1/26 Eine Spurensuche zum Phänomen des ‚ Nichthandelns’ im aktuellen Lebensvollzug Wie kommt es zum Phänomen des ’Nichthandelns’ und wie vollzieht sich der Prozess des ’ins Handeln Kommens’ ? Abschlussarbeit für die Ausbildung in Logotherapie und existenzanalytischer Beratung und Begleitung von Ines Ruth Gronwald Eingereicht: 20. Februar 2004 Erstleser: Dr. Christoph Kolbe Zweitleser: Helmut Dorra
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Eine Spurensuche zum Phänomen des ‚Nichthandelns’
im aktuellen Lebensvollzug
Wie kommt es zum Phänomen des ’Nichthandelns’ und wie vollzieht sich der Prozess des ’ins Handeln Kommens’ ?
Abschlussarbeit für die Ausbildung in Logotherapie
und existenzanalytischer Beratung und Begleitung
von
Ines Ruth Gronwald
Eingereicht: 20. Februar 2004 Erstleser: Dr. Christoph Kolbe Zweitleser: Helmut Dorra
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Zusammenfassung:
Diese Arbeit ist eine Spurensuche nach dem Phänomen des „Nichthandelns“ der
Menschen. Welche Lebenseinstellungen liegen vor, die den existenziellen
Lebensvollzug blockieren und welche Prozesse müssen eingeleitet werden, um
frei und authentisch das eigene Leben führen zu können?
Nach mehreren Beratungsgesprächen wird anhand der Biografie von Frau K.
aufgezeigt, wie schwer es ist, in den existentiellen Lebensvollzug zu gelangen.
Schlüsselwörter:
• Handeln, Reagieren und Nichthandeln
• Selbstbesinnung und Selbstbestimmung
• Freiheit und Verantwortung
• Grundmotivationen
Abstract:
This paper is a search for the phenomenon of non-acting of people. Which mental
attitudes are due to the blockades of existential way of living and which processes
must be initiated in order to live one´s own life in a free and authentic way? After
several counselling meetings according to the biography of Mrs. K. it will be
pointed out, how difficult it is to come into an existential way of living.
Key words:
• Acting, re-acting and non-acting
• Self-consciousness and self-determination
• Freedom and responsibility
• Fundamental motivations
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Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung 2
Inhaltsverzeichnis 3
Einleitung 4 - 6
I. Phänomene Handeln, Reagieren und Nichthandeln 6 - 10
I.1. Das Handeln 6 - 7
I.2. Das Reagieren 8
I.3. Das Nichthandeln 8 - 10
II. Aus der Biografie von Frau K. 10 - 13
III. Grundmotivationen 13 - 20
III.1. Sein-können 14 - 15
III.2. Leben-mögen 15 - 17
III.3. Selbstsein-dürfen 17 - 18
III.4. Sinnvolles-wollen 18 - 20
IV. Beratungsansätze im vorliegenden Fall 20 - 22
V. Schlusswort 22 - 24
VI. Literaturverzeichnis 25 - 26
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„Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt“ Mahatma Gandhi Einleitung:
Mich interessiert, welche Lebenseinstellungen vorliegen müssen, um in den
eigenen existentiellen Lebensvollzug zu gelangen und welche Phänomene dazu
führen, dass Menschen blockiert sind und sich selbst nicht oder nicht ausreichend
genug spüren.
Dieses Thema bewegt mich, weil ich selbst fast 40 Jahre meines Lebens benötigt
habe, um mich selbst zu spüren, um zu fühlen, was will „Ich“!
Im Rahmen einer dreijährigen Meditationsausbildung bei Masanobu Hirata in
Hermannsburg bin ich zum ersten Mal mit der Logotherapie und Existenzanalyse
nach Viktor E. Frankl in Berührung gekommen. In der Meditationsausbildung
sollten Körper, Geist und Seele gleichermaßen angesprochen werden. Neben der
Meditation, meditativem Tanz und Körperarbeit wurden mir die anthropologischen
Grundlagen der Existenzanalyse durch die Logotherapeutin Gisela Hirata
vermittelt.
Die Aussage in der Existenzanalyse: „Freiheit und Verantwortung bedingen
einander“, wurde für mich zu einem Schlüsselwort und hat mein Leben prägend
verändert. Ich habe es als einen Akt der inneren Befreiung erlebt, diesen Satz
ausgesprochen so zu hören: Dass es auf mich ankommt und zwar nur auf mich.
Ich bin frei zu handeln, wenn ich für mein Handeln, natürlich immer vor dem
Hintergrund meiner Möglichkeiten, die Verantwortung übernehme. Denn kein
anderer Mensch kann mir die Verantwortung für mein Leben und wie ich mein
Leben gestalten möchte, abnehmen. Die Erkenntnis, dass das, was ich in der
Meditation von mir gespürt habe, auch sein durfte, dass ich mich selbst ernst
nehmen darf und sogar muss, hat mich tief berührt und ins Handeln gebracht. Mir
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war mit einem Mal klar: Auch meine Bedürfnisse sind wichtig, genau so wichtig,
wie die Bedürfnisse der anderen wichtig sind. Diese Erfahrung hat mein bis dahin
stark ausgeprägtes Über-Ich-Denken radikal verändert. Ich begriff mit einem Mal
sehr elementar: Ich bin die „Gestalterin meines Lebens“. Ich kann alles tun, ich bin
frei, wenn ich bereit bin, für mein Handeln die ganze Verantwortung zu
übernehmen. Ich kann mich abgrenzen von dem, was andere wollen, denken oder
tun. Ich habe in jedem Fall die Freiheit, zu dem Wollen, Denken oder Tun der
anderen Stellung zu nehmen und die Möglichkeit, durch mein Handeln mein „Ja“
oder „Nein“ zu sprechen, mich zu entscheiden, was für mein Leben, für mich das
Richtige ist. Für mich kam es einer inneren Befreiung gleich, mich aus der
Umklammerung des „Fremdbestimmtseins“ zu lösen.
Durch meine Erfahrungen mit den Meditationsübungen im Zen habe ich gelernt,
im Alltag innezuhalten, in der Stille in mich hineinzuhören, mich wahrzunehmen
und zu spüren.
„ Die Selbstbesinnung erfolgt nach dem delphischen Imperativ `Erkenne dich
selbst!´; die Selbstbestimmung geschieht nach dem Wort von Pindar: `Werde,
der du bist!´“ (Frankl, 1984,145).
„Selbstbesinnung hat zunächst mit Selbstwahrnehmung zu tun.
Selbstwahrnehmung heißt spüren, wer ich selber bin und was ich selbst will. Das
aber erfordert den Mut, eine Begegnung mit mir selbst auszuhalten“. (Kolbe, 1993,
104)
Nach meiner Meditationsausbildung schloss sich die Ausbildung am
Norddeutschen Institut für Logotherapie und Existenzanalyse in Hannover bei
Dr. Christoph Kolbe an, und ich habe im Verlauf meiner Ausbildung das, was ich in
meinem Leben umgesetzt habe, in der Theorie der Logotherapie und
Existenzanalyse bestätigt gefunden.
In der Beratungsarbeit stelle ich immer wieder fest, dass die Erfahrung, die ich
gemacht habe, keine Selbstverständlichkeit ist. Mir begegnen Menschen, die
nicht in den eigenen Lebensvollzug gekommen sind.
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Mit dieser Arbeit möchte ich den Prozess des „ins Handeln Kommens“
beschreiben , die Vollzugsphänomene Handeln, Reagieren und Nichthandeln
erläutern und auf der Basis der vier Grundmotivationen Blockaden und Störbilder
herausarbeiten.
Aus der Praxis werde ich ein Fallbeispiel beschreiben und den Phänomenen des
„Nichthandelns“ nachspüren.
I. Phänomene Handeln, Reagieren und Nichthandeln I.1. Das Handeln Handeln setzt immer die freie Entscheidung des Willens voraus.
Natürlich ist das „Handeln“ eines Menschen immer vor dem Hintergrund seiner
Möglichkeiten zu sehen, aber da der Mensch ein geistiges Wesen ist, hat er auch
die Fähigkeiten in sich, immer wieder neu Stellung beziehen zu können, um ins
Handeln zu kommen.
„Was wir jedoch betonen, das ist die Tatsache, dass der Mensch als geistiges
Wesen sich der Welt – der Umwelt wie Innenwelt – nicht nur gegenübergestellt
findet, sondern ihr gegenüber auch Stellung nimmt, dass er sich zur Welt immer
irgendwie ‚einstellen’, irgendwie ‚verhalten’ kann und dass dieses Sich-Verhalten
eben ein freies ist“. (Frankl, 1994, 94).
Jeder Mensch kommt mit bestimmten Fähigkeiten und Begabungen auf die Welt,
die er sich nicht ausgesucht hat, die aber in ihm als Anlagen vorhanden sind. Er
wird in eine Familie, eine physische und soziale Umgebung hineingeboren, auf die
er keinen Einfluss hatte, die vorhanden war und ihn prägte. Aber der Mensch hat
durch seine Freiheit Stellung beziehen zu können die Möglichkeit, sein Leben
selbst in die Hand zu nehmen und es zu gestalten. Er kann also Dinge und
Situationen für sich sinnvoll verändern. Er kann aktiv in sein Leben eingreifen,
seine alten Muster verlassen, neu Ideen planen und entscheiden, wie er in Zukunft
leben möchte. Ob er die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzt oder
verfallen lässt, entscheidet er allein. „Er ist letztlich selbst der Gestalter seines
Lebens“ (Längle, 1987,18 ).
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Somit entscheidet der Mensch für sich selbst, ob er die Offenheit für die Welt, die
ihn umgibt, zulässt oder nicht. Diese Offenheit und Neugier ist aber nötig, damit er
sich auch selbst in der Welt entdecken kann. Denn diese offene Haltung zur Welt
stellt den Menschen vor Werte, und jede und jeder muss für sich die eigenen
Werte erspüren, für die es sich lohnt zu leben. Wenn mich Werte so stark
anziehen, dass ich nicht anders handeln kann als sie zu berücksichtigen, bin ich
auch bereit, Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen. Hier werde ich
unverwechselbar ich, weil jeder Mensch anders handelt und seine Werte anders
liegen. Ich bin also durch mein Handeln erkennbar. Es ist genau wie mit meiner
Handschrift. Die, die so schreibt, das bin unverwechselbar nur ich. Der Mensch
muss allerdings jeden Tag zwischen einer Vielzahl von Werten auswählen, und es
ist oft nicht einfach zu erkennen, ob es nun genau das ist, was ich wirklich will.
Die meisten Menschen leben eingebunden in der Familie, in Freundschaften und
im Beruf. Sogar in der Freizeit muss der Mensch sich immer wieder neu
entscheiden und sich die Frage stellen: „Will ich das wirklich immer noch?“. Kann
ich immer noch ganz hinter dieser Entscheidung stehen und es absolut vertreten,
auch vor meinem Gewissen? Höre ich auf mein Gewissen, diese innere Stimme ,
die unverwechselbar nur ich bin, und die sich oft leise meldet, die aber oft mit
vielen Sachargumenten zum Schweigen gebracht wird für eine gewisse Zeit , bis
sie sich wieder im Inneren regt und einen nicht so richtig zur Ruhe kommen lässt?
Es sind viele Fragen, die auftauchen und sich bemerkbar machen, und es gehört
Mut dazu, sich diesen vielen Fragen immer wieder zu stellen. Wann habe ich den
Mut, zu meiner inneren Stimme zu stehen, auch wenn meine äußere Situation
diesem inneren, authentischen Gespür entgegen seht? Unablässig stehe ich also
in der Spannung zwischen dem, was ist, oder vor dem, was werden kann. Beides
ist in mir vorhanden. Diese Dynamik oder Spannung, die da entsteht, stellt eine
Kraft dar, die einen Prozess in Gang bringen kann, der zu einer Entscheidung
führt. Der Prozess gestaltet sich bei jedem Menschen anders und immer wieder
neu. „ Der Mensch gestaltet sich mit seinen Entscheidungen selbst.“ (Frankl,
1984, 226)
Die Entscheidungen, die ich für mein Leben treffe, ziehen immer Konsequenzen
nach sich, mit denen ich dann leben muss. Aber auch meine „Unentschiedenheit“
hat Konsequenzen, mit denen ich leben muss.
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I. 2. Das Reagieren
„Dagegen ist das Reagieren abhängig vom äußeren Stimulus und Spiegelbild der
inneren Verfassung“. (Längle, 1997, 22.).
Andere Menschen geben mir einen Wert vor, und ich reagiere auf ihr Handeln,
ohne meinen eigenen Wert dagegen zu setzen. Menschen mit dieser Haltung
werden wie Schachfiguren hin und her bewegt und kommen nicht in ihren eigenen
Lebens-vollzug und somit auch nicht zu einer echten Sinnerfüllung.
Wenn ich reagiere, lebe ich von Impulsen, die von Außen kommen, aber ich prüfe
nicht, ob sie auch zu meinem Impuls werden sollen. Meine Stellungnahme fehlt.
Ich spüre mich nicht, ich weiß noch nicht, was ich will. Ich mache mich also von
Dingen abhängig, die in der Welt sind und mir ständig begegnen. Ich nehme sie
wahr, aber ich mache nichts mit ihnen. Werte, Normen, und Meinungen anderer
Menschen spielen in meinem Leben eine größere Rolle als meine eigene
Sichtweise der Dinge. Ich habe meinen eigenen Wert noch nicht entdeckt und
scheue mich vor der Verantwortung für mein Leben. Es kann sein, dass ich mein
„Eigenes“ noch nicht höre oder ich höre es ganz zart und leise und habe Angst
dazu zu stehen. Die Macht des Über-Ichs ist noch zu groß. Was sagen die
anderen, Eltern, Freunde, Nachbarn etc. dazu? Ich kann meine Position noch
nicht halten. Wenn meine Position, meine Stellungnahme nicht anerkannt wird, wo
bleibe ich dann?
Um dem Über-Ich, der Stimme, die einem sagt, was „man“ tut, zu entkommen,
muss der Mensch in der Lage sein, frei, autark und stark sein Leben zu führen, nur
dem eigenen Gewissen gegenüber verpflichtet.
Der Mensch, der seinem Gewissen folgt, bleibt in seiner Entscheidung frei und
übernimmt für seine Entscheidung die Verantwortung. Bleibt der Mensch aber in
der Macht des Über-Ichs stecken, kommt er auch nicht ins eigene Handeln.
I. 3. Das Nichthandeln Wenn ich mich selbst nicht erkenne; wenn ich nicht weiß, wer ich bin; wenn ich
nicht spüre, was ich will, dann kann ich auch nicht für mich eintreten und meine
Bedürfnisse deutlich machen. Ich kann nicht in die Auseinandersetzung treten
mit einem Gegenüber oder der Welt. Dann verharre ich in der mir vorgegebenen
Situation, erleide und erdulde alles, lege mir Ausreden zurecht, die in Sätzen
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gipfeln: „Ich könnte ja, wenn...; ich würde ja, aber...“. Das Ertragen der Situation,
auch wenn sie noch so ungeliebt ist, scheint immer noch besser zu sein als den
Mut aufzubringen, um ins Handeln zu kommen und sich der Angst vor dem
Neuen, das auf mich zukommt, auszusetzen. Habe ich so viel Grund in mir, um
diese neue Situation aushalten zu können? Ich bin dann ganz allein für diesen
Schritt, den ich gehe verantwortlich, ich muss die Verantwortung für mein Tun
übernehmen. Aber nur wenn ich einen Schritt vor den anderen setze, komme ich
voran. Wenn ich ganz bewusst gehe, wie in der Meditation, wird mir klar, welche
Bewegung ich da vollziehe. Aber keinesfalls, wenn andere mir sagen, was für
mich gut oder schlecht ist, dann bleibe ich auf der Stelle und lebe nicht, sondern
werde gelebt.
Der Mensch, der in dieser Haltung lebt, fühlt und interpretiert sein Dasein: so ist es
nun einmal, ich kann ja doch nichts machen. Er nimmt seine Schwächen als
gegeben hin, statt in ihnen eine Aufgabe der Selbsterziehung zu sehen. Auch
wenn man oft der eigenen Willensschwäche unterliegt und es sehr schwer ist, sich
selbst kritisch gegenüber zu treten, ist es doch möglich. Frankl hat den Begriff von
der „Trotzmacht des Geistes“ geprägt. D. h., ich muss mir auch von mir nicht alles
gefallen lassen!
„Die Freiheit der Person ist aber nicht nur eine Freiheit vom Charakter, sondern
auch eine Freiheit zur Persönlichkeit. Sie ist Freiheit vom Sosein und Freiheit zum
Anders-werden“. (Frankl, 1979, 220).
Wenn das Leben des Menschen auf Zukunft und Werden angelegt ist, so befindet
sich der Mensch in einem ständigen Prozess der Möglichkeiten zur Veränderung.
Er sieht sich immer wieder mit der Frage konfrontiert: Was mache ich aus meinem
Leben? Er sieht sich verantwortlich für sein konkretes und persönliches Dasein.
Der Mensch ist vor dem Hintergrund seiner Möglichkeiten das, wozu er sich selber
macht. Aber das gelingt nicht so nebenbei, das ist ein ständiger Lern- und
Veränderungsprozess, der ohne Auseinandersetzungen und sehr oft auch
schweren Verletzungen der Seele nicht möglich ist. Die Selbsterziehung ist also
noch weitaus wichtiger in unserem Leben als unsere Erziehung.
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Auch erlittene „Erziehungsfehler sind keine Entschuldigung, sondern durch