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Jakob Tanner: Der Körper als Sensation. Populäres Wissen über den menschlichen Leib vom 18. bis 20. Jahrhundert, in: Ingrid Tomkowiak (Hg.), Populäre Enzyklopädien. Von der Auswahl, Ordnung und Vermittlung des Wissens, Zürich 2002, S. 253-270.
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Der Körper als Sensation. Populäres Wissen über den menschlichen Leib vom 18. bis 20. Jahrhundert

Mar 10, 2023

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Jakob Tanner: Der Körper als Sensation. Populäres Wissen über den menschlichen Leib vom 18. bis 20. Jahrhundert, in: Ingrid Tomkowiak (Hg.), Populäre Enzyklopädien. Von der Auswahl, Ordnung und Vermittlung des Wissens, Zürich 2002, S. 253-270.

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Jakob Tanner

Der Körper als Sensation

Populäres Wissen über den menschlichen Leib vom 18. bis20. Jahrhundert

Haben wir einen Körper oder sind wir ein Leib?

Menschen haben sich im Verlaufe ihrer Geschichte ganz unterschiedlicheVorstellungen von ihrem Körper gemacht. Einige muten aus heutiger Sichtphantastisch und phantasmatisch an und geben zur Frage nach der Wirklichkeitfremder und fiktiver Bilder Anlass.1 Zu anderen scheinen wir hingegen einenproblemlosen Zugang zu finden, so dass sie uns in der Annahme bestätigenkönnten, körperliche Phänomene seien - im Gegensatz zum kulturellen Wandel,den wir allenthalben finden und der das Denken von Vergangenheit, Gegenwartund Zukunft überhaupt erst ermöglicht - transhistorisch. Aus dieser Sicht kannder Körper als eine «stabile Erfahrung» beschrieben werden, was es verbietenwürde, diesbezüglich überhaupt noch von Geschichte zu sprechen.2 Ausgehendvon widersprüchlichen Deutungen des Körpers und aufgrund je anderer Er­kenntnisinteressen und wissenschaftlicher Paradigmata haben verschiedeneFachdisziplinen - die Philosophie, die Theologie, die Kulturanthropologie, dieSoziologie, die (Wissenschafts-)Geschichte, die Physiologie, die Biomedizin, dieGenetik und die Neurobiologie - unterschiedliche, auch ganz entgegengesetztekognitive Konzepte entwickelt, die erklären sollen, was der Körper ist und inwelchem Verhältnis wir uns zu ihm befinden. In diesem Aufsatz werden einigeGrundlinien des Wandels des Körperverständnisses beschrieben. Dabei wirdvon der These ausgegangen, dass sich im 18. Jahrhundert ein possessiverIndividualismus des Körperverständnisses zu bemächtigen begann. Das «Einen­Körper-Haben» ist in den folgenden beiden Jahrhunderten zu einer Selbstver­ständlichkeit geworden, welche die irritierende Präsenz des Leibes, das «Ein­Körper-Sein», verdrängte. Die Genese des «modernen Körpers» in derAufklärung war kein eindimensionaler Prozess; vielmehr stützten und konterka­rieren sich dabei verschiedenste Diskurse und Praxen. Hygienische Regulations­techniken des Selbst waren daran ebenso beteiligt wie ökonomische Kalküle

1 Einen einführenden Überblick gibt: Lorenz 2000.2 Armstrong 1983; Armstrong prägte - in kritischer Absicht - den Begriff der «stable

experience».

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(Einnahmen - Ausgaben), physiologische Konzepte und physikalische Modelledes Energiekreislaufes, aus denen später die Thermodynamik hervorging.3

Im 18. Jahrhundert wird der Körper auf neue Weise und in der Doppelsinnigkeitdes Begriffs als Sensation begriffen. Eine Sensation wirkt auf die Sinne ein.Immanuel Kant definierte in seiner «Kritik der reinen Vernunft» (1781) die«transzendentale Ästhetik» als «Wissenschaft von allen Prinzipien der Sinnlich­keit»; diese letztere ist Grundlage der Anschauung, die wiederum die Fähigkeitdes Menschen konstituiert, «eine Erkenntnis auf Gegenstände» zu beziehen.4

Das durch den Haben-Modus charakterisierte Selbstverhältnis des Menschen zu«seinem» Körper bezieht damit Sinnlichkeit auf paradoxe Weise auf dieleibliche Existenz, die ebenso Ermöglichungsbedingung jeder sinnlichen Wahr­nehmung ist, wie sie umgekehrt mit den fünf Sinnen das Instrumentarium liefert,mit dem Menschen sich nun anschicken, ihren Körper einer intensiven hygieni­schen Entdeckung und wissenschaftlichen Erforschung zu unterziehen.5

Der Begriff der «Sensation» ist zudem auf die bürgerliche Öffentlichkeit und dieneue «Ökonomie der Aufmerksamkeit» bezogen, die mit dem Prozess derAufklärung in Gang kommen.6 In diesem öffentlichen Raum, in dem sich dasRäsonnement der aufgeklärten Bürger, unterstützt durch kommerzielle Impulse,entfaltet, entstehen nicht nur ein gesellschaftliches Reflexionspotential und neueFormen diskursiver Selbstbeschreibung, sondern auch «Sensationen» als Verdich­tungspunkte öffentlicher Aufmerksamkeit. Wenn wir uns die seit dem spätenMittelalter stattfindenden anatomischen Sektionen von Leichen vor Augen halten,so wird deutlich, dass der Körper längst vor dem Zeitalter der AufklärungGegenstand spektakulärer Inszenierungen und inszenierter Spektakel war.? DasNeue an den Sensationen, die seit dem 18. Jahrhundert auftauchen und die sich im19. Jahrhundert multiplizieren, besteht in ihrer Proliferation durch neue Medien,durch Zeitungen, illustrierte Zeitschriften, Journale und Enzyklopädien, die demaufgeklärten Publikum nicht nur Einsicht in den wissenschaftlichen Erkenntnis­prozess zu vermitteln versuchen, sondern auch Mode und Luxus thematisierten.8

Das Versprechen auf (konsum-)demokratische Teilhabe trieb diesen Populari­sierungsschub ebenso voran wie die Aussicht auf menschlichen Fortschritt und

3 Duden 1987; Sarasin 2001; Richir 1993.4 Kant 1974,69 ff.5 Serres 1994.6 Habermas 1999; Franck 1998, 14. Auf die Kritik an Habermas' idealtypisch-normativem

Modell wird hier nicht eingegangen; es wird jedoch davon ausgegangen, dass der Begriffder Öffentlichkeit wichtig ist, und es wird zugleich postuliert, dass er verstärkt informations­ökonomisch analysiert werden müsste.

7 Sarasin 1998.8 Zur Geschichte der Enzyklopädien vgl. Eybl/Harms/Krummacher/Welzig 1995; te Heesen

1997; Donato/Maniquis 1992.

demokratische Partizipation. Je stärker sich die Wissenschaft im 19. Jahrhundertins Labor zurückzieht und die Kadaver aus der Öffentlichkeit verschwinden, destogrösser wird der Bedarf nach einer medialen Vermittlung von Wissen über denKörper, das nun in den Strom der kleinen Kuriositäten und der «Sensationen desAlltags» integriert wird. Das 18. Jahrhundert stellt den Auftakt zu dieser neuenForm der Verwertung wissenschaftlicher Neuigkeiten dar; zu diesem Zeitpunktsetzte sich in der deutschen Sprache der aus dem Französischen übernommeneNeologismus «Sensation» durch; verwendet wurde er, um von «Empfindung» und«Sinneseindruck» zu sprechen.Im folgenden wird zunächst nochmals auf die unterschiedlichen Möglichkeiten,den Körper zu denken und von ihm zu sprechen, eingegangen. Ein weitererAbschnitt befasst sich mit dem Popularisierungsmedium Enzyklopädie undbezieht dieses auf das Internet. Der Hauptteil gibt einen Überblick über dieDarstellung des Körpers in zwei der wichtigsten Enzyklopädien des 18. Jahrhun­derts. Daran schliesst sich eine Überlegung über den modus operandi derPopularisierung von Wissen im Spannungsfeld von obrigkeitlicher Kontrolleund einer sich in der Bevölkerung ausbreitenden Neugier. Der letzte Abschnittdieses Aufsatzes führt ins 19. und 20. Jahrhundert und schlägt eine Brücke zumaktuellen Willen zum Wissen über den Körper.

Körperdiskurse und Leibeserfahrungen

Auf die Frage, was der menschliche Körper ist, gibt es verschiedene Antworten.Vereinfacht gesagt, gibt es auf der einen Seite jene, die von der Nichthintergeh­barkeit der Körpererfahrung sprechen und in der Leiblichkeit des Menschenangesichts, einer radikalen Historisierung der Welt, die im Säkularisierungs­schub der Aufklärung ihren Ausgang nahm, eine Art natürlicher Bastion sehen,etwas allem kulturellen Schaffen Vorausgesetztes, ja dieses überhaupt erstErmöglichendes und deshalb aus dem Veränderungsstrom der GeschichteAusgespartes: der Körper als Garant authentischer Erfahrung und als Produ­zent wahren Wissens, der Körper als das Reale, das sich im wissenschaftlichenErkenntnisfortschritt offenbart, und als Quelle für Evidenz überhaupt. Demgegenüber stehen Auffassungen, die davon ausgehen, dass am Anfang das Wortsteht - im Sinne des Logos, der sich in das Materielle einschreibt, ihm seinGesetz aufzwingt und so die «Textwerdung des Körpers» auf die «Fleischwer­dung des Gesetzes» bezieht.9 Von anderen theoretischen Voraussetzungen herliesse sich sagen, dass sich der Körper über Diskurse konstituiert und dass sich

9 De Certeau 1988,269.

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Selbstwahrnehmung und Fremdzuschreibungen nicht ablösen lassen von dendiskursiven Schemata, die den Menschen schon immer vorausgesetzt sind. Oderauch: Dass Sprache das Substrat menschlicher Kultur (und das heisst: kommuni­kativer Interaktion) ist - ihrer bewussten Leistungen und ihrer rationalenProduktionen ebenso wie der unbewussten Strukturen und der Phantasmen, dieim Erleben, in der Leibeserfahrung präsent sind. lO

Wie auch immer das Problem gestellt und in welchen fachwissenschaftlichen(theologischen, philosophischen, psychoanalytischen) termini technici diese Apo­rie eines Realen, das nicht spricht, und eines Sprechens, das nicht das Reale ist,ausgedrückt wird: Immer ist eine Theorie der soziokulturellen Konstruktion,das heisst eine konstruktivistische Position im Spie1.11 Einen produktivenhistorischen Ausgangspunkt stellt die Studie von Charles Blondel mit dem Titel«La conscience morbide» aus dem Jahre 1914 dar.12 In dieser Abhandlung wirddie Bedeutung der Sprache und damit jener Vorstellungssysteme und diskursi­ven Regime betont, die dem Individuum vorausgesetzt sind. Für Blondel ist esnicht die Körpererfahrung, die das Bewusstsein prägt, sondern es ist dieGesellschaft, die - mit Hilfe der Sprache - die Steuerung der Bewusstseins­sphäre übernimmt und damit auch das Körperverständnis prägt.13 Und zwarnicht ein beliebiges, willkürliches Verständnis, das diesem Körper bloss äusserlichwäre. Wird der Körper vielmehr als verkörperte kulturelle Konzeption verstan­den, dann wird es möglich, ihn zu historisieren, ihn selber als ein Produkt deshistorischen Wandels zu begreifen. Erfahrung ist in diesem Falle nicht selbstver­ständlicher Ausgangspunkt historischer Deutungen, sondern sie wird selber zumerklärungsbedürftigen Phänomen.14 Damit stellt sich die Frage, auf welcheKategorien eine.solche Erklärung rekurrieren könnte. Wenn die Semantik sichin einer Wechselwirkung zur Pragmatik befindet, wenn also die Bedeutung vonBegriffen auch von ihrem Gebrauch abhängt und damit eine performativeDimension aufweist, dann lässt sich Sprache nicht mehr als abstraktes diskursi­ves System verstehen, sondern ins Blickfeld geraten dann auch Sprechakte unddamit körperliche Phänomene, die wiederum auf das Konzept der Erfahrungzurückweisen.15

10 Sarasin 2001, 454, spricht von den «Phantasmen, die an der Grenzlinie des Symbolischenund des Realen wuchern».

11 Danto 1999.12 Blondel1914.13 Starobinski 1991, 21.14 Scott, Joan: The Evidence of Experience. In: Chandler 1994,363-387. Vgl. auch die Replik

von Thomas C. Holt, ebd., 388 ff., und die Duplik von Scott, ebd., 397 ff.15 Auf diese logische Zirkelschlüssigkeit von Erklärungsmodellen geht ein: Canning 1994.

Im Sprechen über den Körper zeichnet sich also eine Dichotomie ab. Die einensagen: Der Körper ist Natur, wir sind dieser Leib, den wir gar nie verstehenkönnen, und dieser Leib hat sich, seit vor ca. 100'000 Jahren der homo sapiensauf den Plan trat, nicht mehr grundlegend verändert, er ist conditio sine qua nonunserer Existenz, er weist die prometheische Hybris der Menschen in Schran­ken. Und nur diese körperliche Konstanz, verbunden mit der Vorstellung, dasssie uns etwas über die geistigen Fähigkeiten und damit über die Gleichgültigkeitoder -wertigkeit der Menschen aussagt, macht die Denkfigur einer «Einheit desMenschengeschlechts» möglich. Auf dieser somatischen Stabilität basiert auchdie rasante Entwicklung der Biomedizin, die sich ebenso transkulturell wie dermenschliche Körper und damit tendenziell (trotz der krassen Ungleichverteilungder medizinischen Ressourcen) als eine Sozialtechnik der ganzen Menschheitversteht. Die anderen halten dem entgegen, dass der Körper Kultur ist, dassMenschen ihre leibliche Existenz schon immer auf irgend eine Weise verstandenhaben, aber eben in äusserst variablen Formen und Ausprägungen. Auch dieTrennlinie zwischen Menschen und Tieren kann aus dieser Sicht keineswegs auseiner physiologischen Ontologie abgeleitet werden, sondern muss als einekulturelle Orientierungsleistung begriffen werden, die selbst eine wechselvolleund reiche Geschichte aufweist.Es lassen sich nun durchaus Gründe für beide Positionen vorbringen. Die Frage,was der Körper ist, kann weder in der einen noch der anderen Richtungaufgelöst werden. Somit sehen wir uns mit einem Dilemma (oder, unter anderenGesichtspunkten) mit einer Aporie konfrontiert. Die Körpergeschichte ~ undauch eine am Körper interessierte Volkskunde - ist so damit umgegangen, dasssie von einer kulturellen Überformung eines an sich invarianten Körpers sprach.Kleidung, Körperschmuck, Haartracht, Mimik, Gestik, aber auch phänotypischeEigenschaften wie Leibesfülle und Trainingszustand sind von faszinierenderVariabilität - aber alle Menschen verfügen aufgrund der genotypischen Prägungüber dieselbe Anzahl von Extremitäten und verwenden für die Kommunikationdasselbe Sprech- und Hörorgan. Dessen «Modem»-Potentiap6 wird von ver­schiedenen Kulturen allerdings wiederum ganz unterschiedlich genutzt.17 In

16 Mit diesem Begriff wird hier die Modulation, d. h. die Fähigkeit zu sprechen, und dieDemodulation, d. h. die Fähigkeit zu hören und zu verstehen, bezeichnet.

17 Die Gebärdensprache wird damit unter kommunikativen Aspekten nicht als defizitärbetrachtet; sie wird in ihrer Anwendungsbreite und ihrem Wirkungsradius hingegen miteiner spezifischen physiologischen Unfähigkeit (des Hörens) in Verbindung gebracht, diees erschwert, das Sprechen in einer «normalen» Weise zu modellieren. Die Kommunikati­on unter Gehörlosen resultiert aus diesem Versuch, eine defizitäre Ausdrucksform durcheine andere Kommunikationsweise zu ersetzen, die in einem Vergleich nicht herabgestuftwerden kann. Die Beobachtung, dass Mitglieder aller menschlichen Kulturen überwiegend«sprechen», wird dadurch nicht in Frage gestellt.

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diesem Erklärungsmodell ist beides vereinigt: die Natur als stabiler Kern, alseine Art anthropologische Grundausstattung des Menschen,. die Kultur alsDifferenzgenerator, der eine nicht abschliessbare Variation von .Epiphänome­nen und Ausdrucksformen produziert. Im heutigen Sprachgebrauch könntenwir vom Körper als der hardware menschlicher Existenz sprechen; wir wissen,dass diese hardware per se nichts tut und nichts kann, wenn nicht softwaredazukommt, die sofort Spezifik, Diversität, Differenz und Divergenz ins Spielbringt.Diesem Versuch, die Aporie aufzulösen, ist - wie eine grosse Anzahl vonStudien zeigt - durchaus eine deskriptive Produktivität eigen, doch analytischdreht er im Kreis. Weiter führt hingegen die Infragestellung der Natur-Kultur­Dichotomie selbst, die eine der wichtigsten Denkvoraussetzungen der Modernewar - und ist, wobei das «ist» deshalb nur zögerlich ausgesprochen werdensollte, weil inzwischen Naturwissenschaft und Medizin mit Gentechnik undOrgantransplantation zu einer kulturellen Eroberung der menschlichen Naturangesetzt und damit einen Vorgang eingeleitet haben, der diese Fundamental­differenz Kultur/Natur transgrediert. Ganz allgemein droht das zweidimensio­nale Koordinatensystem, innerhalb dessen moralische Probleme gestellt wurdenund das auch den Grundriss unseres akademischen Wissenschaftsgebäudes (mitden von C. P. Snow so genannten «zwei Kulturen») noch immer ausmacht, ausden Angeln gehoben zu werden.18 Wenn der Mensch seine eigenen Natur­grundlagen nicht nur zum Gegenstand praktischer Manipulation, sondern auchzum Produkt eigener Projekte machen kann, dann findet etwas Präzedenzlosesstatt, und wir haben allen Grund zur Annahme, dass wir heute an der Schwellezu einer Entwicklung stehen, für deren Beschreibung und Reflexion weder eintraditioneller Begriff von Kultur noch die bisher wegleitende Vorstellung vonNatur etwas beizutragen vermag. Diese Befindlichkeit hat auch zu. einerInfragestellung des cartesianischen Leib-Seele-Dualismus geführt; das monisti­sche Menschenbild der kognitiven Neurobiologie und des psychologischenMaterialismus könnten dazu verleiten, den Schwanengesang auf den homoduplex anzustimmen;19 eine Reformulierung des Problems, das Descartes im17. Jahrhundert beschäftigte, bietet allerdings Perspektiven, die über die Pauschal­these einer «Vereinigung von Geist und Körper» hinausführen.20

18 Rheinberger 1996; Latour 1995.19 Roth 1997; Geisel 1996.20 Interessant sind diesbezüglich vor allem: Damasio 1997, Danto 1999 und Rogozinski 1996.

Netzwerke populären Wissens

Soweit ein kleiner Exkurs zu einigen Grundproblemen der Körpergeschichte.Ein solches grundsätzliches Nachdenken scheint mir deswegen nötig, weil derKörper zu einem neuen und irritierenden Kristallisationskern medialer Bericht­erstattung und öffentlicher Debatten geworden ist. Nachrichten über Klonen,Gentherapie und Xenotransplantation haben in den Medien einen hohenSensationswert; sozio- und evolutionsbiologische Erklärungsmuster versuchenneue Einsichten in Paarbildung und zwischengeschlechtliche Beziehungsproblemezu bieten; das integrierte Management von Hormonproduktion und Immun­system sowie die medikamentöse Moderation emotionaler Stimmungslagenhaben eine ganze Flut populärer Publikationen freigesetzt; periodisch wird überdie Körperinszenierung an Mega-Paraden sowie über Piercing und Tattoosberichtet. Es gibt zur Zeit einen regelrechten szientifischen Exhibitionismus desKörpers, der zum Gegenstand immer neuer Sensationsmeldungen und effekt­heischender Darbietungen geworden ist. Kaum ein Medium, das nicht regelmässigden Körper vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse, Eingriffsmöglichkeitenund Ausdrucksformen in Szene setzt.Es wird hier meist Stückwerk geboten ~ aber wir können dennoch von einerpopulären Enzyklopädie sprechen, die nun aber nicht mehr eine integrale,sondern eine fraktale Struktur aufweist und sich jenem Typus der Wissens­organisation annähert, der mit dem cyberspace ihre äusserst dynamischeRealisationsform gefunden hat. Es gibt die Meinung, dass der Begriff derEnzyklopädie hier nicht mehr angemessen sei - mit einer Gegenthese wirddarauf insistiert, dass der kyklos eben doch nicht verschwunden ist, denn auchwenn wir die Grenzen des verfügbaren Wissens im «Netz der Netze» trotzimmer leistungsfähigerer search engines nie mehr ausloten können, bleibt diesesWissen doch beschränkt; wir surfen frei und uneingeschränkt, doch einemGlobus gleich findet diese endlose Bewegung in einem limitierten Raum statt; indieser Beziehung ist die Bezeichnung world wide web durchaus angemessen.Was sich hingegen geändert hat, ist die zweite semantische Komponente desKompositums «Enzyklopädie»: also paideia, das heisst Bildung. Hinsichtlich derFähigkeit des Menschen, sich das universal verfügbare Wissen je nochmals inseinem Kopf zu vergegenwärtigen, sind wir einem fortgesetzten Ernüchterungs­prozess unterworfen worden; wir haben - um auf eine wirkungsmächtigeMetaphorik anzuspielen - den Glauben aufgegeben, wir könnten das Meer desWissens jemals austrinken und deshalb üben wir uns in der Technik des Surfens,um voranzukommen, auch um nicht unterzugehen, wir betätigen uns alsNavigatoren, um eine gewisse Orientierung zu behalten, oder wir verstehen unsals Freibeuter und geniessen, derweil wir ziemlich unbeweglich vor dem Bild-

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schirm sitzen, die freie Luft der elektronischen Korsaren, die inzwischenweltweit zum Schrecken aller auf Informationskontrolle abzielenden Mächtegeworden sind.21

Gerade die Abkehr von einem mit der Enzyklopädie einmal intendiertenBildungsideal, die sich im Aufstieg des Internet und der neuen Medien manife­stiert, hat zweifellos die Attraktivität dieser zerstückelnden und zerstückeltenInformationssysteme gesteigert, so dass wir auch sagen könnten, dass diePopularität in dem Masse steigt, in dem die global verfügbare Menge anInformation nicht mehr nach dem Modell eines traditionellen enzyklopädischenWerkes organisiert ist. Der «Kreis» des Wissens, der früher einmal Bildungs­druck erzeugt hat, ist selber virtuell geworden, wir wissen, dass es ihnaufgrundder prinzipiellen Begrenztheit menschlichen Wissens immer noch gibt, aber waswir als Argonauten des cyberspace erfahren, das ist die permanente Entgren­zung, im Meer des Wissens stossen wir nie mehr auf eine Grenze.Die Einsicht in die unkontrollierbare Entwicklungsdynamik der virtuellenWelten kann uns auch für einige Charakteristika der grossen Enzyklopädien,wie sie seit dem 17. Jahrhundert entstanden und im 18. Jahrhundert einen erstenDurchbruch erzielten, sensibilisieren. Wenn wir zum Beispiel Jean Le Rondd'Alemberts und Denis Diderots «Encyclopedie ou dictionnaire raisonne dessciences, des arts et des metiers» zur Hand nehmen, erkennen wir, was imVorwort auch explizit erwähnt wird, dass es neben einer «einfachen» Weise derKonsultation auch eine gelehrte Verwendung gibt, die über die zahlreichen inden Text eingestreuten Verweise, die sogenannten renvois läuft.22 Man hat dieseStichworte mit guten Gründen als prototypische links bezeichnet; die ganzeEnzyklopädie ist in starkem Ausrnass durch interne Verweise verlinkt undermöglicht ein - wenn auch mit aufwendigem Bücherverschieben und Blätternverbundenes - Surfen im Opus, das von Seiten der Autoren jeden Kontroll­anspruch über die Lektüre vereitelt. Wenn man, im vierten Band der 1750erAusgabe, bei CORPS einsteigt, stösst man nach 5 Zeilen bereits auf «voyez» ­das wäre das funktionale Äquivalent zum heutigen Mauscliek - SUBSTANCE,SOLIDE, MOVEMENT. Kurze Zeit später kommt ATOME, dann, wiedereinen Abschnitt weiter: MATIERE, PARTICULE, SOLIDITE, DURETE, esfolgen, auf der nächsten Seite, QUALITE und EXISTENCE (siehe Abb.).Jeder dieser renvois bietet wiederum neue Verzweigungsmöglichkeiten, und dieverschiedenen Pfade der Erkenntnisgewinnung können durchaus zu unter-

21 In den letzten Jahren haben sich insbesondere die Diskussionen um den Schutz vonIntellectual Property Rights und um die Sicherung der Privacy verstärkt.

22 Encyc10pedie 1751-1780. Vgl. dazu Darnton 1993.

Encyclopedie, Bd. VIII, 261.

schiedlichen Auffassungen darüber führen, was jetzt zu einem bestimmtenProblem tatsächlich in der Enzyklopädie drin steht. Die Enzyklopädie bietetalso einen Möglichkeitsraum für Lektüren an.23 Die Intention der Autoren unddie Materialität der Texte vermögen weder Gebrauch noch Bedeutung zudeterminieren. Wir können hier Michel de Certeau folgen, der in seiner«invention du quotidien» die «Kunst des Handeins» analysiert und zeigt, wiewenig der Zusammenhang von Bedeutung und Gebrauch kultureller Artefaktedurch die Pläne und Ideen ihrer Hersteller ein für allemal festgelegt undkontrolliert werden kann.24 Die populärwissenschaftliche Sphäre ist damit durcheine spezifische Instabilität gekennzeichnet; es ist keine scientific community amWerk, die mit ihren Denkzwängen und ihren Experimentalisierungstechnikeneine klar erkennbare «Ordnung des Diskurses» aufrecht erhalten könnte.25

23 Chartier 1985; vgl. auch ders. 1989.24 De Certeau 1988.25 Zum regulierten, disziplinierten Sprechen in wissenschaftlichen Denkkollektiven vgl. Fleck

1980.

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Heute ist der cyberspace ein frappantes Beispiel für diese Offenheit, für diesenfundamentalen Mangel an Kontrolle, der Freiräume öffnet, die Freiheiten seinkönnen - aber, gemäss dieser Logik, keineswegs sein müssen.

Die Aufklärung des Körpers im enzyklopädischen Wissen des18. Jahrhunderts

Die Thematisierung des Körpers war seit dem 17. Jahrhundert in den enzyklo­pädischen Werken massgeblich geprägt vom cartesianischen Dualismus zwi­schen res extensa und res cogitans. Während mit letzterer die unsterbliche Seeledes Menschen bezeichnet wurde, bezog sich erstere auf die sterbliche Hülle, aufden vergänglichen «Tempel des Geistes». In seiner Abhandlung «Über dieLeidenschaften der Seele» unterscheidet Descartes bekanntlich drei Wahr­nehmungskategorien: erstens die «auf äussere Gegenstände bezogenen Vorstel­lungen», zweitens die «auf unseren Körper bezogenen Vorstellungen» unddrittens «die auf die Seele bezogenen Vorstellungen». Daraus ergeben sich diedrei Bereiche Welt, Körper und Bewusstsein, die in unserer täglichen Erfahrung(und so auch in diesem Moment) simultan auftreten und die nur analytischgetrennt werden können. Diese Grundproblematisierung findet sich auch nochin den heutigen Enzyklopädien und Lexika, und zwar werden hier die Definitions­fragen in eine Wiedergabe der Entwicklung der philosophischen Positionen undnaturwissenschaftlichen Kontroversen aufgelöst. Im folgenden konzentriert sichdieser Aufsatz auf zwei zentrale, trotz ihrer zeitlichen Nähe in ihrer Grundorien­tierung aber doch. sehr unterschiedliche Enzyklopädien: auf Zedlers «Universal­lexikon» der 1730er und -40er Jahre und auf die «Encyclopedie» von Diderotund d'Alembert, deren erste Bände zu Beginn der 1750er Jahren erschienen unddie 1780 abgeschlossen war.26

Bei Zedler finden sich die entscheidenden Ausführungen unter den Stichworten«Leib» und «Mensch». Der Beitrag zu «Mensch» beginnt mit der Wiedergabeder Meinungen von «4 Classen» von Philosophen:27 Geht die erste davon aus,«der blosse Cörper mache den Menschen aus», während die Seele bloss einAccidens desselben sei, so hält die zweite dafür, der Körper sei «kein wesentli­cher Teil des Menschen». Die dritte Klasse konfiguriert die Argumentationdurch eine Trias von Leib, Seele und Geist, die mit der Platonschen dreifachenSeele parallelisiert wird: mit der zornigen, der begierigen und der vernünftigenSeele. Die «vierte Classe» neigt dem klassisch cartesianischen Leib-Seele-

26 Zedler 1732-1754.27 Zedler, Bd. 20, 716 ff.

Dualismus zu,· wobei unschwer zu sehen ist, dass diese «gemeine Lehre von 2Theilen des Menschen» auch für das Denken der andern drei Positionenkonstitutiv ist.28 Eine weitere Behandlung des Leibes findet sich unter dementsprechenden Stichwort.29 Hier lesen wir: «Ist ins gemein ein aus gehörigerVermischung derer Elemente oder Unwesen gestaltetes und mit gewissenTheilen versehenes Wesen, wodurch es tüchtig wird, die Kräfte der Nahrung,der Empfindung und der Bewegung nach seiner Art auszuüben. Insbesondereist der menschliche Leib ein zusammen gesetztes Rüstzeug von verschiedenenTheilen und Gliedern, welche fähig sind, durch einen vernünftigen Geist regiertzu werden.» Weiter wird dann über den sich bewegenden Körper gesagt: «Übersolche Bewegung herrschet der vernünftige Geist, der in dem Leibe wohnet,doch nicht überall auf gleiche Weise. Denn etliche dererseiben sind nothwendig,denen hat der Geist entweder gar nicht oder doch nur eine auf beschränkteWeise zu gebieten; die andern aber, so willkürlich, stehen lediglich in seinerGewalt und daher rühret alles äusserliche Thun und würken des Menschen.»Was nun - im Vergleich zu Zedler - bei der «Encyclopedie» der Franzosenauffällt, ist das weit stärkere Interesse an den empirisch objektivierbarenMerkmalen der Körperlichkeit des Menschen, das im 18. Jahrhundert dieAnthropologie als eine neue Wissenschaft vom Menschen begründen sollte.30

Die «beobachtende Vernunft», von der sie sich leiten liessen, versetzte vieleAufklärer in einen Zustand des Staunens; es ist noch immer bewegend, sich dieVerfremdung vor Augen zu halten, welche Philosophen und Naturwissenschaft­ler befiel, wenn sie einen vom metaphysischen Zauber der Theologie befreitenMenschen auf neue Weise zu betrachten begannen.31 Unter CORPS wird in derEncyclopedie zunächst darauf hingewiesen, dass wir nur mit Hilfe unserer Sinnedie Existenz einer Welt ausserhalb unseres Geistes beweisen. können: «Nousconnaissons d'abord que nous avons des sensations.»32 Unter HOMME steht:«Nous ne sommes assures de notre existence que par des sensations. C'est lafaculte de sentir que nous rend presens anous-meme, & qui bientöt etablit desrapports entre nous & les objects qui nous sont exterieurs.»33 Die Sensationensind der Ausgangspunkt für alles Weitere - auch für die Erkenntnis, dass dieKörper der Menschen und der Tiere nach denselben Grundregeln einer Maschi­ne funktionieren; im Band 8, Stichwort HOMME, Unterabschnitt «Exposition

28 Ebd., 723.29 Zedler, Bd. 16, 1504 f.30 Für die Definition von Nahrungsmitteln und die Vernetzung dieser Ausführungen Bonnet

1976.31 Moravia 1989.32 Encyclopedie, Bd. IV, 261.33 Encyclopedie, Bd. VIII, 275.

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anatomique du corps», ist dazu zu lesen: «ce corps, ainsi que celui de tous lesautres animaux, est une machine tres-compliquee, & 'dans··la composition delaquelle entre une infinite d'instruments differens par leur structure & parl'usage auquel ils sont destines.»34 So erstaunt es nicht, wenn wir - wiederumunter CORPS - über das symbolisch hochgradig aufgeladene Blut folgendeentmystifizierende Aussage finden: «L'homme qui mange des aliments de touteespece, & le breuf qui ne vit que d'herbe, ont a-peu-pres le meme sang: l'analysechimique ne montre aucune difference que les sens puissent apper~eoir.»35DerBeitrag HOMME beginnt mit Bemerkungen zur «Histoire naturelle»; es wirdfestgestellt, der Mensch gleiche in materieller Hinsicht den Tieren, «& lorsqu'onse propose de le comprendre dans l'enumeration de tous les etres natureIs, onest force de le mettre dans la classe des animaux.» Der Mensch sei sowohl besserals auch hinterhältiger als jedes Tier, und in dieser doppelten Hinsicht verdieneer den Spitzenplatz in der scala naturae.36

In den Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts wurde gelehrtes Wissen mit starken,eingängigen Bildern vermengt. Wie kam dieses Wissen unter die Leute, wiewurde es rezipiert?37 Waren diese gelehrten Bände das populäre Medium, mitdem die <aufgeklärte> Bevölkerung des ausgehenden Ancien Regime sichinformierte? Wir wissen, dass die Herausgeber der «Encyclopedie» sehr ge­schäftstüchtig waren und die Regeln des kommerziellen marketing und productplacement beherrschten. Historische Studien haben allerdings auch deutlichgemacht, dass die Popularisierung von Wissen über ganz andere Kanäle lief.Lesen war im Frankreich des 18. Jahrhunderts in immer weiteren und keines­wegs nur gebildeten Kreisen zu einer beliebten Beschäftigung, geradezu zu einerSucht geworden.. Die Mächte des vorrevolutionären Frankreichs - die Zünfteund die Monarchie - versuchten ziemlich vergeblich, eine wirksame Kontrolleüber das Angebot zu etablieren. Das zeigt die lange Liste der Verlagsedikte,deren wichtigste 1686, 1723, 1744 und 1777 erlassen wurden. Sie waren Aus­druck der Tatsache, dass die staatlichen Kontrolleure die Rechnung ohne denGrau- und Schwarzmarkt gemacht hatten. In seiner Studie über «Literaturen imUntergrund», die sich mit dem «Lesen, Schreiben und Publizieren im vorrevolu­tionären Frankreich» befasst, schreibt Robert Darnton: «Hunderte von Män­nern [...] betrieben das Untergrundgeschäft, um die französischen Leser mitverbotenen Büchern und Raubdrucken zu versorgen, die niemals die <permissiontacites> hätten erhalten können. Diese literarischen Freibeuter waren farbige

34 Encyclopedie, Bd. VIII, 261.35 Encyclopedie, Bd. IV, 263.36 Encyclopedie, Bd. VIII, 257.37 Für das 19. Jahrhundert vgl. Spree 2000.

Gestalten: die obskuren Schmugglerbanden, die die Bücherkisten für 12 Livresden Zentner und einen kräftigen Schnaps auf mühseligen Pfaden durchsJuragebirge schleppten; die Händler auf beiden Seiten der Grenze, die dieFührer bezahlten und die Wege nach Frankreich ebneten [...].»38 Der Historikergerät hier in einen Untergrund, der zu oft eskamotiert wird, wenn wir uns an dieherausragenden Werke des Zeitalters halten und vergessen, dass sich dasPopuläre noch nie an die Grenzen gesetzter Legalität gehalten hat und sichunter Bedingungen des Verbots über Schwarzmärkte ausbreitet. Dies vielleichtgerade deshalb, weil populäre Vergnügungen auch immer eine leibliche Dimen­sion haben und weil ihre Ausbreitungsmacht somit aus dem Begehren desMenschen herrührt. Bisher hat es noch kein politisches System geschafft, diesemBegehren, diesem Streben nach Sensationen und nach Sensationellem, Einhaltzu gebieten.

Industriegesellschaftliche Einbildungen

Im 19. Jahrhundert setzten sich mit fortschreitender Industrialisierung, die voneinem beschleunigten kulturellen Wandel begleitet und unterstützt wurde, ver­stärkt technische Modelle des menschlichen Körpers durch. Mit dem Aufstieg derThermodynamik, welche die cartesianische Maschinenmetapher des Körpers aufdas Bild eines energietransformierenden «menschlichen Motors» reduzierte, warseit den 1840er Jahren eine Vorstellungswelt geschaffen, die sich optimal in dierationale Szenerie eines mechanisierten industriellen Produktionsprozesses ein­fügte.39 Etwa gleichzeitig mit dem Aufkommen von Elektromotoren, die erstmalseinen dezentralen Antrieb von Fabrikationsanlagen ermöglichten, wurde derArbeiter seit den 1880er Jahren selber als ein mechanomorphes Betriebssystemwahrgenommen, dessen performance und dessen Leistung durch Rationalisie­rungsstrategien optimiert werden sollten.40 Diese kognitive Innovation, die dasKörperbild gleichsam industrietauglich verwissenschaftlichte und mit den Erfor-

38 Darnton 1988, 163.39 Thermodynamische Modelle waren bereits früher in Diskussion. Vgl. dazu Vatin 1993. Es

soll hier nicht die These vertreten werden, dieses Bild des menschlichen Körpers als einerthermodynamischen Kraftwechselmaschine sei gesamtgesellschaftlich dominant gewesen.Ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger (unter alltagsgeschichtlichen Aspekten), war dasBild des hygienischen, des fluiden oder des durch Nervenbahnen elektrisch vernetztenKörpers.

40 Mit dieser Körperwahrnehmung verbunden war der Aufstieg der Arbeitswissenschaft, dieallerdings mit der Ermüdung auf ein Phänomen stiess, das sie nicht durch ein thermodyna­misches Erklärungsmodell zu erklären vermochte. Vgl. dazu: Rabinbach 1992; Sarasin/Tanner 1998.

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dernissen einer «Arbeitsgesellschaft» zur Übereinstimmung brachte, war an sichkeine spektakuläre Angelegenheit. Mit etwas Nachhilfe durch eine Graphikab­teilung konnte man durchaus populärwissenschaftliche Ikonen kreieren, die manals «sensationell» bezeichnen könnte: Der fleissige, industriöse Mensch entdecktsich selber als ein industrielles System, das - weil für die «Krone der Schöpfung»nur das Beste gut genug ist - zum «Industriepalast» gesteigert wird.«Der Mensch als Industriepalast» (siehe Abb.) heisst diese Hängetafel fürSchulen, die aus Stuttgart stammt und aus der Weimarer Republik. Zu sehen istein im Wortsinn «herzloses» Bild, das den input - nämlich «Nahrung» und«Sauerstoff» - und dann mit Liebe fürs Detail, den throughput darstellt, undzwar mit allen technischen Schikanen eines hydraulisch-förderbandunterstütztenKombinationsapparates, der durch ei~e hierarchisch gestaffelte Planungszentraleunter Kontrolle gehalten wird. Der output - einmal abgesehen von der Kohlen­säure, welche der Nase entströmt - bleibt aus der bildhaften Umsetzunghingegen ausgespart. Die Arme sind amputiert. Vielleicht wollte man vermei­den, dass dieser Arbeiter, um den es sich zweifellos handelt, plötzlich die Faustmacht oder nach der Devise handelt: Alle Räder stehen still, wenn dein starkerArm es will, weil er ja selber, obwohl als Palast darstellbar, noch keineswegs ineinem solchen wohnt (und sozusagen auf die Idee kommen könnte, diese seinepalastähnliche Innerlichkeit klassenkämpferisch in der Forderung nach mehrLohn zu veräusserlichen). Plausibler ist wohl die Hypothese, dass sich die«Arbeit» innerhalb der industriellen Arbeitsgesellschaft gleichsam von selbstverstand, während man erklären musste, wie der Arbeiter dazu kommt, solcheunentwegt zu leisten. Wenn die Abbildung aus einer andern Optik betrachtetwird, so enthält. sie die beunruhigende Perspektive einer vollmechanisiertenArbeitskraft, was nichts anderes heisst, als dass Menschen prinzipiell weitge­hend durch Maschinen ersetzt werden könnten, so dass eine - von den wenigenPlanern, die es offenbar auch im Kopf des Industriepalastes noch braucht,einmal abgesehen - menschenleere Fabrik vorstellbar würde.Diese und ähnliche Darstellungen waren, wenn wir ihre mutmassliche Wirkung insAuge fassen, eine Sensation. Jedenfalls ist die Darstellung technisch äusserstraffiniert. Ein Setzkasten, mit dem man einen solchen industriellen Frankensteinhätte zusammenbauen können, hätte wohl als das non plus ultra eines Technik­spielzeugs und als Vollendung jeden Bubentraums gegolten. Die Popularisierungwissenschaftlicher Körperkonzepte korrespondiert - dies zeigt das Beispiel - miteiner weithin vorhandenen Faszination für den man-made man. Zeigte sich dies inder Aufklärung als Streben nach Perfektibilität des Menschen, so transformiertenihn Verwissenschaftlichung und Popularisierung im 19. Jahrhunderts in ein Objektvon Optimierungen, und zwar sowohl heteronomer Rationalisierung als auchsubjektiver Selbstbeherrschung. Der Mensch wurde - so der Physiologe Emil du

Fritz Kahn, Das Leben des Menschen, Band 5, Stuttgart1931 (Anhang).

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Bois-Reymond - zur «Selbstvervollkommnungsmaschine».41 Diese Feststellungbrachte eine massive gesellschaftliche Erwartungshaltung gegenüber dem bürger­lichen Subjekt (zu dem auch der «Arbeiter» gemacht werden sollte) begrifflich aufden Punkt. Das Bild der Körpermaschine fügte sich ein in die Ikonographie derArbeitsgesellschaft, die nun zunehmend piktorale Strategien der Wissens­vermittlung einsetzte - und dies nicht aufgrund einer Präferenz für die vereinfach­te Darstellung, sondern weil der Körper, den man «hat», immer ein Bild ist. DieseBilderflut ist nicht zum Einhalt gekommen; ganz im Gegenteil transportiert sieheute soziotechnische Evidenzen, die zu neuen Vorstellungen der Machbarkeitund Perfektionierung des Menschen zusammengefügt werden.42 Die Kette derSensationen ist nicht abgebrochen, und kulturwissenschaftliche Disziplinen habenallen Grund, sich mit diesen Visualisierungstechniken und Bilderwelten, die heuteim Zentrum der Popularisierung von Wissenschaft stehen, auseinanderzusetzen.

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