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69 BERNHARD C. SCHäR EVOLUTION, GESCHLECHT UND RASSE Darwins Origin of Species in Clémence Royers Übersetzung
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Evolution, Geschlecht und Rasse. Darwins 'Origin of Species' in Clémence Royers Übersetzung (2015)

Apr 21, 2023

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Bernhard Schär
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Der Ausgangspunkt jeglicher Politik muss lauten: «Die Menschen sind von Natur aus ungleich.»1 So formulierte es Clémence Royer 1862 im Vorwort ihrer Übersetzung von Charles Darwins Werk «On the Origin of Species» (Deutsch: Über die Entstehung der Arten). In diesem epochenmachenden Buch präsentierte der Engländer 1859 erstmals seine Theorie über die Geschichte der Natur. Nicht Gott würde Tiere und Pflanzen erschaffen, sondern die «natürliche Selektion». Im Wettbewerb um beschränkte natür-liche Ressourcen überlebten jene Arten, die am besten an die Umwelt angepasst seien. Dadurch würden sich die Arten bestän-dig weiterentwickeln und verändern.2

Die französische Philosophin Clémence Royer (1830–1902) übersetzte Darwins Werk in der Stadtbibliothek Lausanne ins Französische. Sie fügte dem Buch nicht nur zahlreiche Kom-mentare in Fussnoten, sondern auch ein 60-seitiges Vorwort bei. Dieses sorgte in der französischsprachigen Welt für ähnlich viel Wirbel wie Darwins Theorie selbst. Der Grund hierfür war, dass Royer «mehr noch als Herr Darwin», wie sie in ihrem Vorwort erklärte, «viele Hypothesen»3 wagte:

«[D]as Gesetz der natürlichen Selektion zeigt, auf den Men-schen angewendet, in überraschender und zugleich schmerzhafter Weise, wie falsch unsere bisherigen politischen und gesellschaftli-chen Gesetze wie auch unsere religiöse Moral gewesen sind.»4

Die Moral «unserer christlichen Ära» zeichne sich durch eine «Übertreibung dieses Mitleids, dieser Wohltätigkeit, dieser Brüderlichkeit» gegenüber Schwachen, Kranken und Armen aus. Diese würden «schwer auf den Schultern der Gesunden lasten» und «drei Mal mehr Platz an der Sonne beanspruchen als gesun-de Individuen!»5

«Was folgt aus diesem exklusiven und unklugen Schutz für die Schwachen, die Kranken, die Unheilbaren, selbst für die Bösartigen, für alle, die gegenüber der Natur in Ungnade gefal-len sind? Nichts anderes, als dass das Übel, unter dem sie leiden, dazu tendiert, bis in alle Ewigkeit fortzubestehen und sich zu vervielfältigen; dass dieses Übel sich vergrössert anstatt sich ver-kleinert; und dass es sich auf Kosten des Guten vermehrt.»6

Jahre bevor der Begriff Eugenik erfunden wurde,7 war Royer 1862 eine der ersten Intellektuellen, die solche Schlussfolgerungen aus Darwins Theorie ausformulierte. Obschon sie dies nicht expli-zit schrieb, legten ihre Äusserungen nahe, dass es im «Kampf ums Dasein» besser sein könnte, Schwache, Kranke und Pflegebedürf-tige sterben zu lassen oder ihre Fortpflanzung zu verhindern.

Mit dieser Haltung verkörperte Royer einerseits wesentliche Merkmale des zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Den kens.

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Abb. 1: Die Bibliothek in Lau sanne um 1900.

Abb. 2: Das Titelblatt von Clémence Royers erster Darwin- Übersetzung. Für die zweite französi-sche Auflage von 1866 entfernte Royer auf Ge-heiss Darwins den Begriff «Fortschritt» im Untertitel. Für die dritte Auflage von 1869 entzog ihr Darwin seine Auto risation.

In einer Zeit, als Frauen in Europa nicht nur von politischen Äm-tern, sondern auch von Universitäten ausgeschlossen waren, war Royer aber andererseits eine Ausnahmeerscheinung. Sie war eine der wenigen Frauen in der französischsprachigen Welt, die sich auf Augenhöhe mit den grössten Theoretikern ihrer Zeit intellek-tuell duellierten. Sie vertrat in diesen Debatten einen pointiert feministischen Standpunkt.8 Dieser unterschied sich nicht nur von den vielfältigen Theorien ihrer Zeitgenossinnen (und erst recht von den Theorien all ihrer männlichen Zeitgenossen), son-dern auch von den feministischen Theorien ihrer Nachfolgerin-nen. Während etwa Royers Landsfrau Simone de Beauvoir fast ein Jahrhundert später proklamierte, dass man nicht als Frau geboren, sondern durch die Gesellschaft zu einer solchen ge-macht werde,9 hielt Royer an der Auffassung fest, dass Menschen entweder als Männer oder als Frauen geboren würden und von Natur aus ungleich seien. Das Originelle an Royers Argument war jedoch, dass gerade diese natürliche Ungleichheit der Grund sei, weshalb Frauen (zumindest solche der «weissen Rasse», wie wir sehen werden) dieselben Rechte und Chancen wie Männer erhalten sollten. Royer entwickelte diese Sichtweise in einer fe-ministischen Evolutionstheorie. Von ihren männlichen Zeitge-nossen wurde diese allerdings weitgehend ignoriert, weshalb Ro-yer nach ihrem Tod schnell in Vergessenheit geriet.10 Im 20. Jahrhundert flackerte die Erinnerung an sie zunächst perio-disch in feministischen Zeitschriften wieder auf.11 Als sich ab den 1980er-Jahren die Frauen- und Geschlechtergeschichte eta-blierte, erschienen zwei wissenschaftliche Biografien – eine von der französischen Philosophin Geneviève Fraisse und eine von der amerikanischen Wissenschaftshistorikerin Joy Harvey.12

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Das Hauptanliegen dieser Biografinnen war es, Royers Beiträge zur feministischen Theoriebildung und zur Biologie zu rekons-truieren und zu würdigen. Hier soll ein anderer Aspekt von Roy-ers Denken ins Zentrum gerückt werden, der in der bishe rigen Literatur zwar nicht ignoriert, jedoch nur am Rand behandelt wurde: der Rassismus. Dieser war sowohl für ihren Femi nismus als auch für die von ihr mitgeprägte Darwin-Rezep tion elemen-tar.13 Zugleich lassen sich Einblicke in die Rolle der Schweiz als Drehscheibe zwischen den französischen, deutschen und engli-schen Wissenschaftsgemeinschaften gewinnen. Zentrale und bis heute einflussreiche Theorien des 19. Jahrhunderts wurden über die Schweiz ausgetauscht. Es handelt sich um Theorien der Evo-lution, der Rassen und der Geschlechter.

weshalB royer?Royers Weg zur Darwin-Übersetzerin war alles andere als gerad-linig.14 Sie kam 1830 in Nantes zur Welt. Ihr Vater war Offizier und unterstützte die französische Monarchie. Royers Mutter stammte ebenfalls aus einer Offiziersfamilie. 1832 flohen die Ro-yers in die Schweiz, da der Vater für seine Unterstützung der antirevolutionären Kräfte zum Tod verurteilt worden war. Die Familie liess sich für drei Jahre am Genfersee nieder. 1835 kehrte sie nach Paris zurück. Der Vater wurde vor Gericht begnadigt. Später zog die Familie in die Provinz, wo die junge Clémence ein katholisches Internat besuchte. Die Erfahrung scheint trauma-tisch gewesen zu sein. Royer bezeichnete sie später als intellektu-elle «Vergewaltigung», was ihre späteren scharfen antireligiösen Attacken erklärt.15 Die Emanzipation von der katholischen In-doktrination erfolgte schrittweise. Während der 1848er-Revoluti-on lebte Royer wieder in Paris, was ihren Wandel zur Republika-nerin eingeleitet habe. Sie machte eine Ausbildung zur Lehrerin. Zwischen 1853 und 1855 unterrichtete sie in Grossbritannien Französisch und Musik. Zugleich lernte sie Englisch, was ihr später als Darwin-Übersetzerin zugute kommen sollte. Kaum nach Paris zurückgekehrt, erlebte Royer jedoch, wie die neue, konservative französische Regierung Gesetze gegen die Mäd-chen- und Lehrerinnenbildung erliess. Royer sah ihre Berufsaus-sichten schwinden. «Wie eine zweite Jeanne d’Arc, […] jedoch nur mit einer Schreibfeder bewaffnet, verliess ich Frankreich, der katholischen Kirche den Krieg erklärend», schrieb sie Jahre spä-ter im Rückblick auf ihr Leben.16 Sie liess sich ab Sommer 1856 zunächst im protestantischen Lausanne nieder, zog wenig später jedoch in das etwa zehn Kilometer weiter östlich gelegene Dorf Cully.

In einem kleinen Bauernhaus mietete sie ein acht Quadrat-meter grosses Zimmer. In dieser Kammer, hoch über dem Gen-fersee gelegen, begann schliesslich «die heroische Phase meines

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Abb. 3: Cully heute: In die-sem Bauernhaus lebte Royer zwischen 1856 und 1859. Die Plakette unter dem Fenster ihrer dama-ligen Kammer wurde 1912 von der Waadtländer Frei-denkervereinigung zu Royers zehntem Todestag angebracht. Auf ihr heisst es: «In Erinnerung an Clémence Royer 1856. Hier erwachte ihr Genie.»

Lebens», hielt sie rückblickend fest: «Mein Leben erfuhr eine schicksalhafte Wendung. Ermöglicht wurde sie durch meine Be-gegnung mit der Bibliothek in Lausanne.»17

ein strauss Blumen aus Der wiese Des wissensDie Bibliothek in Lausanne gehörte zur Akademie, der späteren Universität, und war sehr gut bestückt. Royer las sich während rund dreier Jahre systematisch in die wichtigsten sozial- und na-turwissenschaftlichen Theorien ihrer Zeit ein. Die Bücher liess sie sich per Post nach Cully schicken. Manchmal legte sie den elf Kilometer langen Weg auch zu Fuss zurück. Was die wissenschaft-liche Lektüre für Frauen des 19. Jahrhunderts bedeuten konnte, reflektierte Royer 1859:

«Es gibt mehr als zehntausend Wörter, die Frauen niemals ausgesprochen gehört haben, deren Bedeutung sie nicht ken-nen. […] Auch ich selber war eine Zeit lang stark eingeschüch-tert von der Wissenschaft. Ich fand sie langweilig und fad […] und glaubte, sie sei nutzlos. Es reichten jedoch einige anständig geschriebene Seiten, einige glückliche Erklärungen aus der Fe-der einiger weise gebildeter Personen, die die Nacht meines Geistes wie ein Blitz erhellten. Da wurde mir gewahr, dass die Männer der Wissenschaft ihr Wissen mit einem Hag voller Dor-nen umzäunt hatten. Auf der anderen Seite des Zauns ist dieser Garten jedoch voller Blumen. Also entschied ich, ein Loch in diesen Zaun zu hauen oder, falls nötig, über ihn hinüber zu springen.»18

Die Passage stammt aus einer der ersten öffentlichen Vor-lesungen, die Clémence Royer ab 1859 in der Akademie in Lau-

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sanne für Frauen hielt. In der zitierten Gartenmetapher erklär te Royer ihren Zuhörerinnen: «Ich betrat die Wiese und pflückte ei-nen Blumenstrauss. Diesen Strauss offeriere ich Ihnen heute.»19

Eine von Royers Zuhörerinnen war, wie ihre Biografin Joy Har vey vermutet, Marie Forel, eine gebildete Frau aus der Fami-lie bekannter Westschweizer Naturwissenschaftler. Forel führte einen Salon, in dem die gebildeten Eliten der Stadt verkehrten. Dazu gehörten etliche republikanische Exilanten aus Frankreich, die an der Lausanner Akademie lehrten. Einer davon war der poli tische Ökonom Pascal Duprat (1815–1885), der Clémence Royers grosse Liebe werden sollte. Duprat war bereits verheiratet, lebte jedoch ab den frühen 1860er-Jahren bis zu seinem Tod 1885 mit Clémence Royer und einem gemeinsamen Sohn in wilder Ehe. Bereits ab 1858 begann Royer in der von Duprat heraus-gegebenen Zeitschrift «Le Nouvel Economiste» Rezensionen und später Artikel zu schreiben. 1860 schrieb der Kanton Waadt in Zusammenarbeit mit Duprats Zeitschrift einen Preis aus. Zu be-handeln war die Frage, wie die Einkommenssteuer reformiert werden könne. Royers Arbeit erhielt den zweiten Preis und wurde als Buch publiziert. Damit wurde Royer international bekannt. Sie erhielt Einladungen zu wissenschaftlichen Konferenzen sowie zu Vorträgen in weiteren Städten in der Schweiz, in Frankreich und in Italien.20

«… one of the Cleverest anD oDDest women in europe …»Von Darwins «Origin of Species» dürfte Royer, wie ihre Biografin Joy Harvey vermutet, erstmals 1860 in Genf gehört haben, wohin sie Duprat begleitet hatte und wo sie Vorlesungen hielt. Im Un-terschied zu den Pariser Naturwissenschaftlern reagierten die westschweizerischen relativ positiv auf das Werk des Engländers.21 Allen voran der deutsche Emigrant Carl Vogt (1789–1861). Der spätere Gründungsrektor der Universität Genf und Genfer Ver-treter im schweizerischen Ständerat wurde zu einem der radikals-ten Befürworter des Darwinismus.22 Wie genau Royer zur Über-setzerin Darwins wurde, ist nicht völlig klar. Bekannt ist, dass Darwin familiäre Verbindungen nach Genf hatte. Möglicherweise kam ihr Name auf diese Weise ins Spiel. Darwin hatte sich bis dahin vergeblich bei französischen Freunden um eine Überset-zung bemüht. Für Royer sprachen nicht nur ihre Englischkennt-nisse, sondern auch der Umstand, dass sie einen französischen Verleger hatte, der bereits ihr Buch über die Einkommenssteuer publiziert hatte und bereit war, die Übersetzung herauszugeben. Ausserdem hatte sie nicht nur die naturwissenschaftlichen Refe-renzwerke gelesen, auf denen Darwins Theorie aufbaute, sondern auch das Werk des Nationalökonomen Thomas Robert Malthus (1766–1834), das für Darwins Theorie eine wichtige Rolle spielte.

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Abb. 4: Porträt der jungen Clémence Royer, ver-mutlich aus den 1860er- Jahren.

Darwin schickte Royer am 10. September 1861 eine Kopie seines «Origin» zu. Royer arbeitete schnell. Die gedruckte Übersetzung erreichte Darwin weniger als ein Jahr später im Sommer 1862. Amüsiert, aber auch beeindruckt von Royers Stil sowie insbeson-dere von ihrem Vorwort und den zahlreichen Kommentaren in den Fussnoten, schrieb Darwin einem Freund in den USA: «Madlle [sic] Royer muss eine der klügsten und ungewöhnlichsten Frauen in Europa sein […]. Sie landet eini ge ausgefallene und guten Schläge […]».23 Ihr selber soll er geschrieben haben, dass er ein «verlorener Mann» gewesen wäre, hätte er sich so explizite Schluss-folgerungen zu formulieren getraut wie sie.

Die Zusammenarbeit zwischen Royer und Darwin dauerte bis 1869. Dann endete sie in einem Eklat. Bereits vorher hatte es verschiedene Schwierigkeiten gegeben. Ein Problem war, dass Royer als Frau keine formale universitäre Ausbildung absolvieren konnte. Als Autodidaktin und Theoretikerin fehlten ihr prakti-sche Erfahrungen etwa beim Sezieren von Tieren im Labor. Dies führte zu Missverständnissen bei der Übersetzung. Um diese möglichst gering zu halten, sollte sich Royer eigentlich vom West-schweizer Zoologen Edouard Claparède (1832–1871) beraten las-sen, der sich mit einer sehr positiven und informierten Bespre-chung von Darwins Werk hervorgetan hatte.24 Claparède war jedoch kränklich. Es sei ihm, wie er Darwin nach Erscheinen der französischen Erstauflage schrieb, nicht gelungen, Royers Drang nach Kommentierung und Weiterentwicklung einzudämmen.25

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Dass Übersetzer nicht bloss Texte von der einen in die andere Sprache übertrugen, sondern auch ihre eigene Lesart und Welt-sicht in sie hineinlegten, war im 19. Jahrhundert indes nichts Un-gewöhnliches. Mit Darwins erster deutscher Übersetzung war ähnliches passiert.26 Was nun Royer betraf: Sie sah in Darwins Werk in erster Linie eine empirische Bestätigung ihrer eigenen antiklerikalen, evolutionstheoretischen Philosophie, die sie sich in der Bibliothek Lausanne insbesondere durch die Lektüre des zwischenzeitlich etwas in Vergessenheit geratenen Natur forschers Jean-Baptiste Lamarck (1744–1828) erarbeitet hatte. Royer sah in Darwin folglich einen Verbündeten, dessen Lehre sie mit ih-rem Vorwort und ihren Kommentaren einer möglichst breiten französischen Leserschaft näherbringen wollte. Wie ihre beiden Biografinnen herausgearbeitet haben, wich Royers Lesart jedoch in zwei Punkten von Darwins Lehre ab. Der eine Punkt betrifft die Traditionslinie zu Lamarck. Tatsächlich hatte auch dieser be-reits davon gesprochen, dass sich tierische Arten an die Umwelt anpassen könnten und sich in der Generationenfolge verändern würden. Lamarcks Ideen waren jedoch spekulativ gewesen. Vor allem aber übersah Royer, dass Darwin mit seinem Konzept der natürlichen Selektion einen fundamental neuen Mechanismus einführte, der den Artenwandel nicht nur pos tulierte und be-schrieb, sondern auch – auf andere Weise als Lamarck – erklären konnte. Die zweite Differenz zu Darwin bestand darin, dass Roy-er – wie so viele andere auch – die Evo lutionstheorie als (Natur-)Gesetze des Fortschritts verstand, «des Lois du Progrès», wie sie den Untertitel übersetzte. In Darwins Konzeption hatte der Evo-lutionsprozess jedoch keine eindeutige Richtung.27

Für die zweite französische Auflage verlangte Darwin etliche Anpassungen, so etwa den Verzicht auf den Begriff Fortschritt im Untertitel, und er löschte auch einen ihrer Fussnotenkommenta-re. Das Vorwort liess er jedoch stehen. Obschon er befürchtete, dieses schade der ohnehin harzigen Rezeption seiner Theorie in Frankreich, schätzte er an Royer, dass sie die wichtigsten Elemen-te seiner Lehre nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch aus-gezeichnet erfasst hatte, wie er sich von französischen Freunden versichern liess. Für die dritte Auflage beging Royer jedoch in den Worten ihrer Biografin Joy Harvey den «enormen Fehler»,28 ein neues Vorwort zu verfassen, in dem sie Darwin direkt angriff. Die Kritik bezog sich nicht auf den «Origin», sondern auf Darwins neueste Theorie über die Vererbungslehre. Im historischen Rück-blick betrachtet, handelt es sich um einen Nebenschauplatz.29 Für Darwin selber war dieser jüngste Baustein in seinem Theoriege-bäude jedoch sehr wichtig, weshalb er ausserordentlich verärgert auf Royers Kritik reagierte. Dass Royer es zugleich versäumt hat-te, Verbesserungen und Ergänzungen aus den aktuellsten engli-schen Neuauflagen in ihre Übersetzung einzuarbeiten, verstärkte

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Abb. 5: Lausanne in den 1860er-Jahren: die See-promenade mit dem Ho-tel Beau Rivage. Gemälde von Rudolf Dickmann.

Abb. 6: Blick auf die Wein-dörfer Pully (im Vor der-gund) und Cully (im Hintergrund) am Genfer-see und die Wal liser Alpen. Gemälde von William- Henry Bartlett, 1835.

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seinen Ärger noch. Darwin weigerte sich deshalb, Royers dritte Auflage zu autorisieren, und veranlasste stattdessen eine Neu-übersetzung durch einen anderen Autor.

Auch nach der Beendigung der Zusammenarbeit blieb Clé-mence Royer die wohl einflussreichste Vermittlerin von Darwins Theorie in Frankreich. 1869 zogen sie und ihr Gefährte, Pascal Duprat, nach Paris, wo Royer als erste Frau in die Société d’Anthro­pologie aufgenommen wurde. Es handelte sich um die einzige Ge-lehrtengesellschaft Frankreichs, die sich ernsthaft mit Darwins Theorie auseinandersetzte. Sie wurde von einer Gruppe radikaler Denker rund um Paul Broca (1824–1880) geleitet. Auch der in Genf ansässige Carl Vogt gehörte ihr an. Nicht zuletzt unter Roy-ers Einfluss akzeptierten die französischen Anthropologen Dar-wins Lehre allmählich.30 Mit ihrer Übersetzung prägte Royer die Darwin-Rezeption auch in Italien, Spanien und Lateinamerika, wo Französisch die führende Wissenschaftssprache war.31

männChen unD weiBChen, frauen unD männer in Der evolutionstheorieEin zentrales Problem, das Royer nicht nur mit Darwin, sondern in Frankreich auch mit Broca und allen übrigen Theoretikern in Konflikt brachte, betraf die Frage, welche Rolle im Prozess der Evolution die Weibchen im Tierreich respektive die Frauen bei den Menschen spielen. Diese Frage durchdrang Royers gesam-tes philosophisches Werk. Es ist auch diese Frage, die Royer zu-gleich hoch aktuell und auch problematisch erscheinen lässt.

Um Royers Position zu verstehen, ist es wichtig, sich in Er-innerung zu rufen, dass die Naturwissenschaftler des 19. Jahrhun-derts massgeblich zur Legitimation der gesellschaftlichen und politischen Diskriminierung von Frauen beitrugen. «Der Charak-ter wissenschaftlicher Männer ist in vieler Hinsicht antifeminin», hielt etwa Darwins Vetter Francis Galton, einer der bedeutends-ten Vererbungsforscher seiner Zeit, 1874 fest.32 Im selben Sinn äusserte sich sein Genfer Zeitgenosse Alphonse de Candolle, ein eminenter Botaniker: «Die [geistige] Entwicklung der Frau hört früher auf als jene des Mannes […]. Ausserdem ist der weibliche Geist oberflächlich.»33 Diese weit ins 18. Jahrhundert zurückrei-chenden Ansichten erhielten mit Darwins Konzept der «sexuellen Selektion» eine neue wissenschaftliche Grundlage. Mit der sexu-ellen Selektion erklärte Darwin das Paarungsverhalten tierischer und pflanzlicher Arten. Seine Grund annahme war, dass die Männchen eine aktive Rolle bei der Eroberung der Weibchen so-wie im Konkurrenzkampf mit anderen Männchen einnahmen, während die Weibchen eine passive Rolle bei der Begattung sowie eine pflegende Rolle bei der Aufzucht spielten. Dieser Mechanis-mus habe bewirkt, so Darwin in seinem Werk über die «Abstam-mung des Menschen», dass sich die Geschlechter körper lich und

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Abb. 7: Royers Zeitgenos-sen: Charles Darwin (links), Paul Broca (rechts) und Carl Vogt (unten).

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geistig immer weiter voneinander entfernten: «So wurde der Mann der Frau schliesslich überlegen.»34

Dagegen schrieb Royer in origineller Weise an. Sie teilte zwar mit ihren männlichen Zeitgenossen die Ansicht einer «er-worbene[n] Unterlegenheit»35 von Frauen gegenüber Männern. In wichtigen Punkten wich Royer jedoch von ihren männlichen Kontrahenten ab. Während diese die biologische Ungleichheit für unveränderlich und kategorial hielten, hatten sie für Royer «nichts Schicksalhaftes, nichts Absolutes».36 Dies hatte mit ihrer lamarckistischen Lektüre Darwins zu tun. Royer glaubte, dass Menschen und Tiere auch solche körperlichen oder mentalen Eigenschaften an ihre Nachkommen weitervererben konnten, die sie erst nach ihrer Geburt erworben hatten. Daraus leitete sie eine Evolutions- und Geschlechtertheorie ab, die aus drei Pha-sen bestand. Bei den frühesten Vorfahren des Menschen hätten sich Männchen und Weibchen körperlich und geistig kaum voneinander unterschieden. Zu einer geschlechtlichen Differen-zierung sei es erst durch die Verknappung der natürlichen Le-bensressourcen gekommen, was den Konkurrenzdruck zwischen den frühsten Urmenschen erhöht habe. In dieser zweiten Phase des Evolutionsprozesses habe sich eine geschlechtliche Arbeits-teilung zum Schutz des eigenen Nachwuchses und damit zur Erhaltung der eigenen Art als Selektionsvorteil herausgebildet. In körperlicher Hinsicht sei es zu einer Rückbildung der männli-chen Brustdrüsen gekommen respektive zu einer Spezialisierung der Frauen auf das Stillen ihres Nachwuchses.37 Männer hätten ihren Bewegungsradius bei der Nahrungssuche und im Kampf gegen Konkurrenten ausgeweitet, was eine Zunahme ihrer Kör-perkraft und ihrer Intelligenz zur Folge gehabt habe. Frauen hät-ten demgegenüber ihre mütterlichen und häuslichen Instinkte ausgeprägt. Die feministische Pointe dieses Arguments ist, dass die natürliche Asymmetrie zwischen den Geschlechtern kein pri-märes Merkmal der menschlichen Art ist, sondern ein gesell-schaftlich erworbenes, sekundäres Merkmal. Die biologischen Geschlechterunterschiede sind so gesehen nicht statisch. Sie sind vielmehr dem naturhistorischen Wandel unterworfen und können sich in Zukunft wieder ändern, sprich: zurückbilden. Genau darauf lief Royers Argumentation hinaus. Die «zivilisier-ten Rassen» befänden sich nämlich, so Royer, an der Schwelle zu einer dritten Phase des Evolutionsprozesses, in welcher die Ge-schlechterasymmetrien nicht mehr notwendig und sogar kontra-produktiv seien. Anstelle von Körperkraft und Härte bei Män-nern sowie Häuslichkeit und Vorsicht bei Frauen verlange das Leben in modernen Industriegesellschaften zunehmend die Ent-wicklung von geistigen und sozialen Fähigkeiten beiderlei Ge-schlechter. Um das Leben in Städten harmonisch zu gestalten, müssten Männer Körperkraft und Intelligenz mit Emotionalität

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verbinden, Frauen Schönheit mit Stärke, Zärtlichkeit mit Intelli-genz.38 Biologisch war dies in Royers Konzeption denkbar, weil Mädchen und Knaben sowohl die Merkmale ihrer Mütter als auch jene ihrer Väter erbten. Männer hatten, so gesehen, auch weibliche Dispositionen (daher beispielsweise die Brustwarzen) und umgekehrt. Damit beide Geschlechter ihre jeweils männli-chen und weiblichen Dispositionen entfalten können, müssten jedoch die rechtlichen und sozialen Benachteiligungen der Frau-en aufgehoben werden. Nur so könnten sie im Wettbewerb mit den Männern ihre schlummernden männlichen Dispositionen zu Intelligenz, Mut und Aktivität entwickeln und an ihre Töchter weitervererben. Die biologischen Geschlechterasymmetrien wa-ren für Royer also durchaus in der Natur verwurzelt. Sie waren jedoch nichts Urtümliches, sondern eine sekundäre naturge-schichtliche Erscheinung, die notwendig war, um den Zustand der Zivilisation zu erreichen, in welchem sie nun zum Verschwin-den gebracht werden sollten.

Die weisse frau als hüterin ihrer «rasse»Dass Royer den menschlichen Geschlechtskörper als etwas Androgynes und Wandelbares verstand, ist ein Gedanke, der auch in aktuellen Geschlechtertheorien Resonanz findet.39 Royers Ge-schlechtertheorie hatte jedoch eine problematische Kehrseite. Die tiefste Wahrheit über die Natur des Menschen war für Royer nämlich die Hierarchie zwischen menschlichen «Rassen». «Der erste Blick, den wir auf die Gesamtheit der lebenden Menschheit werfen», schrieb Royer in ihrem evolutionstheoretischen Haupt-werk von 1869, «zeigt uns diese in grosse Rassen unterteilt, sehr ungleich in ihren Fähigkeiten, in ihren gesellschaftlichen Organi-sationsweisen, in ihren körperlichen Eigenschaften, in ihrer Vor-herrschaft und geografischen Ausbreitung auf dem Planeten […]. An der Spitze der Reihe hebt sich die weisse – auch arische oder indoeuropäische – Rasse ab […].»40

Mit ihren rassentheoretischen Ansichten stand Royer nicht alleine da. In einem schweizerischen Zusammenhang lässt sie sich als Vertreterin eines radikalen, säkularisierten Rassismus einordnen, den sie mit ihrem Genfer Kollegen Carl Vogt teilte. Auch er war ein atheistischer Verfechter des Evolutionsgedan-kens. Im Unterschied zu Royer glaubte er nicht, dass alle «Ras-sen» aus demselben «Stamm» hervorgegangen seien, sondern unterschied mehrere Wurzeln (Polygenismus). Ähnlich wie Roy-er sah er die Rassen in einem zutiefst hierarchischen Verhältnis. Afrikaner «erinnerten» ihn etwa «unwiderstehlich an den Affen».41 Andere Naturforscher teilten zwar Darwins These von der Wan-delbarkeit der Arten, hielten jedoch aus religiösen Überzeugun-gen am Gedanken der göttlichen Schöpfung fest. Auch sie teilten die Menschheit in verschiedene «Rassen» ein, sahen diese jedoch

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als Varia tionen innerhalb derselben Art. Sprachlich äusserten sie sich zurückhaltender und setzten sich vor allem für den «Schutz» der vom Untergang bedrohten «Naturvölker» ein.42 Einen Spe-zialfall bildete der Neuenburger Naturforscher Louis Agassiz, der Lehrer Carl Vogts. Er lehnte den Darwinismus aus religiösen Gründen ab, vertrat jedoch ähnlich wie Vogt einen polygene-tischen Rassismus, den er im Unterschied zu Royer und Vogt je-doch nicht so sehr in seinen Publikationen, sondern in privaten Äusserungen ausbreitete.43

In Royers Konzeption war die Hierarchie zwischen den «Ras-sen», im Unterschied zu jener zwischen den Geschlechtern, nicht nur fundamental und unüberwindbar, sondern auch weit grösser als in den Augen ihrer Zeitgenossen. Strichen diese vor allem die Nähe «primitiver Rassen» zu Primaten hervor, betonte Royer:

«Es lässt sich sogar ohne Furcht behaupten, dass ein Min-copie [Bewohner der Andamanen], ein Buschmann, ein Papua oder sogar ein Lappländer [geistig] nicht nur näher mit einem Affen, sondern auch näher mit einem Känguru verwandt ist als mit einem Descartes, einem Newton, einem Goethe oder einem Lavoisier.»44

Wenn wir Royers Geschlechtertheorie mit ihrer Rassentheo-rie kombinieren, lässt sich ihre Position als eine Art feministischen Rassismus oder rassistischen Feminismus charakterisieren. Der Fluchtpunkt von Royers Denken bildete stets der «Fortschritt» der weissen «Rasse». Anders als bei ihren männlichen Kollegen spiel-ten Frauen in diesem Prozess jedoch nicht nur eine passive und nebensächliche, sondern eine aktive, ja die zentrale Rolle, wie sie in einer Passage über sexuelle Verbindungen («Blutsmischung») zwischen unterschiedlichen «Rassen» erläuterte:

«Der Widerwille gegen die Blutsmischung zeigte sich zuerst bei den überlegenen Rassen und zwar stärker bei den Weibchen als bei den Männchen. Bis zum heutigen Tag ist es eine univer-selle Tatsache, dass Kreuzungen zwischen der weissen Rasse und minderwertigen Rassen aus Verbindungen zwischen dem Weis-sen und der Negerin, der Inderin oder der Australierin hervorge-hen; nur in Ausnahmefällen – etwa in Fällen von Gewalt – findet man Beispiele von Mischungen zwischen der weissen Frau und Männern anderer Rassen.»45

Die Gründe, weshalb sexuelle Verbindungen zwischen eu-ropäischen Männern und farbigen Frauen häufiger waren als umgekehrt, waren politischer und kultureller Art: Gerade zum Schutz des weissen Überlegenheitsanspruchs wurde der Kontakt zwischen europäischen Frauen und farbigen Männern auf den Plantagen und in Handelsstädten in Übersee durch die Kolonial-mächte eingeschränkt.46 Royer erklärte sich diese Tatsache jedoch biologisch, mit einem angeblich angeborenen «Widerwillen» weis-ser Frauen gegenüber farbigen Männern. Die weisse Frau sorgte

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in ihrer Konzeption also für die «Reinheit» und angebliche Über-legenheit ihrer «Rasse».

sChlussDamit entpuppt sich Royer als gleichermassen faszinierende und ambivalente Denkerin. Sie schrieb in origineller Weise gegen die naturwissenschaftliche Begründung der Diskriminierung von Frauen an. Anders als spätere Generationen von Feministinnen entlarvte sie angeblich biologische Unterschiede und Hierar-chien zwischen den Geschlechtern jedoch nicht als Ausdruck der kulturellen Machtausübung in einer männlich dominierten Ge-sellschaft. Sie versuchte stattdessen eine alternative, eine femi-nistische Biologie zu entwerfen. Die problematische Kehrseite ihrer Philosophie war der Rassismus, der kein Nebenprodukt, sondern vielmehr konstitutiv für ihren Feminismus war. Ihre Vorstellung von Emanzipation umfasste nicht alle Menschen, sondern primär bürgerliche europäische Frauen wie sie selber. Sie sah die Menschheitsgeschichte als einen Überlebenskampf zwischen der «zivilisierten» europäischen «Rasse» und allen ande-ren «Rassen». Die Emanzipation der europäischen Frauen stellte

Abb. 8: Im hohen Alter wurde Clémence Royer in Frankreich mehrfach geehrt. Dieses Porträt entstand 1902 kurz vor ihrem Ab leben. Es zeigt sie mit dem roten Band der französischen Ehren-legion.

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für sie eine Notwendigkeit im ureigenen Interesse der «weissen Rasse» dar. Nur mit der Emanzipation der Frauen könne diese ihren Zustand der «Zivilisation» und damit ihre Überlegenheit über alle anderen «Rassen» bewahren. Hierzu müsse jedoch auch gegen Bedrohungen im Inneren vorgegangen werden, gegen die «Schwachen, Kranken, Unheilbaren und Bösartigen», wie sie im Vorwort zu ihrer Darwin-Übersetzung nahelegte.

Royer entwickelte diese Gedanken nicht in isolierter Abge-schlossenheit, sondern im regen Austausch mit Wissenschaftlern aus der Schweiz und dem Ausland. Der Fall beleuchtet damit auch ein Stück Geschichte der intellektuellen und gebildeten Schweiz. Er illustriert, dass Rassentheorien und eugenische Theo-rien keinesfalls aus dem Ausland in die Schweiz «importiert» wur-den, sondern dass die Schweiz als Knotenpunkt innerhalb weit-verzweigter wissenschaftlicher Netzwerke selber ein Standort war, wo solche Theorien produziert wurden.

Abb. 1: Musée historique de Lausanne; P.1.A.1.R.21.156.Abb. 2: Van Wyhe, John (Hg.) 2002: The Complete Work of

Charles Darwin Online, http://darwin-online.org.uk.Abb. 3: Foto des Autors.Abb. 4: Appleton’s Popular Science Monthly, März 1899, 576.Abb. 5: Musée historique de Lausanne, Signatur I.31.1.C.Abb. 6: Musée historique de Lausanne, Signatur I.22.C.503.Abb. 7: wikimedia.Abb. 8: Porträt «Clemence Royer» von Angèle Delasalle; Foto-

grafiert durch A. Guillard, © Ville de Nantes, Musée des Beaux Arts.

Bernhard C. Schär. Evolution, Geschlecht und Rasse

Page 17: Evolution, Geschlecht und Rasse. Darwins 'Origin of Species' in Clémence Royers Übersetzung (2015)

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1 Royer, Clémence, 1862: Préface du Tra ducteur. In: Darwin, Charles: De L’Origine des Espèces Ou des Lois du Progrès chez les Etres Organisés. Paris, LXI. Ich danke Klaus Taschwer, Caroline Arni und Patricia Purtschert für wertvolle Hinweise.

2 Bowler, Peter J., 1990: Charles Darwin. The man and his influence. Cambridge.

3 Royer 1862, XXXVII. 4 Royer 1862, LVI. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Der Eugenik-Begriff wurde 1883 von

Royers britischem Zeitgenossen Francis Galton, einem Neffen Charles Darwins, geprägt. Müller-Wille, Staffan; Rhein-berger, Hans-Jörg, 2009: Vererbung. Geschichte und Kultur eines biolo-gischen Konzepts. Frankfurt a. M., 130–168.

8 Ich folge dem französischen und engli-schen Sprachgebrauch, wo sich «Femi-nismus» bereits zu Royers Lebzeiten als Konzept etablierte. Im deutschen Sprach raum wurde der Begriff erst im 20. Jahrhundert gebräuchlich. Zum französischen Kontext siehe Charron, Hélène, 2013: Les formes de l’illégitimi-té intellectuelle. Les femmes dans les sciences sociales françaises 1890–1940. Paris. Zur Rezeption Royers in der westschweizerischen Frauenbewegung siehe Evard, Marguerite, 1927: Une femme philosophe et féministe d’avant-garde: Clémence Royer (1830–1902). In: Le mouvement féministe: organe officiel des publications de l’Alliance nationale des sociétés fémini-nes suisses, 261 (1927), 93f.; 263 (1927), 110–112; 264 (1927), 117–119. Siehe auch Harvey, Joy, 1997: «Almost a Man of Genius». Clémence Royer, Feminism, and Nineteenth-Century Science. New Brunswick, 122–139.

9 De Beauvoir, Simone, 1949: Le Deuxième Sexe. Paris.

10 Darwin selbst übernahm einen Gedan-ken von Royer. Vgl. Fussnote 37. In den wichtigen Frühwerken der Darwin-rezeption fehlen indes Verweise auf Royer. De Candolle, Alphonse, 1882: Darwin considéré au point de vue des causes de son succès et de l’importance de ses travaux. Genève; Vogt, Carl, 1863: Vorlesungen über den Menschen, seine Stellung in der Schöpfung und in der Geschichte der Erde. Giessen; Haeckel, Ernst, 1868: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Jena.

11 Siehe vor allem Evard 1927. 12 Fraisse, Geneviève, 1985: Clémence

Royer. Philosophe et femme de science. Paris; Harvey 1997, 184–191, lieferte eine kommentierte Übersicht über alle biografischen Schriften zu Royer. Eine aktualisierte Übersicht, die vorange-

hende Biografien zusammenfasst, findet sich bei Demars, Aline, 2002: Clémence Royer l’intrépide. La plus savante des savantes. Paris, 286–288.

13 Ich vertrete eine postkoloniale Analyse-perspektive. Siehe speziell in Zusammen hang mit dem Feminismus Mohanty, Chandra Talpade: Under Western Eyes. Feminist Scholarship and Colonial Discourses. In: Feminist Review, 30 (1988), 61–88. Die Position von feministischen Theoretikerinnen wie Royer innerhalb der männlich dominierten Diskussionen über Rassen-theorien des 19. Jahrhunderts bildet auch in der Wissenschaftsgeschichte ein Forschungsdesiderat. Siehe dazu die Standardwerke Schiebinger, Londa, 1993: Nature’s body: Gender and the making of modern science. Boston; Dorlin, Elsa, 2009: La matrice de la race. Généalogie sexuelle et coloniale de la Nation française. Paris.

14 Alles Biografische bezieht sich, wo nicht anders angegeben, auf Fraisse 1985 und Harvey 1997.

15 Unklar ist, ob Royer auch körperlichen Missbrauch erlebte. Ausführlich dazu Harvey 1997, 24–41.

16 Royer, Clémence: Souvenirs de Suisse. In: La Semaine Littéraire, 15. 2. 1902, 82.

17 Ebd. 18 Royer, Clémence, 1859: Introduction

à la philosophie des femmes. In: Fraisse 1985, 109f.

19 Ebd., 110. 20 Harvey 1997, 42–61. 21 Ebd., 62f. 22 Amrein, Martin; Nickelsen, Kärin:

The Gentleman and the Rogue. The Col laboration Between Charles Darwin and Carl Vogt. In: Journal for the History of Biology 41 (2008), 237–266.

23 Zitiert in Harvey 1997, 67. 24 Claparède, Edouard: M. Darwin et sa

théorie de la formation des espèces. In: Revue Germanique 16 (1861), 523–559.

25 Harvey 1997, 62–79. 26 Glibhoff, Sander, 2008: H. G. Bronn,

Ernst Haeckel, and the Origins of German Darwinism. A Study in Trans-lation and Transformation. Cambridge.

27 Bowler, Peter J., 1996: Life’s splendid Drama. Evolutionary Biology and the Reconstruction of Life’s Ancestry. Cambridge.

28 Harvey 1997, 98 («enormous error»). 29 Bis zur Wiederentdeckung der Ver-

erbungstheorie von Mendel um 1900 war die Frage, wie Merkmale vererbt werden, ein Rätsel. Darwin hatte 1868 in seinem «Variation of Animals and Plants under Domestication» spekula-tive Ideen entwickelt, die auch unter seinen engsten Freunden auf Skepsis stiessen. Harvey 1997, 98f.

30 Harvey, Joy: Evolutionism Transformed. Positivists and Materialists in the Société d’Anthropologie de Paris from Second Empire to Third Republic. In: Oldroyt, David; Langham, Ian (eds.) 1983: The Wider Domain of Evolutio-nary Thought. Dordrecht, 289–310.

31 Blanckaert, Claude: «Les Bas-Fonds de la Science Française». Clémence Royer, L’Origine de l’Homme et le Darwinis-me Social. In: Bulletins et Mémoires de la Société d’Anthropologie de Paris. Nouvelle Série, 3 (1991), 115–130.

32 Galton, Francis, 1874: English Men of Science. Their nature and nurture. London.

33 De Candolle, Alphonse, 1885: Histoire des Sciences et des Savants depuis deux Siècles. Genf, 71f. Generell dazu Ho-negger, Claudia, 1991: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaft vom Menschen und das Weib. Frank-furt a. M.

34 Richards, Evelleen: Darwin and the Descent of Woman. In: Oldroyd/Lang-ham 1983, 72.

35 Zitiert in Fraisse 1985, 43. 36 Zitiert in Fraisse 1985, 44. 37 Diesen Gedanken übernahm Darwin

in der zweiten Auflage seines «Descent of Man». Darwin, Charles, 1874: The Descent of Man and Relation to Sex. London, 163. Ich danke Klaus Taschwer für den Hinweis.

38 Harvey 1997, 66. 39 Villa, Paula-Irene, 2011: Sexy Bodies.

Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper. Wiesbaden.

40 Royer, Clémence, 1869: Origine de l’homme et des sociétés. Paris, 541.

41 Vogt 1863, 218. 42 Schär, Bernhard C., 2015: Tropenliebe.

Schweizer Naturforscher und Nieder-ländischer Imperialismus in Südost-asien um 1900. Frankfurt a. M. Für die nachfolgende Genera tion von Schweizer Rassenforschern siehe den Beitrag von Pascal Germann.

43 Fässler, Hans, 2005: Reise in Schwarz-Weiss. Schweizer Ortstermine in Sa-chen Sklaverei. Zürich, 248.

44 Royer 1869, 543. 45 Royer 1869, 541. 46 Stoler, Ann Laura, 2002: Carnal

knowledge and imperial power. Race and the intimate in colonial rule. Berkeley.