus dem Schattendasein eines zweit-klassigen Hegel-Adepten erlöst als auch vom Makel der absoluten Idio-

2 Vgl. Haug 2002 und die darin enthaltene Literatur.

3 Erschienen 2012 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Max Stirner –

An den Quellen des Existentialismus“ (Arvon 2012). 4 Arvon 2012, S. 200.

Page 7: Max Stirner, der Philosoph

synkrasie befreit. Stirner ist weder ein bloßer „Junghegelianer“ noch „einzig“ (wie ihn Bernd Kast in seinem Kommentar sehen will).

5 Er ist

ein Philosoph in der eigentlichen Bedeutung des Wortes, der mit der gesamten philosophischen Tradition souverän umgeht und auf die Frage nach dem „Wer“ des Menschen eine eigenständige und originelle Ant-wort gibt. Indem Arvon Stirner auf dem Pfad des Existentialismus veror-tet, zeigt er, dass das Stirnersche Denken neben dem Hegelianismus auch andere Wurzeln hat. Diese Schrift will versuchen, den Verlauf ei-niger dieser Wurzeln zu verfolgen.

5 Kast 2012, S. 219.

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5

Anti-Koerzionismus bei Aristoteles und Max Stirner

Einleitung

Es ist meine Absicht hier zu zeigen, dass Max Stirner im „Einzigen“ eine politisch-philosophische Position bezieht, die ihn in die Nähe von Aristoteles bringt und die ich als Anti-Koerzionismus bezeichnen möch-te. Damit ist keineswegs die Behauptung verbunden, Stirner sei, poli-tisch-philosophisch gesehen, ein Aristoteliker oder Aristoteles ein früher Stirnerianer. Das Denken beider wird in dieser Hinsicht durch die tiefe Kluft getrennt, die zwischen dem Aristotelischen Realessentialismus und dem eigentümlichen Nominalismus Stirners besteht. Dennoch scheint es so zu sein, dass in Bezug auf die politische Organisation des menschlichen Lebens Aristoteles und Stirner sich im Lager derjenigen politischen Philosophen befinden, die die Notwendigkeit der Ausübung dessen, was ich positive Gewalt nennen möchte, zur Aufrechterhaltung einer gemeinschaftlichen Lebensstruktur vehement ablehnen. Auf Grund des Fehlens direkter Bezüge zu Aristoteles im „Einzigen“ kann der Nachweis dieser Ähnlichkeit nicht durch die Auflistung von Textbele-gen erbracht werden. Er soll vielmehr durch einen Vergleich der Argu-mentationsstrukturen in Aristoteles’ „Politik“ und in Stirners „Einzi-gem“ geleistet werden. Der Hauptgrund für die Ablehnung des Koerzio-nismus, als dessen prominenteste Vertreter hier Platon, Hobbes und Tocqueville angeführt werden sollen, ist bei Aristoteles und Stirner der gleiche: Es geht darum, dass der wirklich freie Mensch das Richtige er-kennen kann und gemäß dieser Erkenntnis auch das Richtige tut und deshalb keiner Führung durch „besser“ Wissende bedarf.

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Definitionen

Bevor ich mit dem Vergleich der Aristotelischen und der Stirnerschen anti-koerzionistischen Haltung beginne, ist es angebracht, einige termi-nologische Festlegungen vorzunehmen, um meine These besser darstel-len zu können. a) Unter dem Terminus negative Gewalt verstehe ich die Ausübung

von jeder Art von Zwang, um einzelne Menschen oder Organisati-onsformen menschlichen Lebens gegen Gefahr zu sichern und um Verbrechen – sei es im naturrechtlichen oder im rechtspositivisti-schen Sinne – zu bekämpfen.

b) Als positive Gewalt verstehe ich hingegen die Ausübung von jeder Art von Zwang, um eine bestimmte, klar umrissene Lebensweise durchzusetzen und aufrecht zu erhalten. Diese klar umrissene Le-bensweise kann u.a. die individuelle Lebensführung, die Art der Präsentation und des Verhaltens einer Person in der Öffentlichkeit oder die konkrete Organisation des persönlichen und des öffentli-chen Tagesablaufs betreffen.

c) Gut ist etwas (eine Handlung, ein Gesetz, ein Beschluss oder ein Ur-teil), das entweder im Aristotelischen Sinne ein Leben gemäß der menschlichen Natur fördert oder im Stirnerschen Sinne der Erfül-lung der je-meinen Ziele dient. Etwas, das dem menschlichen Leben nicht förderlich ist bzw. der Erreichung der je-meinen Ziele entge-gensteht, ist schlecht.

d) Als Staat soll die spezifische Organisationsform menschlichen Le-bens verstanden werden, die einerseits menschliches Leben mit allen seinen sozialen und politischen Erscheinungsformen ermöglicht (Personen, Familien, Eigentum, Freiheit, Gesetz, Regierung, Streit-macht), andererseits aber durch den Vollzug dieses Lebens aufrecht erhalten wird.

e) Ein Bürger ist eine Person, die das Recht hat, an der Gestaltung des Staatlebens aktiv teilzunehmen. (Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit werden die Ausdrücke „Mensch“ und „Person“ synonym verwendet). Ein perfekter Bürger ist ein Bürger, der seine Partizipa-tionsrechte kraft Gesetzes wahrnehmen darf. In den modernen Staa-ten sind alle volljährigen Bürger, denen die Bürgerrechte nicht per Gerichtsbeschluss aberkannt worden sind, perfekte Bürger. Eine Person, die keine Bürgerrechte wahrnehmen darf, aber den unbe-dingten Schutz eines Staates in Anspruch nehmen kann und seinen Gesetzen unterworfen ist, ist ein Untertan.

6,7

6 Dieser Status kommt in modernen Staaten minderjährigen Bürgern und

Bürgern, die per Gerichtsbeschluss ihre aktiven Bürgerrechte verloren ha-ben, zu. Die Rechte von Ausländern werden durch den naturrechtlichen Rahmen und durch zwischenstaatliche Verträge bestimmt. Ähnliche Rege-lungen galten auch in der Antike.

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7

f) Ein Staat, der zu seiner Aufrechterhaltung systematisch und in gro-ßem Umfang positive Gewalt gegen seine perfekten Bürger und ihre partikulären Organisationsformen anwendet, heißt ein koerzionisti-scher

8 Staat.

g) Unter Anarchie wird ein Modus des menschlichen Zusammenlebens verstanden, bei dem das gemeinsame Leben ohne die explizite kon-ventionelle Setzung von Rahmenrichtlinien und Regeln und ohne die Einrichtung von Institutionen, die der Strukturierung des ge-meinschaftlichen Lebens dienen, vollzogen wird. Ein wesentliches Merkmal eines anarchischen Gemeinwesens ist das Fehlen jeglicher staatlicher Strukturen und staatstragender Institutionen.

h) Als Anti-Koerzionismus wird schließlich die politisch-philoso-phische Haltung bezeichnet, die besagt, dass für eine gute menschli-che Lebensweise die Ausübung positiver Gewalt gegen perfekte Bürger absolut unzulässig ist.

Aristotelischer Anti-Koerzionismus

Im Rahmen der antiken Diskussionen über die Natur des Menschen und die angemessene Form menschlichen Lebens haben sowohl Platon als auch Aristoteles gegen auch damals gängige kontraktualistische und vo-luntaristische Positionen

9 die Ansicht vertreten, dass der Staat die natür-

liche Form der Organisation des menschlichen Lebens sei: Damit eine wie auch immer miteinander verbundene Ansammlung von Menschen ein gutes Leben führen kann, muss sie über alle anderen sozialen Orga-nisationsstrukturen hinaus (Familie, Sippe, Siedlung usw.) die Organisa-tionsstruktur eines Staates annehmen, die darin besteht, dass Personen Aufgaben und Dienste ausführen, Funktionen wahrnehmen und Pflich-ten erfüllen, die dem Gesamtwohl der betreffenden Menschenansamm-lung dienen und dafür die Verfolgung ihrer individuellen Interessen – zumindest zeitweise – einstellen oder ganz aufgeben. Zu diesen Aufga-ben gehören an erster Stelle die Verteidigung des Staates, die Abwehr 7 Das Problem der Sklaverei und der residierenden Ausländer wird uns hier

nicht beschäftigen. 8 Der Terminus Koerzionismus ist kein hier eingeführter Neologismus, auch

wenn er nicht allzu verbreitet zu sein scheint. Die neuere Literatur kennt jedoch etliche Publikationen, die sich mit der Metaphysik des Zwangs und seiner ethisch gerechtfertigten Anwendung auseinandersetzen – das, was ich hier als milden Koerzionismus bezeichne. Vgl. dazu Goerner 1996, Gorr 2005, Mansbridge 1977 oder Rhodes 2000.

9 Derartige Ansätze werden bereits in Platons „Politeia“ diskutiert.

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von Verbrechen, die Beteiligung an Gerichtsverfahren zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen den Bürgern und zur angemessenen Bestra-fung von Verbrechen und schließlich die Beteiligung an Beratungen, die die gemeinsamen Angelegenheiten des Staates betreffen. Zu den Pflich-ten des Bürgers gehören sowohl die Unterwerfung unter die Bestim-mungen der Verfassung des Staates – das, was in der Antike als Gesetze (νόµοι) bezeichnet wurde – und unter die Beschlüsse der Regierenden als auch die Bereitschaft, den Staat mit seinem Leben zu verteidigen.

Ein wichtiges Thema bei den Diskussionen über das Wesen des Staa-tes war schon in der Antike die Zulässigkeit und der Umfang der An-wendung von positiver Gewalt. Anhänger voluntaristischer Staatstheo-rien, wie der in Platons „Politeia“ zu Wort kommende Thrasymachos, betrachteten die positive Gewalt als das konstituierende Moment des Staates schlechthin, denn ihrer Auffassung nach dient der Staat eigent-lich nur den Interessen einiger weniger oder eines einzigen Mächtigen. Negative Gewalt leitet sich in diesem Zusammenhang von der Anwen-dung positiver Gewalt ab, denn es ist die letztere, die den Zusammenhalt des staatlichen Lebens primär sicherstellt. Platon und Aristoteles argu-mentieren dagegen für einen Begriff des Staates, der der Erreichung und Sicherstellung der Eudämonie gilt, die als das Führen eines guten indi-viduellen Lebens in einem wohlbestellten Staat verstanden wurde, und für einen Begriff der Herrschaft, der auf dem Konzept der Anleitung und Führung des Unwissenden durch den Wissenden beruht. In Aristoteles’ Terminologie wird dies als Führung und Anleitung des Unvollkomme-neren durch das Vollkommenere bezeichnet. Dieses Führungs- und An-leitungsverhältnis ist je nach Art der Differenz im Grade der Vollkom-menheit ein anderes.

Die Führung z.B. der minderjährigen Kinder durch den Vater (und die Mutter) wird von Aristoteles als königlich bezeichnet,

10 da sie not-

wendigerweise die Art von positiver Gewalt erfordert, wie sie etwa ein König zum Wohle seiner Untertanen einsetzt, weil der legitime und ide-ale König der Einzige im Staat ist, der die Einsicht in die notwendigen Abläufe des staatlichen Lebens hat und kein eigenes Interesse neben dem staatlichen Interesse verfolgt. Minderjährige Kinder sind, in Ana-logie zu Untertanen, auf Grund ihrer Natur als noch unvollkommene Menschen nicht in der Lage, die Notwendigkeiten des Lebens in Familie und Staat einzusehen und müssen daher gelegentlich gezwungen wer-den, bestimmte Dinge zu tun oder zu lassen. Im Gegensatz dazu ist das Führungsverhältnis des freien Herrn zum Sklaven ein despotisches oder tyrannisches. Der Einsatz positiver Gewalt dient hier dazu, den Sklaven

10

Aristoteles, Politik 1259b.

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9

zur Erfüllung des Interesses des Herrn zu zwingen, in Analogie zum Despoten oder Tyrannen, der sich vom legitimen König darin unter-scheidet, dass er sein Interesse als das Staatsinteresse definiert.

11 Auch

im Falle der despotischen Herrschaft leitet der Wissende den Unwissen-den an, aber im Gegensatz zum Eltern-Kind-Verhältnis hat der Unwis-sende durch die Natur seiner Stellung als Diener oder Untertan keine Möglichkeit, jemals vollständige Einsicht in die Interessenstrukturen des Herrn bzw. des Despoten/Tyrannen zu gewinnen, geschweige denn, die-se zu beeinflussen – es sei denn, er hat sich das Vertrauen des Herrn in einem solchen Maße verdient, dass er ihm als Berater dient, was aber nach Ansicht z.B. von Xenophon einem Sklaven in dieser Position fast den Status eines Freien verleiht bzw. die Vorstufe zur Freilassung dar-stellt.

12

Dieselbe Argumentation wird herangezogen, um zu begründen, wa-rum der Mensch sich die Tiere dienstbar macht und über sie herrscht. Das Tier hat nämlich keine Einsicht in die Form oder den Typ der Situa-tion, in der es sich befindet. Es kann zwar die konkrete Situation wahr-nehmen, indem es in seiner Seele ein Abbild davon erzeugt,

13 und darauf

gemäß seinem Wesen reagieren, aber es kann sie weder antizipieren noch sie für sich ausnutzen. Der Mensch hingegen verfügt über Formen- oder Typenwissen,

14 er kann die Situation ihrem Typ gemäß erfassen

und dementsprechend an Hand seines Handlungsformenwissens han-deln. Zum Formenwissen des Menschen gehört auch das Formenwissen über das Wesen der verschiedenen Tiere. So ist der Mensch in der Lage, ein Tier dazu zu bringen, auf eine Situation zwar artgemäß, aber in einer Weise zu reagieren, die seinem Interesse nützt. Er kann z.B. die natürli-che Kraft und die Neigung eines Pferdes, ausdauernd geradeaus zu lau-fen, dazu ausnutzen, es vor einen Wagen zu spannen und in eine be-stimmte Richtung zu fahren. Das Pferd hat kein Wissen darüber, wohin die Reise führt oder warum sie unternommen wird. Es reagiert bloß auf den Situationstyp, der es dazu antreibt, loszutraben.

Im absoluten Kontrast zur Herrschaft über die Kinder, die Sklaven und die Tiere wird das Herrschafts- bzw. Führungsverhältnis zwischen

11

Über die Problematik der despotischen Staatsregierung vgl. Platon Poli-teia (346-347) und 1. Brief an Dionysius (Briefe 309b8).

12 Xenophon Oikonomikos 14,1.

13 Der Aristotelische Terminus für dieses Vermögen der Seele ist „Vorstel-

lungskraft“ (φαντασία). 14

Aristoteles, Über die Seele Buch III, Kap. 4.

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Ehemann und Ehefrau von Aristoteles in Analogie zum Führungsver-hältnis des „Hauptes eines Freistaates“ zu den perfekten Bürgern dieses Staates verstanden.

15 Dieses Führungsverhältnis unterscheidet sich von

den anderen darin, dass hier ein primus inter pares führt. Sein Füh-rungsanspruch bzw. seine Führungslegitimation leitet sich nicht von ei-nem Wissen ab, das den Geführten abgeht, sondern von der Tatsache, dass er durch gemeinsamen Beschluss in den Stand berufen worden ist, über die Durchsetzung allgemein anerkannter Gesetze und gemeinsam gefasster Beschlüsse zu wachen. Im Falle der Beziehung zwischen Mann und Frau beruhe die Eignung des Mannes, diese Aufgabe wahrzu-nehmen, auf seiner natürlichen Überlegenheit gegenüber der Frau im zweiten Teil der Seele, der die Entschlossenheit und den Mut eines Menschen bestimmt.

16 Mit anderen Worten, der Mann leitet die Angele-

genheiten des oikos, weil er in der Lage sei, die Durchsetzung anerkann-ter Gesetze und gemeinsam mit seiner Ehefrau gefasster Beschlüsse das Wohl der Familie und des Hausgewerbes betreffend, beherzter als die Frau anzugehen – sowohl im Inneren des oikos, gegenüber sich selbst, seiner Ehefrau, den Kindern und den Dienern als auch gegenüber ande-ren Hausständen und dem Staat.

Da in einem Frei- oder Bürgerstaat, d.h. in einem Staat, der weder durch einen König noch einen Tyrannen oder eine Oligarchie regiert wird, alle Bürger gleich sind, wird der Regierende oder das Regierungs-kollegium durch das Los bestimmt. Es gibt allerdings auch Regierungs-ämter, die der besonderen Eignung der Beherztheit bedürfen – z.B. das der Strategen. In diesem Falle wird der bzw. werden die Geeigneten durch Wahl aus der Mitte der perfekten Bürger bestimmt. Der Freistaat wird durch die freiwillige Einhaltung gemeinschaftlich zustande ge-kommener Beschlüsse seiner perfekten Bürger zusammengehalten.

17

Der ideale Freistaat oder Bürgerstaat zeichnet sich somit als die soziale und politische Organisationsform aus, die die Anwendung positiver Ge-walt gegenüber ihren Mitgliedern ausschließt, sofern diese den Status des perfekten Bürgers besitzen. Positive Gewalt kann und darf nur ge-genüber unvollkommenen Bürgern und Sklaven ausgeübt werden und dies nur, insofern dies der Erreichung und Sicherstellung der Eudämonie dient. Die Ausübung positiver Gewalt gegen perfekte Bürger ist schlecht und stellt im Prinzip einen Kriegsakt dar. Deshalb ist Aristoteles ein ve-hementer Kritiker aller theoretischen Staatsentwürfe und aller existie-renden Bürgerstaaten, die die Ausübung positiver Gewalt gegen perfekte

15

Aristoteles, Politik 1259b. 16

Vgl. dazu Platon, Timaios 42a-42b. 17

Aristoteles, Politik 1278b2-1279a9.

Page 14: Max Stirner, der Philosoph

11

Bürger systematisch vorsehen – etwa durch sokratisch/platonische Wächter oder durch Ephoren bzw. Kosmen

18 in der lakedämonischen

und der kretischen Verfassung.19

Der Ausschluss positiver Gewalt aus dem politischen Leben im Freistaat bedeutet nicht, dass es sich dabei um ein anarchisches Gemeinwesen

20 handelt. Im Gegenteil: Aristoteles ist

der Meinung, dass eine anarchische Siedlung in Bezug auf die Anwen-dung positiver Gewalt sich von einer Despotie oder einer Tyrannis nur darin unterscheidet, dass die positive Gewalt in ihr von jedem gegen jeden bzw. von jeder zufällig zustande gekommenen Koalition gegen jede andere ebenfalls nur zufällig zustande gekommene Koalition aus-geübt wird.

21

Die in seinem Staatsverständnis begründete Abneigung Aristoteles’ gegen die Anwendung positiver Gewalt gegenüber perfekten Bürgern bestätigt die These, dass er ein Anti-Koerzionist im Sinne der im zwei-ten Abschnitt gegebenen Definition ist. Er ist ein Gegner der Anarchie, weil sie die gemeinsame Unterwerfung aller Bürger unter gemeinsam gefasste Beschlüsse und allgemein anerkannte Gesetze unmöglich macht, ein Leben gemäß der menschlichen Natur behindert und daher als schlecht zu betrachten ist. Er ist aber kein absoluter Gegner jeglicher Anwendung positiver Gewalt, weil positive Gewalt gegen unvollkom-mene Menschen ein Mittel sein kann, diese zu vervollkommnen und so in diesem – aber nur in diesem – Falle als gut zu bezeichnen wäre.

Der Anti-Koerzionismus Max Stirners

Die anti-koerzionistische Haltung Max Stirners wird einerseits im „Ein-zigen“ klarer und radikaler ausgedrückt als der Anti-Koerzionismus von Aristoteles, andererseits aber wird Stirner als Vertreter einer anarchisti-

18

Ephoren: Die Wächter über die Sitten der Bürger und die Tätigkeiten der Amtsträger im antiken Sparta. Kosmen: Die kretische Bezeichnung für das gleiche Amt.

19 Aristoteles, Politik 1263a10-1266a18 und 1269a22-1272b17.

20 In der antiken politischen Terminologie wurde ein anarchisches Gemein-

wesen als Demokratie bezeichnet. In einer Demokratie herrscht die An-sammlung der zufällig anwesenden Freien (ἐκκλησία τοῦ δῆµου), die sich je nach Tageslage zu verschiedenen Interessengruppen koalieren.

21 Aristoteles, Politik 1279b10-1280a5. Zufällig in dem Sinne, dass die fakti-

sche Zugehörigkeit einer Person zu einer Einkommensklasse nicht zum Wesen dieser Person gehört.

Page 15: Max Stirner, der Philosoph

schen Position verstanden (obwohl er sich in seinem Werk nirgendwo als einen Anarchisten bezeichnet). Es ist jedoch meine Absicht zu zei-gen, dass der Stirnersche radikale Anti-Koerzionismus sich mit dem Konzept der Anarchie als Abwesenheit staatlicher Institutionen in einem doch nach Prinzipien strukturierten Gemeinwesen genauso wenig ver-trägt wie der Aristotelische Anti-Koerzionismus, und zwar aus demsel-ben Grunde, weil nämlich diese Form der Anarchie den totalen und schrankenlosen Einsatz positiver Gewalt erfordert und positive Gewalt schlecht ist – für Stirner sogar absolut schlecht.

Genauso wie Aristoteles ist Stirner kein radikaler Gegner eines ge-meinschaftlich organisierten menschlichen Lebens und genauso wie Aristoteles verlangt er, dass diese Organisation auf gemeinsamen und von allen Beteiligten akzeptierten Beschlüssen beruht und zu ihrem Zu-sammenhalt nicht der Anwendung positiver Gewalt bedarf. Wie Aristo-teles lehnt Stirner positive Gewalt ab, allerdings ist er in dieser Ableh-nung absolut, da er sie als Folge einer krankhaften Fixierung auf un-wirkliche, bloß imaginierte Prinzipien und Ideen ansieht. Es gibt somit keine Rechtfertigung für den Einsatz positiver Gewalt, auch nicht gegen uneinsichtige Unvollkommene – etwa Kinder. Aus diesem Grunde lehnt Stirner jede Form der Organisation menschlichen Lebens ab, die als Verwirklichung einer Idee oder einer Formursache angesehen werden kann und deren Gelingen vom Stand der Erkenntnis ihrer abstrakten Form bzw. Idee mit abhängt – Staat, Familie, Kirche usw. Die Bedin-gung der absoluten Abwesenheit von positiver Gewalt sieht er nur in einer Form der Organisation erfüllt, die er Verein (der Egoisten) nennt:

„Wenn der Staat auf unsere Menschlichkeit rechnen muß, so ist’s dasselbe, wenn man sagt: er müsse auf unsere Sittlichkeit rechnen. Ineinander den Men-schen sehen und gegeneinander als Menschen handeln, das nennt man ein sitt-liches Verhalten. Es ist das ganz und gar die „geistige Liebe“ des Christen-tums. Sehe Ich nämlich in Dir den Menschen, wie Ich in Mir den Menschen, und nichts als den Menschen sehe, so sorge Ich für Dich, wie Ich für Mich sorgen würde, denn Wir stellen ja beide nichts als den mathematischen Satz vor: A = C und B = C, folglich A = B, d.h. Ich nichts als Mensch und Du nichts als Mensch, folglich Ich und Du dasselbe. Die Sittlichkeit verträgt sich nicht mit dem Egoismus, weil sie nicht Mich, sondern nur den Menschen an Mir gelten läßt. Ist aber der Staat eine Gesellschaft der Menschen, nicht ein Verein von Ichen, deren jedes nur sich im Auge hat, so kann er ohne Sittlich-keit nicht bestehen und muß auf Sittlichkeit halten. Darum sind Wir beide, der Staat und Ich, Feinde. Mir, dem Egoisten, liegt das Wohl dieser „menschli-chen Gesellschaft“ nicht am Herzen, Ich opfere ihr nichts, Ich benutze sie nur; um sie aber vollständig benutzen zu können, verwandle Ich sie vielmehr in

Page 16: Max Stirner, der Philosoph

13

mein Eigentum und mein Geschöpf, d. h. Ich vernichte sie und bilde an ihrer Stelle den Verein von Egoisten.“

22

Im Gegensatz zum Staat, der in den Augen Stirners eine abstrakte Idee unter Einsatz von positiver Gewalt verwirklicht, verfolgt ein Verein ein konkretes, von seinen Mitgliedern beschlossenes Ziel, z.B. das Anlegen einer Wasserleitung oder den Einkauf und die Verteilung eines Gutes zu günstigeren Konditionen. Allerdings bedeutet die Formulierung und gemeinsame Verfolgung dieses Zieles nicht, dass die Vereinsmitglieder sich gegenüber dem Verein oder gegenseitig verpflichten, die Mitarbeit nicht oder nur zu bestimmten Konditionen aufzukündigen:

„In den Verein bringst Du deine ganze Macht, dein Vermögen, und machst Dich geltend, in der Gesellschaft wirst Du mit deiner Arbeitskraft verwendet; in jenem lebst Du egoistisch, in dieser menschlich, d. h. religiös, als ein „Glied am Leibe dieses Herrn“: der Gesellschaft schuldest Du, was Du hast, und bist ihr verpflichtet, bist von „sozialen Pflichten“ – besessen, den Verein benutzest Du und gibst ihn, „pflicht- und treulos“ auf, wenn Du keinen Nutzen weiter aus ihm zu ziehen weißt. Ist die Gesellschaft mehr als Du, so geht sie Dir über Dich; der Verein ist nur dein Werkzeug oder das Schwert, wodurch Du deine natürliche Kraft verschärfst und vergrößerst; der Verein ist für Dich und durch Dich da, die Gesellschaft nimmt umgekehrt Dich für sich in Anspruch und ist auch ohne Dich; kurz die Gesellschaft ist heilig, der Verein dein eigen: die Gesellschaft verbraucht Dich, den Verein verbrauchst Du.“

23

Die Unterwerfung unter „Mitgliedschaftsklauseln“ würde bedeuten, dass der Verein bzw. die übrigen Mitglieder das Recht hätten, gegen einen „vertragsbrüchigen“ Defektierer vorzugehen und ihm eine bestimmte Lebensweise, die er jetzt nicht mehr führen will, aufzuzwingen, dass also der Verein zur Durchsetzung „seiner“ Ziele positive Gewalt anwen-det, was laut Stirner absolut unzulässig ist. Der Verein ist somit eine Assoziation untereinander zu nichts verpflichteter Personen, die ihr je-weiliges individuelles Wohl zu verwirklichen versuchen und den Verein in der gegebenen Situation als das geeignete Mittel dazu betrachten. Sie können deshalb diese Assoziation jederzeit verlassen, wenn ihre indivi-duellen Zielsetzungen mit den Zielsetzungen der anderen Vereinsmit-

22

EE, S.185. 23

EE, S.316.

Page 17: Max Stirner, der Philosoph

glieder nicht mehr übereinstimmen.24

Der Verein kann weder den Ver-bleib einer Person in seinen Kreisen erzwingen noch eine Person zum Beitritt nötigen. Die einzige Form von Gewalt, die ein Verein wie auch jede einzelne Person ausüben darf, ist negative Gewalt zur Abwehr eines Schadens, der dem Verein oder der Person zugefügt wird.

25 Da negative

Gewalt stets zur Verteidigung der Interessen einer Person oder eines Vereins eingesetzt wird, ist sie per definitionem gut – sie ist nämlich der Ausdruck des Vermögens von Personen, ihr Leben gemäß den eigenen Vorstellungen zu realisieren.

26

Es bleibt noch zu klären, warum ein Stirnerscher Verein keine anarchi-sche Lebenserscheinung im Sinne der im zweiten Abschnitt gegebenen Definition ist. Die Antwort liegt im radikalen Nominalismus Stirners, der die Existenz jeglicher natürlicher Normativität ablehnt. Stirner be-trachtet nämlich sein Leben, das Leben des Einzigen, nicht als Realisie-rung der Idee oder der Form des „menschlichen Lebens“,

27 sondern als

ein singuläres Ereignis, dessen Ausgestaltung auf keiner weiteren Vo-raussetzung oder Idee beruht als auf der Tatsache seiner Existenz.

28 Zum

Inhalt dieser Tatsache gehört die Tatsache der Existenz der Außenwelt mit ihrem Inhalt (Tiere, Pflanzen, andere Menschen usw.), die Tatsache der sprachlichen Kommunikation, die Tatsache des ideenfixierten Le-bens anderer Personen und auch die Tatsache der Konstitution eines Le-bens als Einziger entlang der Reichweite des eigenen Vermögens. Jede allgemeine normativ wirksame Struktur – zumindest in der sozialen Welt

29 – ist das Resultat der Tätigkeit von Personen – in dieser Hinsicht

24

Genauer genommen: Es ist die logische Konsequenz ihrer Meinungsände-rung, dass sie den Verein verlassen.

25 EE, S.235: „die Eigenen aber werden um die eigen gewollte Einheit, den

Verein, kämpfen.“ 26

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine Gewaltanwendung, die als Verteidigungsfall deklariert wird, sich nach näherer Untersuchung als Anwendungsfall positiver Gewalt erweisen wird. Die Möglichkeit derarti-ger unklarer Fälle hebt allerdings die Gültigkeit der hier gemachten be-grifflichen Unterscheidungen nicht auf.

27 EE, S.196: „Ob Mir die Natur ein Recht gibt, oder Gott, die Volkswahl

usw., das ist alles dasselbe fremde Recht, ist ein Recht, das Ich Mir nicht gebe oder nehme.“

28 EE, S.134: „Drum kehre Du Dir die Sache lieber um und sage Dir: Ich bin

Mensch! Ich brauche den Menschen nicht erst in Mir herzustellen, denn er gehört Mir schon, wie alle meine Eigenschaften.“

29 Stirner interessiert sich nicht für naturphilosophische Fragen, sein Nomi-

nalismus ist aber m.E. mit einem Szientismus à la Carnap oder Quine kompatibel.

Page 18: Max Stirner, der Philosoph

15

befindet sich Stirner ebenfalls in guter philosophischer Gesellschaft – mit Hume, Carnap, Wittgenstein und Quine.

Da nun Stirner sein Leben nicht als Realisierung einer allgemeinen normativ wirksamen Idee oder Form begreift, muss er die Anarchie als Wesensprinzip des menschlichen Lebens ablehnen. Ihm geht es im „Einzigen“ nicht um die Propagierung einer idealen menschlichen Le-bensweise, sondern um die Beschreibung des tatsächlichen Lebens von Personen und um die Beschreibung eines wiederholten Fehlers in der Erkenntnis dieser Tatsache in ihrer historischen Entwicklung. Was er diesem falschen Leben entgegensetzt, ist nicht die Beschreibung des „wahren Wesens des Menschen“, sondern die Tatsache eines Lebens, das frei von diesem Erkenntnisfehler ist – des von fixen Ideen und Spar-ren befreiten Lebens eines Einzigen, der sich nur auf sein Vermögen und das, was er damit erreichen kann, verlässt. In den Augen Stirners will der Anarchist, wie jeder andere Besessene, seine Vorstellung vom menschlichen Wesen allen anderen aufzwingen und muss deshalb zur Anwendung positiver Gewalt greifen.

Stirner verwendet den Ausdruck „Anarchie“ im Sinne der Ungebun-denheit an jedwelches Prinzip oder Gesetz.

30 Den hier unter Anarchie

definierten Zustand bezeichnet er als Kommunismus: Die Reflexionen und Schlüsse des Kommunismus sehen sehr einfach

aus. Wie die Sachen dermalen liegen, also unter den jetzigen Staatsver-hältnissen, stehen die einen gegen die andern, und zwar die Mehrzahl gegen die Minderzahl im Nachteil. Bei diesem Stande der Dinge befin-den sich jene im Wohlstand, diese im Notstand. Daher muss der gegen-wärtige Stand der Dinge, d.i. der Staat (status = Stand) abgeschafft wer-den. Und was an seine Stelle? Statt des vereinzelten Wohlstandes – ein allgemeiner Wohlstand, ein Wohlstand aller.

31

Der prinzipiengeleitete Anarchist – vor allem der revolutionäre Kommunist, weil er im Namen des Prinzips des allgemeinen Wohl-stands den bestehenden status quo, den bestehenden Staat, abschaffen will – ist somit notwendigerweise ein Koerzionist:

„Das Bürgertum hatte geistige und materielle Güter frei hingestellt und jedem anheim gegeben, danach zu langen, wenn ihn gelüste. Der Kommunismus ver-schafft sie wirklich jedem, dringt sie ihm auf und zwingt ihn, sie zu erwerben. Er macht Ernst damit, dass Wir, weil nur geistige und materielle Güter Uns zu

30

EE, S.114 und 243. 31

EE, S.126.

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Menschen machen, diese Güter ohne Widerrede erwerben müssen, um Mensch zu sein. Das Bürgertum machte den Erwerb frei, der Kommunismus zwingt zum Erwerb, und erkennt nur den Erwerbenden an, den Gewerbetrei-benden. Es ist nicht genug, dass das Gewerbe frei ist, sondern Du musst es ergreifen.“

32

Der Stirnersche Egoist will hingegen niemandem etwas aufzwingen, er wehrt sich lediglich gegen die koerzionistischen Maßnahmen der Beses-senen – der Stirnersche Egoist ist durchaus nicht pazifistisch gesinnt.

33

Formursachen- vs. Situationserkenntnis: Kognitivismus bei Aristoteles und Stirner

Trotz ihrer Übereinstimmung in der Ablehnung des Koerzionismus als Gestaltungsprinzip des sozialen und politischen Lebens besteht zwi-schen Aristoteles und Max Stirner ein nicht überbrückbarer Unterschied, der Aristoteles in den Augen Stirners sogar zum (besessenen) Koerzio-nisten macht. Der Aristotelische Bürger gestaltet nämlich sein Leben im Staat als Verwirklichung einer Form, wobei diese Form nicht nur einen epistemischen normativen Rahmen für sein Handeln liefert, sondern auch die Ursache dafür ist, dass das menschliche Leben sich im Rahmen des Staates vollzieht. Der Stirnersche Egoist vollzieht hingegen sein Le-ben als singulären existenziellen Akt, der allein durch die logische und faktische Notwendigkeit gestaltet wird, die sich aus der Tatsache seiner Existenz und der Existenz einer konkret erfahrbaren Welt ergibt.

34 Diese

Notwendigkeit ist nicht Inhalt einer Idee oder einer Form, sondern zeigt sich im konkreten Lebensvollzug einer Person und muss von ihr ledig-lich korrekt erkannt und beurteilt werden, damit die Person ihr Leben richtig gestalten kann. Wenn also der Stirnersche Egoismus als Prinzip ausgedrückt werden kann, dann hat dieses Prinzip keinen ontologischen, sondern einen rein epistemischen, eine Tatsache beschreibenden Status. Es ist daher notwendig, dass eine Person in den Zustand versetzt wird, 32

EE, S.130 33

Vgl. Fußnote 25. 34

„Fort denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar Meine Sache ist! Ihr meint, Meine Sache müsse wenigstens die »gute Sache« sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber Meine Sache, und Ich bin weder gut noch böse. Beides hat für Mich keinen Sinn. Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache »des Menschen«. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist – einzig, wie Ich einzig bin“, EE, S.15.

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dieses Prinzip für sich zu formulieren, bevor sie ihr Leben danach ge-stalten kann. Dies wird durch eine Erziehung erreicht, die die Erkennt-nisfähigkeiten des Menschen nicht von seiner konkreten Existenz ab-lenkt.

Der Aristotelische perfekte Bürger vollzieht ebenfalls sein Leben auf Grund von Urteilen, die er aber durch den Vergleich der konkreten Situ-ation mit seinem normativen Wissen der Form des menschlichen Lebens gewinnt. Er muss daher über das wahre Wissen dieser Form verfügen, was zunächst durch eine gewöhnungsmäßige Annäherung an dieses Wissen im Kindesalter erfolgt, die später durch eine explizite wissen-schaftliche Untersuchung dieser Form im Erwachsenenalter ergänzt wird. Deswegen ist Politik für Aristoteles eine Wissenschaft.

Somit gestalten sowohl der Aristotelische Bürger als auch der Stirner-sche Egoist ihr Leben auf Grund von Situationsbeurteilungen – Aristote-les und Stirner sind in Bezug auf die Motivation vernünftigen Handelns Kognitivisten. Der erstere urteilt aber nach Maßgabe seines Wissens über die normative Formursache des menschlichen Lebens, während der letztere den momentanen Zustand der Welt mit seinen momentanen Inte-ressen abgleicht. Deshalb ist der Stirnersche Egoist nicht an seine frühe-ren Entscheidungen und Urteile gebunden. Der Aristotelische Bürger ist hingegen an seine früheren Entscheidungen und Urteile gebunden, inso-fern diese sein Wissen über die Form des menschlichen Lebens reflek-tieren. Die Nichteinhaltung eingegangener Verpflichtungen ermächtigt den Staat zur Anwendung negativer Gewalt, da seine Defektion die Rea-lisierung der Form des menschlichen Lebens beeinträchtigt und so den anderen Bürgern Schaden zufügt.

Contra Aristoteles und Stirner: Ein Plädoyer für einen milden epistemischen Koerzionismus

Wie eingangs erwähnt, wendet sich Aristoteles gegen Platon, dem er vorwirft, sich bei der Gestaltung des idealen Staates eines starken, mit unlauteren Mitteln arbeitenden Koerzionismus zu bedienen. Als Beleg dafür dient ihm u.A. der Umstand, dass Sokrates in der Politeia vor-schlägt, eine geheime Zuchtwahl bei der Stiftung von Partnerschaften zwischen den Wächtern zu betreiben, die zwar nach außen als Ergebnis eines Losverfahrens dargestellt wird, in Wirklichkeit aber durch ein ge-heimes Gremium auf Grund eugenischer Kriterien manipuliert wird.

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Darüber hinaus sind die Wächter gezwungen, ein natürliche Formen des menschlichen Zusammenlebens missachtendes Leben zu führen und auf die Bildung von Familien, festen Verwandtschaftsbeziehungen und auf Privateigentum zu verzichten. Wie schwer diese Vorwürfe wiegen, hängt nicht zuletzt vom Verständnis der entsprechenden Passagen der „Politeia“ ab. Die Ausführungen über die Zuchtwahl unter den Wäch-tern durch Einsatz von Täuschung können z.B. auch als nicht ernst ge-meinte, ironische Bemerkungen verstanden werden. Unabhängig von diesen Teilfragen aber ist die Kernthese der „Politeia“, dass zur Errei-chung der Eudämonie ein gewisses Quantum positiver Gewalt einer be-stimmten Qualität unabdingbar ist. Der Grund dafür liegt im nicht über-brückbaren Graben zwischen der allgemeingültigen Wahrheit und dem individuellen Wahrheitsempfinden, d.h. zwischen der Erkenntnis, dass es eine Tatsache ist, dass etwas der Fall ist, und der subjektiven Über-zeugung, dass etwas der Fall ist. Bezogen auf andere kann diese Span-nung aufgelöst werden, jedoch nicht in Bezug auf einen selbst, denn bei der Beurteilung der eigenen Situation fallen Wahrheit und Wahrheits-empfinden notwendigerweise zusammen. In der Stirnerschen Variante des Anti-Koerzionismus ist dieser Konflikt vorprogrammiert, da der Ur-teilende immer Teil der Situation ist, so dass es keine Möglichkeit gibt, dieses Problem zu vermeiden und die Spannung aufzulösen. Aristoteles sieht zwar in seinem Staatsentwurf die Institution der verschiedenen Re-gierungs- und Richterämter vor, die von den perfekten Bürgern turnus-weise bekleidet werden. Doch auch wenn die Idee des „Laienpolitikers“ und „Laienministers“ bis heute an Attraktivität nichts eingebüßt hat, kann eine derartige Hybridtätigkeit nicht gewährleisten, dass der Richter oder der Staatsbeamte die Situation frei von seinem Partikularinteresse beurteilt. Dabei wird kein böser Wille unterstellt, sondern lediglich be-hauptet, dass ein Laienbeamter oder -richter die Situation stets auch als Betroffener (mit)beurteilen muss. So urteilt ein Laienrichter über einen Dieb nicht nur im Sinne der Gerechtigkeit und der Wahrheit, sondern auch aus der Sicht des potenziellen Opfers eines Diebstahls und fühlt sich eher in der Nähe des Klägers als des Angeklagten. Ein objektives – im Sinne von: auch die legitimen Interessen des Angeklagten berück-sichtigendes und wahrendes – Urteil ist so unmöglich.

Die Lösung, die Sokrates/Platon – und später auch Koerzionisten wie Hobbes und Tocqueville – vorschlagen, besteht darin, Personen von Amts wegen aus der Situationsbetroffenheit herauszuhalten. Ihr Urteil kann zwar von der Spannung zwischen Wahrheit und Wahrheitsempfin-den nicht befreit werden, betrifft aber durch ihren Status als Wächter bzw. Berufsbeamte und -richter ausschließlich andere und ist somit dem Situationstyp verpflichtet und nicht der Situation. Das Urteil der Wäch-

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ter wird allen Adressaten gleich auferlegt und nimmt keine Rücksicht auf deren persönliche Meinung, die durchaus so ausfallen kann, dass sie der Überzeugung sind, schlecht behandelt worden zu sein. Es wird not-wendigerweise im Modus der positiven Gewalt durchgesetzt. Damit die-ses Verfahren nicht in Anarchie oder Despotie ausartet, ist es notwendig, erstens die Wächter wissenschaftlich zu bilden (damit sie die Form des menschlichen Lebens erkennen) und zweitens den Erkenntnisgewin-nungsprozess vom Anwendungsprozess zu trennen (im Sinne der Ge-waltenteilung und der Konstituierung der Wissenschaft als autonome Institution). Diese Form des Koerzionismus wird durch den Umstand gerechtfertigt, dass die Fokussierung auf die Erkenntnis der Formursa-chen des menschlichen Lebens den zweiten Teil der Seele stärkt, so dass der dem öffentlichen Wohl verpflichtete Mensch in die Lage versetzt wird, sich beherzter als der Privatmensch für das allgemeine Gute einzu-setzen und somit den letzteren diesbezüglich auch anleiten darf.

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Max Stirners Cartesische Meditationen

Stirner – Ein radikaler Ikonoklast?

Max Stirners philosophisches Selbstbild, aber auch sein Bild in der phi-losophischen Gemeinde ist das eines radikalen Ikonoklasten. Er will nicht nur mit allen überkommenen philosophischen Inhalten, Methoden, Ideen und Richtungen brechen, sondern das ganze Leben auf eine neue, radikale Basis stellen, nämlich die Basis der (je) eigenen wirkmächtigen und tätigen Existenz: Jeder Mensch, jedes Ich, ist ein sich die gesamte Welt – einschließlich aller anderen Iche – aneignender Eigner, dessen Existenz soweit in Raum und in Zeit umgreift, soweit ihn seine eigene Kraft trägt – soweit er im Stande ist, sein Leben gegen die Welt aufrecht zu erhalten. Mit Stirners Worten: Der Eigner verzehrt die Welt und wird von ihr verzehrt:

„Wie aber nutzt man das Leben? Indem man’s verbraucht, gleich dem Lichte, das man nutzt, indem man’s verbrennt. Man nutzt das Leben und mithin sich, den Lebendigen, indem man es und sich verzehrt. Lebensgenuß ist Verbrauch des Lebens.“

35

Die Gestaltung dieses einzigen Lebens ist keiner höheren, den Eigner übersteigenden Instanz unterworfen – keinem natürlichen, geistigen oder konventionellen Gesetz, keiner Idee, keinem Gott, keinem Herrscher, keinem Schicksal, keiner Volonté générale, keinem Naturrecht, keinem Instinkt, keiner physiologischen Verfasstheit, keinem „Wesen des Men-

35

EE, S.323.

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schen“, keinem rationalen Kalkül. Jede Orientierung an etwas derarti-gem ist eine Verirrung, eine krankhafte Fixierung, eine „fixe Idee“, ein „Sparren“, ein Akt des Fanatismus. Jedes Verfolgen eines „höheren Zie-les“ lenkt vom eigentlichen Ziel ab: vom freien und autonomen Vollzug des je eigenen Lebens.

Soviel zum Programm. Doch Stirner ist von seinem Vorsatz, kein hö-heres Ideal zu verfolgen, abgewichen, insofern er den Drang verspürte, seine Gedanken zu kommunizieren und seine Zeitgenossen über ihren Zustand aufzuklären. Diese Inkonsequenz hat zwei weitere interessante Folgen, nämlich erstens die Unterwerfung unter die Regeln der Sprache und zweitens die Orientierung an einem bestimmten Argumentationsver-fahren, dessen sich in der neueren Philosophie als erster Descartes in seinen Meditationen bedient, nämlich des Verfahrens der „Reduktion“ mit anschließender „Rekonstruktion“. Ich werde mich im Folgenden mit diesem zweiten Problem befassen und zu zeigen versuchen, inwiefern Stirner sich die Cartesische Methode zu eigen macht, um sein Konzept vom Eigner und seinem Eigentum begrifflich zu untermauern, und an welchem Punkt das Stirnersche und das Cartesische Projekt auseinan-dergehen. Ich werde also den Versuch unternehmen, Stirners Werk „Der Einzige und sein Eigentum“ als eine Reihe von Meditationen über die Existenz zu lesen.

Die Cartesische Reduktion

Die so genannte „Cartesische Reduktion“ verfolgt das Ziel, den Bereich sicheren wahren Wissens auszumachen, von dem aus sämtliche anderen Wissensbereiche rekonstruiert und bezüglich ihrer Wahrheit bewertet werden können. Die Notwendigkeit einer derartigen philosophischen Unternehmung beruht auf dem Umstand, dass Descartes traditionsge-mäß Wahrheit und somit auch wahres Wissen als adaequatio rei et intel-lectus definiert, als Übereinstimmung der (Welt der) Dinge mit den In-halten des Geistes, den Ideen bzw. Begriffen und den Ideen enthaltenden Urteilen. Die Übereinstimmung von sinnesbasierten Urteilen mit der realen Welt kann jedoch nicht durch die sinnlichen Wahrnehmungsakte, die sie erzeugen, gewährleistet werden, weil bereits die Wahrnehmungs-akte Teil bzw. Resultat der Tätigkeit des Geistes sind. Es muss also eine weitere Instanz geben, die die Geltung von sinnesbasierten Urteilen ge-währleistet. Diese Instanz sind wahre Urteile, welche ohne Zuhilfenah-me der Sinne zustande kommen. Damit das Prinzip der adaequatio auch für diese Urteile gelten kann, müssen sie Ideen bzw. Begriffe enthalten, die von ihren ontischen Referenzen (res) unmittelbar im Geiste erzeugt

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werden. Die Möglichkeit, dass diese sinnesunabhängigen Ideen reine Geistesinhalte ohne jegliche ontische Referenz sind, wird verworfen, denn in diesem Fall wäre es nicht einmal möglich, zwischen Urteilen, die im Traum gebildet werden, von denen die im wachen Zustand gebil-det werden, zu unterscheiden.

Es ist hinlänglich bekannt, dass das Ergebnis dieser Suche in der Er-kenntnis besteht, dass das einzig unmittelbar wahre Wissen aus der den-kend-erkennenden (cogitans) Tätigkeit des Geistes stammt und mit die-ser Tätigkeit zusammenfällt. Das Urteil „ego cogito“ beschreibt die Tä-tigkeit einer existierenden Substanz – des (je) eigenen Geistes: Die ein-zige Tatsache, die nicht angezweifelt werden kann, ist die Tatsache, dass der (je) eigene Geist, das ego, erkennende Denkakte (cogitationes) voll-zieht, zu denen auch die Wahrnehmungsakte gehören. Indem das ego Denkakte vollzieht, erzeugt es die Idee seiner selbst, deren ontische Re-ferenz es selbst ist. Das erste und unmittelbar wahre Wissen ist also das Wissen, dass Ich als denkendes Wesen existiere, und dass meine Exis-tenz sich in meinem Denken erschöpft. Daraus folgt, dass wenn etwas existieren soll, dieses etwas zuallererst denkbar sein, d.h. durch die Denktätigkeit des ego (des je eigenen Geistes) konstituierbar sein muss. Gäbe es nun im Geist nur die eine unmittelbar auf Eigenseiendes referie-rende Idee, also die Idee des ego, und wären alle anderen Ideen ihre blo-ßen Ableitungen, dann wüsste das ego immer noch nicht, ob diesen ab-geleiteten Ideen etwas Seiendes korrespondiert oder ob sie bloße Einbil-dungen sind. Es muss also im Geist mindestens eine zusätzliche Idee enthalten sein, die sich ebenfalls unmittelbar auf etwas Seiendes bezieht, zugleich aber von der Idee des ego logisch unabhängig (in der Cartesi-schen Terminologie: distinkt) ist. Diese Idee ist die Idee des einzigen, allmächtigen, allwissenden, gütigen Gottes. Wie Descartes die notwen-dige logisch-begriffliche Unabhängigkeit dieser Idee beweist, ist nicht Thema unserer Untersuchung. Wichtig ist nur festzuhalten, dass nach der Herausarbeitung dieses Bereiches unmittelbar wahren Wissens Descartes sich daran macht, mit Hilfe dieser beider Grundideen, den Realitätsgrad, d.h. den Grad der adaequatio der grundlegenden ontologi-schen und der mathematischen Begriffe zu evaluieren. Der für das Car-tesische Projekt fatale Umstand, dass Descartes am Ende seiner Medita-tionen, neben Gott und Geist, die Materie, die res extensa, zur dritten Substanz erhebt und dem Geiste gleich- und gegenüberstellt, ist der Stein des Anstoßes, der die postcartesischen Philosophen (bis hin zum Logischen Empirismus, zur Phänomenologie Husserls und zum Existen-

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tialismus) veranlasst hat, den Weg Descartes’ nachzugehen, um den Punkt zu finden, an dem dieser Fehler behoben werden kann.

Zu dieser Schar gehört auch Max Stirner: Wie Descartes will auch er ergründen, was tatsächlich existiert. Im Gegensatz zu ihm ist er aber davon überzeugt, dass die Gedanken keinen unveränderlichen Entitäten entsprechen, sondern höchstens konkrete, veränderliche Weltzustände beschreiben. Anders ausgedrückt: Ideen sind laut Stirner Gedankenin-halte, die sich von ihrer situativen Gebundenheit losgelöst haben und den Denkenden „beherrschen“. Die schlimmste Herrscherin unter den Ideen ist die Idee eines ewigen, unveränderlichen, eigentlichen und sich hinter den Erscheinungen versteckenden „Wesens des Menschen“. Um zum Kern der unmittelbar evidenten Existenz vorzustoßen, muss dieser Jahrtausende alte, sich im Laufe der Zeit proteusartig verwandelnde, aber im Grunde gleichgebliebene Glaube an das ewige „Wesen des Menschen“ zerstört werden. Diese Aufgabe wird im ersten Teil des „Einzigen“ in Angriff genommen.

Auch wenn Max Stirner dem Geist, den großen Ideen und den Idealen den Kampf ansagt, bedeutet dies nicht, dass er ein geistiger Totalver-weigerer ist. Stirner ist gebildet, er wertschätzt die Bildung und benutzt sein Bildungswissen als Waffe in seinem Kampf:

„Ich nehme mit Dank auf, was die Jahrhunderte der Bildung Mir erworben haben; nichts davon will Ich wegwerfen und aufgeben: Ich habe nicht umsonst gelebt. Die Erfahrung, daß Ich Gewalt über meine Natur habe und nicht der Sklave meiner Begierden zu sein brauche, soll Mir nicht verloren gehen; die Erfahrung, daß Ich durch Bildungsmittel die Welt bezwingen kann, ist zu teuer erkauft, als daß Ich sie vergessen könnte. Aber Ich will noch mehr.“

36

Stirner ist sich durchaus bewusst, dass er weder der einzige noch der erste radikale Bilderstürmer ist. Deswegen besteht seine Kampfstrategie darin, zu zeigen, dass die Menschen (man sollte eigentlich stattdessen den Ausdruck „Leute“ verwenden, denn „Mensch“ ist schon eine Idee), schon in der griechischen Antike begonnen hatten, sich gegen die Macht des vermeintlichen „Wesens des Menschen“ aufzulehnen. So ist die Stirnersche Reduktion im Gegensatz zur Cartesischen keine rein begriff-liche, sondern eine historisch-begriffliche: Stirners Ziel ist es zu zeigen, dass man sich seit der Antike bemüht hat, die jeweils gültige „eigentli-che Bestimmung des Menschen“ als Hirngespinst zu entlarven – aller-dings nur, um es durch ein anderes zu ersetzen.

36

EE, S.336 (Kursive im Original).

Page 28: Max Stirner, der Philosoph

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Die Zurückweisung des Geistes Der erste Schritt der Stirnerschen Reduktion

Den ersten Stoß liefern die Sophisten mit ihrer Entdeckung, dass man sich durch Analyse, Überlegung und Planung von der Herrschaft des Schicksals und der Götter befreien und zum Herrscher über die Situation aufschwingen kann. Indem man die Mechanismen und die Strukturen erkennt, die sich hinter der Erscheinung verbergen und diese verursa-chen, kann man sich ihrer bemächtigen, um neue Erscheinungen, neue soziale, politische und materielle Situationen zu erzeugen.

37 Dieses

Vermögen wird jedoch zu einer vom jeweiligen Menschen losgelösten Substanz hypostasiert, an der jeder mehr oder weniger teilnehmen kann – die Idee des Geistes erblickt das Licht der Welt. Sokrates, so die Stirnersche Erzählung, kritisiert die Unzulänglichkeit der sophistischen Erfindung, leider aber nicht dadurch, dass er sie als Chimäre, als krank-hafte Fixierung ausweist, sondern, weil sie angeblich das Wesen des Menschen nicht vollständig erfasst. Der sophistische Geist steht noch im Dienste des kurzfristigen Begehrens. Seine Analysen und Verfahren sind bloß instrumentell erfolgreich, sie sind aber nicht gut. Um die Tätigkeit des Geistes auf das Gute auszurichten, muss er sich gegenüber den Af-fekten immunisieren – Ataraxie, Unerschütterlichkeit ist laut Stirner die Tugend, die Sokrates dem Geist abfordert, damit er sein Wesen voll-ständig entfalten kann.

38 Diese beiden Prinzipien durchziehen die antike

Welt. Platon, Aristoteles, die Stoiker sind in Stirners Augen lediglich ihre mehr oder weniger gewitzten Anwender. Das Ziel ist stets das glei-che: Ein Leben in Ruhe, ein wesensgemäßes Leben, dessen materiale Ausstattung eben seine Wesensbestimmung verwirklicht. Das Christen-tum fügt nichts Neues hinzu. Sein Unterschied zum heidnischen guten Leben besteht lediglich in der Abwertung der Bedeutung des materiellen Aspekts. Die Ataraxie vollendet sich zur Askese, zum Verzicht auf ma-terielle Freuden zu Gunsten des absoluten geistigen Genusses. Der end-liche begegnet dem unendlichen Geist und erkennt in ihm seine eigentli-che Bestimmung: Der Mensch erkennt sich als Ebenbild Gottes – aber beide sind eins: Geist.

Der erste Schritt der Stirnerschen Reduktion besteht im historischen Prozess der Zurückweisung der Bestimmung des menschlichen Lebens durch übernatürliche Instanzen und die Erhebung des Geistes zum we-

37

EE, S.25-35 (Die Alten). 38

EE, S.25-35 (Die Alten).

Page 29: Max Stirner, der Philosoph

sentlichen Merkmal der menschlichen Existenz. In Analogie zu Descar-tes erläutert Stirner mit Hilfe dieser Erzählung, dass die Grundlage der Existenz „innerhalb“ der menschlichen Existenz gesucht werden muss. Erst wenn man verstanden hat, was man ist (im ontologischen Sinne), kann man die Relevanz externer Faktoren für die eigene Existenz bewer-ten. Doch bereits an diesem Punkt trennen sich die Wege Descartes’ und Stirners. Denn für den ersteren ist das Vollkommenheitsverhältnis zwi-schen dem ego-Geist und Gott der Beweis für die ontologische Ge-trenntheit zwischen beiden.

39 Für Stirner hingegen ist die Vollkommen-

heit Gottes bloß graduell: Ego und Gott sind beides Geist40

und als sol-che beides Konstrukte der lebenden Menschen. Der Gedanke des ego-Geistes entsteht in einem Akt der Emanzipation vom Irrglauben einer determinierenden übersinnlichen Welt. Doch anstatt dass dieser Gedan-ke auf die konkrete Situiertheit der ihn Denkenden zurückgeführt wird, bemächtigt er sich ihrer und verabsolutiert sich zum Gedanken des Gott-Geistes. Allerdings – und hier sind sich Descartes und Stirner wieder einig – ist dieser gedachte Gott eine konkrete Existenz, eine Substanz.

Wider Gott – Die zweite Stufe der Stirnerschen Reduktion

Während Descartes nun, gestützt auf das Wissen von ego und von Gott, sich daran macht, ein wahres Wissen über die sinnliche und die sittliche Welt zurückzugewinnen, setzt Stirner seine im Modus der historischen Narration sich vollziehende Reduktion fort: Mit der Verabsolutierung des konkreten Geistes im jüdisch-christlichen Gott endet das Zeitalter der „Alten“. Die Ära der „Neuen“ bricht mit einem erneuten Akt sophis-tischer, d.h. auf die situativen Belange der Welt gerichteter, Emanzipati-on an, deren Protagonisten die Humanisten der Renaissance waren. Doch bald erstarrte die neugewonnene Beweglichkeit des konkret den-kenden Geistes im Eis des Lutherschen abstrakten Gottes – und des da-mit einhergehenden abstrakten, prinzipiendurchsetzten Geistes. Der Gott der reformatorischen Neuzeit ist kein Konkretum, keine Substanz mehr.

„Aber die Reformation machte endlich, wie Sokrates, mit dem Herzen selber Ernst, und seitdem sind die Herzen zusehends – unchristlicher geworden. In-dem man mit Luther anfing, sich die Sache zu Herzen zu nehmen, mußte die-ser Schritt der Reformation dahin führen, daß auch das Herz von der schweren

39

Descartes, Meditationen: 3. Meditation. 40

Auf die Spinozistische Herkunft dieses Gedankens kann hier nur hinge-wiesen werden.

Page 30: Max Stirner, der Philosoph

27

Last der Christlichkeit erleichtert wird. Das Herz, von Tag zu Tag unchristli-cher, verliert den Inhalt, mit welchem es sich beschäftigt, bis zuletzt ihm nichts als die leere Herzlichkeit übrig bleibt, die ganze allgemeine Menschen-liebe, die Liebe des Menschen, das Freiheitsbewußtsein, das „Selbstbewusst-sein. So erst ist das Christentum vollendet, weil es kahl, abgestorben und in-haltsleer geworden ist.“

41

Er ist ein Prinzip, ein Gesetz, das die ganze Welt durchdringt und sämt-liches Geschehen in ihr bestimmt. Die Entsubstantialisierung Gottes und des Geistes bringt eine radikale Änderung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch mit sich. Gott ist nicht mehr dem Menschen in der Ähnlichkeit verschieden – der ideale Endpunkt eines Perfektionierungs-prozesses –, sondern etwas radikal Anderes aber zugleich auch radikal Mächtigeres als der Mensch. Das Verhältnis zwischen Mensch und Gott ist jetzt ein hierarchisches. Gott befindet sich auf einer radikal verschie-denen Ebene, die durch den endlichen menschlichen Geist nicht er-schlossen werden kann. Sein Wesen, sein Wille, seine Befehle können nur durch Offenbarung zugänglich gemacht werden. Diese Unnahbarkeit des göttlichen Geistes, seine Wesensfremdheit dem menschlichen Geist gegenüber, verleiht ihm auch den Status des Heiligen, denn:

„Fremdheit ist ein Kennzeichen des »Heiligen«. In allem Heiligen liegt etwas »Unheimliches«, d.h. Fremdes, worin wir nicht ganz heimisch und zu Hause sind. Was mir heilig ist, das ist mir nicht eigen.“

42

Heiligkeit – das ist die neue Eigenschaft des göttlichen Geistes. Beses-senheit, Fanatismus

43 – das ist die neue Haltung des menschlichen Geis-

tes. Weil alles jetzt fremd ist, die Schöpfung, das menschliche Leben, ja auch das eigene Leben bis zu einem gewissen Grade, ist auch alles hei-lig. Und weil alles heilig ist, ist auch die Strafe schwer, die jeden ereilt, der es wagt, das Heilige zu entweihen. Man begibt sich unter die Herr-schaft des göttlichen und weltlichen Gesetzes und auch unter die Herr-

41

EE, S.36 (Kursive im Original). 42

EE, S.47. 43

Der Fanatismus ist gerade bei den Gebildeten zu Hause; denn gebildet ist der Mensch, soweit er sich für Geistiges interessiert, und Interesse für Geistiges ist eben, wenn es lebendig ist, Fanatismus und muß es sein; es ist ein fanatisches Interesse für das Heilige (fanum) – EE, S.54-55 (Kursi-vierung im Original).

Page 31: Max Stirner, der Philosoph

schaft eines entfremdeten Denkens – man denkt abstrakt, in Begriffen, man ist von den Ideen ergriffen.

44

Auch die auf diese Erstarrung folgende Befreiungsbewegung, die Aufklärung, mit ihrem Atheismus, ihrem Materialismus und ihren man-nigfaltigen Varianten des Liberalismus markiert noch nicht das Ende der Stirnerschen Reduktion. Denn das, was die „Freien“ erreichen, ist, das Heilige zu säkularisieren. Nicht Gott ist es, der den Grund und das Ziel für alles menschliche Tun vorgibt, sondern DIE Person, DER Staat, DER Mensch, DIE Freiheit, DIE Gleichheit, DIE Gerechtigkeit. Auch wenn, wie Stirner bereit ist zuzugeben, alle diese Ideen durchaus erstrebens-werte Ziele beschreiben, so sind es Ziele, die von MIR verlangen, dass ich SIE unter Einsatz aller meiner Kräfte erreiche. Es sind keine Ziele, die unmittelbar MIR dienen, die MIR das Ermessen überlassen, sie zu ver-folgen oder nicht. Sie alle sind Begriffe, die MICH beherrschen, MICH auf etwas fixieren, MEINE Handlungsfähigkeit einschränken, obwohl sie kei-ne materiellen Hindernisse sind. ICH kapituliere vor ihnen ohne ersicht-lichen Grund, allein Kraft der Faszination, die sie auf MICH ausüben. Kann ICH diese Faszination abschütteln, so habe ICH endlich die Stirner-sche Reduktion vollzogen und bin an den Grund der Existenz gelangt: zu MIR.

Fassen wir zusammen: Beide, Descartes und Stirner, erkennen im ego/ICH das Fundament der Existenz. Für Descartes ist dieses ego ein Denkendes, das sich selbst erkennt, indem es sich von verworrenen Ideen befreit. Für Stirner hingegen gewinnt sich das ICH, indem es jegli-che Idee abschüttet und seine Aufmerksamkeit auf den Modus seiner Existenz richtet – und dieser Modus ist im Gegensatz zu Descartes nicht das Denken, sondern das TUN.

„Meine Freiheit gegen die Welt sichere Ich in dem Grade, als Ich Mir die Welt zu eigen mache, d. h. sie für Mich »gewinne und einnehme«, sei es durch wel-che Gewalt es wolle, durch die der Überredung, der Bitte, der kategorischen Forderung, ja selbst durch Heuchelei, Betrug usw.; denn die Mittel, welche Ich dazu gebrauche, richten sich nach dem, was Ich bin. Bin Ich schwach, so habe Ich nur schwache Mittel, wie die genannten, die aber dennoch für ein ziemlich Teil Welt gut genug sind. Ohnehin sehen Betrug, Heuchelei, Lüge schlimmer aus als sie sind. Wer hätte nicht die Polizei, das Gesetz betrogen, wer hätte nicht vor dem begegnenden Schergen schnell die Miene ehrsamer Loyalität vorgenommen, um eine etwa begangene Ungesetzlichkeit zu verbergen usw.? Wer es nicht getan hat, der hat sich eben Gewalt antun lassen: er war ein Schwächling aus – Gewissen. Meine Freiheit weiß ich schon dadurch ge-schmälert, daß Ich an einem Andern (sei dies Andere ein Willenloses, wie ein 44

Vgl. dazu Hegels Text „Wer denkt abstrakt?“ (Jenaer Schriften).

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Fels, oder ein Wollendes, wie eine Regierung, ein Einzelner usw.) meinen Willen nicht durchsetzen kann; meine Eigenheit verleugne Ich, wenn Ich Mich selbst – Angesichts des Andern – aufgebe, d.h. nachgebe, abstehe, Mich erge-be, also durch Ergebenheit, Ergebung. Denn ein Anderes ist es, wenn Ich mein bisheriges Verfahren aufgebe, weil es nicht zum Ziele führt, also ablenke von einem falschen Wege, ein Anderes, wenn Ich Mich gefangen gebe. Einen Fel-sen, der Mir im Wege steht, umgehe Ich so lange, bis Ich Pulver genug habe, ihn zu sprengen; die Gesetze eines Volkes umgehe Ich, bis Ich Kraft gesam-melt habe, sie zu stürzen. Weil Ich den Mond nicht fassen kann, soll er Mir darum »heilig« sein, eine Astarte? Könnte Ich Dich nur fassen, Ich faßte Dich wahrlich, und finde Ich nur ein Mittel, zu Dir hinauf zu kommen, Du sollst Mich nicht schrecken! Du Unbegreiflicher, Du sollst Mir nur so lange unbe-greiflich bleiben, bis Ich Mir die Gewalt des Begreifens erworben habe, Dich mein eigen nenne; Ich gebe Mich nicht auf gegen Dich, sondern warte nur meine Zeit ab. Bescheide Ich Mich auch für jetzt, Dir etwas anhaben zu kön-nen, so gedenke Ich Dir’s doch! [...] Meine Freiheit wird erst vollkommen, wenn sie meine – Gewalt ist; durch diese aber höre Ich auf, ein bloß Freier zu sein, und werde ein Eigener. Warum ist die Freiheit der Völker ein »hohles Wort«? Weil die Völker keine Gewalt haben! Mit einem Hauch des lebendi-gen Ich’s blase Ich Völker um, und wär’s der Hauch eines Nero, eines chinesi-schen Kaisers oder eines armen Schriftstellers. Warum schmachten denn die d . . . . . . . . Kammern vergeblich nach Freiheit, und werden dafür von den Mi-nistern geschulmeistert? Weil sie keine »Gewaltigen« sind! Die Gewalt ist eine schöne Sache, und zu vielen Dingen nütze; denn »man kommt mit einer Handvoll Gewalt weiter, als mit einem Sack voll Recht«. Ihr sehnt Euch nach der Freiheit? Ihr Toren! Nähmet Ihr die Gewalt, so käme die Freiheit von selbst. Seht, wer die Gewalt hat, der »steht über dem Gesetze«. Wie schmeckt Euch diese Aussicht, ihr »gesetzlichen« Leute? Ihr habt aber keinen Ge-schmack!“

45

Entsprechend unterschiedlich gestaltet sich bei beiden der Weg zur Wiedergewinnung der Wirklichkeit: Während Descartes in einer Serie von begriffsanalytischen Denkschritten einen infalliblen Wissensbereich absteckt und eine „natürliche“ Erklärung der Fallibilität empirischer Ur-teile liefert – und diese beiden Bereiche widerspruchsfrei auf Gott als die Erste Ursache zurückführt, untersucht Stirner, was aus der Tatsache folgt, dass ICH eine durch Tätigkeit definierte Existenz ist.

45

EE, S.173-174 (Kursivierung im Original). Inwiefern sich Stirner mit die-sen Äußerungen Fichte anschließt, muss gesondert untersucht werden. Vgl. dazu Fichte, Wissenschaftslehre I,99.

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Cartesischer und Stirnerscher Wille

Descartes leugnet nicht, dass wir tätige Wesen sind. Allerdings ist diese Tätigkeit zunächst geistige Tätigkeit und nicht körperliche, die körperli-che Tätigkeit resultiert aus der geistigen. Doch als Tätigkeit, als Aktivi-tät, unterliegt sie einem Antrieb, dem Willen. Der Wille, so Descartes, ist frei und unendlich – im Gegensatz zum ego-Geist, der endlich ist. Die Unendlichkeit des Willens resultiert aus der Tatsache, dass das ego nicht nur eine Wirkung Gottes, sondern eine nach dem Vorbild Gottes erzeugte Wirkung Gottes ist.

46 Der ego-Geist ist seinem Wesen nach

Geist. Er ist zwar endlich, d.h. er kann nicht alles so erfassen, wie der göttliche Geist es erfasst. Aber als Geist hat er die Fähigkeit, die mög-lichst vollkommene Erfassung von Allem anzustreben – dieses Streben macht den freien Willen aus. Eine Einschränkung des Willens bedeutet seine Aufhebung.

47 Stirner betrachtet hingegen das ICH als eine zwar

denkende, aber körperlich tätige Existenz, d.h. das Denken ist auf die körperlichen Verhältnisse und die materiellen Belange des ICH gerichtet. Diese Gerichtetheit des Denkens macht den unendlich freien Willen des Stirnerschen ICH aus. Stirner nennt den freien Willen Eigenheit, das frei wollende ICH ist ein Eigner. Eigenheit ist mehr als bloße Freiheit:

„Du willst, wenn Du es recht bedenkst, nicht die Freiheit, alle diese schönen Sachen zu haben, denn mit der Freiheit dazu hast Du sie noch nicht; Du willst sie wirklich haben, willst sie dein nennen und als dein Eigentum besitzen. Was nützt Dir auch eine Freiheit, wenn sie nichts einbringt? Und würdest Du von allem frei, so hättest Du eben nichts mehr; denn die Freiheit ist inhaltsleer. Wer sie nicht zu benutzen weiß, für den hat sie keinen Wert, diese unnütze Erlaubnis; wie Ich sie aber benutze, das hängt von meiner Eigenheit ab. Ich habe gegen die Freiheit nichts einzuwenden, aber Ich wünsche Dir mehr als Freiheit; Du müsstest nicht bloß los sein, was Du nicht willst, Du müsstest auch haben, was Du willst, Du müsstest nicht nur ein »Freier«, Du müsstest auch ein »Eigner« sein.“

48

Die so genannte „negative Freiheit“, das Nichthaben einer Eigenschaft oder einer Bestimmung bestimmt nichts. Stirners Eigner will aber be-stimmen, weil er nur über das tätige Bestimmen bestimmt wird. So muss seine Eigenheit uneingeschränkt walten können – Stirner verlangt, wie

46

Im Gegensatz dazu ist die „res extensa“ eine bloß nach dem Willen Gottes erzeugte Wirkung Gottes. Ihre Strukturen, Formen usw. stehen in keinem Isomorphieverhältnis zu Gott.

47 Descartes, Meditationen: 4. Med.

48 EE, S.163-164 (Kursive im Original).

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Descartes, sowohl die unbeschränkte negative als auch die unbeschränk-te positive Freiheit des Willens:

„Freiheit wollt Ihr Alle, Ihr wollt die Freiheit. Warum schachert Ihr denn um ein Mehr oder Weniger? Die Freiheit kann nur die ganze Freiheit sein; ein Stück Freiheit ist nicht die Freiheit.“

49

Der freie Wille des Cartesischen ego-Geistes kann nur durch den Irrtum aufgehoben werden, wenn das ego, angetrieben durch den freien Willen, voreilig eine Idee akzeptiert, obwohl sie verworren ist.

50 Der Stirnersche

freie Wille kann hingegen auf zwei Weisen eingeschränkt werden: eine äußere und eine innere. Die äußere Einschränkung wird durch die Struk-tur der materiellen Welt und die Eigenheit der anderen Eigner bestimmt, die innere von den Ideen, die sich des Eigners bemächtigen und sein Handlungsvermögen in bestimmte Bahnen lenken. Um die äußeren Ein-schränkungen zu überwinden, muss der Eigner ihnen seine eigene Kraft entgegenstellen. Reicht diese nicht aus, dann wird der Eigner von den äußeren Hindernissen „verzehrt“.

51 Da jedoch der Eigner durch sein

Handeln sowohl die Welt verändert als auch die Reichweite der Macht der anderen Eigner einschränkt, verzehrt er diese im Gegenzug, so dass sich am Ende ein Gleichgewicht einstellt. Die inneren Einschränkungen können hingegen nur dadurch überwunden werden, dass der Eigner sei-ne Aufmerksamkeit auf sich selbst und auf seine konkrete Situation rich-tet und sich so ihrem Griff entzieht. Die Unterwerfung unter eine Idee hat somit die gleiche Struktur wie der Cartesische Irrtum, denn auch die-ser beruht darauf, dass man einen Gedankeninhalt voreilig als klare Idee, d.h. als einem real Seienden entsprechend, akzeptiert. Für Descartes und Stirner ist die Existenz eines tätigen und denkenden Wesens durch einen freien und uneingeschränkten Willen gekennzeichnet und von ihm ab-hängig. Eine Einschränkung des freien Willens ist nur akzidentell mög-lich und führt, wenn sie nicht aufgehoben wird – da sind sich beide einig –, zu einer falschen Lebensführung.

49

EE, S.168. 50

Descartes, Meditationen: 4. Med. 51

EE, S.323.

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Cartesische und Stirnersche natürliche Sittlichkeit

Eine weitere methodische Übereinstimmung zwischen Descartes und Stirner hat sich aufgezeigt: Für beide gewinnt das ego/ICH die Welt durch das Zusammenspiel einer Tätigkeit und des freien Willens. Diese Tätigkeit besteht bei Descartes im erkennenden Denken, bei Stirner hin-gegen im denkgeleiteten Handeln. Für beide ergibt sich daraus auch die-selbe praktische Folgerung: dass es nämlich zwei Arten von Sittlichkeit gibt, eine natürliche und eine konventionelle – mit anderen Worten eine Sittlichkeit, die aus der Struktur der ego/ICH-Existenz entspringt und eine, die durch die Interaktion der Personen/Eigner entsteht und dem Einzelnen auferlegt (Stirner würde sagen: aufoktroyiert) wird. Für Descartes ergibt sich die natürliche Sittlichkeit aus folgenden Gründen:

1. Gott ist die Ursache alles Seienden. 2. Gott ist Geist. 3. Gott hat ein unendliches Erkenntnisvermögen. 4. Gott hat einen freien Willen. 5. Jedes ego ist Geist und eine ebenbildhafte Wirkung Gottes. 6. Jedes ego hat einen freien Willen. 7. Jedes ego hat ein endliches, aber perfektionierbares Erkenntnisver-

mögen.

Daraus folgen die Maximen der natürlichen Sittlichkeit:

a) Es ist der freie Wille Gottes, dass jeder ego-Geist existiert und zwar so, wie ihn Gott erschaffen hat.

b) Jeder ego-Geist hat die Pflicht, die Existenz eines jeden anderen ego-Geistes, so wie ihn Gott erschaffen hat, zu respektieren und zu wahren.

c) Jeder ego-Geist hat die Pflicht, sein Erkenntnisvermögen einzuset-zen und es zu perfektionieren.

Die reale Existenz eines ego-Geistes in der materiellen Welt gestaltet sich aber – nicht zuletzt wegen des freien Willens, aber vielleicht auch aus Gründen, die in der Beschaffenheit der materiellen Welt selbst ver-ankert sind –, viel komplexer und fordernder, als dass es durch die Ma-ximen der natürlichen Sittlichkeit vollständig strukturiert werden könn-te. Weil die ego-Geiste nun Wirkungen Gottes sind, ist ihr Denkvermö-gen per Definitionem nicht in der Lage, die eigentlichen Absichten Got-tes direkt zu erkennen und die entsprechenden Konsequenzen daraus abzuleiten. Das mundane Leben muss deshalb an Hand der Erkenntnis-se, die aus dem Studium der gegebenen materiellen Welt gewonnen werden, mit Hilfe konventioneller Setzungen gestaltet werden. Diese Einsicht führt zur Aufstellung von drei Maximen der konventionellen

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Sittlichkeit, deren Befolgung durch die oben genannten Umstände not-wendig erscheint, die aber auf Grund des endlichen Erkenntnisvermö-gens der ego-Geiste nicht logisch bewiesen werden können. Es sind dies die Maximen der sogenannten „morale par provision“:

52

1. Befolge und respektiere die Gesetze, Sitten und Gebräuche deiner Umgebung!

2. Bleibe bei deinen Entscheidungen! 3. Versuche, dich und nicht das Schicksal zu beherrschen!

Stirner leitet aus der Existenz des ICH als Eigner eine natürliche Sittlich-keit ab, die darin besteht, dass der Eigner sich durch seine Tätigkeit ein Eigentum an der Welt sichert und Verkehr mit anderen Eignern pflegt, der gelegentlich zur Bildung von Vereinen führt. Die syllogistischen Schritte können folgendermaßen rekonstruiert werden:

a) ICH existiere als Konkretes Tätiges. b) MEINE Tätigkeit macht MIR die Welt gefügig. c) Was ICH MIR gefügig gemacht habe ist MEIN Eigentum.

53

d) ICH verfüge absolut über MEINE Kraft. e) Dort wo MEINE Kraft nicht ausreicht, MIR etwas gefügig zu ma-

chen, kann ICH sie durch die Kraft anderer ergänzen.

Daraus folgen die Maximen der Stirnerschen natürlichen Sittlichkeit:

1. ICH kann jederzeit MEINEN Beitrag aus jeder Vereinigung von Kräf-ten zurückziehen.

2. Da für niemanden ein a priori Anspruch auf jedes potentielle Eigen-tum besteht (weil jedes Eigentum das aktuale und perfektive Resul-tat von Kraftausübung ist – potentielles Eigentum existiert nicht), er-leidet durch MEINEN Austritt aus einer Vereinigung von Kräften niemand einen Schaden.

Im Gegensatz zu Descartes zielt diese Sittlichkeit nicht auf die mög-lichst höchste Perfektionierung des ego, sondern – da das ICH per Defi-nitionem perfekt ist – auf den höchsten Grad des Selbstgenusses:

„Von jetzt an lautet die Frage, nicht wie man das Leben erwerben, sondern wie man’s vertun, genießen könne, oder nicht wie man das wahre Ich in sich herzustellen, sondern wie man sich aufzulösen, sich auszuleben habe.“

54

52

Descartes, Discours: 3.Teil. 53

Mein Eigentum aber ist kein Ding, da dieses eine von Mir unabhängige Existenz hat; mein eigen ist nur meine Gewalt. Nicht dieser Baum, son-dern meine Gewalt oder Verfügung über ihn ist die meinige – EE, S. 279.

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Alles Andere in der Welt, natürliche Stoffe, materielle Gegenstände, Lebewesen, ja auch alle übrigen Eigner sind bloße Mittel zur Erreichung und Sicherstellung des Selbstgenusses. Sie werden zu diesem Zwecke verzehrt und verbraucht:

„Wo Mir die Welt in den Weg kommt – und sie kommt Mir überall in den Weg – da verzehre Ich sie, um den Hunger meines Egoismus zu stillen. Du bist für Mich nichts als – meine Speise, gleichwie auch Ich von Dir verspeiset und verbraucht werde. Wir haben zueinander nur Eine Beziehung, die der Brauchbarkeit, der Nutzbarkeit, des Nutzens. Wir sind einander nichts schul-dig, denn was Ich Dir schuldig zu sein scheine, das bin Ich höchstens Mir schuldig. Zeige Ich Dir eine heitere Miene, um Dich gleichfalls zu erheitern, so ist Mir an Deiner Heiterkeit gelegen, und meinem Wunsche dient meine Miene; tausend Anderen, die Ich zu erheitern nicht beabsichtige, zeige Ich sie nicht.“

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Deshalb besteht ihnen Gegenüber keine Verpflichtung seitens des Eig-ners: Man kann jederzeit einen Verein ohne Angaben von Gründen und ohne Rechtfertigungspflicht verlassen, auch wenn dieser Verein als jah-relange Beziehung zu einer anderen Person realisiert wurde und diese andere Person durch die Auflösung des Vereins seelische und/oder ma-terielle Beeinträchtigungen davon tragen würde. Wenn die andere Per-son eben nicht so stark ist, um die Folgen der Vereinsauflösung zu ver-kraften, dann ist dies allein ihr Problem, denn es steht sowieso nicht in der Macht des ICH, ihren Zustand unmittelbar zu beeinflussen – ultra posse nemo obligatur. Würde andererseits ein Eigner sich der Eigenheit eines anderen Eigners unterwerfen, etwa indem er ihm oder ihr gegen-über eine Verpflichtung anerkennt, so würde dies bedeuten, dass der Unterworfene seine Existenz einer Idee unterstellt und somit seine Ei-genheit, seinen freien Willen, aufgibt. Das Einzige, was den Eigner „verpflichten“ kann, sind die Folgen des eigenen Handelns und die Kon-sequenzen der eigenen Macht oder Machtlosigkeit. Diese „Verpflich-tung“ besteht allerdings nicht im moralischen oder rechtlichen Sinne, sondern nur insofern als es nicht in der Macht des Eigners steht, Ge-schehenes ungeschehen zu machen.

Genauso wie Descartes kennt Stirner den Bereich der äußeren Sittlich-keit. Doch im Gegensatz zu ihm, bietet die äußere Sittlichkeit keine, auch keine provisorische, Orientierungshilfe, sondern ist der Feind der Eigenheit. Die Elemente der äußeren Sittlichkeit, die Gesellschaft und

54

EE, S. 324. 55

EE, S. 300.

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die gesellschaftlichen Entitäten – Staat, Familie, Schule, Kirche, Gesetze usw. – entstehen, weil Ideen, sich des Geistes der Eigner bemächtigen und sie entmachten:

„Sehen Wir Uns deshalb nach solchen Gemeinschaften um, in denen Wir, wie es scheint, gerne und freiwillig bleiben, ohne sie durch Unsere egoistischen Triebe gefährden zu wollen. Als eine Gemeinschaft der geforderten Art bietet sich zunächst die Familie dar. Eltern, Gatten, Kinder, Geschwister stellen ein Ganzes vor oder machen eine Familie aus, zu deren Erweiterung auch noch die herbeigezogenen Seitenverwandten dienen mögen. Die Familie ist nur dann eine wirkliche Gemeinschaft, wenn das Gesetz der Familie, die Pietät oder Familienliebe, von den Gliedern derselben beobachtet wird. Ein Sohn, welchem Eltern und Geschwister gleichgültig geworden sind, ist Sohn gewe-sen; denn da die Sohnschaft sich nicht mehr wirksam beweist, so hat sie keine größere Bedeutung, als der längst vergangene Zusammenhang von Mutter und Kind durch den Nabelstrang. Daß man einst in dieser leiblichen Verbindung gelebt, das läßt sich als eine geschehene Sache nicht ungeschehen machen, und insoweit bleibt man unwiderruflich der Sohn dieser Mutter und der Bruder ihrer übrigen Kinder; aber zu einem fortdauernden Zusammenhange käme es nur durch fortdauernde Pietät, diesen Familiengeist. Die Einzelnen sind nur dann im vollen Sinne Glieder einer Familie, wenn sie das Bestehen der Fami-lie zu ihrer Aufgabe machen; nur als konservativ halten sie sich fern davon, an ihrer Basis, der Familie, zu zweifeln. Eines muß jedem Familiengliede fest und heilig sein, nämlich die Familie selbst, oder sprechender: die Pietät. Daß die Familie bestehen soll, das bleibt dem Gliede derselben, solange es sich vom familienfeindlichen Egoismus frei erhält, eine unantastbare Wahrheit. Mit Einem Worte –: Ist die Familie heilig, so darf sich Keiner, der zu ihr gehört, lossagen, widrigenfalls er an der Familie zum „Verbrecher“ wird; er darf nie-mals ein familienfeindliches Interesse verfolgen, z. B. keine Mißheirat schlie-ßen. Wer das tut, der hat „die Familie entehrt“, hat ihr „Schande gemacht“ usw. Hat nun in einem Einzelnen der egoistische Trieb nicht Kraft genug, so fügt er sich und schließt eine Heirat, welche den Ansprüchen der Familie kon-veniert, ergreift einen Stand, der mit ihrer Stellung harmoniert u. dergl., kurz er „macht der Familie Ehre“.“

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Die Maximen der „morale par provision“ sind für Stirner, nicht nur nicht befolgungswürdig, sondern geradezu das, wogegen sich der Eigner auf-lehnen sollte. Dies betrifft auch die zweite Maxime der Entschiedenheit: Sie befiehlt, dass man sein Handeln am Inhalt von Ideen orientiert und nicht umgekehrt. Der Eigner hingegen orientiert sich ausschließlich an 56

EE, S. 224-225 (Kursive im Original).

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der Vollendung seines Genusses: Bewegt sich dieses Ziel, so muss sich der Eigner auch bewegen und sein Denken auf die veränderte Situation ausrichten. Ein Festhalten an zuvor gefällten Entscheidungen würde die Verfolgung des Ziels vereiteln.

Die Idee des Eigners

Descartes und Stirner wenden beide dieselbe Methode an, um das Fun-dament der Existenz aufzudecken und, darauf aufbauend, die wirkliche Welt zurückzugewinnen. Doch trotz der Gleichheit der Methode sind die jeweiligen Ergebnisse radikal verschieden. Descartes findet die Wahr-heit in der Erforschung der Gedanken Gottes, so wie sie sich dem ego-Geist als klare und distinkte Ideen präsentieren. Seine Wirklichkeit ist die ewige Welt des Geistes. Stirner hingegen sucht die Verwirklichung einer absolut – d.h. im negativem und im positivem Sinne – freien und tätigen materiellen Existenz, deren Denkvermögen ihrem Selbstgenuss unterworfen ist. Descartes will Gott, die erste Ursache, das vollkom-menste Wesen begreifen und so den Sinn seiner Existenz ergründen. Stirner begreift sich als absoluten Mittelpunkt der Existenz, als einen absoluten, aber vergänglichen Schöpfer, dessen Schöpfung mit ihm un-tergehen wird. Warum aber der Eigner sich DIESER Idee unterwirft – die Antwort auf diese Frage bleibt Stirner sich und uns schuldig...

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Der edle Einzige und sein wildes Eigentum –

Der Begriff des Menschen bei Jean-Jaques Roussau

und Max Stirner

... wo Rousseau auf Stirner trifft, oder die intrinsische Privativität der Gesellschaft

Ein erster Blick in den „Einzigen“ hinterlässt den Eindruck, dass Stirner auch Rousseau in die schier endlose Zahl der Opfer der fixen Ideen ein-ordnet. Er erwähnt ihn nur einmal in einer kurzen Fußnote, worin er die sogenannten „Philanthropen“ (denen er Rousseau zuordnet) tadelt, weil deren Kritik sich lediglich gegen die „kultivierte Bildung“ richtet und die „christliche Bildung“ ignoriert, welche laut Stirner genauso verhee-rend sei wie die erstere.

57 Es gibt jedoch eine Stelle im „Einzigen“, wel-

che erkennen lässt, dass Stirner trotz aller nach außen getragener Distanz doch den Spuren des Einsamen Wanderers folgt. Es ist die Stelle, an der Stirner den Begriff der Gesellschaft analysiert und zum Schluss kommt, dass sie ebenfalls eine fixe Idee ist, die den Geist ihrer Opfer in ihrem Bann hält:

„Das Wort „Gesellschaft“ hat seinen Ursprung in dem Worte „Sal“. Schließt Ein Saal viele Menschen ein, so macht’s der Saal, daß diese Menschen in Ge-sellschaft sind. Sie sind in Gesellschaft und machen höchstens eine Salon-Gesellschaft aus, indem sie in den herkömmlichen Salon-Redensarten spre-chen. Wenn es zu wirklichem Verkehr kommt, so ist dieser als von der Gesell-schaft unabhängig zu betrachten, der eintreten oder fehlen kann, ohne die Na- 57

EE, S. 83.

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tur dessen, was Gesellschaft heißt, zu alterieren. Eine Gesellschaft sind die im Saale Befindlichen auch als stumme Personen, oder wenn sie sich lediglich in leeren Höflichkeitsphrasen abspeisen. Verkehr ist Gegenseitigkeit, ist die Handlung, das (commercium) der Einzelnen; Gesellschaft ist nur Gemein-schaftlichkeit des Saales, und in Gesellschaft befinden sich schon die Statuen eines Museum-Saales, sie sind „gruppiert“. Man pflegt wohl zu sagen: „man habe diesen Saal gemeinschaftlich inne“, es ist aber vielmehr so, daß der Saal Uns inne oder in sich hat. So weit die natürliche Bedeutung des Wortes Ge-sellschaft. Es stellt sich dabei heraus, daß die Gesellschaft nicht durch Mich und Dich erzeugt wird, sondern durch ein Drittes, welches aus Uns beiden Gesellschafter macht, und daß eben dieses Dritte das Erschaffende, das Ge-sellschaft Schaffende ist.“

58

Die Gesellschaft ist laut Stirner ein von Natur aus privativer Zustand, weil sie durch eine gegenüber dem Individuum äußerliche Kraft zustan-de kommt und aufrechterhalten wird. Es ist eine Kraft, die solange wirkt, solange der Einzige keinen Widerstand leistet, indem er dieser Kraft die Gegenkraft des egoistischen bewussten Verkehrs entgegenstellt. Weiter im Text argumentiert Stirner dafür, dass alle sozialen Phänomene – wie z.B. die Institution der Familie oder die Institution des Privateigentums, die alle Gesellschaftsmitglieder dazu zwingt, das Eigentum eines Ande-ren wie ihr eigenes Eigentum zu verteidigen, unabhängig davon, ob sie es verteidigen wollen oder ob es in ihrem eigenen Interesse ist, dies zu tun –, denselben privativen und zwanghaften Charakter haben.

Zwar ist Rousseau nicht so sarkastisch wie Stirner, seine Kritik aber zur Institution der Gesellschaft steht der Stirnerschen bezüglich ihrer Bitterkeit und kritischer Absicht in nichts nach:

„Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: „Dies ist mein“ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Ver-brechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: „Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem“. Aber mit großer Wahr-scheinlichkeit waren die Dinge damals bereits an dem Prunkt angelangt, an dem sie nicht mehr bleiben konnten, wie sie waren; denn da diese Vorstellung des Eigentums von vielen vorausliegenden Vorstellungen, die nur nach und nach haben entstehen können, bildete sie sich nicht auf einmal im menschli-chen Geist. Man musste viele Fortschritte machen, viele Fertigkeiten und Ein-

58

EE, S. 224.

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sichten erwerben und sie von Generation zu Generation weitergeben und ver-größern, ehe man bei diesem letzten Stadium des Naturzustandes anlangte.“

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Ein Vergleich dieser Textstellen zeigt, dass, wider jedes Leugnen seitens von Stirner, beide, Rousseau und er, sich im Lager jener befinden, wel-che die These vertreten, dass die menschliche Sozialität keines seiner primordialen Merkmale ist, sondern etwas Abgeleitetes, und sogar et-was, dass auf Grund eines epistemischen Irrtums entsteht. Der Mensch wird zum sozialen Wesen, weil er nicht in der Lage ist, seine wahre Na-tur zu erkennen. Der Stirnersche Begriff des Menschen hat somit einen gemeinsamen Berührungspunkt mit dem Menschenbegriff Rousseaus. Zwischen beiden Begriffen besteht aber auch ein fundamentaler Unter-schied. Die Gemeinsamkeit besteht in der Art und Weise, wie Stirner und Rousseau den Begriff des Menschen definieren. In Bezug aber auf den Inhalt dieser Definition, das Verhältnis beider Menschenbegriffe kann folgendermaßen charakterisiert werden: „Der Stirnersche Mensch beginnt dort, wo der Rousseausche Mensch aufhört“.

59

Rousseau 2008, S. 173.

Page 43: Max Stirner, der Philosoph

Die zwei grundlegenden Arten der Definition60

Die extensionale Definition

Rousseau und Stirner stimmen in der Art der Definition des Menschen, indem beide die sogenannte „extensionale“ oder „Listendefinition“ ab-lehnen. Ein Begriff wird extensional oder mittel einer Liste definiert, d.h. er wird von allen anderen Begriffen eindeutig unterschieden, indem (wenn möglich) alle seine charakteristischen Merkmale des Gegenstades aufgezählt werden, die dieser Begriff beschreibt. So kann z.B. der Be-griff „skandinavisches Land“ extensional definiert werden, indem ein Katalog aufgestellt wird, der die Länder Dänemark, Norwegen und

60

Außer den hier behandelten extensionalen und intensionalen Definition wird in der Mathematik auch die sogenannte rekursive Definition verwen-det, mit deren Hilfe die Glieder einer mathematischen Folge ausgehend vom ersten Glied, bestimmt werden, z.B. an+1= an*(c1*c2/c3), wobei das erste Glied a1 einen im Voraus zugewiesenen Wert hat. In den einzelnen Realwissenschaften wird wiederum die Definition durch Abstraktion ver-wendet, um die Gegenstände dieser Wissenschaften zu definieren. Dabei wird in einem ersten Schritt unter den zu untersuchenden realen Gegen-ständen eine Äquivalenzrelation gestiftet, die auf einem Katalog von Merkmalen basiert, die allen diesen Gegenständen zukommen. Eine Äqui-valzenrelation RE hat die logischen Eigenschaften der Reflexivität (aREa), Symmetrie (aREb = bREa) und Transitivität (aREb v bREc -> aREc). Die Äquivalenzrelation „gleichlang“ kann z.B. zwischen ausgedehnten Gegen-ständen etabliert werden, indem diese so angeordnet werden, dass ihre Enden sich gegenseitig berühren oder, indem man zwei Gegenstandsrei-hen herstellt, so dass die eine Reihe bestehend aus X Gegenständen der Art α gleichlang zu einer Reihe bestehend aus Y Gegenständen der Art β ist. Die Längengleichheit zwischen α und β wird in diesem Fall in Gestalt der Beziehung αΧ = βΥ erreicht. In einem zweiten Schritt wird die Äqui-valenzrelation als ein selbständiger „Gegenstand“ oder „Eigenschaft“ hy-postasiert, etwa als Länge eines Dinges, die so unabhängig von der Natur des Dinges bestimmt werden kann. Wenn also die Längengleichheit zwi-schen den Gegenständen α und β durch die Beziehung αΧ = βΥ erreicht wird, dann ist die Länge des Gegenstandes α bezogen auf die Länge von β Υ/Χ der Länge von β (für eine ausführlichere Beschreibung dieser Metho-de s. Lorenzen 1987, S. 161 ff). Manche philosophische Systeme verwenden die Definition durch Abstrak-tion um „höhere“ Begriffe aus einer „Basis“ zu gewinnen. Carnap etwa versucht so alle „wissenschaftlichen“ Begriffe aus der Basis der „Elemen-tarerlebnisse“ zu konstituieren, indem er zwischen Elementarerlebnissen Äquivalenzrelationen stiftet (Carnap 1998). Sowohl die rekursive als auch die Definition durch Abstraktion sind in Bezug auf die extensionale und die intensionale Definition „abgeleitet“, weil sie auf Gegenstände zurückgreifen, die entweder intensional oder ex-tensional definiert oder durch die primäre Erfahrung gegeben sind.

Page 44: Max Stirner, der Philosoph

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Schweden enthält, gelegentlich ergänzt um Island und Finnland. Im Fal-le des Begriffs des Menschen kann dieser extensional mit einem Katalog definiert werden, der Merkmale wie Rationalität, Sozialität, politisches Leben, Sprechen, Gefühl für Humor und Lachfähigkeit (animal ridens), Neotenie (Tendenz zur Hinauszögerung des Alterns) u.a. enthält. Bereits diese Beispiele zeigen die Schwierigkeiten auf, mit denen diese Art der Definition behaftet ist:

Erstens: In den meisten Fällen ist es nicht möglich, eine vollständige Liste der charakteristischen Merkmale eines Gegenstands zu geben, was als Folge hat, dass wir niemals absolut sicher sein können, ob ein Ding, das zwar neben allen Merkmalen des Katalogs auch einige aufweist, die darin nicht enthalten sind, der Spezies angehört, die durch den Katalog bestimmt wird, oder nicht.

Zweitens: Es ist im Voraus nicht möglich zu wissen, ob ein gegebe-nes Merkmal notwendig ist, in dem Sinne, das sein Nichtvorhandensein an einem Ding ausreicht, dieses Ding aus der Spezies auszuschließen, die durch einen gegebenen Katalog bestimmt wird, und es ist ebenfalls unmöglich, im Voraus zu wissen, ob ein gegebenes fehlendes Merkmal das Derivat eines anderen fundamentaleren Merkmals ist, so das sein Nichtvorhandensein an einem Ding nicht ausreicht, um dieses Ding aus seiner Spezies auszuschließen.

Die Lage wird umso unübersichtlicher, wenn man in Betracht zieht, dass jedes Mitglied einer Spezies, die Merkmale des diese bestimmen-den Katalogs lediglich kontingenter- und nicht notwendigerweise trägt. Das bedeutet z.B. für einen Menschen, dass er einerseits an jedem Zeit-punkt seiner Existenz nur eine endliche Anzahl der Merkmale trägt, die der Katalog enthält, welcher den Begriff „Mensch“ definiert und somit auch bestimmt, welches Existierende der Spezies Mensch angehört. An-dererseits bedeutet dieser Umstand auch, dass die Anzahl der tatsächlich vorhandenen Merkmale eines lebenden Menschen sich jederzeit verän-dern kann: An diesem Zeitpunkt lacht jemand und hat Sinn für Humor – am nächsten ist er aber traurig und hat keinen Sinn für Scherze. Am Morgen trifft jemand richtige Entscheidungen und zeigt die Stärke sei-nes Intellekts, am Abend benimmt sich dieselbe Person irrational. Dies gilt auch langfristig: Die meiste Zeit seines Lebens ist ein Mensch nicht am Lachen, es gibt Augenblicke, an denen er sich irrational benimmt, es gibt Menschen, die ein Leben ohne sozialen Umgang bevorzugen usw.

Wir wissen natürlich, dass die Akzidentalität der menschlichen Merkma-le nicht ausreicht, um jemanden aus der menschlichen Spezies auszu-

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schließen. Normalerweise wird dieses Problem dadurch „behoben“, in-dem wir jeden Eintrag eines extensional definierenden Katalogs um die Bestimmung „Fähigkeit“ oder „Vermögen“ ergänzen. Mit anderen Wor-ten akzeptieren wir, dass ein Seiendes ist „potentieller“ Träger seiner meisten charakteristischen Merkmale, was dann heißt, dass ihr tatsächli-ches Auftreten von besonderen Bedingungen abhängt – im Falle des Menschen gehört dazu der freie Wille, ein bestimmtes Merkmal zu reali-sieren, z.B. sozialen Umgang zu pflegen. So wird sichergestellt, dass die zufällige Nichtübereinstimmung der tatsächlichen Merkmale eines Sei-enden mit dem Inhalt des Katalogs, das seine Spezies bestimmt, allein nicht ausreicht, um dieses Seiende aus der betreffenden Spezies auszu-schließen. Das heißt zum Beispiel, dass weder der zufällige Umstand, dass jemand sein Vernunftvermögen nicht ausübt, weil er gerade schläft, ausreicht, um diese Person aus der menschlichen Spezies auszuschlie-ßen, noch die Tatsache, dass sie ein Einsiedlerleben gewählt hat oder dass sie ein Schweigegelübde abgelegt hat.

Doch auch diese Ergänzung kann nicht verhindern, dass wir mit der Tatsache konfrontiert sind, dass es menschliche Wesen gib, welche aus vielen und verschiedene Gründen niemals in der Lage sind, ihre „Poten-tiale“ oder „Vermögen“ zu realisieren, sei es aus pathologischen Grün-den oder weil ihre tatsächlichen Lebensbedingungen die Realisierung dieser Vermögen nicht zulassen (wie in den Fällen der sogenannten „Wolfskinder“, die von Tieren großgezogen werden, oder der Taubge-borenen, die ohne spezielle Hilfe, die sprachliche Kommunikation nicht erlernen können).

Diese Beispiele offenbaren eine weitere Schwäche der extensionalen Definition, nämlich den Umstand, dass sie voraussetzt, dass die Einträge eines definierenden Katalogs mittelbar oder unmittelbar einer empiri-schen Überprüfung und Bestätigung zugänglich sein müssen, um die willkürliche Erweiterung oder Einschränkung der Katalogs zu verhin-dern. Die praktische Konsequenz dieser Voraussetzung ist, dass jedes Seiende, für das mittelbar oder unmittelbar empirisch nicht bestätigt werden kann, dass es zumindest potentieller Träger von Merkmalen sind, die für die Zugehörigkeit zu einer gegebenen Spezies relevant sind, aus einer gegebenen Spezies ausgeschlossen werden kann. Im Falle des Menschen bedeutet dies, dass jedes menschliche Wesen, für welches der Besitz der charakteristischen Merkmale des menschendefinierenden Ka-talogs mittelbar oder unmittelbar nicht bestätigt werden kann, Gefahr läuft, aus der menschlichen Spezies ausgeschlossen zu werden, mit allen materiellen und ethischen Konsequenzen, die ein derartiger Ausschluss nach sich zieht.

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Die extensionale Definition ist die Methode der Wahl in philosophi-schen Systemen, welche die These vertreten, dass die einzige Kategorie des selbständig Seienden diejenige der einzelnen, unterschiedlichen und voneinander absolut unabhängig existierenden Einheiten ist, die aus-schließlich aus ihren empirisch mittelbar oder unmittelbar zugänglichen Eigenschaften bestehen, d.h., dass jedes Seiende als eine Art „Bündel“ empirisch zugänglicher Eigenschaften zu betrachten ist.

Ein zusätzliches Problem dieser rein empiristischen Betrachtung des Seienden ist, dass sie nicht erklären kann, warum Seiende, deren parti-kulärer Eigenschaftskatalog in Bezug auf den „vollständigen“ Katalog, der ihre Spezieszugehörigkeit bestimmt, „unvollständig“ ist, dennoch als „mangelhafte“ Exemplare des Spezies zu betrachten sind und nicht als Mitglieder einer anderen eigenständigen Spezies. Die empiristische Be-trachtung kann somit nicht erklären, warum Individuen, die eine charak-teristische Eigenschaft des Menschen nicht aufweisen, wie z.B. die Ver-nunft- oder die Sprachfähigkeit, als Menschen mit organischen Defekten zu betrachten sind, für welche dieselben moralischen Grundsätze gelten, und nicht als Mitglieder einer zwar mit den Menschen verwandten aber dennoch unterschiedlichen Tierspezies, für die andere moralische Stan-dards gelten – wie für jede beliebige andere Tierspezies. Der Empiris-mus versucht diesen Graben zwischen „Sein“ und „Sollen“ durch die Annahme einer separaten und unabhängigen Quelle des „Sollens“ (oder der „Normativität“) zu überbrücken, deren Natur unterschiedlich be-stimmt wird.

Die intensionale Definition

Rousseau und Stirner versuchen, die ontologischen Untiefen der exten-sionalen Definition des Begriffs des Menschen und ihre katastrophalen Konsequenzen für die moralische Gleichbehandlung der Menschen dadurch zu umgehen, dass sie auf eine zweite Definitionsmethode zu-rückgreifen, die, obwohl älter und philosophisch „würdiger“ als die ex-tensionale Definition, von der gesamten (rationalistischen und empiristi-schen) postscholastischen nominalistischen Philosophie abgelehnt wor-den ist, weil diese Art der Definition in ihrer scholastischen Variante auf der Akzeptanz der Realität von Universalien beruht, etwas, das alle no-minalistischen Philosophien kategorisch ablehnen. In ihrer traditionellen Version beruht die intensionale Definition auf dem Postulat, dass ein Begriff ein Universale beschreibt, das in Bezug auf ein allgemeineres Universale abgegrenzt – definiert – wird. Das zu definie-

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rende Universale heißt Spezies und das definierende „umfassendere“ Universale heißt genus proximum. Das genus proximum umfasst die zu definierende Spezies, die von anderen ebenfalls im genus proximum „enthaltenen“ Spezies durch die sogenannte spezifische Differenz abge-grenzt wird. Die spezifische Differenz beschreibt die Art und Weise, auf Grund derer die Mitglieder einer gegebenen Spezies sich von den Mit-gliedern alles anderer in einem Genus enthaltenen Spezies unterschei-den. Angenommen z.B., dass alle lichterzeugenden Apparate das Genus der „Lampen“ ausmachen, dann konstituieren diejenigen Lampen, bei denen das Licht durch die Erhitzung eines sehr dünnen Drahtes aus tem-peraturresistentem Metall oder eines Kohlenstofffadens vermittels elektrischen Stroms erzeugt wird, die Spezies der „Glüh(spez. Diffe-renz)-Lampen (genus proximum)“. Die spezifische Differenz ist somit die „generische Ursache“ für sämtliche charakteristische Eigenschaften eines Seienden, die seine Zugehörigkeit zu einer gegebenen Spezies ausmachen, weil sie nur an den Mitgliedern dieser Spezies – actualiter oder potentialiter – angetroffen werden und an keinem Mitglied aller anderen Spezies, die vom selben Genus umfasst werden. Die meisten postscholastischen philosophischen Systeme sind nomina-listisch, d.h. sie lehnen die Realität von Universalien ab und betrachten diese als rein geistige Entitäten, die durch die abstrahierende Tätigkeit des Verstandes zustande kommen. Eine nominalistische Ontologie kann konsequenterweise die intensionale Definition nicht anwenden, um ein Seiendes zu definieren.

Es gibt aber eine „kausaltheoretische“ Variante der intensionalen De-finition, gemäß welcher ein Seiendes nicht auf Grund einer spezifischen Differenz definiert wird, sondern indem man die Ursache oder den Grund angibt, der notwendig und hinreichend ist, um die Existenz dieses bestimmten Seienden zu erklären. Diese Variante der intensionalen De-finition ersetzt die spezifische Differenz durch den sogenannten zu-reichenden Grund, der die Notwendigkeit der Existenz eines Seienden mit den gegebenen charakteristischen, seine Spezieszugehörigkeit exten-sional bestimmenden Eigenschaften erklärt – wobei die Spezies in die-sem Falle als rein noematische Entität aufgefasst wird). Diese auf der Angabe des zureichenden Grunde beruhende Variante der intensionalen Definition ist kompatibel zu einer nominalistischen Ontologie, weil ein Umstand die notwendige und hinreichende Ursache für die Existenz mehrerer Seienden sein kann, z.B. ein bestimmter Bildhauer ist die not-wendige und hinreichende Ursache für alle Statuen, die er entworfen hat.

Page 48: Max Stirner, der Philosoph

45

Rousseau und Stirner: Zwei Entwürfe des zureichenden Grundes des Menschen

Rousseau: Die Freiheit als Ursache der menschlichen Autonomie und Heteronomie

Die Menschen werden von Rousseau nominalistisch als isolierte Seiende charakterisiert, die einige gemeinsame Merkmale aufweisen, die zu-gleich die „Einträge“ eines extensionalen, spezieskonstituierenden Kata-logs sind. Es ist aber bekannt, dass Rousseau diesen Katalog, so wie er sich zu seiner Zeit ergibt, als mangelhaft betrachtet, weil er einen Unter-schied zwischen den Eigenschaften konstatiert, die jeder Mensch zu ha-ben wünscht und denjenigen, die er tatsächlich aufweist. Gemäß Rousseaus Diagnose verdankt sich dieser Unterschied der Tatsache, dass der zureichende Grund des Menschen seine volle „kausale Kraft“ nicht mehr entfalten kann, dass er mit anderen Worten keine menschlichen Wesen „erzeugen“ kann, deren Eigenschaften das direkte und „reine“ Ergebnis dieses zureichenden Grundes sind. Die Erklärung Rousseaus für dieses „Dekadenzphänomen“ ist, dass es der zureichende Grund selbst ist, der sowohl für die früheren „perfekten“ menschlichen Wesen als auch für seinen eigenen Verfall in den nachfolgenden Phasen der Menschheit verantwortlich ist. Die Natur des zureichenden Grundes der Menschen muss es somit erlauben, dass die menschlichen Wesen Eigen-schaften aufweisen, die von der Natur des zureichenden Grundes abwei-chen oder ihr sogar vollständig widersprechen. Die einzige Ursache, die eine ihr total entgegengesetzte Wirkung erzeugen kann, ist laut Rousse-au die Freiheit: Die Freiheit erzeugt autonome Wesen, d.h. Wesen, die in der Lage sind, ihren Willen auf jeden beliebigen Gegenstand zu rich-ten und jeden Zweck zu verfolgen und zu realisieren, den sie sich setz-ten, auch wenn dieser Zweck ihrem zureichenden Grund vollständig wi-derspricht. Die autonomen Wesen, die die Freiheit erzeugt, können so gerade die charakteristische Eigenschaft, die ihnen die Freiheit verliehen hat, die Autonomie, abstreifen. So haben im Laufe der Zeit die anfäng-lich absolut autonomen menschlichen Wesen ihren Platz an menschliche Wesen abgetreten, deren Autonomie zunehmend eingeschränkt wurde, bis diese in der Zeit Rousseaus derartig reduziert worden ist, dass die Menschen in einem Zustand des fast absoluten gegenseitigen Heterono-mie leben. Diesen Zustand nennt Rousseau „bürgerliche Gesellschaft“. Bekanntlich schlägt Rousseau als Ausweg aus dieser privativen Situati-on eine „Neuverteilung“ der gegenseitigen Heteronomie mittels des

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„Gesellschaftsvertrags“, so dass am Ende jeder Mensch zwar gegenüber dem Staat im Verhältnis der Heteronomie lebt, aber gegenüber seinen Mitstaatsbürgern denselben Grad an Autonomie genießt wie jeder von diesen. Der Staat wird vermittels des Gesellschaftsvertrags als das von jedem Bürger autorisierte kollektive Organ zur Verteidigung, Aufrecht-erhaltung und Verwaltung dieser allgemein eingeschränkten Autonomie eingerichtet. Der Staat ist aber laut Rousseau nicht nur der Hüter des Gesellschaftsvertrags, sondern verfolgt auch das langfristige Ziel der Transzendierung der bürgerlichen Gesellschaft und die Rekonstitution von genuin autonomen menschlichen Wesen, d.h. von menschlichen Wesen, die unmittelbar und unverfälscht den zureichenden Grund des Menschen realisieren – die Freiheit.

Stirner: Die Selbsterkenntnis des Einzigen und der Reichweite seiner Macht als Ursache von Kooperation und Unterwerfung

Wie wir bereit in der Einleitung erwähnt haben, verwirft Stirner jedes Festhalten an einem Ideal oder einem Zweck, der über die Befriedigung eines momentanen Wunsches hinausgeht, als fixe Idee oder „Sparren“. Damit aber einem menschliches Wesen der Irrtum der „Fixierung“ un-terlaufen kann, muss es zunächst in de Lage sein, sich Zwecke zu setz-ten, und damit es sich Zwecke setzen kann, muss es in der Lage sein, zu erkennen a) dass es existiert, b) in welchem Zustand es sich befindet, c) was es wünscht und, d) ob es in der Lage ist, den gesetzten Zweck zu erreichen. Die notwendige und hinreichende Bedingung dafür ist die Fähigkeit eines menschlichen Wesens zu denken, d.h. in der Lage zu sein Begriffe zu bilden und zu erfassen. Wir müssen an dieser Stelle anmerken, dass im „Einzigen“ Stirner sich überhaupt nicht mit dem Fra-ge befasst, wie ein menschliches Wesen in die Lage versetzt wird, rich-tige (oder in der traditionellen Terminologie: adäquate) Begriffe zu bil-den. In einem kurzen Essay mit dem Titel „Das unwahre Prinzip unserer Erziehung“

61 von 1842 ebnet er jedoch den Boden für seine spätere Kri-

tik an den fixen Ideen ein, indem er ein pädagogisches Prinzip erläutert, das jedem Menschen dazu verhelfen soll, sich geistig zu einer „Person“ zu entwickeln, d.h. als ein Wesen, das in der Lage ist, sich selbst Zwe-cke zu setzen und diese autonom zu verfolgen, ohne den Irrungen der pädagogischen Ideologeme des „Humanismus“ und des „Realismus“ zu verfallen, die beide verlangen, dass das Individuum seine Wünsche und seine Ziele allgemeinen Prinzipien unterstellt, die seine jeindividuelle Realität transzendieren.

61

vgl. Prinzip.

Page 50: Max Stirner, der Philosoph

47

Ein denkendes und selbstbewusstes Wesen, eine „Stirnersche Person“ oder ein „Einziger“, hat somit eine unmittelbare Erkenntnis

62 der Tatsa-

che a) dass es existiert und b) dass es über eine Kraft mit einer bestimm-ten Reichweite verfügt. Diese Erkenntnis reicht laut Stirner aus, um ein menschliches Wesen dazu zu befähigen, sein eigenes Leben zu organi-sieren. Wesen, deren Existenz auf dem Denken als zureichenden Grund beruht sind so in der Lage, ihre Aktivitäten im Voraus zu planen, um ihre selbstgesetzten Zwecke zu erreichen und sind auch in der Lage, zu erkennen, dass sie mit anderen „Einzigen“ zusammenarbeiten können, um Zwecke zu realisieren, die von einem einzelnen auf Grund nicht aus-reichender Kraft nicht erreicht werden können.

Das Vermögen der Selbsterkenntnis ermöglicht aber auch die Fehl-einschätzung sowohl der Reichweite der jeeigenen Kraft als auch der Notwendigkeit der Kooperation. Die Überschätzung der Reichweite der eigenen Kraft kann zu sinnlosen Konflikten mit den Anderen oder zum völligen Scheitern eines Vorhabens führen, weil man die notwendige Kooperation nicht angestrebt hat. Stirner betrachtet hingegen die Unter-schätzung der Reichweite der eigenen Kraft als den größeren Irrtum, weil diese den „Einzigen“ zur falschen Schlussfolgerung führen kann, dass manche Zwecke von Natur aus nur durch Kooperation erreichbar sind, so dass die Erhaltung der Kooperation selbst zum Zweck erhoben wird, obwohl sie in Wirklichkeit bloßes Mittel ist. Dadurch nistet sich im menschlichen Geist die falsche (und fixe) Idee der menschlichen „Natur“ ein, welche im Laufe der Geschichte in verschiedenen Gestalten daher kommt, etwa als sokratisches Gewissen, als Aristotelische Tu-gend, als christliche Seele und zuletzt als die Idee des aufgeklärten, emanzipierten und autonomen, aber von Natur aus sozialen Menschen, der seinen Mitmenschen als Seinesgleichen anerkennt.

Die problematischen Konsequenzen der Rousseauschen Konzeption des Menschen und ihre Stirnersche Überwindung

Der Vergleich der Rousseauschen und der Stirnerschen Konzeption des Menschen zeigt, dass, trotz ihrer Übereinstimmung in der Art der Defi-nition des menschlichen Wesens und in der Ausweisung der menschli-

62

D.h. ohne Intervention oder Zwischenschaltung eines Sinnesorgans oder einer anderen Instanz.

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chen Gemeinschaftlichkeit als Symptom der privativen Verwirklichung des zureichenden Grundes, zwischen beiden ein wesentlicher Unter-schied besteht. Rousseau geht davon aus, dass der zureichende Grund des Menschen die Ursache einer konkreten Eigenschaft menschlicher Wesen ist, nämlich der Autonomie, während für Stirner der zureichende Grund die Ursache einer kognitiven Beziehung zwischen jedem mensch-lichen Wesen und seiner Daseinsweise ist. Aus diesem Unterschied er-geben sich zwei weitreichende ontologische Konsequenzen, die bei den beiden Autoren diametral entgegengesetzt ausfallen:

Die erste Konsequenz der Rousseauschen Menschenkonzeption ist, dass die Menschen als Inhaber einer konkreten und einzigartigen Eigen-schaft eine vollständige Art (species completa) ausmachen. Dies bedeu-tet, dass die Art der Menschen eine einzigartige und ausschließliche Stellung im System der Arten und der Gattungen des Lebendigen ein-nimmt. Anders ausgedrückt, der Mensch ist die einzige Art von phäno-menologisch autonomen und ontologisch (wesentlich) freien Substan-zen. Im Gegensatz dazu resultiert aus der Stirnerschen Betrachtung des Menschen als erste Konsequenz der Umstand, dass die Menschen eine unvollständige Art (species incompleta) konstituieren, weil ihr zu-reichender Grund nicht als Eigenschaft, sondern als Relation realisiert wird. Diese Relation ist zwar einzigartig, aber als Relation kann sie ver-schiedene „Argumente“ akzeptieren, d.h. sie kann zwischen Substanzen bestehen, die verschiedene partikuläre Eigenschaften haben, wenn diese Substanzen denkende Wesen sind (im Cartesischen Sinne einer res cogi-tans). Es ist also möglich, dass es nichtmenschliche Wesen gibt, die eine unmittelbare Erkenntnis von sich selbst und ihrer Kraft haben und somit in der Lage sind, Stirnersche Kooperationsbeziehungen untereinander und mit Menschen i.e.S. aufzubauen – ebenso der Gefahr ausgesetzt, den Irrtümern der Über- oder Unterschätzung ihrer Kräfte zu verfallen.

Die zweite ontologische Konsequenz der Rousseauschen Menschen-konzeption leitet sich von der Tatsache ab, dass damit der Mensch den Zustand der Heteronomie überwinden kann, die menschlichen Wesen sich ihrer Autonomie bewusst werden müssen. Sie müssen sich also auf die Ebene der Stirnerschen Einzigen erheben. Dies ist jedoch nicht au-ßerhalb ihrer Möglichkeiten, denn der zureichende Grund der Freiheit wird nur als Eigenschaft und nicht als Relation realisiert. Damit die He-teronomie überwunden werden kann, ist ein zweiter Faktor notwendig – das Selbstbewusstsein der Autonomie –, der aber bei Rousseau aus dem Nichts, wie ein deus ex machina erscheint. Die zweite ontologische Konsequenz der Rousseauschen Betrachtung ist so ein eigenartiger Dua-lismus, der dem menschlichen Wesen zwei zureichende Gründe unter-stellt – was absurd ist. Die Stirnersche Betrachtung hingegen vermeidet

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49

dieses Problem, weil ihr gemäß jede Handlung eines menschlichen We-sens durch das Selbstbewusstsein bestimmt wird, welches dem Denken entspringt.

Die fixe Idee des Menschen als Voraussetzung des Einzigen

Unsere bisherige Analyse hat ergeben, dass die Stirnersche Menschen-konzeption in der Lage ist, die ontologischen Unzulänglichkeiten der Rousseauschen Menschenkonzeption zu überwinden, so dass die Be-hauptung, dass „der Stirnersche Mensch dort beginnt, wo der Rousseau-sche Mensch aufhört“, sich als gültig erweist.

Ist aber die Stirnersche Menschenkonzeption in der Lage, eine zufrie-denstellende Antwort auf die Frage nach dem ethischen Motiv Stirners zu geben, das Resultat seiner Reflexionen anderen Menschen mitzutei-len, wenn deren logische Konsequenz es ist, dieses Resultat für sich zu behalten und die Unterwerfung der Mitmenschen unter fixe Ideen für sich auszunutzen? Es ist nämlich so, dass die Logik des „Einzigen“ nicht nur dieses egoistische Verhalten gebietet, sondern dass sie jede Abwei-chung von diesem Gebot als Unterwerfung unter eine fixe Idee verur-teilt. Dieselbe Frage stellt sich übrigens innerhalb der Rousseauschen Betrachtung, die dort angebotene Lösung

63 ist aber genauso willkürlich,

wie die Lösung, die zur Überwindung der Heteronomie führt. Dieser ethische Widerspruch hat negative Auswirkungen auf Stirners

gesamtes ontologisches Konzept. Die Selbstbewusstseinsbeziehung zwi-schen dem menschlichen Wesen und seiner Kraft erweist sich als unfä-hig, die Haltung des „Einzigen“ zum allgemeinen Handlungsprinzip – im ontologischen und im ethischen Sinne – zu erheben, weil beide, menschliches Wesen und Kraft, derselben ontologischen Kategorie der momentanen singulären Existenzen angehören. Die Kraft des „Einzi-gen“ ist ein Parameter, der sich ständig verändert, und zwar so, dass je-der ihrer momentanen Zustände jeden vorhergehenden aufhebt und von jedem nachfolgenden aufgehoben wird. Die logische Konsequenz dieses absoluten Situationismus ist, dass der Stirnersche „Einzige“ nicht einmal in der Lage ist, eine beliebige Handlung zum Abschluss zu bringen, so-bald er an einem beliebigen Moment während ihrer Durchführung fest-

63

Die „Sympathie“.

Page 53: Max Stirner, der Philosoph

stellt, dass seine Kraft nicht dazu ausreicht, und zwar unabhängig davon, ob diese Schwäche bloß momentan ist und überwunden werden kann.

Ein Rückfall zu einer eindimensionalen Bestimmung des Menschen im Sinne Rousseaus stellt keine Lösung dar. Diese sollte in einer Erwei-terung der Stirnerschen Menschenkonzeption gesucht werden, welche an der Selbstbewusstseinsbeziehung festhält, aber eines ihrer Relata verän-dert. Das eine Relatum ist (und muss sein) das denkende Wesen, das Erkenntnissubjekt. Die Existenz des denkenden Wesens actualiter ist für die Manifestation dieser Beziehung ontologisch unabdingbar. Das zwei-te Relatum kann jedoch nicht etwas Momentanes und Veränderliches sein, sondern etwas Unveränderliches und Allgemeines. Etwas, das in der Lage ist, die Grenzen der Veränderlichkeit festzulegen. Der beste Kandidat für dieses zweite Relatum das mit dem denkenden Wesen in der Selbstbewusstseinsbeziehung steht, ist das, was in der Aristoteli-schen Terminologie als „zweite Substanz“ oder „Form“ bezeichnet wird. Es ist die ontologische Form, welche die quidditas, die Washeit eines Wesens bestimmt, sie ist die spezifische Differenz, die jede Art be-stimmt. Im Falle des Menschen ist seine ontologische Form für die Tat-sache verantwortlich, dass jeder Mensch als Person Mitglied der unvoll-ständigen Art der Personen ist und über die Erkenntnis nicht nur seiner individuellen, momentanen Existenz, seiner haecceitas, verfügt, sondern auch über die Erkenntnis seiner quidditas, d.h .der Tatsache, dass er als denkendes Wesen etwas konkretes ist, ein „Ich“, ein „Einziger“, die Re-alisierung einer Form oder einer Idee, die als etwas Allgemeines, Stabi-les und Unveränderliches eine fixe Idee ist und sein muss.

Page 54: Max Stirner, der Philosoph

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Die Leere der Gesellschaft bei Franz Kafka

und Max Stirner

Kafkas Gemeinschaft und Stirners Gesellschaft

Franz Kafka gilt als Existentialist, als ein Autor, dessen Denken sich stets mit dem Problem der Konstitution des Subjekts und seiner Existenz in einer ihm feindlichen oder zumindest gleichgültigen Umgebung be-schäftigt.

64 Doch diese Ansicht ist ergänzungsbedürftig, zumindest um

einen anthropologischen und einen gesellschaftstheoretischen Aspekt. Beide Aspekte bilden das zentrale Thema im erzählerischen Werk Franz Kafkas, z. B. in dem „Bericht an eine Akademie“, in der „Verwand-lung“, oder in der „Strafkolonie“. Von besonderem Interesse ist in dieser Hinsicht ein kurzer Text aus dem Nachlass mit dem Titel „Gemein-schaft“.

65 In ihm wird die Situation von fünf Menschen beschrieben, die

eine Gemeinschaft bilden, weil oder seitdem sie nacheinander aus einem Haus herausgekommen sind. Dieses Ereignis gilt als der Beginn dieser Gemeinschaft und bildet auch das einzige Band, das sie zusammenhält. Der Erzähler berichtet außerdem, dass die Tatsache, dass die fünf eine Gemeinschaft bilden, auf dem Beschluss der Leute beruht, die sie aus diesem Haus haben kommen sehen, und nicht auf der Entscheidung der fünf, sich zu dieser zusammen zu finden. Das Prinzip, das diese Ge-meinschaft zusammenhält, ist somit ein äußeres. Die fünf bilden eine Gemeinschaft, nicht weil sie es wollen, sondern weil man meint, dass sie eine Gemeinschaft bilden oder bilden sollen. Sie selbst fügen sich dem 64

Arvon 2012, S. 200-203. 65

Kafka 1977, S. 308-309.

Page 55: Max Stirner, der Philosoph

Urteil der Umgebung und verharren in dieser Gemeinschaft, haben sich sogar darin halbwegs eingerichtet, sie vermögen aber den Sinn dieser Lebensform nicht zu erkennen. Diese Aporie zeigt sich mit besonderer Schärfe in dem Umstand, dass ein sechster sich bemüht, in diese Ge-meinschaft aufgenommen zu werden, der aber ohne Angabe von Grün-den ständig abgewiesen wird. Diese Gründe kann es auch nicht geben, wie der Erzähler bemerkt, denn die fünf werden schließlich nur durch die von außen ausgeübte Macht der Gewohnheit zusammengehalten. Ihre Gemeinschaft ist eine Zwangsgemeinschaft, die ihnen bloß diese eine Freiheit noch lässt, nämlich ihren Kreis nicht erweitern zu wollen. Diese Beschreibung einer von einem bloßen äußerlichen Prinzip zu-sammen gehaltenen Gemeinschaf bringt Kafka in die Nähe derjenigen Denker, die eine Lebensform, welche dem Individuum äußere Ord-nungsprinzipien auferlegt, als minderwertiger oder sogar als krankhaft betrachten im Vergleich zu derjenigen Lebensform, deren Struktur auf der freien Entscheidung von reifen und vernünftigen Personen beruht. Die von Kafka beschriebene Gemeinschaft ist eine Erscheinung der Le-bensweise, die bei anderen Autoren – unter anderem auch bei Max Stir-ner – Gesellschaft genannt wird. In seinem genial minimalistischen Stil zeigt Kafka das wesentliche Problem dieser Lebensweise, nämlich ihre Leere. Es gibt keinen Grund, der die fünf „Freunde“ zusammenhält, ihre Gemeinschaft hat keine Form, sondern bloß eine Wirkursache, eine causa efficiens – das Faktum, dass sie hintereinander aus einem Tor her-ausgetreten sind.

Die Liste der Denker, die mit Kafka das Unbehagen gegen die gesell-schaftliche Lebensweise teilen, ist, wie gesagt, lang und kann bis auf die Aristotelische Kritik an Platons Wächterstaat zurückverfolgt werden. Max Stirners Beitrag zu dieser Kritik besteht nicht darin, dass er sie wiederholt und zur Spitze getrieben hat, sondern dass er meint, sie schon in der Etymologie der Wortes „Gesellschaft“ erkennen zu können.

66 Die

Aporie der gesellschaftlichen Lebensweise ist epistemisch qua Spracha-nalyse ersichtlich. Man muss nicht erst nach schmerzvollen Erfahrungen zu dem Schluss gelangen, dass dieses von außen bestimmte und geleitete Leben eine Lebenstatsache darstellt – nein, schon die (deutsche) Sprache weist jeden unmissverständlich darauf hin, der sich die Mühe macht, hinzuhören:

66

S. dazu die Etymologische Herleitung des Wortes „Gesellschaft“ vom Wort „Sa(a)l“ auf S. 28.

Page 56: Max Stirner, der Philosoph

53

„Wie der Saal, so bildet das Gefängnis wohl eine Gesellschaft, eine Genossen-schaft, eine Gemeinschaft (z. B. Gemeinschaft der Arbeit), aber keinen Ver-kehr, keine Gegenseitigkeit, keinen Verein. Im Gegenteil, jeder Verein im Gefängnisse trägt den gefährlichen Samen eines „Komplotts“ in sich, der unter begünstigenden Umständen aufgehen und Frucht treiben könnte.“

67

Saal, Gesellschaft, Gefängnis: mit diesen drei Stirnerschen Begriffen wird das Wesen der Lebensweise von Kafkas fünf Freunden adäquat beschrieben. Die Gesellschaft ist ein Behälter, eine Schachtel, ein Saal, der die Menschen umschließt und ihnen einen Lebensmodus vorgibt, auf den sie keinen Einfluss haben. Es geht nicht darum, dass die Gesell-schaft die Menschen vereinzelt, denn sie sollen kooperativ tätig sein. Doch sie dürfen nicht die Bedingungen dieser Kooperation selbst be-stimmen. Tun sie dies, dann werden sie isoliert, d.h., die Vereinzelung ist die Folge der Insubordination unter die gesellschaftlichen Gebote und nicht die Bedingung der Möglichkeit der Gesellschaft. Dies wird bei der Betrachtung des Lebens im Gefängnis – laut Stirner einer besonders rei-nen Form gesellschaftlichen Lebens – deutlich:

„Ebenso eine Gefängnis-Gesellschaft oder Gefängnis-Genossenschaft (die dasselbe Gefängnis genießen). Hier geraten Wir schon in ein inhaltreicheres Drittes, als jenes bloß örtliche, der Saal, war. Gefängnis bedeutet nicht mehr nur ein Raum, sondern ein Raum mit ausdrücklicher Beziehung auf seine Be-wohner: es ist ja nur dadurch Gefängnis, daß es für Gefangene bestimmt ist, ohne die es eben ein bloßes Gebäude wäre. Wer gibt den in ihm Versammelten ein gemeinsames Gepräge? Offenbar das Gefängnis, da sie nur mittelst des Gefängnisses Gefangene sind. Wer bestimmt also die Lebensweise der Ge-fängnis-Gesellschaft? Das Gefängnis! Wer bestimmt ihren Verkehr? Etwa auch das Gefängnis? Allerdings können sie nur als Gefangene in Verkehr tre-ten, d. h. nur so weit, als die Gefängnis-Gesetze ihn zulassen; aber daß sie selbst, Ich mit Dir, verkehren, das kann das Gefängnis nicht bewirken, im Ge-genteil, es muß darauf bedacht sein, solchen egoistischen, rein persönlichen Verkehr (und nur als solcher ist er wirklich Verkehr zwischen Mir und Dir) zu verhüten. Daß Wir gemeinschaftlich eine Arbeit verrichten, eine Maschine ziehen, überhaupt etwas ins Werk setzen, dafür sorgt ein Gefängnis wohl; aber daß Ich vergesse, Ich sei ein Gefangener, und mit Dir, der gleichfalls davon absieht, einen Verkehr eingehe, das bringt dem Gefängnis Gefahr, und kann von ihm nicht nur nicht gemacht, es darf nicht einmal zugelassen werden. Aus diesem Grunde beschließt die heilige und sittlich gesinnte französische Kam-

67

EE, S.222.

Page 57: Max Stirner, der Philosoph

mer, die „einsame Zellenhaft“ einzuführen, und andere Heilige werden ein Gleiches tun, um den „demoralisierenden Verkehr“ abzuschneiden.“

68

Wie reichhaltig auch immer das gesellschaftliche Leben sein mag, es vermag nicht, den Saal, die Schachtel der Gesellschaft, mit Sinn zu er-füllen – das Leben in der Gesellschaft bleibt leer, weil es uns per defini-tionem nicht anspricht, weil es unserem, von uns entspringenden Ver-kehr entgegensteht. Und diese Leere lässt sich nicht beseitigen, der Saal lässt sich nicht mit Sinn füllen, denn dann wäre die Gesellschaft nicht mehr da. Laut Stirner will die Gesellschaft gar nicht, dass wir uns ihr hingeben und ihre Gebote uns zu eigen machen, denn dann wäre sie kei-ne Gesellschaft mehr, sondern ein Verein, ein freier Zusammenschluss von Eignern, die die vollständige Kontrolle über ihren Beitrag dazu be-sitzen. Der Gegensatz Gesellschaft/Verein ist somit für Stirner aus logi-schen bzw. begrifflichen Gründen unüberwindbar. Es ist aber auch nicht so, dass die Gesellschaft zu tolerieren wäre, dass man also eine Art „Doppelleben“ führen könnte – so wie es vielleicht Ferdinand Tönnies in seinem Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“

69 vorschwebt –‚denn

die Gesellschaft verlangt die totale Unterwerfung: Gehorchen, nicht Mitbestimmen ist die Devise. Der Gegensatz zwischen Gesellschaft und Verein kann nur durch die Zerstörung der ersteren aufgehoben werden.

Mit dieser radikalen Abwendung von jeder Art Verpflichtung einem nicht selbst gesetzten Ziel gegenüber begibt sich Stirner jedoch in eine existentielle und in eine epistemische Aporie, denn die Gesellschaft lässt sich nicht zerstören, und zwar ebenfalls aus logischen bzw. begrifflichen Gründen. Es ist nämlich so, dass schon das Leben im Modus des freien Stirnerschen Verkehrs, aktualisiert in Form von Vereinen, einem ihm vorausgehenden und somit ihm „äußeren“ Ziel verpflichtet ist, nämlich dem Guten. Es ist nicht so, dass jede Art des Verkehrs und jeder Verein das gleiche Existenzrecht hätten, denn wäre dies der Fall, dann könnte Stirner auch nichts gegen die Verkehrsformen „Gesellschaft“ oder “Ge-fängnis“ einwenden. Dieser Kritikpunkt lässt sich nicht durch den Hin-weis entkräften, Gesellschaft und Verein seien keine Verkehrsformen, weil sie ja dadurch zustande kommen, dass man einem falschen Prinzip, einer fixen Idee, einem Sparren folgt. Sie sind somit Resultate einer freien Tätigkeit, die aber die falschen Ziele verfolgt. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass Gesellschaft und Gefängnis Wirkungen einer

68

EE, S. 223. 69

Tönnies 1991.

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Kraft sind, der jeder ausgesetzt wird. Doch in diesem Falle könnte man ebenfalls keine Kritik an ihnen üben, genauso wenig wie man Kritik an der Gravitationskraft ausüben kann, obwohl ihr Wirken häufig unange-nehme, sogar tödliche Folgen zeitigt.

Was man also an Gesellschaft und Gefängnis (als zwei Manifestatio-nen der „Saaligkeit“) kritisieren kann, ist, dass sie dadurch zustande kommen, dass Leute aus freiem Entschluss heraus falschen Prinzipien und fixen Ideen folgen. Das Vorhandensein von falschen Prinzipien und fixen Ideen bedeutet aber, dass es auch richtige Prinzipien und adäquate Ideen gibt. Beides jedoch, falsche und richtige Prinzipien, fixe und adä-quate Ideen, sind uns äußerlich, in dem Sinne, dass wir uns an ihnen ori-entieren und sie nicht jedes Mal neu setzen. Weil also beide, Gesell-schaft und Verein, sich an Prinzipien orientieren, die ihnen begrifflich vorgelagert sind und einen normativen Charakter haben, gibt es einen Zustand, in welchem kein Gegensatz zwischen Gesellschaft und Verein besteht, wenn nämlich Gesellschaft und Verein auf denselben Prinzipien beruhen.

Eine Mauer, die verbindet

Wie lässt sich dieser Zustand erreichen oder wenigstens annähern? Der Philosoph Max Stirner kann uns keinen Weg dazu ebnen, denn die Spra-che steht ihm im Wege. Es ist der Sprachpraktiker Kafka, der diesen Weg findet: In seiner Kurzgeschichte „Beim Bau der Chinesischer Mau-er“ gewinnen wir nicht nur einen Einblick in die Organisation und die Durchführung dieses in der Geschichte einmaligen Projektes, sondern wir erfahren auch, dass Gesellschaft und Stirnerscher Verein die beiden Gesichter derselben Entität bilden.

Der Erzähler, ein höherer Mitarbeiter am Bauprojekt der Großen Chi-nesischen Mauer, berichtet, dass zur Vermeidung von Entfremdungser-scheinungen bei den Arbeitern und den anderen Projektbeteiligten, diese nicht ihr ganzes Leben lang an einem einzigen Abschnitt des Bauwerkes mitwirken, sondern in regelmäßigen Abständen an andere Stellen ab-kommandiert werden. Auf der Reise dorthin, die entlang der Baulinie verläuft, erleben sie die Größe des Projektes, erfahren, in welchem Zu-stand der Fertigstellung sich die verschiedenen Bauabschnitte befinden, werden mit Ehren überhäuft, tauschen sich mit anderen am Bau Beteilig-ten aus. Sie gewinnen dadurch Einsicht in die Notwendigkeit des Projek-

Page 59: Max Stirner, der Philosoph

tes und auch das Bewusstsein, dass ihre eigene Tätigkeit nicht ihrem Leben aufoktroyiert worden, sondern ein Teil dieses Lebens ist:

„Aber für die unteren, geistig weit über ihrer äußerlich kleinen Aufgabe ste-henden Männer, mußte anders vorgesorgt werden. […] Die Hoffnungslosig-keit [...] in einem langen Menschenleben nicht zum Ziel führenden Arbeit hät-te sie verzweifelt und vor allem wertloser für die Arbeit gemacht. Deshalb wählte man das System des Teilbaues. Fünfhundert Meter konnten etwa in fünf Jahren fertiggestellt werden, dann waren freilich die Führer in der Regel zu erschöpft, hatten alles Vertrauen zu sich, zum Bau, zur Welt verloren. Drum wurden sie dann, während sie noch im Hochgefühl des Vereinigungs-festes der tausend Meter Mauer standen, weit, weit verschickt, sahen auf der Reise hier und da fertige Mauerteile ragen, kamen an Quartieren höherer Füh-rer vorüber, die sie mit Ehrenzeichen beschenkten, hörten den Jubel neuer Ar-beitsheere, die aus der Tiefe der Länder herbeiströmten, sahen Wälder nieder-legen, die zum Mauergerüst bestimmt waren, sahen wie Berge in Mauersteine zerhämmert wurden, hörten auf den heiligen Stätten Gesänge der Frommen Vollendung des Baues erflehen. Alles dieses besänftigte ihre Ungeduld. Das ruhige Leben der Heimat, in der sie einige Zeit verbrachten, kräftigte sie, das Ansehen, in dem alle Bauenden standen, die gläubige Demut, mit der ihre Be-richte angehört wurden, das Vertrauen, das der einfache, stille Bürger in die einstige Vollendung der Mauer setzte, alles dies spannte die Saiten der Seele. Wie ewig hoffende Kinder nahmen sie dann von der Heimat Abschied, die Lust, wieder am Volkswerk zu arbeiten, wurde unbezwinglich. [...] Jeder Landmann war ein Bruder, für den man eine Schutzmauer baute, und der mit allem, was er hatte und war, sein Leben lang dafür dankte. Einheit! Einheit! Brust an Brust, ein Reigen des Volkes, Blut, nicht mehr eingesperrt im kärgli-chen Kreislauf des Körpers, sondern süß rollend und doch wiederkehrend durch das unendliche China.“

70

In Stirnerschen Termini löst sich die Bau-Gesellschaft in eine Vielzahl von Bau-Vereinen auf, in denen ein doppelter Stirnerscher Verkehr statt-findet. Einerseits zwischen den Bauleuten untereinander, andererseits aber auch unter den einzelnen Vereinen.

Der Erzähler berichtet weiterhin, dass die konkrete Mitarbeit am Bauprojekt nicht nur Teil des – wie man interpretieren könnte – Ver-kehrs (im Stirnerschen Sinne) unter den Bauleuten ist, sondern auch Teil des alltäglichen Verkehrs der Reichsbevölkerung, denn die Menschen werden schon während ihrer Kindheit auf diese Tätigkeit hin vorbereitet.

70

Kafka 1977, S. 290-291.

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57

Der Vorwurf im Sinne Stirners, dass die gesamte Veranstaltung nichts anderes als das Festhalten an einer fixen Idee sei, dass also der Verkehr unter den Bauleuten nur ein scheinbarer sei und dass sie in Wirklichkeit in den Fängen einer viel raffinierteren und undurchsichtigen Gesell-schaft steckten, als die liberalen westeuropäischen Gesellschaften, wird vom Erzähler durchaus antizipiert. Gegen diese Kritik wendet er ein, dass es nicht die Macht des Kaisers oder die Macht der Verwaltung ist, die den Bau erzwingt, sondern vielmehr der Unglaube daran, dass so etwas überhaupt existiere, ermöglicht es überhaupt, dieses Projekt als sittliches Projekt anzuerkennen und in das eigene Leben zu integrieren – zum Teil des eigenen Verkehrs zu machen:

„Wenn man aus solchen Erscheinungen folgern wollte, daß wir im Grunde gar keinen Kaiser haben, wäre man von der Wahrheit nicht weit entfernt. Immer wieder muß ich sagen: Es gibt vielleicht kein kaisertreueres Volk als das uns-rige im Süden, aber die Treue kommt dem Kaiser nicht zugute. Zwar steht auf der kleinen Säule am Dorfausgang der heilige Drache und bläst huldigend seit Menschengedenken den feurigen Atem genau in die Richtung von Peking -aber Peking selbst ist den Leuten im Dorf viel fremder als das jenseitige Le-ben. Sollte es wirklich ein Dorf geben, wo Haus an Haus steht, Felder bede-ckend, weiter als der Blick von unserem Hügel reicht und zwischen diesen Häusern stünden bei Tag und bei Nacht Menschen Kopf an Kopf? Leichter als eine solche Stadt sich vorzustellen ist es uns, zu glauben, Peking und sein Kai-ser wäre eines, etwa eine Wolke, ruhig unter der Sonne sich wandelnd im Lau-fe der Zeiten. Die Folge solcher Meinungen ist nun ein gewissermaßen freies, unbeherrschtes Leben. Keineswegs sittenlos, ich habe solche Sittenreinheit, wie in meiner Heimat, kaum jemals angetroffen auf meinen Reisen. Aber doch ein Leben, das unter keinem gegenwärtigen Gesetze steht und nur der Wei-sung und Warnung gehorcht, die aus alten Zeiten zu uns herüberreicht.“

71

Die Gesellschaft, so kann man Kafkas These aus diesen Zeilen rekon-struieren, existiert schon im Verkehr und nur zusammen mit ihm. Es ist nichts, das unabhängig vom einzelnen Menschen besteht und es ist auch keine krankhafte Fixierung des Geistes. Die Gesellschaft ist vielmehr die konkrete, an die jeweiligen Verkehre angepasste Vorstellung des menschlichen Lebens, die jeden Einzelnen antreibt, das, was in ihm steckt, Wirklichkeit werden zu lassen. Dass diese Vorstellung häufig verschwommen und undeutlich ist, dass sie Gefahr läuft, sich in fixe

71

Kafka 1977, S. 298.

Page 61: Max Stirner, der Philosoph

Ideen und Gefängnisgänge zu verirren, ist der Preis der Freiheit, das zu sein, was jeder von uns sein sollte – ein Einziger in seinem Eigentum.

Page 62: Max Stirner, der Philosoph

Max Stirner, die Freiheit und das Eigentum

Der Stirnersche Widerspruch und seine Überwindung

Wir haben gesehen, dass Max Stirners philosophischer Entwurf an Au-toren und Gedanken anknüpft, die jenseits der scheinbar unübersteigba-ren Mauer des Hegelschen Systems und des vor ihm liegenden Trutz-grabens des Junghegelianismus liegen. Darüber hinaus ist es deutlich geworden, dass die konsequente Ausformulierung des Konzeptes des Einzigen und seiner Eigenheit die logische Konsequenz hat, dass die auf diesem Konzept beruhende natürliche Sittlichkeit mit jeder Form ihrer Verwirklichung inkompatibel ist. Wenn die vollständige Verwirklichung der Eigenheit nämlich darin besteht, alles und jeden zum Gegenstand des Genusses des Einzigen zu machen,

72 dann ist es zumindest irrele-

vant, wenn nicht kontraproduktiv, ob dies mit Zustimmung der Anderen geschieht oder nicht. Die Veröffentlichung des Konzeptes des Einzigen erzeugt somit einen „performativen“ Widerspruch – Stirner handelt wi-der seinen Vorsatz, als Einziger der einzige Nutznießer der Welt zu sein.

Dieser Widerspruch lässt sich auf zwei Wegen auflösen: Der eine ist, Stirner als „unvollkommenen“ Einzigen zu betrachten. Das heißt, als jemanden, der eine Einsicht in eine Wahrheit hat, die er für sich nicht verwirklichen kann, sei es aus Willensschwäche oder auf Grund objekti-ver Hindernisse. Diese Auflösung ist weder philosophisch noch ethisch interessant, denn einerseits sind die Gründe, die zu einer so verstande- 72

„Mein Verkehr mit der Welt besteht darin, daß Ich sie genieße und so sie zu meinem Selbstgenuß verbrauche. Der Verkehr ist Weltgenuß und ge-hört zu meinem – Selbstgenuß“, EE, S.322.

Page 63: Max Stirner, der Philosoph

60

nen „Unvollkommenheit“ Stirners als Einzigen führen, kontingent, an-dererseits aber ist die von Stirner erkannte Wahrheit selbst widersprüch-lich: Wenn nämlich die wahre Natur der menschlichen Existenz die Stirnersche „Eigenheit“ ist, dann führt sie zur Aufhebung dieser Exis-tenz, denn jeder Akt des „Genusses“ führt zum „Verbrauch“ des Einzi-gen, so dass das Selbsterhaltungsinteresse des Einzigen sich gegen jegli-ches Handeln richtet. Der Einzige muss aber handeln, damit er seine Eigenheit bewahren kann – dieses Verständnis der Eigenheit führt somit zu einer Absurdität.

Der zweite Weg ist, Stirner eine „Fehlwahrnehmung“ der Wahrheit nachzuweisen, die dazu führt, dass er die Natur der menschlichen Exis-tenz inkorrekt beschreibt, und zwar in dem Sinne, dass er in einer gewis-sen Hinsicht übertreibt. Diese Übertreibung könnte in Aristotelischen Termini als das Verfehlen einer ethischen Mitte bestimmt werden. Ich will in diesem Kapitel versuchen, die Natur dieser ethischen Mitte als Erfüllung eines „Bedürfnisses der menschlichen Seele“ zu beschreiben, wobei ich mich des gleichnamigen Konzeptes der französischen Philo-sophin Simone Weil bediene. Das Problem Stirners besteht demnach darin, diese ethische Mitte in Richtung des übertriebenen Strebens nach „Eigenheit“ zu verfehlen und sich somit dem Laster der Gier auszulie-fern.

Simone Weil: Die Bedürfnisse der menschlichen Seele

Simone Weils Denken enthält starke existentialistische Elemente und hat deshalb eine gewisse Affinität zu Stirner. Im Gegensatz aber zu ihm vertritt Weil die These, dass das Streben der menschlichen Existenz ei-nerseits mehrdimensional, d.h. nicht bloß auf „Eigenheit“, ausgerichtet ist, und dass es andererseits ein „zu viel“ und ein „zu wenig“ kennt. So-mit unterliegt ein menschliches Wesen der – auf Einsicht beruhenden – Pflicht, sein Streben in allen Dimensionen auf das richtige Maß einzu-pegeln. Simone Weil nennt die Dimensionen des menschlichen Strebens „die Bedürfnisse der menschlichen Seele“. Sie werden in ihrem postum veröffentlichten Werk Die Einwurzelung

73 beschrieben.

In diesem Werk liefert Weil eine Analyse der Gründe, die zu Kata-strophe des Zweiten Weltkrieges geführt haben, gefolgt von Vorschlä-

73

Titel der Erstveröffentlichung: L'Enracinement, Gallimard 1949.

Page 64: Max Stirner, der Philosoph

61

gen für eine Neuordnung der Nachkriegsgesellschaft Europas, die den Frieden garantieren soll. Sie ist der Meinung, dass die gesellschaftliche Misere in Frankreich und in Deutschland, die sie für den Ausbruch des zweiten Weltkrieges verantwortlich macht, in der „Entwurzelung“ be-gründet liegt, die der Bauernstand und die Arbeiterschaft in beiden Län-dern im Zuge der Durchsetzung eines kapitalistischen Wirtschafts- und eines „bourgeois-demokratischen“ Gesellschaftssystems erfuhren und die zu blindem Aktionismus auf deutscher und zu passivem Fatalismus auf französischer Seite geführt hat. Diese „Entwurzelung“ war die direk-te Folge der Verfehlung der adäquaten Erfüllung der Bedürfnisse der menschlichen Seele in den Gesellschaften beider Staaten.

74

Die Bedürfnisse der menschlichen Seele sind die notwendigen Be-dingungen, von deren Erfüllung das Gelingen des menschlichen Lebens als ein gemeinschaftlich strukturiertes Leben abhängig ist. Dabei ent-steht das Problem, die „eigentlichen“ Bedingungen, einerseits von ihren je nach Situation unterschiedlichen „Erfüllungssituationen“ und anderer-seits von unerfüllbaren oder unberechtigten Forderungen zu unterschei-den. Die Unterscheidung zwischen den „eigentlichen“ Bedingungen und ihren „Erfüllungssituationen“ ist die Unterscheidung zwischen Bedürfnis und Begierde bzw. zwischen bedürfen und begehren. Simone Weil er-läutert diesen Unterschied am Verhältnis zwischen Nahrung und Speise (d.h. etwas im physiologischen Sinne Essbarem): Man bedarf der Nah-rung, aber nicht einer bestimmten Speise.

75 Eine bestimmte Speise mag

man begehren, sie ist aber in Bezug auf ihre Funktion, das Bedürfnis nach Nahrung zu stillen, allen anderen Speisen gleichrangig (es sei denn, sie ist auf Grund bestimmter ernährungsphysiologischer oder kul-tureller Umstände unentbehrlich, wie etwa Frischwasser, Salz oder das Osterlamm zu Ostern). Umgekehrt ist es aber möglich, dass eine be-stimmte Speise aus ökologischen, moralischen, kulturellen oder ökono-mischen Gründen aus dem Katalog der „Bedürfniserfüller“ gestrichen wird – wir essen kein rohes, bluttriefendes Fleisch, keine Hunde und Katzen oder gar unsere Toten, und viele Menschen verzichten auf den Konsum von Fleisch oder von Tierprodukten überhaupt.

74

Diese Diagnose gilt im Grunde auch für die meisten der übrigen europäi-schen Staaten, die sich am 2. Weltkrieg beteiligt haben, mit Ausnahme vielleicht des Vereinigten Königreichs, dem Weil eine besondere Reife in der Ausgestaltung seiner sozialen und politischen Strukturen bescheinigt.

75 Einwurzelung, S. 20.

Page 65: Max Stirner, der Philosoph

62

Simone Weil versteht die Bedürfnisse der Seele als Bedingungen für gelingendes menschliches Leben, d.h. als menschliches Leben in einer Gemeinschaft und als Vollzug gemeinschaftlichen Handelns. Deshalb betreffen diese Bedingungen sowohl die Personen als auch die Gemein-schaft – genauer: die formale Struktur gemeinschaftlichen Handelns. Weil die an die Gemeinschaft gerichteten Bedingungen nur durch die daran teilnehmenden Personen im Rahmen des gemeinschaftlichen Han-delns erfüllt werden können, erscheinen sie als Pflichten der Personen. Die unmittelbar an die Personen gerichteten Bedingungen haben hinge-gen den Status von Rechten, da ihre Erfüllung im individuellen Ermes-sen liegt. Die Bedürfnisse der Seele sind als Pflichten und Rechte fol-gendermaßen paarweise angeordnet:

Pflichten Rechte Ordnung Freiheit

sittlicher Aspekt

Gehorsam Verantwortung Hierarchie Gleichheit Strafe Ehre Gefahr (Risikobereitschaft) Sicherheit poietischer

Aspekt Kollektiveigentum Privateigentum Wahrheit Meinungsfreiheit kommunikativer

Aspekt

Simone Weil behandelt sie in einer linearen Reihenfolge, und zwar: Ordnung, Freiheit, Gehorsam, Verantwortung, Gleichheit, Hierarchie, Ehre, Strafe, Meinungsfreiheit, Sicherheit, Gefahr, Privateigentum, Kol-lektiveigentum, Wahrheit. Mit Ausnahme des Paares Meinungsfrei-heit/Wahrheit, das wohl aus textdramaturgischen Gründen auseinander gerissen wurde, entspricht ihre Reihenfolge unserer Zuordnung. Was die Reihenfolge betrifft, bezeichnet Simone Weil die Ordnung als „das erste Bedürfnis der Seele, das am meisten mit ihrer ewigen Bestimmung zu-sammenhängt“.

76

Die nachfolgenden drei Paare, Gehorsam/Verantwortung, Hierar-chie/Gleichheit, Strafe/Ehre, sind mit dem Paar Ordnung/Freiheit be-grifflich eng verknüpft: sie alle beziehen sich auf den sittlichen Aspekt des menschlichen Lebens, d.h. auf das Verhältnis zwischen Gemein-schaft und Individuum. Die Paare Gefahr/Sicherheit und Kollektiv-/Privateigentum beziehen sich hingegen auf den poietischen Aspekt, d.h. auf die Art und Weise der Sicherung der materiellen Komponente des

76

Einwurzelung, S. 22.

Page 66: Max Stirner, der Philosoph

63

Lebens. Das Paar Wahrheit/Meinungsfreiheit nimmt eine Sonderstellung ein, da es sich auf den kommunikativen Aspekt des gemeinschaftlichen Lebens bezieht, der für die beiden anderen Aspekte unentbehrlich ist.

Bedürfnis, Begierde, Sucht und Gier

Das Verhältnis zwischen Bedürfnis und Begierde ist kein logisches Abs-traktionsverhältnis, wie etwa das Verhältnis zwischen Ziffer und Zahl, obwohl es so erscheinen mag.

77 Es ist vielmehr ein reflektiertes und hie-

rarchisches Verhältnis wie das Verhältnis zwischen Mittel und Zweck – die Wahl der Mittel richtet sich nach den Zwecken.

78

In analoger Weise bestimmt das Verständnis eines Bedürfnisses, wel-cher Begierde wir nachgeben sollen und welcher nicht, während die Ar-tikulation einer Begierde einen Zustand des Individuums gegenüber ei-nem Gegenstand beschreibt. Somit kommen wir zu einem weiteren Un-terschied zwischen Bedürfnis und Begierde, nämlich dem Umstand, dass wir die Begierden nur im Modus des Widerfahrnisses erleben, während Bedürfnisse eher den Charakter von Zielen haben und im Bereich des sittlichen Lebens verankert sind. Der Widerfahrnischarakter von Begier-den bedeutet auch, dass sie im Gegensatz zu Bedürfnissen singulär sind. Begierden werden durch Zuführung ihrer Objekte neutralisiert und zum Verschwinden gebracht. Jede künftige Begierde, auch wenn sie von der gleichen Art ist, stellt ein neues Widerfahrnis dar.

77

Verschiedene Ziffern, d.h. verschiedene arithmetische Schreibweisen wie <2>, <II>, <β>, <ב>, repräsentieren dieselbe Zahl „zwei“. Sie bilden in Bezug auf diese eine Äquivalenzklasse, weil sie in mathematischen Kal-külen untereinander ersetzbar sind, ohne dass die Gültigkeit des Kalküls beeinträchtigt wird. Die „Zahläquivalenz“ der Ziffern bei verschiedenen Zahlsystemen wird nicht durch die ihre „Orthographie“ in Frage gestellt. Die Ziffern <1987>, <MXMLXXXVII> oder <‚αϠηζ> werden zwar nach unterschiedlichen Regeln gebildet und die Leistungsfähigkeit des „arabischen Stellungssystems“ gegenüber dem lateinischen und dem grie-chischen „Zahlensymbolaufreihungs-System“ ist in Bezug auf die über-sichtliche Darstellung großer Zahlen zweifellos viel größer. Dennoch re-präsentieren sie dieselbe Zahl, die nach den in allen Systemen gültigen Regeln der Addition aus z.B. den Zahlen 1432 und 555 gebildet werden kann.

78 Erst nach der Reflexion über ihre Nebenwirkungen, werden manche der

zunächst geeigneten Mittel aus ethischen, ökologischen, ökonomischen oder anderen relevanten Gründen als ungeeignet ausgewiesen.

Page 67: Max Stirner, der Philosoph

64

Begierden haben deshalb ohne Bezug auf ein Bedürfnis kein Gedächt-nis: sie erscheinen, werden neutralisiert, verschwinden und erscheinen wieder, als wären sie einmalig und neu. Dies wird am Beispiel von Tie-ren deutlich, die in eine Situation versetzt werden, in welcher ihre Be-gierden durch keinen angeborenen Mechanismus oder durch Umweltpa-rameter, wie z.B. Nahrungsmangel, kontrolliert werden: Sie verfallen ihnen bis zur physischen Erschöpfung bzw. bis zum Tod – sie werden süchtig, genauso übrigens wie Menschen, die die Kontrolle über ihre Begierden verloren haben. Der Widerfahrnischarakter von Begierden zeigt sich auch im Falle ihrer Nichtneutralisierung (Frustration). Entwe-der hören frustrierte Begierden nach einer Weile auf, wirksam zu sein, manchmal weil sie von einer anderen Begierde abgelöst oder überlagert werden, oder sie werden zufällig durch etwas Anderes als das ursprüng-lich Begehrte neutralisiert.

79

Ein weiteres Merkmal, das Bedürfnisse von Begierden unterscheidet, ist der Umstand, dass unter ihnen, mit seltenen Ausnahmen, „eine Ord-nung paarweise gegensätzlicher Entsprechungen herrscht“.

80 Das Be-

dürfnis nach Nahrung kommt z.B. mit dem Bedürfnis nach Abstand zwischen den Mahlzeiten einher, das Bedürfnis nach Tätigkeit mit dem Bedürfnis nach Ruhe usf. Diese paarweise Entsprechung beruht eben-falls auf dem normativen Charakter der Bedürfnisse. Bedürfnisse wer-den nicht wie Begierden neutralisiert, um bis zu ihrem nächsten Er-scheinen vergessen zu werden, sondern sie werden erfüllt bzw. – in Weils Terminologie – „gesättigt“.

81 Ihre Sättigung wird nicht nur durch

das Fehlen des Mangels charakterisiert, sondern auch durch den Wider-stand gegen die Übererfüllung. Bedürfnisse sind nach beiden Seiten hin definit. Das heißt, dass der Sättigungsprozess reflektiert wird, und dass ihre Artikulation im Gegensatz zur Artikulation von Begierden die Fest-legung von Erfüllungsbedingungen beinhaltet.

Begierden und Bedürfnisse werden sprachlich als Wünsche artiku-liert.

82 Wünsche, die auf die Sättigung von Bedürfnissen bezogen sind,

heißen gerechtfertigte Wünsche. Ungerechtfertigte Wünsche sind nicht 79

Begierden können eine Ordnung haben, in dem Sinne, dass eine Begierde eine andere überlagert, oder dass eine Person auf Grund ihrer Orientierun-gen und Bindungen ihren Begierden einen „Rang“ zuordnet – im diesem Fall spricht man von Präferenzen.

80 Einwurzelung, S. 25.

81 Einwurzelung, S. 25.

82 Aus dieser Ambiguität der Bedeutung von ‚Wunsch‘ resultieren teilweise

die Probleme individualistischer und utilitaristischer Moraltheorien.

Page 68: Max Stirner, der Philosoph

65

automatisch verboten, sondern können auch erlaubt sein, wenn sie mit der Bedürfnisstruktur der menschlichen Seele nicht in Konflikt geraten, z.B. der Wunsch ein schöneres Haus zu besitzen oder die Erstausgabe eines Buches zu erwerben. Ungerechtfertigte Wünsche sind aber nicht nur solche, die der Bedürfnisstruktur widersprechen, sondern auch sol-che, die die Realisierung eines Bedürfnisinhalts als Zweck für sich be-trachten. Simone Weil illustriert diesen Umstand am Beispiel eines Gei-zigen und eines Diktators. Der Geizige wünscht sich Geld. Er wünscht sich aber dieses Geld nicht, um damit seinen Lebensunterhalt zu bestrei-ten oder langfristig zu sichern, sondern, weil er das Geld liebt. Er be-trachtet es als Ziel seines Handelns und nicht als Mittel, um ein men-schenwürdiges Leben führen zu können. Weil er das Geld nicht auf sei-nen „natürlichen“ Zweck bezieht, besitzt er auch keine anderen Kriterien für seine „Güte“ als die bloße Quantität: Er will immer mehr davon, ob-wohl er es nicht gebrauchen kann.

83 Die Folge dieser Einstellung ist,

dass der Geizige nie genug Geld hat, sein Bedürfnis danach kann nicht gestillt werden, es verwandelt sich in eine Gier. Der Diktator seinerseits benutzt das „Bedürfnis nach Gehorsam“

84 nicht als Mittel zur Aufrecht-

erhaltung der sozialen Ordnung, sondern er will, dass der Gehorsam der Bürger nur ihm gilt. Er selbst unterwirft sich keinem weiteren Gehor-sam, weder gegenüber der Gemeinschaft noch gegenüber einem höheren Wesen.

85 Dies macht seinen Wunsch nach Entgegenbringung von Ge-

horsam seitens der Bürger genauso ungerechtfertigt wie den Wunsch des Geizigen nach Geld. Beide sind krank,

86 da sie der Empfindung und Ar-

tikulation ihrer Bedürfnisse unfähig sind: der Geizige des Bedürfnisses nach Geld und der Diktator des Bedürfnisses nach Gehorsam.

87

Trotz gewisser Ähnlichkeiten darf die Gier nicht mit der Sucht ver-wechselt werden: Letztere ist vom Bewusstsein des Bedürfnisses unab-hängig, während für die Gier das Bewusstsein des Bedürfnisses unab-dingbar ist. Der süchtige (der Begierde verfallene) Mensch handelt re-flexartig, isoliert, selbstbezogen und verhält sich gegenüber den Ande-ren und der Gemeinschaft indifferent. Insofern er zur Bedienung und

83

Einwurzelung, S. 25. 84

Gehorsam gehört nach S. Weil zu den Bedürfnissen der Seele. Seine Not-wendigkeit wird im nächsten Abschnitt erläutert.

85 Einwurzelung, S. 29.

86 Einwurzelung, S. 29.

87 Natürlich mangelt es dem Diktator an der Empfindung und Artikulation

auch anderer Bedürfnisse der Seele.

Page 69: Max Stirner, der Philosoph

66

Linderung seiner Sucht auf Andere Bezug nimmt, behandelt er sie als Mittel oder als zu beseitigende Hindernisse – bis hin zum Verbrechen. Das bloße Vorhandensein einer Sucht bedeutet natürlich nicht automa-tisch den Verlust der Fähigkeit und des Willens zum gemeinschaftlichen Leben – Sucht ist beherrschbar. Unkontrollierbare Sucht führt jedoch letztendlich zur vollständigen Isolation. Das gierige Individuum bedarf hingegen des gemeinschaftlichen Lebens und nimmt daran Teil, manchmal sogar unter Gefährdung seines eigenen Lebens. Seine Verfeh-lung besteht darin, dass es sein Handeln und das Handeln der Anderen seiner Gier unterordnet und sich und die Anderen dazu zwingt – ob durch Gewalt, Täuschung, Propaganda oder geschickte finanzielle Ma-chenschaften –, dieser Gier zu dienen. Dabei können sogar Begierden auf der Strecke bleiben – gierige Menschen leben oft asketisch. Sucht – als absolute Zerstörung jeglicher Gemeinschaftlichkeit – und Gier – als absolute Unterordnung einem zum „absoluten Zweck“ mutierten Mittel – markieren zwei extreme Abweichungen vom ausgeglichenen und wohlgeordneten Verhältnis zwischen Bedürfnis und Begierde.

Ordnung, Freiheit und Eigentum

Eine Analyse des gesamten Systems der Bedürfnisse der Seele kann in unserem Rahmen nicht geleistet werden. Wir werden deshalb im Fol-genden nur die zwei Bedürfnispaare Ordnung/Freiheit und Kollektiv-/Privateigentum näher untersuchen, da Freiheit und Eigentum einerseits für das Denken Stirners von zentraler Bedeutung sind und andererseits eine zumindest partielle Übereinstimmung in den Freiheits- und Eigen-tumskonzeptionen von Stirner und Weil besteht.

Ordnung und Freiheit

Gelingendes menschliches Leben hängt von der Befolgung einer Viel-zahl von Regeln und der Beachtung von mannigfaltigen Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft ab. Auf Grund dieser Mannigfaltigkeit kommt es vor, dass Regeln und zu beachtende Bezie-hungen verschiedener Teilbereiche des Lebens miteinander in Konflikt geraten und die daran teilnehmenden Individuen vor Verpflichtungen stellen, die gleichzeitig nicht erfüllbar sind. Ist das Gefüge von Regeln und Beziehungen so beschaffen, dass derartige Konflikte nicht auftreten, dann ist es geordnet. Der Terminus „Ordnung“ bezeichnet diese ideale

Page 70: Max Stirner, der Philosoph

67

Struktur menschlichen Lebens, die zu keinen Konflikten zwischen sei-nen verschiedenen Teilbereichen führt.

88 Jede Person ist zuallererst dazu

verpflichtet, Unordnung zu vermeiden, in dem Sinne, dass sie bestrebt sein sollte, Konflikte zwischen den Teilbereichen gemeinschaftlichen Lebens rechtzeitig zu erkennen und zu entschärfen.

Die Ordnung als Fehlen von Konflikten ist, wie übrigens alle Bedürf-nisse der Seele, eine allgemeine Eigenschaft gemeinschaftlichen Lebens. Das heißt, dass es keine universelle Methode zu ihrer Herstellung bzw. Durchsetzung gibt. Die besonderen Kriterien zur Beurteilung einer kon-kreten Situation als „ungeordnet“ sind nur lokal – zeitlich und räumlich beschränkt – gültig. Der Versuch, derartige Kriterien auf alle Teilberei-che menschlichen Lebens durchzusetzen, resultiert in eine Situation, die das Bedürfnis nach Freiheit unzureichend oder gar nicht erfüllt. Die Er-füllung der Pflicht nach Aufrechterhaltung der Ordnung lässt sich somit nicht durch den Erlass von strikten Gesetzen erreichen, die das individu-elle Handeln auf eine konkrete Form des gemeinschaftlichen Handelns bzw. eine spezifische Ausgestaltung des menschlichen Lebens be-schränken – die Aufrechterhaltung der Ordnung im Sinne Simone Weils hat nichts mit dem Ruf nach „law and order“ gemeinsam, auch wenn ihr Gesellschaftsentwurf dem positiven Recht eine konstitutive Funktion einräumt. Noch schlimmer ist der Versuch, „Ordnungskonflikte“ durch Leugnung von Verpflichtungen vermeiden zu wollen.

Der Zustand absoluter Ordnung ist ein idealer Zustand, der niemals erreicht, sondern höchstens angenähert werden kann. Dies bedeutet auch, dass tragische, unbeabsichtigt unauflösbare Konflikte zwischen sich widersprechenden Verpflichtungen möglich sind – Konflikte, die ein Individuum aufreiben können. Diese Tatsache ist jedoch weder ein Anlass zum Fatalismus noch zur Leugnung von „untergeordneten“ Ver-pflichtungen im Namen der Aufrechterhaltung oder gar der Maximie-rung der „allgemeinen Ordnung“, noch zur Einrichtung einer „Diktatur“ des Rechts bzw. der Traditionen oder der religiösen Gebote. Ein Blick aber auf das Weltall, das – trotz der Myriaden von voneinander unab-hängigen und sich gegenseitig nicht direkt beeinflussenden Himmels-körper – eine erstaunliche harmonische Stabilität aufweist, veranschau-licht die Art und Weise, in der die Ordnung sich zeigt. Wenn man ver-sucht, alle Ereignisse und Phänomene auf ein einziges „ordnungsstiften-des“ Prinzip zurück zu führen, erhält man zwar eine funktionierende Wissenschaft, die Schönheit des Weltalls verblasst aber. Die fragile, in

88

Einwurzelung, S. 22.

Page 71: Max Stirner, der Philosoph

68

Theorien nicht fassbare, nur „zu erschauende“ Schönheit des Weltalls erinnert uns an die unerreichbare Idealität der absoluten formalen Ord-nung, an der sich unser individuelles und gemeinschaftliches Handelns orientiert. Die damit verbundene Möglichkeit des Scheiterns, des Ver-lustes der Orientierung, ist aber nichts Negatives, sie liefert uns vielmehr ein Maß für die Entfernung vom Ideal.

Ein Punkt, der in Simone Weils Text nicht angesprochen wird, ist das Verhältnis zwischen dem Bedürfnis und der Begierde nach Ordnung. Wie kann sich eine derartige Begierde manifestieren? Ist es möglich, dass sie die Gestalt einer Sucht bekommt? Und was bedeutet es, als Per-son „ordnungssüchtig“ zu sein bzw. in einer „ordnungssüchtigen“ Ge-meinschaft zu leben? Wir erinnern uns daran, dass das Bedürfnis nach Ordnung nicht auf eine starre Ding- oder Rangordnung bezogen ist, son-dern auf eine komplexe und „multidimensionale“ Ordnung von Ver-pflichtungen und Regeln. Insofern ist es nicht leicht, Situationen oder Sachverhalte zu identifizieren, die als Manifestationen einer Begierde nach Ordnung beschrieben werden könnten. Fast jeder Mensch ist je-doch bestrebt, in seinem Lebensumkreis Konflikte zu vermeiden bzw. versucht, diese zu lösen. Wenn man eine konkrete Konfliktsituation als Symptom eines Konfliktes im Gefüge der Ordnung der Verpflichtungen und Regeln im Weilschen Sinne interpretiert, dann erscheint die jeder Person und jeder Gemeinschaft innewohnende Tendenz, Konfliktsituati-onen nicht eskalieren zu lassen, sondern so schnell und so friedlich wie möglich zu entschärfen bzw. zu lösen, als Manifestation dieser Begier-de. Damit soll natürlich nicht behauptet werden, Menschen seien von „Natur“ aus friedlich, noch kann diese lebensweltliche Erfahrung durch den Umstand falsifiziert werden, dass es streitbare und konfliktsuchende Menschen und Gemeinschaften gibt. Aber wenigstens unter normalen Umständen und bei normalen Lebensverhältnissen gehört die Perpetuie-rung von Konfliktsituationen nicht zu den üblichen Zielsetzungen indi-viduellen und gemeinschaftlichen Handelns. Diese „Ordnungsliebe“ steht allerdings unter der „Aufsicht“ des Bedürfnisses nach Ordnung, so dass die Hinnahme von Unordnungssituationen vor diesem Hintergrund manchmal als ratsam oder gar geboten erscheint.

Problematisch wird die Begierde nach Ordnung, wenn sie jeder refle-xiven Rückgebundenheit an das Ordnungsbedürfnis entledigt wird, und sich als „Sucht nach Ordnung“, als „Anpassung“ an das Verhalten der Mehrheit manifestiert. Das Auftreten dieser Anpassung ist eine Form der Feigheit. In diesem Sinne feige Menschen scheuen Konflikte in ei-nem Maße, dass sie sich jeder vermeintlichen oder tatsächlichen Ord-

Page 72: Max Stirner, der Philosoph

69

nung unterwerfen, ohne zu fragen, ob oder in welchem Verhältnis sie zum Bedürfnis nach Ordnung steht. Ihre Subordination hat somit nichts mit einer Pflichterfüllung zu tun, sie ist eine bloße Verhaltensreaktion auf die Strukturen der Umgebung. Da die süchtige Person sich aus der Gemeinschaft ausschließt, bildet eine Horde bloß „anpasserischer“ Indi-viduen keine Gemeinschaft, auch wenn durch die gegenseitige Abrich-tung und die instinktive Unterordnung unter einen wie auch immer zu-stande gekommenen Gruppenzwang bei einem Beobachter der Eindruck eines gemeinschaftlichen Handelns entstehen möchte. Somit wird es deutlich, dass solche auf bloßer Ordnungsbegierde beruhenden Grup-peninteraktionen nicht als Modell des Gemeinschaftlichen tauglich sind.

89

Der zweite Fall eines „defekten“ Bestrebens nach Ordnung besteht im Missverstehen der Ordnung als „absoluten Zweck“. Im Gegensatz zu den ordnungssüchtigen Individuen bleiben ordnungsgierige Individuen im Rahmen gemeinschaftlicher Handlungsverhältnisse. Sie streben aber nicht eine bloß formale Ordnung der Verpflichtungen und Regeln an, sondern identifizieren sie mit einer bestimmten Struktur. In den Augen des Ordnungsgierigen gibt es nur eine einzige Ordnung. Abweichende Strukturen werden verworfen bzw. bekämpft. Da Gier begrifflich vom Bedürfnis abhängt und Bedürfnisse sich erst im gemeinschaftlichen Rahmen artikulieren lassen, kann das Attribut „gierig“ nicht nur Indivi-duen, sondern auch Gemeinschaften zugeschrieben werden. Ordnungs-gierige Gemeinschaften begehen denselben Fehler wie ordnungsgierige Individuen, indem sie ihre Ordnung als die einzig gültigen betrachten und gegenüber abweichenden Meinungen nach innen und alternativen Ordnungen nach außen durchzusetzen versuchen. Ordnungsgier auf ge-meinschaftlicher Ebene manifestiert sich in Formen des Totalitarismus, auf individueller Ebene hingegen als Fanatismus (beide Manifestationen nennt man auch fundamentalistisch).

Beide Abweichungen vom richtigen Verständnis von Ordnung gehen mit der Nichterfüllung des Bedürfnisses nach Freiheit einher. Darunter versteht Simone Weil nicht die regellose Willkürlichkeit, sondern die

89

So kann das Verhalten so genannter „staatenbildender Insekten“ oder in strukturierten Horden lebender Primaten als Interaktionsresultat „ord-nungssüchtiger“ Individuen rekonstruiert und modelliert werden (z.B. Mil-likan 1984). Jede Übertragung auf gemeinschaftliche Verhältnisse, wie sie etwa Eike v. Savigny (1980) in seiner Rekonstruktion der „Signalsprache der Autofahrer“ unternommen hat, muss jedoch an der kategorial-hierarchischen Differenz zwischen Begierde und Bedürfnis scheitern.

Page 73: Max Stirner, der Philosoph

70

uneingeschränkte Möglichkeit, eine Wahl aus einer Anzahl von Alterna-tivoptionen zu treffen.

90 Ordnungssüchtige können ihr Bedürfnis nach

Freiheit nicht erfüllen, weil sie es gar nicht verspüren – weil sie ihr Tun nicht reflektieren und somit keine Handlungsoptionen wahrnehmen können. Ordnungsgierige hingegen verzichten freiwillig auf Möglichkei-ten der Lebensgestaltung, da sie eine einzige Struktur als die „wahre“ Ordnung betrachten.

Das Streben nach formaler Ordnung als Erfüllung einer Pflicht er-möglicht und erfordert ein gewisses Maß an individueller Freiheit. Ord-nung und Freiheit bedingen sich gegenseitig: Damit einerseits Freiheit als solche erfahren und „realisiert“ werden kann, bedarf es des wohlge-ordneten Gerüstes anerkannter Regeln und Verpflichtungen, die die Grenzen gemeinschaftlichen und individuellen Handelns abstecken. Ordnung andererseits bedarf zu ihrer Herstellung und Aufrechterhaltung der freien Entscheidungen der Mitglieder der Gemeinschaft sowohl in Bezug auf den einzuschlagenden Weg als auch auf die Rolle, die jedes Individuum dabei zu übernehmen bereit ist. Nur diese wechselseitige Bedingtheit verleiht der Freiheit den Status eines individuellen Rechtes. Die Anerkennung der durch die Ordnung gesetzten Grenzen und die Er-füllung der Pflicht zu ihrer Aufrechterhaltung bedeutet keine Einschrän-kung der Freiheit. Durch die Ordnung gesetzte Grenzen sind kein Hin-dernis, sondern erfüllen die Funktion eines schützenden Geländers, ge-nauso wie die Beachtung von Ernährungsregeln und das Vermeiden schädlicher Nahrung nicht als Einschränkung der Phantasie und der Freiheit der Kochkunst und des kulinarischen Genusses empfunden werden, sondern als ein wichtiges Orientierungs- und Hilfsmittel dersel-ben.

91 Durch die Ordnung festgesetzte Grenzen sind notwendig. Ihre

Aufhebung würde das Ordnungsgefüge beschädigen, ihre engere Zie-hung die Freiheit willkürlich beschränken. Die Freiheit manifestiert sich als Einsicht in diese Art der Notwendigkeit der durch die Ordnung ge-setzten Grenzen. Andererseits führt die Verkennung bzw. Verleugnung der Bedeutung der Freiheit für die Herstellung und Aufrechterhaltung der Ordnung zu ihrer Degradierung zu einem kontingenten Privileg, welches entweder nur die Mächtigen genießen dürfen, oder Rebellen mit

90

Einwurzelung, S. 26. 91

Einwurzelung, S. 27.

Page 74: Max Stirner, der Philosoph

71

einem Willensakt für sich in Anspruch nehmen müssen, oder dem Un-angepassten zufällig widerfährt.

92

Die Balance zwischen Ordnung und Freiheit kann auf vielfältige Weise gestört werden. Da sind einmal die freiheitssüchtigen Menschen. Simo-ne Weil nennt sie „[d]iejenigen, denen es an gutem Willen fehlt oder die kindisch bleiben“.

93 Freiheitssüchtige können oder wollen nicht begrei-

fen, dass ihre Wahlmöglichkeiten sich innerhalb des durch die Ordnung gesetzten Rahmens entfalten. Sie verwechseln Freiheit mit Willkür. Freiheitssüchtige sind „in gleichviel welcher Verfassung der menschli-chen Gesellschaft niemals frei“,

94 da sie die durch die Ordnung gesetz-

ten Grenzen als ein äußeres Hindernis auffassen. Typische Fälle von freiheitssüchtigen Menschen sind der Egozentriker und der Egomane. Beide verkennten und überschreiten diese Grenzen und behandeln die Anderen entweder als Werkzeuge oder als Störfaktoren. Der Unter-schied zwischen ihnen besteht hauptsächlich darin, dass der Egozentri-ker sich vom Widerstand der Anderen nicht beirren und von seinen Plä-nen ablenken lässt, während der Egomane möchte, dass die Anderen seine Handlungen vorbehaltlos akzeptieren. Im Gegensatz zu den frei-heitssüchtigen Egozentrikern und Egomanen sind die Egoisten ein typi-scher Fall freiheitsgieriger Menschen. Egoisten handeln nicht asozial, da sie ihre Eingebundenheit in gemeinschaftliche Handlungs- und Interak-tionszusammenhänge anerkennen. Was sie nicht akzeptieren, ist das me-thodische Primat der allgemeinen Ziele und die Notwendigkeit, das ei-gene Handeln daran zu orientieren. Egoisten sind der Meinung, dass die allgemeinen Ziele und die damit verbundene Ordnung das Resultat der konsequenten Verfolgung der individuellen Ziele sind. Deshalb verlan-gen sie von den Anderen, ebenfalls ihre individuellen Ziele konsequent zu verfolgen. Radikale philosophische Vertreter des Egoismus wie Max Stirner erklären die Ordnung zur Repressionsinstanz schlechthin und propagieren die vollständige Loslösung von Ordnungsstrukturen, die über die übersichtliche, vom einzelnen Menschen beherrschbare, kon-trollierbare und jederzeit aufkündbare Kooperation zur Bewältigung all-

92

Loci classici für die moderne literarische Bearbeitung des Themas „Frei-heit in einer ordnungsgierigen Gesellschaft“, sind die Romane A. Huxleys „Brave New World“, G. Orwells „1984“, J. Samjatins „Wir“ u. W. Jens’ „Nein. Die Welt der Angeklagten“.

93 Einwurzelung, S. 27.

94 Einwurzelung, S. 27.

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täglicher Probleme und zur Befriedigung von basalen Bedürfnissen hin-ausgehen – wie etwa die Befolgung moralischer oder religiöser Gebote, die Hinnahme von gesellschaftlichen Macht- und Einkommensvertei-lungsstrukturen, die Zurückstellung der Verfolgung der eigenen Ziele in der Hoffnung auf eine jenseitige Belohnung usw. Die Haltung Stirners kann allerdings auch als Protest und Warnung gegen eine Überhand nehmende Ordnungsgier verstanden werden, und auch als der Versuch, die begrifflichen (und nicht die materialen) Grenzen der individuellen Freiheit auszuloten. Der „Einzige“ ist tugendhaft aus „innerem Antrieb“, seine Lebensweise realisiert die Tugendhaftigkeit, weil diese in seine Natur „eingeschrieben“ ist. Man könnte dieses „telosfreie“ Leben mit der modernen teleologiefreien physikalischen Beschreibung der Flug-bahn eines Pfeils vergleichen: Ihr Verlauf und ihr Endpunkt werden von ihrer Bewegungsfunktion eindeutig bestimmt, so dass die Bestimmung der Flugbahn nicht der expliziten Nennung des Endpunktes bedarf und der Endpunkt aus der Bewegungsfunktion abgeleitet werden kann. Das Verhältnis zwischen Flugbahn und Bewegungsfunktion ist allerdings kein effektivkausales, da die Flugbahn die Realisierung der Möglichkeit darstellt, die in der Bewegungsfunktion steckt. In Analogie dazu, ist der Gestaltungsradius des Stirnerschen „Einzigen“ allein von seiner „Macht“ abhängig – von seinem individuellen Vermögen und von seiner Bereitschaft seine Ziele zu setzen und zu realisieren, nicht aber von die-sen Zielen selbst. Die Balance zwischen Ordnung und Freiheit kann aber auch dadurch gestört werden, dass die Ordnung derart geschwächt wird, dass der Zu-sammenhang zwischen individueller Entfaltung und gemeinschaftlichem Leben nicht deutlich wird. In diesem Falle besteht die Gefahr, dass die Möglichkeiten der Wahl dem gemeinschaftlichen Nutzen schaden.

95

Diese Situation führt entweder zur Verantwortungslosigkeit (i.S. der Rechenschaftspflicht) – weil man ja die Folgen des eigenen Handelns nicht mehr abschätzen kann –, oder zur Drückebergerei, weil man sich vor den nicht abschätzbaren Folgen fürchtet. Diese „inflationäre“ Erwei-terung des Bereiches der Freiheit führt – wie bei jeder Inflation – zu ih-rer Entwertung, die laut Simone Weil bis zur Etablierung der Ansicht reichen kann, dass die Freiheit überhaupt kein Gut sei. Im gesellschaftli-chen Leben manifestieren sich solche Störungsfälle als soziale Anarchie. Das wesentliche Merkmal dieses Zustands ist, dass Interessegruppen und Individuen, die ihnen zustehende Freiheit nicht mehr dazu benutzen,

95

Einwurzelung, S. 27.

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ihre Ziele zu erreichen, sondern dazu, die Erreichung von gemeinschaft-lichen Zielen und von Zielen anderer Gruppierungen und Individuen zu verhindern. Die Etablierung einer ordnungsgierigen Gesellschaft ist die krankhafte Reaktion auf diese Gleichgewichtsstörung.

Kollektiv- und Privateigentum

Wie Stirner versteht Simone Weil das Eigentum nicht als ein primär rechtliches, d.h. als konventionelles und somit rein gesellschaftliches, Verhältnis zwischen Personen, das auf Dinge oder Institutionen bezogen ist, sondern als Ausdruck des Vollzugs der eigenen tätigen Existenz:

„Die Seele fühlt sich vereinzelt, verloren, wenn sie sich nicht von Dingen um-geben sieht, die für sie gleichsam eine Verlängerung der Körperglieder sind. Jeder Mensch hat das unwiderstehliche Verlangen, sich in Gedanken alles an-zueignen, was es für seine Arbeit, sein Vergnügen oder zur Stillung seiner Lebensnotdurft in einen langen und fortgesetzten Gebrauch genommen hat. So hat ein Gärtner nach einiger Zeit das Gefühl, daß der Garten ihm gehört.“96

Der angeeignete Gegenstand wird in die Sphäre der eigenen Wirkmäch-tigkeit und des eigenen Lebens aufgenommen und wird derart in diese Sphäre integriert, dass ein gewaltsames Herausreißen aus dieser Sphäre einen Akt der Verletzung der Person selbst darstellt. Die Verrechtli-chung des Eigentums, d.h. der explizite und durch die Staatgewalt er-wirkte Beschluss, das Eigentum aller Personen unter Einhaltung be-stimmter Bedingungen vor dem Zugriff anderer Personen zu schützen und einen regelwidrigen Zugriff auf das Eigentum einer Person zum strafwürdigen Delikt zu erklären, definiert laut Weil nicht das Eigentum, sondern hat nur die Funktion, der menschlichen Seele die Angst vor ei-ner willkürlichen Enteignung durch jemand Stärkeren zu nehmen.

„[W]o dieses Gefühl der Aneignung nicht mit dem rechtlichen Eigentum zu-sammenfällt, [...] [ist] der Mensch beständig bedroht, daß ihm etwas auf das schmerzlichste entrissen werde.“97

Das heißt, dass das rechtlich fixierte Eigentum eine notwendige Konse-quenz des natürlichen, auf dem Seelenbedürfnis nach Eigentum beru-henden, Eigentums ist. 96

Einwurzelung, S. 59. 97

Weil Einwurzelung , S. 59.

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Die Weilsche Konzeption des Eigentums ist zweidimensional: Man entwickelt nicht nur ein Eigentumsgefühl gegenüber Dingen, die aus-schließlich in der Wirkmächtigkeitssphäre der eigenen Person integriert sind – das sogenannte Privateigentum98 – , sondern auch zu Dingen und Institutionen, die Resultat gemeinschaftlichen Handelns sind und durch ihr Bestehen, eben diesen Vollzug des gemeinschaftlichen Handelns und Lebens ermöglichen. Simone Weil versteht darunter nicht nur Straßen und Allmenden, sondern auch öffentliche Plätze, Gebäude und Kunst-werke im öffentlichen Raum – diese konstituieren die Dimension des Kollektiveigentums. Genauso wie das Privat- besteht das Kollektiveigen-tum schon vor seiner Ausgestaltung durch das staatlich sanktionierte positive Recht. Wie im Falle des Privateigentums dient das positive Recht nur dazu, das Kollektiveigentum vor absichtlicher oder unabsicht-licher Auflösung zu schützen.

Bei der rechtlichen Fixierung sowohl des Privat- als auch des Kol-lektiveigentums kann es durchaus passieren, dass das Recht Eigentums-verhältnisse erzeugt, die dem Seelenbedürfnis nach Eigentum in ver-schiedenen Graden fremd sind. Am extremsten ist dieser Zustand der Entfremdung wenn der rechtliche Eigentümer und derjenige, der das Eigentum tatsächlich im Vollzug seines Lebens integriert hat, aus-schließlich durch rechtliche Beziehungen miteinander verbunden sind – Stirner würde sagen, das sie ausschließlich eine gesellschaftliche Bezie-hung pflegen. Das ist z.B. die Beziehung zwischen einem Großgrundbe-sitzer, der ein Leben in der Stadt führt, und den Pächtern seiner Besitz-tümer. Die Pächter bebauen das Land, sie gehen mit ihm um, als sei es ihr „natürliches“ Eigentum, aber dieser Umgang sättigt nicht das See-lenbedürfnis der Pächter nach Eigentum. Eine ähnliche Situation, dies-mal der Nichtsättigung des Seelenbedürfnisses nach Kollektiveigentum, kann auch im Falle des Kollektiveigentums auftreten, wenn etwa die Bürger einer Stadt feststellen, dass eine Institution, welche sie als Kol-lektiveigentum betrachten, z.B. die Wasserwerke, im Zuge einer Privati-sierungskampagne den rechtlichen Eigentümer wechselt.

Von Sucht nach Eigentum sollte man dann sprechen, wenn eine Per-son jede Sache, die sie irgendwie gebraucht, als ihr natürliches Privatei-

98

Weil Einwurzelung, S. 59. Der Terminus „Privateigentum“ gehört eigent-lich in die Sphäre des staatlich sanktionierten positiven Rechts. Die Form des „vorpositiven“, natürlichen Eigentums, die S. Weil und M. Stirner be-handeln, sollte daher „Individual-„ oder „Personaleigentum“ genannt wer-den. Wir bleiben trotzdem aus Gründen der Übersichtlichkeit bei der überkommenen Terminologie.

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gentum betrachtet. Das Beharren auf dem rechtlich fixierten Eigentum an einer Sache ohne jeden Bezug zum seelenbedürfnis-bezogenen Ei-gentum daran stellt hingegen einen Fall von Gier dar. Eine Vielzahl von ökonomischen und sozialen Problemen unserer modernen Welt geht auf diese absolute Loslösung des rechtlich fixierten vom natürlichen Eigen-tum zurück, und zwar sowohl in Bezug auf das Privat- als auch auf das Kollektiveigentum. Dabei scheint es so zu sein, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise zwar nicht ihrer Natur nach gierig nach Eigentum ist, diese Gier aber fördert, weil sie sämtliche wirtschaftlichen Transaktio-nen ausschließlich vom Standpunkt des positiven Rechts aus betrach-tet,99 und somit auch das Eigentum ausschließlich als Rechtssache be-handelt.

Süchtig nach Freiheit und Eigentum – Der Stirnersche Egoist

Vor dem Hintergrund des Weilschen Systems der Bedürfnisse der Seele erscheint Stirners Egoist als ein Süchtiger nach Freiheit und Eigen-tum.

100 Dass Stirner ein Süchtiger – im Weilschen Sinne – nach Freiheit

ist, ist weder paradox noch falsch, und dies trotz der Tatsache, dass er sich im „Einzigen“ durchaus als Gegner der „Freiheit“ erweist, die er, genauso wie alle positiven Werte, alle Ideale und alle Tugenden, für eine fixe Idee hält. Das ist so, weil alle Stirnerschen fixen Ideen zur Katego-rie der abstrakten Begriffe gehören, zur jenen Kategorie von Begriffen, deren Referenz kein realer Gegenstand, sondern ein rein konzeptueller Gegenstand ist. Eine fixe Idee verabsolutiert einen durchaus sinnvollen konkreten Lebensaspekt oder ein konkretes Ziel und verwandelt es in

99

Das positive Recht akzeptiert zwar manche Arten naturrechtlicher Trans-aktionsvorgänge als in seinem Sinne rechtsgültig, wie etwa die Schließung eines mündlichen Vertrags, oder eines Vertrags per Handschlag, oder die Anerkennung des sogenannten „konkludenten Handelns“, es ist aber nicht so, dass jeder überkommene Transaktionsvorgang die Akzeptanz des Ge-setzes findet. Das positive Recht nimmt für sich einen Geltungsprimat in Anspruch, der sowohl von Simone Weil als auch von Max Stirner nicht Anerkannt wird. Während jedoch Weil dem positiven Recht einen stabili-sierenden und friedenserhaltenden Charakter zuschreibt, lehnt Stirner be-kanntlich jeden Ausdruck des positiven Rechts als „fixe Idee“ ab.

100 Stirner selbst ist – wie jeder Philosoph – ein „gieriger“ nach Wahrheit und

Meinungsfreiheit, was sein Projekt der Niederschrift und der Veröffentli-chung des „Einzigen“ erklärt und rechtfertigt.

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eine „unbedingte Norm“ oder in ein „unbedingtes Ziel“, dem sich jedes Denken und Handeln zu unterwerfen hat. Eine fixe Idee beschreibt in Weilschen Termini eine Gier. Stirners Ablehnung der fixen Ideen ent-spricht somit der Weilschen Ablehnung von Bedürfnissen, die zu Gier mutiert sind.

Was allerdings Stirner, bedingt durch seinen kompromisslosen No-minalismus, übersieht, ist der zweite Modus der Verfehlung der Bedürf-nisse, nämlich die Sucht. Stirner betrachtet nämlich ein Bedürfnis ent-weder als konkrete Manifestation einer Begierde, oder als ihre reflektier-te Abstraktion – als fixe Idee. Weil aber Stirner die Existenz eines nor-mativen oder formalkausalen Rahmens ablehnt, der die Erfüllung einer konkreten Begierde bestimmt, fällt bei ihm die Erfüllung einer Begierde qua Sättigung eines Bedürfnisses mit ihrer reflexartigen Bedienung im Modus der Sucht zusammen.

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[Oikonomikos]

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Register

Anarchie 3, 6, 7, 9, 10, 13, 57 Anti-Koerzionismus 1, 3, 7, 13

Bedürfnisse 47, 48, 50, 51, 52,

53, 55, 60 Bürger 2, 3, 6, 11, 12, 35, 44,

51, 59

Cartesische Reduktion 15

Definition – extensionale 32 – intensionale 30, 33, 34 Differenz, spezifische 33, 34, 39

Egoist 10, 11, 12, 60 Eigentum V, 2, 8, 15, 22, 24, 28,

29, 45, 46, 52, 58, 59, 60, 62

Eigner 14, 15, 22, 23, 24, 25, 26, 27

Fanatismus 14, 19, 55 fixe Idee V, 14, 28, 35, 38, 39,

60

Freiheit 2, 20, 21, 22, 34, 35, 37, 40, 45, 46, 48, 49, 52, 53, 55, 56, 57, 60

Gefängnis 41, 42, 43 Gesellschaft V, 7, 8, 9, 26, 28,

29, 35, 40, 41,42, 43, 44, 45, 56, 58, 62

Gewalt – negative 1, 8, 22 – positive 1, 2, 3, 6, 7, 8 Gier 47, 49, 51, 55, 59, 60 Gott 9, 14, 16, 18, 19, 20, 21,

23, 27 haecceitas 39

Koerzionismus 1, 2, 7, 11, 12,

13 Kollektiveigentum 48, 49, 59 Kommunismus 10 Kooperation V, 35, 36, 42, 57 Listendefinition 30 Mauer 2, 43, 44, 61

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morale par provision 24, 26 Ordnung 48, 49, 50, 51, 52, 53,

54, 55, 56, 57

Pflichten 3, 8, 48, 62 Privateigentum 12, 48, 49, 52,

58, 59

quidditas 39

Rechte 2, 11, 48

Saal 28, 41, 42 Seele 5, 13, 36, 44, 47, 48, 49,

51, 52, 53, 58, 60, 61

Sophisten 17 Sparren V, 10, 14, 35, 43 Staat 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 10,

11, 12, 20, 26, 35, 61 Sucht 49, 51, 54, 59, 60

Totalitarismus 55

Unterwerfung V, 3, 6, 8, 14, 23,

35, 38, 42

Verein V, 7, 8, 9, 25, 41, 42, 43, 44

Verkehr V, 24, 28, 41, 42, 44, 45, 46

Wille 13, 19, 21, 22, 23, 31