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Facetten des Menschlichen Reflexionen zum Wesen des Humanen und der Person Nikos Psarros
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Facetten des Menschlichen

Mar 13, 2023

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Facetten des Menschlichen Reflexionen zum Wesen des Humanen und der Person Nikos Psarros

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Für Peter Janich, der mir das Tor zu einer neuen Welt öffnete

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Vorwort

Dieser Band umfasst Arbeiten, die zwischen 1998 und 2005 im Rahmen meines Heisenberg-Stipendiums an der Universität Leipzig entstanden oder erschienen sind. Eine Ausnahme bildet der Abschnitt Ontologische Vorbemerkungen, der hier zum ersten Mal erscheint. Den gemeinsamen thematischen Hintergrund bilden die Philosophische Anthropologie und die Philosophie der Person, die ich als überlappende Bereiche betrachte. Die Texte sind für diese Ausgabe mehr oder weniger stark überarbeitet worden, sowohl in Bezug auf ihre Form als auch in Bezug auf ihren In-halt, ohne jedoch die Kernthesen zu verändern. Die inhaltlichen Verän-derungen betreffen hauptsächlich den Umstand, dass ich das Verhältnis zwischen einzelnem Lebewesen und biologischer Art nicht mehr nomi-nalistisch auffasse. Diese „Abkehr“ hat es mir ermöglicht, einige Argu-mentationslücken zu schließen und meine Hauptthesen besser herausar-beiten zu können.

Viele wichtige Hinweise und Verbesserungsvorschläge verdanke ich Katinka Schulte-Ostermann und Henning Tegtmeyer, die zusammen mit Kerstin Preiwuß auch die Mühe der Korrekturlesung auf sich genommen haben. Mein Dank geht auch an Peter Heuer, Frank Kannetzky, Thomas Kater, Bettina Kremberg, Geert-Lueke Lueken, Georg Meggle, Volker Schürmann, Pirmin Stekeler-Weithofer und Kristin Wojke, die die Ent-stehung dieser Texte mäeutisch begleitet haben.

Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für die Gewäh-rung des Heisenberg-Stipendiums, das mir die Erschließung dieser Thematik überhaupt ermöglichte.

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Inhalt Ontologische Vorbemerkungen 1

Person und Mensch

Merkmal, Leistung oder Anerkennung Drei Betrachtungen der Personalität 11 Rotpeters Verwandlung 31 Individuelle Enkulturation oder wie findet man den Weg in die Menschheit? 51

Eigenschaften der Personalität

Autonomie und Autarkie 79 Rationalität und Gemeinschaft Sprachanalytische Reflexionen 93 Im Grunde der Seele Anmerkungen zum Gegenstandbereich der Psychologie 111 Schmerzaussagen als Urteilsformen 129

Die Welt der Person und ihre Grenzen

Der Begriff der Lebenswelt 149 Utopien als Demarkationen des Menschlichen 165

Literatur 175

Drucknachweise 181

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Ontologische Vorbemerkungen

Das cartesische Credo und der Sokrat ische Zweifel

Descartes’ methodologisches Credo ist: „illud omne esse verum, quod valde clare & distincte percipio“ – nur das ist wahr, was ich ganz klar und deutlich auffasse.1 Einer alten Tradition folgend setzt er Wahrheit mit Existenz gleich und Existenz mit „Existenz als Substanz“,2 als unab-hängige und autarke „Daseinseinheit“. Klaren und distinkten Begriffen – Ideen in Descartes’ Terminologie – entsprechen separate Substanzen: zunächst die zwei „Großsubstanzen“ res cogitans und res extensa und a fortiori ihre klar und deutlich auffassbaren Bestandteile: Gedanken und Affekte einerseits und die Entitäten der materiellen Welt andererseits.

Die Formulierung dieses Credos war für das von Descartes verfolgte Projekt, die Auslotung der Bedingungen sicheren Wissens, angemessen und zweckdienlich. In der Geschichte der Wissenschaft passiert es je-doch häufig, dass der Erfolg einer Methode dazu verleitet, den Umstand zu missachten, dass Methoden – wie erfolgreich auch immer sie sein mögen – nie universell einsetzbar sind, sondern sich immer an den ver-folgten Zielen orientieren. Der Erfolg einer Methode läßt oft vergessen, dass sie immer ein lokal wirksames Mittel ist und nicht zur Lösung aller Probleme herangezogen werden kann, geschweige denn zu bestimmen, was überhaupt als Problem zu gelten hat. Genau dies passierte aber mit Descartes methodologischem Credo: Manche (Philosophen und Natur-wissenschaftler) schlossen daraus, dass alle Begriffe, die weder „hand-habbare“ noch sinnlich wahrnehmbare Substanzen beschreiben, letzt-endlich leer sind und entweder aus unserem Begriffsinventar entfernt 1 Descartes, 3. Meditation. 2 ibid.

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oder – sofern sie sich doch auf wichtige Bereiche unseres Lebens bezie-hen, wie z. B. die so genannten Qualia, die verschiedenen Formen der Emotionalität oder die Ursache-Wirkungs-Verhältnisse – auf die Wech-selwirkungen von materiellen, sinnlich wahrnehmbaren und handhabba-ren Substanzen zurückgeführt werden sollten. Andere wiederum, die gu-te Gründe für die Existenz von immateriellen Substanzen anführen, müssen mit dem Problem fertig werden, warum und wie, zumindest beim Menschen, Konstellationen immaterieller Substanzen mit denen materieller Substanzen koinzidieren.

Dieses Konfliktschema beschäftigt nicht erst seit Descartes die Phi-losophie. Es waren auch nicht die postcartesischen Philosophen und Wissenschaftler, die das cartesische Credo mißverstanden haben: Schon im Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts überbieten sich Polit-, Mo-ral- und Wissenschaftsexperten beim Aufbieten von Patentrezepten zur Lösung der vielfältigen Probleme der sich entfaltenden Polis, die alle auf dem cartesischen Credo beruhen: Ich – Protagoras, Thrasymachos, Gor-gias, Eythydemos usw.3 – habe eine klare und deutliche Auffassung von … – dem Wissen, der Gerechtigkeit, der Macht der Rede, der Tugend – gefunden. Ergo handelt es sich dabei um eine separate Substanz, die vollkommen erfassbar und von mir und meinen Schülern zu unserem Vorteil handhabbar ist!!!

Gegen diese Überzeugung meldet Sokrates seine Zweifel an und versucht nachzuweisen, dass gerade die klare und deutliche Auffassung der für die Bestimmung des guten Lebens unentbehrlichen Ideen zur Bedingung hat, dass ihnen keine separaten Substanzen entsprechen. Zum Verdruss der selbsternannten Experten, der, wie wir wissen, in blanken Hass umschlug und in der Anzeige wegen Frevels und Verführung der Jugend resultierte, demonstriert Sokrates in vielen Dialogen, dass der Versuch, das Wesen der Tugend, der Besonnenheit, des Wissens oder der Gerechtigkeit in Form einer Auflistung der Eigenschaften einer Sub-stanz zu bestimmen, unweigerlich zu Widersprüchen führt.

Diese Haltung Sokrates’ wird im Dialog Theaitetos besonders deut-lich: Mit Theodoros und dem jungen Namensgeber des Dialogs geht er der Frage nach, ob es ein eindeutiges Kriterium für ubiquitär gültiges Wissen (ἐπιστήμη) gebe und welches dieses Kriterium sei. Ausgehend vom Protagoreischen Diktum, dass dieses Kriterium bzw. Maß der ein-zelne Mensch sei, weist Sokrates nach, dass weder die je eigene Wahr-nehmung noch die je eigenen Präferenzen als Konkretisierung dieses Kriteriums herhalten können. Im Lauf des Dialogs zeigt Sokrates, dass universell gültiges Wissen im Sinne der ἐπιστήμη eine Vielfalt von kon-

3 Vgl. die entsprechenden Dialoge Platons.

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stitutiven Facetten aufweist – Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermö-gen, Vermögen zum Umgang mit Ideen, Vermögen, etwas zu begrün-den, Vermögen zur Teilnahme an Diskursen –, die jedoch einzeln nicht zu seiner vollständigen Bestimmung ausreichen. Die Reduktion von ἐπιστήμη auf eine oder einige dieser Facetten habe vielmehr zur Folge, dass man in unüberwindliche Widersprüche gerät.

Sokrates behauptet freilich nicht, es wäre unmöglich, sicheres und universell gültiges Wissen im Sinne der ἐπιστήμη zu erwerben, oder ein besonnener oder gerechter Mensch zu sein. Diese Ziele aber, so seine Überzeugung, sind nicht materialer, sondern formaler Natur. Das heißt, dass das, was als Wissen, Besonnenheit, Gerechtigkeit usw. ausgewiesen wird, in seiner materialen, inhaltlichen Beschaffenheit je nach Kontext durchaus sehr unterschiedlich ausfallen kann. Die Bestimmung des Ziels ist somit an keine konkrete Methode gebunden, mit deren Hilfe irgend-eine konkrete Form von Wissen, Besonnenheit, Gerechtigkeit usw. er-worben wird. Es geht vielmehr um die Bedingungen, die die Form selbst bestimmen, wobei diese Bedingungen von unseren Vorstellungen des guten Lebens abhängig sind. Nicht die Methode bestimmt das Wesen dieser Ziele, sondern der Entwurf, der das durch die Technik Erreichbare transzendiert.

Sokrates ist es nicht gelungen, seine Gegner von der Richtigkeit sei-ner Ansichten zu überzeugen: zu verlockend ist die Aussicht auf voll-ständige Durchdringung und Beherrschung des Untersuchungsgegen-standes, die ja durchaus sehr erfolgreich kann – wie uns die Naturwis-senschaften und die Technik schon damals demonstrierten. Trotz mehr-facher Verweise seitens von Philosophen in der sokratischen Tradition auf diverse Agrippasche, Friessche und Münchhausen-Trilemmata, die auf die Situiertheit und auf die begrenzte Reichweite jeder Begründung und Wesenserfassung aufmerksam machen wollen, bastelt die Fraktion der cartesischen Substantialisten seit Protagoras, Gorgias, Thrasymachos und Co. nach dem Vorbild der Geometrie, der Arithmetik und der Na-turwissenschaften hartnäckig an der alleingültigen Definition von „Le-ben“, „Natur“, „Wissen“, „Gerechtigkeit“, „Freiheit“ usw. – und natür-lich auch von „Mensch“.

Was ist der Mensch?

Was ist der Mensch? Schon die Formulierung lässt ahnen, dass eine Ant-wort im Sinne des cartesischen Credos erwartet wird: Als Beschreibung einer Substanz, die neben anderen Substanzen – Katzen, Pappeln, Lö-

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wen, Salz, Wasser, Gold und den übrigen Lebewesen- und Stoffarten – zur Ausstattung der Welt gehört.

Substanzen erscheinen in der Welt in einer eigentümlich doppelten Weise, die seit Aristoteles die Philosophen beschäftigt, nämlich als ein-zelgegenständliche Realisierungen von Arten. Meine Katze realisiert die wesentlichen Merkmale der Katzenart, von denen manche obligatorisch für alle Katzenindividuen sind, wie das Miauen, das Schnurren oder das katzentypische Apportieren und das Balzverhalten, und manche „fakul-tativ“, wie etwa die Farbe, das Muster und die Beschaffenheit des Fells, die Körperform oder bestimmte „Charakterzüge“, die typisch für man-che Katzenrassen sind. Als Repräsentant einer höheren Tierart zeigt meine Katze natürlich auch ein Verhalten, das individuelle Merkmale aufweist, und auch ihre körperliche Beschaffenheit weicht von der Art-norm in manchen Punkten ab.

Die Beschreibung der Art „Katze“ setzt sich aus diesen beiden Li-sten von obligatorischen und fakultativen Artmerkmalen zusammen, die auch die Möglichkeiten der individuellen Entfaltung eines Katzenindivi-duums bestimmen. Beide Listen legen fest, was als krankhafte Abwei-chung, was als Verbesserung und was als neutrale Variation bzw. als in-dividueller Zug meiner Katze angesehen werden soll. Artbeschreibungen verweisen auf eine normative Kraft, die den Rahmen für die Zugehörig-keit eines Individuums zu einer bestimmten Art absteckt und die Güte dieser Zugehörigkeit bestimmt. Diese Kraft wirkt nicht von außerhalb auf das Individuum ein, sondern entfaltet sich aus seinem Inneren her-aus. Sie ist keine causa efficiens, sondern eine causa finalis, eine vom Ziel, von der Art ausgehende Kraft, die das Individuum zwingt, diese zu realisieren. Das formale, naturgesetzmäßig normative und teleologische Art-Individuum-Verhältnis gilt übrigens nicht nur für Tierindividuen und ihre Arten, sondern für alle Substanzen, seien sie Lebewesen, Stoffe oder physikalische Körper, auch wenn es im Bereich des Stofflichen und des Physikalischen anders erscheint. Es ist die Basis für den Aufbau der Naturwissenschaften, die diese inneren Individuum-Art-Gesetze und die Verhältnisse und Gesetzmäßigkeiten zwischen den Substanzen ihrer Ge-genstandsbereiche untersuchen.

Gemäß dem cartesischen Credo wird der Mensch als Substanz ange-sehen, die in der Welt in dieser doppelten Weise als Individuum und als Art erscheint. Generationen von Biologen, Anthropologen und Philoso-phen haben sich bemüht, die Merkmale dieser Art zu bestimmen. Die damit verbundenen Aporien werden im zweiten Beitrag dieses Bandes (Rotpeters Verwandlung) erörtert und münden in das Fazit, dass, auch wenn der Ausdruck „Mensch“ eine Art benennen sollte, diese Art keine Lebewesenart ist, da die artbildenden Merkmale des Menschen einem

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anderen Bereich angehören als dem Bereich des Lebens. Doch auch wenn wir diesen Bereich erschließen, bleibt immer noch die Frage offen, ob der Mensch überhaupt als Art aufgefasst werden kann. Denn späte-stens seit Hobbes, Rousseau und Kant wissen wir, dass im Gegensatz zu allen anderen Substanzen der einzelne Mensch nicht (oder höchstens im Idealfall) aus innerem Antrieb heraus die Vorgaben seiner Art realisiert. Menschen bedürfen dazu der Hilfe der Erziehung und des Rechts und somit des Staates bzw. der Gesellschaft. Darüber hinaus ist das, was durch die Sozialisierung erreicht wird, nicht die Realisierung der Art Mensch, sondern die Befolgung verschiedener, lokal gültiger und bezüg-lich bestimmter Aspekte durchaus untereinander inkompatibler Normen, welche durchaus – im Gegensatz zu Naturgesetzen – aus eigenem An-trieb verletzt werden können, so dass es eines Korrektivs bedarf, sei es in Gestalt der Erziehung, des sozialen Drucks oder der rechtsbewehrten Sanktion, um die jeweilige Norm durchzusetzen.

Dieses Unvermögen des Menschen, das „Naturgesetz seiner Art“ aus innerem Antrieb zu befolgen, ist von vielen Denkern der Neuzeit4 dia-gnostiziert, beschrieben, bedauert oder zum tragischen Grundzug der Conditio Humana erklärt worden. Die im frühen 20. Jahrhundert von Scheler, Plessner und Gehlen entwickelte „Philosophische Anthropolo-gie“ stellte einen letzten Versuch dar, einen kohärenten Begriff des Menschen im Rahmen des cartesischen Substanzparadigmas zu entwik-keln, der im Gegensatz zu früheren Entwürfen einen „Mangel“ als die positive differentia specifica zwischen Menschen und anderen Lebewe-senarten erkennt. Dieser Mangel wird als faktische, phänomenologisch erfassbare Wesenseigenschaft expliziert, was dazu führt, dass die Philo-sophische Anthropologie, trotz aller neuerlichen Wiederbelebungsversu-che,5 in eine ex-falso-quodlibet-ähnliche Aporie gerät, denn sie will aus der faktischen Negation eine positive Bestimmung des Menschen ge-winnen.

Das Scheitern des cartesischen Substantialismus lässt die sokrati-schen Skeptiker6 wieder ihre Zweifel anmelden: Vielleicht ist der „Man-gel“ des Menschen keine Negation, sondern eine Remotio,7 eine „Auf-hebung einer Begrenzung“ ist.8 Vielleicht ist der Mensch keine endliche 4 Zu den prominentesten gehören Hobbes, Rousseau, Locke, Hume, Kant,

Sartre und Rorty. 5 Vgl. z. B. Krüger und Lindemann 2006. 6 Dazu gehören in der Neuzeit Berkeley, Hegel, Wittgenstein, Heidegger,

Kafka und Simone Weil. 7 Remotio ist ein Thomistischer Terminus, der verständlich machen soll,

warum „negative“ Prädikate Gottes (Unendlichkeit, Unerschaffenheit etc.) kein Ausdruck des Mangels, sondern der Vollkommenheit sind.

8 Dieser Gedanke liegt dem Beitrag Autonomie und Autarkie zu Grunde.

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Substanz, die einem Artgesetz unterliegt. Vielleicht ist das Verhältnis zwischen einem einzelnen Menschen und dem „Menschsein“ so geartet wie das Verhältnis eines Lebewesens zum Leben: Ein Lebewesen steht in keinem direkten Verhältnis zum Leben, sondern nur vermittels seiner Artzugehörigkeit. Der Begriff „Leben“ bezieht sich auf eine wechselsei-tige Abhängigkeit zwischen Prozess und Substanz, die das eigentümli-che Verhältnis zwischen Einzellebewesen und Art bestimmt: Die Le-bensprozesse erzeugen, geleitet durch die naturgesetzmäßige Kraft der jeweiligen Artnorm, die Einzellebewesen, welche ihrerseits die Artnorm realisieren und durch ihr Leben dafür sorgen, dass die Lebensprozesse aufrecht erhalten werden. Die Lebewesenarten bilden innerhalb des Weltbereiches „Leben“ ein System, das die Wirkung der Lebensprozes-se strukturiert, so dass das Leben immer in Gestalt eines (Öko-)Systems verschiedener Arten erscheinen muss.9 „Das Leben“ selbst ist daher kei-ne Substanz, die irgendeinem Naturgesetz unterliegt und als solche Ge-genstand einer Wissenschaft sein kann. Was die Lebenswissenschaften untersuchen, sind Aspekte des Lebens – das System der Arten, die ver-schiedenen Lebensprozesse, die Stoffe, die für die Lebewesen konstitu-tiv sind usw.

In ähnlicher Weise stellt das „Menschliche“ bzw. die „Menschheit“ (oder „DER Mensch“) denjenigen Weltbereich dar, worin die einzelnen menschlichen Individuen ihre Lebensläufe innerhalb des Normenrah-mens ihrer jeweiligen Gemeinschaften beschreiben. Das Verhältnis zwi-schen einzelnem Menschen und der Menschheit ist wie das Verhältnis zwischen einem Lebewesen und dem Leben. Es ist kein direktes Ver-hältnis, sondern wird durch die jeweilige Zugehörigkeit zu einer Ge-meinschaft vermittelt, genauso wie das Verhältnis eines Lebewesens zum Leben durch seine Artzugehörigkeit vermittelt wird. Und genauso wie die Arten innerhalb des Lebens Ökosysteme bilden, bilden die Ge-meinschaften innerhalb der Menschheit Systeme, die den Untersu-chungsgegenstand für die diversen Sozialwissenschaften abgeben.

Hier hört freilich die Analogie zwischen dem Bereich des Lebens und dem Bereich des Menschlichen auf, denn im Bereich des Menschli-chen besteht ein anderes Verhältnis zwischen Substanz und Prozess. 9 D. h., es ist zwar ein Ökosystem denkbar, das nur eine Art enthält, etwa

eine chemo- oder photoautotrophe Spezies (eine Flechte, oder ein Bakteri-um o.ä.). Es ist jedoch undenkbar, dass das Leben sich in Gestalt eines globalen Organismus erscheint, wie etwa in S. Lems Roman Solaris (Lem 1975). Solaris, ein „Planet-Lebewesen“, das die es erforschenden Wissen-schaftler selbst erforscht und fast in den Wahnsinn treibt, kann deshalb kein Lebewesen sein, weil es nicht klar ist, inwiefern es eine Artnorm rea-lisiert, da es laut Plot keine Möglichkeit gibt, dieses vermeintliche Lebe-wesen zu reproduzieren.

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Wird das einzelne Lebewesen10 durch naturgesetzmäßige Prozesse er-zeugt und sorgt es durch sein durch das Naturgesetz seiner Art bestimm-te Verhalten dafür, dass diese Prozesse aufrecht erhalten werden, sind die Prozesse, die zur Herausbildung eines Menschen (im Sinne des spe-zifisch Menschlichen) führen, nicht naturgesetzlicher, sondern rein nor-mativer Art. Zu ihrer Entfaltung bedürfen sie der aktiven Befolgung durch das Handeln dieses Menschen, der dazu durch Einsicht und/oder durch das Vorbild (und dort, wo dieses nicht ausreicht, durch den sozia-len Druck) seiner Gemeinschaft motiviert wird. Im Gegensatz zu einem Lebewesen, das seinem Ausgeliefertsein an das Gesetz seiner Art nicht bewusst ist, ist sich der einzelne Mensch seiner Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und seiner Unterordnung unter ihre Normen bewusst und in der Lage, diese Unterordnung aufzukündigen, wenn diese Gemein-schaft nicht mehr zwischen ihm und dem Menschlichen vermittelt.11 Das einzelne Lebewesen kann sich keine neue Art aussuchen, wenn seine artspezifische Verfassung ihm die Teilnahme am Leben nicht oder nicht mehr ermöglichen kann.12 Es geht ein und mit ihm geht seine Art unter. Der einzelne Mensch kann sich einer anderen Gemeinschaft anschließen oder zusammen mit Anderen eine neue gründen.

Facetten des Menschl ichen

Die Erkenntnis, dass das Menschliche keine homogene Substanz dar-stellt, sondern einen mannigfaltig strukturierten Weltbereich, macht es verständlich, warum die in diesem Band versammelten Beiträge nicht „das Wesen“ des Menschlichen zu ergründen versuchen. Dieses Wesen, diese Substanz gibt es gar nicht, es gibt nur Aspekte – Facetten – des Menschlichen, die zwar klar und deutlich begrifflich voneinander unter-scheidbar sind, aber nicht im Sinne von Substanzen autark existieren können. Dies gilt nicht einmal für die einzelnen Menschen und die Ge-meinschaften, denn beide können nicht autark, d. h. ohne Bezug auf und unabhängig von anderen Menschen und Gemeinschaften und ohne Be-zug auf das Menschliche, existieren. Die Facetten des Menschlichen zu thematisieren bedeutet also nicht, dass aus kontingenten Gründen bloß

10 Im rein biologischen Sinne. 11 In diesem Sinne kann Hobbes’ Widerstandsrecht gegen einen Souverän,

der einen Bürger aus dem Gesellschaftsvertrag ausschließt, verstanden werden.

12 Z. B. weil die Umweltbedingungen sich so geändert haben, so dass die na-türlichen artspezifischen Fähigkeiten dieses Lebewesens ihnen nicht mehr angemessen sind.

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Bruchstücke einer Philosophischen Anthropologie vorgestellt werden, sondern dass die Philosophische Anthropologie keine Wissenschaft im Sinne einer Natur- oder Sozialwissenschaft sein kann. Ihre Leistung be-steht darin, die einzelnen Facetten des Menschlichen begrifflich klar zu erfassen und die formalen Bedingungen zu explizieren, die zur Entfal-tung eines menschlichen Lebens notwendig sind.

An dieser Stelle könnte der cartesianische Substantialismus noch einmal seine Chance wittern, doch zu seinem einheitlichen Gegenstand zu kommen, indem er die Forderung nach Vollständigkeit und Abge-schlossenheit erhebt. Doch auch in dieser Hinsicht soll er enttäuscht werden: Die Liste der Facetten eines jeden Weltbereiches – nicht nur des Menschlichen – ist nämlich grundsätzlich offen, denn sie zeigen sich erst, wenn der übliche Ablauf der Prozesse gestört bzw. von uns in eine unerwartete Richtung umgelenkt wird. Da aber die künftigen Zielset-zungen unseres Handelns im Voraus nicht auslotbar sind, ist die Voraus-sage von damit verbundenen Störungen ebenfalls nicht möglich. Des-halb können wir auch nicht sagen, wie viele und welche Facetten sich noch im Dunkeln des Störungsfreien verborgen halten und auf den Lichtstrahl der Kontingenz warten, um Gestalt anzunehmen.

Die Offenheit in der Anzahl und der Art der Facetten heißt aber nicht, dass es keine Gewichtung unter ihnen und keine „Entwicklungs-richtung“ gibt. Im Bereich des Lebens ist die wichtigste Facette das Sy-stem der Lebewesenarten, das offensichtlich darauf ausgerichtet ist, Tie-re hervorzubringen – Lebewesen, bei denen die Lebensprozesse eine vollständige Einheit von Stoff und Form in Gestalt von voneinander un-abhängig lebenden Individuen erzeugen. Im Bereich des Menschlichen scheint die wichtigste Facette das System der Gemeinschaften zu sein sowie das Ziel der menschenbildenden Prozesse das Hervorbringen von Personen, von autonomen und freien Menschen, die sich bei aller Aner-kennung ihrer Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Gemeinschaft sich nö-tigenfalls gegen diese richten können, weil sie den formalen universellen Normen des Menschlichen verpflichtet sind.

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Person und Mensch

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Merkmal, Leistung oder Anerkennung?

Drei Betrachtungen der Personalität

Varianten von „Person“

Der Ausdruck „Person“ spielt eine große Rolle in allen Zusammenhän-gen, in denen unser gemeinschaftliches Handeln und Erleben sprachlich thematisiert wird. In der Welt dieses Handelns wimmelt es von Perso-nen. Dieser Ausdruck wird in gewissen Kontexten etwa synonym zu „Standardmensch“ verwendet: Es heißt dann, dass die zulässige Trag-kraft von Aufzügen 10 Personen oder 700 kg beträgt oder dass in diesem Bus, Eisenbahnwagen oder Auto soundsoviele Personen stehend und sit-zend Platz finden können. In anderen Kontexten bezeichnet er bloß die so genannte Artzugehörigkeit, so dass eine Aufforderung oder ein Ver-bot nach beliebigen physiologischen und biologischen Merkmalen aus-differenziert werden kann: Personen unter 18 Jahren, mit folgenden Be-schwerden…, über oder unter einer Gewichtsgrenze…, mit oder ohne medizinischen Lebenshilfen wird der Zugang verwehrt oder erlaubt, oder die Betroffenen müssen oder sollten sich einer bestimmten thera-peutischen Behandlung unterziehen usw. In manchen natürlichen Spra-chen steht der Ausdruck „Person“ für die unbestimmten Ausdrücke „man“, „niemand“, „ein Mensch“ bzw. im Plural „Personen“ für Men-schen oder Leute im Allgemeinen oder mit einem Numeral versehen für eine bestimmte Anzahl von Menschen.

Interessanter ist der Gebrauch von „Person“ in Fällen, in denen eine gewisse „Bewertung“ des Geschehens vorgenommen wird: Bei der Be-schreibung von Gewalteinwirkungen und Unfällen wird z. B. zwischen „Personen-“ und „Sachschäden“ differenziert, wobei Angehörige aller anderen Tierarten unter den Begriff „Sache“ fallen, es sei denn, es liegt ein Spezialfall vor, der eine weitere Unterscheidung erforderlich macht

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oder gebietet. Die Personenschäden werden dabei anders bewertet bzw. behandelt als Sachschäden: Personenschäden müssen öffentlich gemacht werden, normalerweise indem man unverzüglich Polizei und Rettungs-dienste benachrichtigt. Sachschäden hingegen können – bis zu einer ge-wissen Grenze und immer im Normalfall – privat geregelt werden. Per-sonenschäden ziehen darüber hinaus in jedem Fall eine strafrechtliche Behandlung nach sich, auch wenn es nicht immer zu Anklagen kommt.

Aus dieser besonderen Behandlung von Personenschäden, aber auch aus anderen Fällen, in denen menschliche Individuen wegen ihres Status als „Personen“ – zunächst – anders behandelt werden als alle anderen Lebewesen und Dinge, wird ersichtlich, dass mit dem Zusprechen des Ausdrucks „Person“ das Zusprechen bestimmter Rechte und Pflichten verbunden ist. Insofern ein menschliches Individuum als Person betrach-tet wird, genießt es in unserem Kulturkreis einen gewissen Schutz seiner körperlichen und geistigen Integrität, es hat Anspruch darauf, dass Schäden an ihm nicht bloß behoben, sondern auch entschädigt bzw. ge-sühnt werden, es genießt verschiedene andere bürgerliche und staatsbür-gerliche Rechte (z. B. Recht auf Eigentum, Recht auf Selbstbestimmung, Recht auf Unverletzlichkeit eines bestimmten räumlichen Bereichs, der sog. „Privatsphäre“, Recht auf Teilhabe an politischen Prozessen usf.) und hat auch eine Reihe von Pflichten zu erfüllen, die mit der Gewäh-rung dieser Rechte zusammenhängen. Es darf z. B. die entsprechenden Rechte anderer nicht verletzen und muss seine eigenen Rechte „umsich-tig“ anwenden bzw. geltend machen. Zusammenfassend kann man sa-gen, dass eine nichttriviale Verwendungsweise des Ausdrucks „Person“ die im Sinne eines Rechtssubjektes ist.

In unserem Kulturkreis existieren jedoch auch Rechtssubjekte, die keine individuellen menschlichen Lebewesen sind. Es gibt diverse Insti-tutionen wie Staaten, Handelsgesellschaften, Vereine und Universitäten, die ebenfalls mit Rechten und Pflichten ausgestattet sind. Im Unter-schied jedoch zu den einzelnen Personen, die ihre Rechte und Pflichten selbst in die Hand nehmen können bzw. sollen, bedarf die Inanspruch-nahme der Rechte und die Umsetzung der Pflichten von Institutionen der Vermittlung der Handlungen von Individuen – ob diese zu diesem Zweck auch individuelle Personen sein müssen oder nicht, möchte ich hier nicht erörtern. Um diesem Umstand terminologisch gerecht zu wer-den, unterscheiden wir zwischen natürlichen und juristischen Personen. Trotz ihrer gravierenden Unterschiede in der physischen, biologischen und sozialen Konstitution sind natürliche und juristische Personen in ei-ner bestimmten Hinsicht gleichgestellt. Beide Gruppen dürfen ihre Rechte öffentlich geltend machen, beide genießen Rechtsschutz, beide müssen ihre Pflichten, wie auch immer sie geartet sein mögen, erfüllen.

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Eine weitere Gebrauchsweise des Wortes „Person“ bezieht sich auf unsere Fähigkeit, uns individuelle und gemeinsame Ziele zu setzen und zu verfolgen, über unser Tun zu reflektieren, für unsere Zielsetzungen zu argumentieren, aktiv und bewusst in die Welt einzugreifen und das Be-wusstsein einer individuellen Kontinuität zu besitzen (Ich-Stabilität). Diese Gebrauchsweise findet sich allerdings nur in spezifischen Diskur-sen, die traditionell in den Bereich philosophischer Reflexion fallen. In der alltäglichen Rede benutzen wir die Ausdrücke „Person“ bzw. „Per-sönlichkeit“ in einem etwas eingeschränkten Modus, nämlich um uns auf die spezifischen Charakterdispositionen eines Individuums zu bezie-hen, auf die Art und Weise, wie der Betreffende Probleme anpackt, auf sein Gebaren, auf seine typischen Reaktionen in bestimmten Situationen.

Um die beiden letzten Verwendungsweisen von „Person“ besser un-terscheiden zu können, spricht man in philosophischen Diskursen von moralischen Personen, wenn die Rechte und die Pflichten natürlicher oder juristischer Individuen Gegenstand der Betrachtung sind, und von metaphysischen Personen, wenn man sich auf den kognitiven, aktiven und bewusstseinsmäßigen Aspekt dieser Individuen bezieht.1

Das philosophische Interesse an beiden „Arten“ der Personalität be-ruht auf mehreren Motiven. Die Teilaspekte der metaphysischen und der moralischen Personalität berühren erkenntnistheoretische bzw. ethische Fragestellungen und gehören deshalb schon seit den Anfängen systema-tischen Philosophierens zu seinen Gegenständen, auch wenn der einheit-liche Ausdruck „Person“ erst in neuerer Zeit für diese Zwecke verwen-det wird. Eine besondere Bedeutung, die über den innerphilosophischen Diskurs hinausgeht, hat der Personenbegriff allerdings im Zuge der jüngsten so genannten „bio-ethischen“ Debatten erhalten, bei denen es um Probleme wie Euthanasie, Abtreibungsverbot, Tierversuche oder Sterbehilfe geht. Zentraler Punkt dieser Debatten ist die Frage, welchen Individuen in welchem Ausmaß die mit der moralischen Personalität verbundenen Rechte auf Lebensschutz zu gewähren sind, d. h. ob es nicht Situationen oder Individuen gibt bzw. geben kann, bei denen das strikte Tötungsverbot, das uns als Recht gegeben und als Pflicht aufer-legt ist, aufgeweicht werden darf oder sollte. Im Falle des Tierschutzes wird zusätzlich die Frage behandelt, ob einige Aspekte der moralischen Personalität auch anderen Lebewesen außer den Angehörigen unserer Art gewährt werden sollten.

Eine mögliche Antwort besteht darin, einige oder gar sämtliche Aspekte der moralischen Personalität zu „privilegierten“, nichtbiologi-schen Merkmalen der Mitglieder der Art Homo sapiens zu erklären. Mo-

1 Vgl. dazu Stoecker 1997.

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ralische Personalität und Artzugehörigkeit fallen somit zusammen. Diese Verknüpfung zwischen moralischer Personalität und Artzugehörigkeit wird durch religiöse oder metaphysische Argumente gerechtfertigt, etwa durch Verweis auf Schöpfungsgeschichten oder göttliche Gebote oder auf die Einzigartigkeit der Menschen im irdischen Ökosystem. Solche Argumentationsmuster machen sogar einen Kern des Religiösen aus. Deshalb wird diese Haltung hier auch als die Theorie von der Heiligkeit menschlichen Lebens bezeichnet, kurz als Heiligkeitstheorie.2 Ihre ethi-sche Konsequenz ist u.a., dass menschliches Leben einen strikten Schutz genießt, der vom Tötungs- bzw. Selbsttötungs- über das Euthanasie- und Sterbehilfe- bis zum Abtreibungsverbot reicht. Diese Haltung wird von einigen Gruppen in unserer Gesellschaft als zu rigoros empfunden, wo-bei insbesondere die Unhaltbarkeit bzw. mangelnde Tragfähigkeit der Begründung hervorgehoben wird. Das strikte Tötungsverbot gerät häufig in Konflikt mit anderen Rechten oder Pflichten, die Bestandteil der mo-ralischen Personalität sind, etwa dem Recht auf adäquate medizinische Versorgung von heilbaren Patienten, das durch Ressourcenbindung für die Lebenserhaltung von unheilbar Kranken im Endstadium einge-schränkt sein könnte, oder dem Recht auf Selbstbestimmung des Indivi-duums im Falle eines unheilbar Kranken, der seinem Leben ein würdi-ges Ende geben möchte, oder einer schwangeren Frau, die zum Schluss kommt, dass die Geburt und Aufzucht eines Kindes ihren Lebensplan empfindlich stören würde.

Ein säkularisierter Gegenentwurf will diese Konflikte vermeiden bzw. lösen helfen, indem er die moralische Personalität an eine meta-physische bindet und zwar so, dass letztere eine notwendige und hinrei-chende Bedingung für die erstere darstellt. Das Vorhandensein einer me-taphysischen Personalität hat dann notwendigerweise das Zusprechen der moralischen Personalität zur Folge. Eine metaphysische Person ge-nießt den moralischen Personen zukommenden Lebensschutz. Diese notwendige Konsequenz erlischt jedoch bei Nichterfüllung der Anteze-densbedingung. Es ist zulässig, einem Individuum die moralische Perso-nalität abzusprechen (und somit die damit verbundenen Schutzrechte ab-zuerkennen), wenn es keine Merkmale der metaphysischen Personalität aufweist. Man sollte hier beachten, dass unter diesen Umständen die

2 Der Terminus Heiligkeitstheorie lehnt sich an die Bezeichnung These von

der Heiligkeit des menschlichen Lebens an, die von Peter Singer geprägt wurde (Singer 1994: 116). Die Heiligkeitstheorie wird im Allgemeinen von den größeren monotheistischen Religionen vertreten. Einen umfassenden philosophischen Entwurf zur Konstitution von Person und Personalität, der auf heiligkeitstheoretischen Überlegungen beruht, hat Robert Spae-mann vorgelegt. Vgl. Spaemann 1996.

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Aberkennung nicht geboten, sondern lediglich erlaubt ist. Diese Auffas-sung möchte ich als die Junktimtheorie bezeichnen.3

Die Aspekte der metaphysischen Personalität werden ihrerseits als kognitive Leistungen des einzelnen Individuums angesehen, für deren Zustandekommen die biologische Artzugehörigkeit eine zwar hinrei-chende, aber nicht notwendige Bedingung ist. Metaphysische Personali-tät wird nicht als biologisches Artmerkmal, sondern als organismische Systemeigenschaft verstanden. Ich möchte eine derartige Auffassung von metaphysischer Person bzw. Personalität die Lockesche Personen-theorie nennen.4 Für einen Vertreter dieser Theorie ist es möglich, dass es Exemplare des biologischen Typus Mensch gibt, die keine Merkmale metaphysischer Personalität aufweisen. Dafür kann es aber Vertreter an-derer Spezies geben, denen man diese Merkmale zuschreiben kann bzw. muss. Ethische Konsequenz dieser Einstellung ist, dass sobald ein Indi-viduum die Merkmale der metaphysischen Personalität nicht aufweist, es keinen Anspruch auf eine strikte Respektierung seiner moralischen Personalität hat. Das Leben unheilbar Kranker im fortgeschrittenen Sta-dium und im komatösen Zustand dürfte demnach zumindest passiv durch Einstellung der lebenserhaltenden Maßnahmen beendet und Föten, insofern sie nicht erwünscht oder insofern erkennbar wird, dass die ge-borenen Individuen auf Grund schwerer Defekte eine Bürde für Eltern und Gesellschaft darstellen, abgetrieben werden.

Ich bin der Ansicht, dass die Heiligkeits- und die Junktimtheorie so-wohl zur Beschreibung der Situation, nämlich der Tatsache, dass wir Träger von besonderen „personalen“ Eigenschaften und Subjekte be-stimmter Rechte und Pflichten sind, die unseren individuellen Lebens-vollzug betreffen, als auch zur ethischen Rechtfertigung der praktischen Entscheidungen im relevanten Bereich hoffnungslos inadäquat sind. Ich werde deshalb im Folgenden zu zeigen versuchen, wie moralische und metaphysische Personalität unabhängig voneinander rekonstruiert wer- 3 Die Junktimstheorie ist in Form der These von der Heiligkeit personalen

Lebens ist von Peter Singer und ohne eigene terminologische Prägung u.a. von Glover 1977 vertreten worden.

4 Vgl. J. Locke, Versuch: Kap. 27, §9 u. 10:

„Meiner Meinung nach bezeichnet dieses Wort [Person] ein denkendes, verständi-ges Wesen [nicht unbedingt ein Individuum der Spezies Homo sapiens – N. P.], das Vernunft und Überlegung besitzt und sich selbst als sich selbst betrachten kann [...]. [S]oweit ein vernunftbegabtes Wesen die Idee einer vergangenen Handlung mit demselben Bewusstsein, das es zuerst von ihr hatte, und mit demselben Be-wusstsein, das es von einer gegenwärtigen Handlung hat, wiederholen kann, ebenso weit ist es dasselbe persönliche Ich. Denn durch sein Bewusstsein von seinen gegenwärtigen Gedanken und Handlungen ist es augenblicklich für sich sein eigenes Ich.“ [Kursivierung im Original]

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den können und wie die „semantische Funktion“ der Ausdrücke „mora-lische“ und „metaphysische Person“ in unseren Aussagen sinnvoll zu bestimmen sind. Ich glaube, dass dadurch einige der angesprochenen „bio-ethischen“ Kontroversen einer vernünftigen Lösung näher gebracht werden.

Möglichkeiten der Begri f fsrekonstrukt ion

Die Ausdrücke „moralische Person“ und „metaphysische Person“ kön-nen in mindestens vier verschiedenen Weisen verstanden werden:

Sie können sich auf jeweils eine oder mehrere Eigenschaften bzw. Merkmale ihrer Anwendungsgegenstände – menschliche Individuen qua Angehörige der Spezies Homo sapiens – beziehen. Das ist der Kernge-danke der Heiligkeitstheorie.

Sie können sich auf Leistungsäquivalenzen von Systemen – hier von individuellen Lebewesen – beziehen. Der Begriff der Person hätte dann den Status eines abstrakten Begriffes im Sinne der Abstraktionstheorie.5 Diese Vorstellung liegt der Lockeschen Personentheorie zugrunde.

Sie können etwa in demselben Sinne behandelt werden wie die Aus-drücke „Atom“, „Elektron“, „Gen“, „tektonische Platte“ oder „mentaler Zustand“. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Gegenstände, die sie beschreiben, keine Bestandteile der Alltagswelt sind, sondern aus-schließlich in Theorien auftreten, und zwar zum Zwecke der Erklärung und der Integration verschiedenartiger Phänomene in eine Theorie. Sie wären dann theoretische Konstrukte.6 Theoretische Konstrukte beschrei-bende Ausdrücke, die so genannten theoretischen Begriffe, haben nur innerhalb der betreffenden Theorien eine Bedeutung, d. h., sie sind im-plizit definiert.

Sie können als Titelwörter7 betrachtet werden, die einen bestimmten Redebereich benennen. Im Gegensatz zu abstrakten Begriffen, die sich auf eine Äquivalenz von Gegenständen bezüglich eines Satzes von Ei-genschaften oder Relationen beziehen, ist es das besondere Kennzeichen eines solchen Redebereiches, dass er „wesensgleiche“ Eigenschaften von Gegenständen umfasst. Das Titelwort „Raum“ z. B. benennt einen Redebereich, der die (empraktisch erlernbaren) Anordnungsrelationen von Dingen in Bezug auf einen Betrachter umfasst. Dinge können sich

5 Zur Rekonstruktion abstrakter Begriffe mittels des so genannten „sprach-

analytischen“ Abstraktionsverfahrens vgl. Lorenzen 1987 und Siegwart 1995.

6 Hartmann 1993: 108ff. 7 Stekeler-Weithofer 1996.

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„vor“, „hinter“, „über“, „unter“, „an der Seite“ von anderen Dingen be-finden. Weitere Relationen, die hierher gehören, sind „links von“, „rechts von“, „nah an“ und „fern von“. „Wesensfremde“ Relationen wä-ren z. B. „wärmer als“ und „schneller als“.

Titelwörter sollten nicht mit theoretischen Begriffen verwechselt werden, obgleich ein mit einem Titelwort belegter Redebereich auch – oder manchmal nur – theoretische Begriffe umfassen kann. Ein Beispiel dafür ist der chemische Begriff der „Aromatizität“. Er benennt einen Be-reich theoretischer Eigenschaften von Molekülen, die einige Besonder-heiten des chemischen Reaktionsvermögens von chemischen Verbin-dungen erklären, deren Moleküle einen bestimmten Strukturtyp aufwei-sen. Im Gegensatz zu theoretischen Begriffen erklären Titelwörter nichts. Sie dienen lediglich der Organisation unserer Rede in „Kategori-en“. Sie überschreiben Redebereiche und Redeformen samt der zugehö-rigen Erfahrungsbereiche. Was sie überschreiben, muss empraktisch ge-lernt und damit bekannt sein, es kann nicht im Vorhinein wie ein Frege-scher Begriff definiert, d. h., aus einem gegebenen Bereich ausgegrenzt werden.

Ich werde hier die These vertreten, dass die Ausdrücke „Person“ bzw. „Personalität“ als Titelwörter eines gemeinschaftlich konstituierten Redebereiches angemessen rekonstruiert werden können (Fall 4). Die Verwendung von „Person“ im Sinne eines theoretischen Begriffes (Fall 3) erscheint schon deswegen nicht angemessen, weil die Rede über Per-sonen bzw. Personalität Bestandteil unserer Alltagswelt ist.

„Person“ ist ein erst zu erläuternder Begriff, Personalität ein Expla-nandum. Als theoretischer Begriff würde er hingegen zur Erklärung be-stimmter Phänomene verwendet. Er wäre dann schon mit Eigenschaften ausgestattet, die ausreichen sollten, um die fraglichen Phänomene zu er-klären.8

Widmen wir uns nun dem ersten Fall: Semantisch gesehen ist hier „Person“ so etwas wie ein Oberbegriff zu einer Reihe von näher zu spe-zifizierenden Unterbegriffen, die ihrerseits als Prädikate verwendet wür-den; er müsste über ein Definitionsverfahren eingeführt werden. Eine Variante wäre, alle Menschen und nur die Menschen zu Personen zu er-

8 Man kann zwar im Cartesianismus, in der transzendentalen Philosophie

oder in der Phänomenologie Ansätze des Gebrauchs von „Person“ (als res cogitans, Verstand oder transzendentales Ego) im Sinne eines theoretischen Begriffes finden, eine konsequente Anwendung dieser Begriffe als Expla-nantia der entsprechenden alltagsweltlichen Situationen führt jedoch zu Zirkularitäten, die eine weitere Erklärung der zugrunde gelegten Begriffe erforderlich machen. Solche Erklärungsversuche rekurrieren selbst immer wieder auf Elemente der Heiligkeits- oder der Lockeschen Theorie.

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klären. Gegen diese Rekonstruktion spricht einerseits der Verdacht, dass er eine Form „rassistischer“ Willkür darstellen würde. Man bezeichnet diese Einstellung als Speziezismus.9 Das Argument läuft folgenderma-ßen: Genauso, wie es nicht ersichtlich ist, warum das Zusprechen mora-lischer Personalität innerhalb der Angehörigen der Art Homo sapiens an irgendwelche Unterschiede in Hautfarbe, Körperbau oder Geschlecht geknüpft werden sollte, ist es auch nicht ersichtlich, warum die biologi-sche Eigentümlichkeit der Art einen Anknüpfungspunkt für eine solche Unterscheidung darstellen sollte. Mit anderen Worten: Wenn Rassenun-terschiede keinen Grund für moralische Diskriminierung liefern, dann können dies auch Artunterschiede nicht tun, denn Artunterschiede sind bloß biologisch „tiefergreifende“ Rassenunterschiede. Der Speziezist könnte dagegen einwenden, dass es zwar gute Gründe gäbe, kein Rassist oder Sexist zu sein, dass jedoch die Artzugehörigkeit eine andere Quali-tät besäße, weil Artangehörige einige Merkmale notwendigerweise ge-meinsam hätten, die Angehörigen anderer Arten nicht zukämen. Die Spezifität dieser Merkmale ließe sich daran erkennen, dass sie durch die biologische Reproduktion der Artmitglieder reproduziert würden und durch Kreuzung nicht auf andere Arten übertragen werden könnten. Der Rekonstruktionsversuch des Personenbegriffs als biologisches Prädikat muss jedoch scheitern, weil die mit der Personalität verbundenen Eigen-schaften sich nicht in Form der widerfahrnishaften Realisierung einer biologischen Artgesetzmäßigkeit „automatisch“ etablieren.10 Menschli-che Gemeinschaften sind nämlich keine Populationen artgleicher Tiere. Die Entscheidung, ob ein hinzukommendes Individuum einer bestimm-ten Gemeinschaft dazugehören soll oder nicht, beruht auf einem kultu-rellen Vorverständnis der Gemeinschaft, die das neue Mitglied auf-nimmt. Dass dies in der Regel die Geburt ist, ist kein Argument. Denn dies war, erstens, nicht immer so, und auch heute gibt es, zweitens, an-dere Möglichkeiten, um in eine Gesellschaft oder Gemeinschaft aufge-nommen zu werden (Einbürgerung, Adoption, Beitrittserklärung usw.). Somit sind die Grenzen der Gemeinschaft nicht a priori an die biolo-gisch definierten Artzugehörigkeit gebunden, und die Zuschreibung von Personalitätsattributen muss sich an anderen Merkmalen orientieren.

Die zweite oben skizzierte Alternative beschreitet diesen Weg, in-dem sie die moralische Personalität als Derivat einer metaphysischen be-trachtet. Der Ausdruck „metaphysische Person“ erhält in der Junktim-theorie den semantischen Status eines abstrakten Begriffes, der über die Definition einer funktionalen Äquivalenzrelation von Individuen in Be-

9 Singer 1994: 82ff. 10 Vgl. dazu Singer 1994: 6.

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zug auf mentale Leistungen konstituiert wird. Um die Haltbarkeit dieser Theorie zu überprüfen, will ich ihre beiden Teilbehauptungen getrennt diskutieren: Ich werde zuerst versuchen nachzuweisen, dass die Junk-timtheorie nicht aufrechtzuerhalten ist und dass die angemessene Rekon-struktion des Begriffes der moralischen Personalität die eines Titelwor-tes ist, das einen gemeinschaftlich konstituierten Redebereich von indi-viduellen Rechten und Pflichten an und gegenüber der Gemeinschaft benennt. Im zweiten Schritt werde ich dafür argumentieren, dass auch der Begriff der metaphysischen Person als Titelwort rekonstruiert wer-den sollte. Die einzige „materiale“ Frage ist die nach den Fähigkeiten, die Individuen mitbringen müssen, um an einer Gemeinschaft teilneh-men zu können, in welcher durch die Fähigkeit der Teilnahme morali-sche und metaphysische Personen „konstituiert“ werden.

Die These vom Junktim zwischen der metaphysischen und der mora-lischen Personalität bzw. die Behauptung, dass es vernünftig wäre, die-ses Junktim aufzustellen, kann allein schon deswegen nicht aufrechter-halten werden, weil weder logische noch empirische Gründe dafür spre-chen und die Begründungslage für die Junktimtheorie daher nicht besser ist als für die Heiligkeitstheorie. Dass keine logischen Gründe bestehen, zeigt sich schon am Umstand, dass in unserer Alltagswelt das Verhältnis zwischen beiden Aspekten der Personalität gesetzlich fixiert wird, z. B. in einem Grundgesetz bzw. einer Verfassung oder einer UN-Charta der Menschenrechte und in Gesetzen, die festlegen, ob und welche Aspekte der metaphysischen Personalität als Voraussetzung für die Zusprechung bzw. Wahrnehmung moralisch personaler Rechte und Pflichten benötigt werden. Die Verfechter der Junktimtheorie behaupten jedoch, dass zwar keine logische, dafür aber dafür eine „a priori synthetische“ Notwendig-keit für das Junktim besteht. Es erscheine nämlich nicht vernünftig, et-was anderes anzunehmen. Das Argument ist jedoch zirkulär, da hier der Appell an die „Vernunft“ mit dem Appell an die Anerkennung der Junk-timtheorie zusammenfällt. Ferner ist gegen das Argument einzuwenden, dass es durchaus alltagsweltliche Fälle gibt, in denen dieses Junktim nicht besteht und dessen Nichtbestehen als vernünftig angesehen wird. Ein Beispiel dafür ist das Erb- und Schenkungsrecht. Es gilt als indivi-duelles Grundrecht11 und ist deshalb im Bereich der moralischen Perso-nalität anzusiedeln. Dennoch ist es an keine Manifestationsform meta-physischer Personalität gebunden, nicht einmal potentiell. Der Erbe braucht sich seiner Erbschaft nicht bewusst zu sein, geschweige denn damit umgehen zu können. Es muss auch nicht sichergestellt sein, dass er in die Lage versetzt wird, dies zu tun. Geistig Behinderte dürfen ge-

11 Verankert z. B. im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 14.

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nauso erben wie geistig Gesunde – sogar Tiere können erben. Ab dem Moment, in dem ein Mensch das Licht der Welt erblickt, darf er das Recht auf Erbschaft wahrnehmen, unabhängig davon, ob er jemals zur metaphysischen Persönlichkeit heranwachsen wird.

Ein weiterer Fall, der das A priori des Junktims widerlegt, ist die Todesstrafe: Hier wird einem Individuum der Lebensschutz aberkannt, ein zentrales Moment der moralischen Personalität, gerade weil es unter dem Aspekt der metaphysischen Personalität handelnd eine schwere Straftat verübt hat. Man könnte zwar argumentieren, dass ein Indivi-duum durch das Begehen einer derart abscheulichen Tat, die mit dieser Strafe belegt wird, im Prinzip seine metaphysische Personalität wenn nicht vollständig verwirkt, so doch signifikant eingeschränkt hat, so dass eine Aufhebung seiner moralischen Personalität vernünftig erscheint. Dagegen spricht jedoch, dass zum Schuldspruch gerade der Nachweis des Bestehens der metaphysischen Personalität zur Zeit der Straftat not-wendig ist. Der Angeklagte muss zum Zeitpunkt der Tat zurechnungsfä-hig, d. h. metaphysische Persönlichkeit gewesen sein. Somit wider-spricht der Fall der Todesstrafe der Junktimtheorie.

Wenn die Junktimtheoretiker dagegenhalten, die Todesstrafe sei un-vernünftig und gehöre abgeschafft, weil Personen unabhängig von der ethischen Qualität ihrer Taten schutzwürdig seien und weil sie als meta-physische Personen die Falschheit ihrer Tat erkennen und bereuen kön-nen, so kann man sich dem anschließen, aber nur in dem Sinne, dass ent-sprechende Gesetze anerkennungswürdig sind. Eine „apriorische“ Gül-tigkeit des Junktims besteht nicht, zumal eine Welt mit Fallbeilen, Hen-kersmahlzeiten und Giftspritzen nicht nur denkbar und in der Geschichte normal gewesen ist, sondern leider immer noch Realität ist und von vie-len sogar für vernünftig und notwendig gehalten wird.

Weitere Argumente gegen die Notwendigkeit des Junktims sind die von Ralf Stoecker12 diskutierten Fälle der juristischen (Stoecker nennt sie korporative) und der so genannten „fragmentalen“ Personen. Korpo-rative Personen (Institutionen, Behörden, Vereine, Staaten) weisen laut Stoecker wichtige Merkmale metaphysischer Personen auf. Sie agieren selbständig, können Zwecke verfolgen und Absichten äußern. Sie kön-nen sich gegen ihre Auflösung wehren, d. h. man kann ihnen ein Selbst-erhaltungsstreben zusprechen. Der Umstand, dass Korporationen keine körperliche Individualität besitzen, sondern erst durch die gemeinschaft-liche Tätigkeit von Individuen zustande kommen, ist für Stoecker kein Grund, sie nicht als metaphysische Personen zu betrachten, denn meta-physische Personalität ist als Resultat von Systemleistungen definiert

12 Stoecker 1997: 245-271.

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und mit keiner besonderen Form der Konstitution als individuelles Le-bewesen verbunden. Eine gegenläufige Forderung käme dem Spezie-zismus nahe. Dennoch ist das Auslöschen einer korporativen Person kein Gegenstand ethischer Überlegungen, wenigstens insofern sie ihre moralische Persönlichkeit betreffen. Korporationen genießen keinen un-bedingten Existenzschutz. Man könnte mit Stoecker argumentieren, dies sei deshalb so, weil korporative Personen sich in einem wichtigen Punkt von individuellen metaphysischen Personen unterscheiden würden, näm-lich in der je eigentümlichen Bewertung ihres Daseins. Korporative Per-sonen haben nicht das „Gefühl“, dass es für sie „irgendwie ist“, so zu sein, wie sie sind.13

Dieses Argument trifft jedoch nicht auf die nächste Kategorie meta-physischer Personen zu, die keine Schutzrechte genießen, die fragmenta-len Personen.14 Darunter versteht Stoecker Entitäten bzw. Redegegen-stände, die in unserem Reden über Phänomene seltener psychischer Er-krankungen auftreten, den so genannten multiplen Persönlichkeitsstö-rungen. Dieser Krankheitstyp lässt sich so beschreiben, dass für einen Beobachter der Eindruck entsteht, in einem Körper „wohnten“ mehrere voneinander mehr oder weniger klar unterscheidbare „Personen“, die abwechselnd die Kontrolle über das Individuum übernehmen. Die Be-ziehungen dieser „Persönlichkeiten“ untereinander sich und zur Umwelt sind vielfältig, manche von ihnen sind sich der Situation bewusst, man-che von ihnen sind nur „rudimentär“ vorhanden, manche geben sich selbst Namen, andere akzeptieren die „Taufe“ durch den betreuenden Psychiater usw. Das psychopathologische Bild ist dadurch gekennzeich-net, dass eine Kommunikation nur mit einzelnen dieser Persönlichkeiten möglich erscheint, die kommunikative Einstellung gegenüber der „Ge-samtperson“ hingegen radikal scheitert. D. h., die „Gesamtperson“ er-füllt nicht die sozialen Erwartungen und Kompetenzen, welche nötig sind, um als Person im nichtfragmentalen Sinne zu gelten. Ziel der The-rapie ist es, alle bis auf eine dieser „Persönlichkeiten“ zu eliminieren, so dass am Ende eine „ursprüngliche“ oder wenigstens „einheitliche“ Per-son übrig bleibt. Manchmal sieht die Therapie so aus, dass die „ver-schiedenen“ Persönlichkeiten zu einer „verschmelzen“. Wie auch im-mer, die den Körper bewohnenden „metaphysischen Personen“ genießen

13 Dieses „Irgendwie-so-Sein“ bezieht sich auf den Aufsatz von Thomas Na-

gel (Nagel 1979), What is it like to be a bat? 14 Stoecker 1997: 265ff. Inzwischen soll es sich herausgestellt haben, dass die

gesamte Symptomatik der fragmentalen Personalität ein „Artefakt“ der Psychiatrie ist. Unbeschadet der Faktenlage ist die Falldiskussion als Ge-dankenexperiment trotzdem von philosophischem Interesse, weil sie zeigt, wie man mit dem Problem umgehen würde.

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bis auf eine – nämlich die, die nach Ansicht des Therapeuten „gerettet“ gehört – nicht den Status moralischer Persönlichkeiten, was zunächst im wörtlichen Sinne im Widerspruch zu den Grundannahme der Junktim-theorie steht. Wie weit ein derartiges Argument reicht, soll hier nicht beurteilt werden.

Ein „positives“ Argument gegen die Junktimtheorie lässt sich schließlich aus dem Umstand ableiten, dass es zu unseren moralischen Pflichten gehört, für die Aufrechterhaltung unserer metaphysischen Per-sonalität zu sorgen. Das bewusste Sichversetzen in einen Rauschzustand liefert keine Entschuldigung für eine in diesem Zustand verübte Straftat, auch wenn die „zufällige“ Tatsache, dass man sich während einer Tat im Rausch befand, als mildernder Umstand gelten kann. Wenn jemand sich absichtlich in Rausch versetzt hat, um seine Hemmungen abzubauen und eine Straftat zu begehen, dann ist dies Teil eines Gesamtstraftatbestan-des.15

Die aktive Zerstörung der eigenen metaphysischen Personalität, d. h. der eigenen Urteilsfähigkeit, etwa durch Drogenkonsum, gilt ebenfalls als moralisch verwerflich, besonders dann, wenn man eine Verantwor-tung für Familie oder Gesellschaft trägt. Ein Anhänger der Junktimtheo-rie kann solche Fälle nur im Sinne des Vorliegens eines pathologischen Falles deuten, aber nicht als Ausdruck der Freiheit des Individuums. Die moralische Verurteilung des Individuums resultiert jedoch nicht aus ei-nem „Defekt“ in seiner metaphysischen Personalität, sondern aus seiner Bedeutung für die Gemeinschaft und aus dem Umstand, dass es die ihm gewährte Freiheit missbraucht.

Die Konst i tut ion von Person und Personal i tät im Rahmen gemeinschaft l icher Handlungszusam-menhänge

Einen wichtigen Hinweis dafür, dass eine Rekonstruktion des Begriffs „Person“ als Titelwort weiterhelfen kann, liefert der Umstand, dass das Wort über eine Kulturgeschichte verfügt, in deren Verlauf im Zusam-menhang eines politischen Prozesses allmählich der Begriff herausge-bildet wurde. Etymologisch geht der Ausdruck „Person“ auf das lateini-sche Wort „persona“ zurück, das die Maske eines Schauspielers bzw. seine Rolle bezeichnete. Im römischen Rechtssystem bezeichnete „Per-

15 Schon Aristoteles berichtet in der Nikomachischen Ethik (Aristoteles,

NE: 1113b 30), dass Trunkenheit bei Straftaten nicht als mildernder, son-dern als verschärfender Umstand angesehen wurde.

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sona“ auch die Stellung eines Individuums in der Gemeinschaft der frei-en Bürger mit den ihm zustehenden Rechten und Pflichten.16 Historisch gesehen tritt somit der Begriff der Person als moralische Person zur Be-nennung eines innerhalb einer Gemeinschaft konstituierten Bereiches spezifischer individueller Rechte und Pflichten in Erscheinung. Die „Wesensgleichheit“ der Relationen, die den Redebereich der morali-schen Personalität ausmachen, besteht darin, dass sie Resultate eines Re-flexionsprozesses über Vorgänge in der Gemeinschaft sind. Die Benen-nung von Rechten und Pflichten wird dann notwendig, wenn das Agie-ren des Individuums in der Gemeinschaft mit dem der anderen nicht harmoniert und dadurch gemeinschaftliches Handeln scheitert, oder wenn ein Novize, der mit den herrschenden Gepflogenheiten nicht ver-traut ist, in die Gemeinschaft eingeführt wird.

Es ist hier vielleicht angebracht, kurz auf den Unterschied zwischen individuellem und gemeinschaftlichem Handeln einzugehen. Gemein-schaftliche Handlungen sind dadurch gekennzeichnet, dass ihre Be-schreibung von der Beschreibung der Handlungen der daran teilneh-menden Individuen unabhängig ist. Eine gemeinschaftliche Handlung lässt sich nicht als Superpositionsergebnis individueller Handlungen de-finieren, sondern sie muss selbständig, demonstrativ oder imperativ ein-geführt werden. Ein Geschehen, an dem mehrere Individuen beteiligt sind, kann unabhängig von der konkreten Identifikation der individuel-len Handlungen als die falsche gemeinschaftliche Handlung interpretiert werden. Ein aus dem Leben herausgegriffenes Beispiel: Ein Gruppe Schweizerdeutscher in Trachten entsteigt einem Zug in Genf (französi-sche Schweiz) lärmend und schreiend und entfaltet dabei ein großes Pla-kat mit einem schwyzerdütschen Spruch. Die Polizei interpretiert die gemeinschaftliche Handlung als unerlaubte Demonstration und verhaftet kurzerhand alle Beteiligten. Es stellt sich jedoch heraus, dass es sich um Hochzeitsgäste gehandelt hatte, die dem Hochzeitspaar auf diese Weise ihre Glückwünsche entbieten wollten.17

Ebenso wenig lässt sich Erfolg oder Scheitern einer gemeinschaftli-chen Handlung am Erfolg oder am Scheitern der individuellen Handlun-gen bemessen, über die sie aktualisiert wird. Die Teilnehmer an einer gemeinschaftlichen Handlung können ihre individuellen Ziele erreicht haben, und trotzdem ist die gemeinschaftliche Handlung gescheitert oder umgekehrt. Inwiefern das individuelle Handeln zum Erreichen des ge-meinschaftlichen Zweckes ausreichend war, ist etwas, das im Nachhi-nein als Teil der Erklärung des Scheiterns der gemeinschaftlichen Hand-

16 Fuhrmann 1979. 17 Gelesen in einem Spaltenfüller der Frankfurter Rundschau

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lung angeführt werden kann. Das Urteil über den gemeinschaftlichen Handlungserfolg selbst bemisst sich am Erreichen oder Verfehlen des gemeinschaftlichen Zweckes. Die gemeinschaftliche Handlung „Wahl eines Bürgermeisters“ kann z. B. scheitern, obwohl alle Wahlberechtig-ten korrekt gewählt haben, weil kein Kandidat die nötige absolute Mehrheit der Stimmen bekommen hat oder weil ein Stimmenquorum nicht erreicht worden ist. In beiden Fällen ist das Kriterium des Schei-terns das Nichterreichen von Teilzielen, die den Erfolg der gemein-schaftlichen Handlung mitkonstituieren. Im ersten Fall hat jedes Indivi-duum seinen Handlungsbeitrag korrekt durchgeführt und somit sein Ziel erreicht – einen Kandidaten auszuwählen. Die Erklärung für das Schei-tern liegt dann in der ungünstigen Verteilung der Wünsche der Wahlbe-rechtigten. Im zweiten Fall war die Ursache für das Scheitern der Um-stand, dass die Wahlberechtigten ihr Wahlrecht nicht wahrgenommen haben oder dass sie auf Grund von Unkenntnis des Wahlmodus ungülti-ge Stimmen abgegeben haben.

Unser Alltagsleben enthält stets Momente individuellen und gemein-schaftlichen Handelns. Gemeinschaftliches Handeln hat in diesem Zu-sammenhang eine „methodische“ Priorität, weil es die Bedingungen für das Vollziehen sowohl gemeinschaftlich orientierter als auch eigennüt-zig orientierter individueller Handlungen schafft. Der Wunsch eine Theateraufführung zu besuchen wäre unformulierbar, geschweige denn verwirklichbar, wenn es die Praxis des Theatermachens nicht gäbe, die das Vollziehen gewisser gemeinschaftlicher Handlungen erfordert. Da, wie wir gesehen haben, gemeinschaftliche Handlungen nicht Superposi-tions-, sondern eher Interferenzresultat individueller Handlungen sind, müssen diese Handlungen auf das gemeinschaftliche Ziel hin organisiert und koordiniert werden. Damit dies gelingt, müssen die teilnehmenden Individuen nicht nur miteinander kommunizieren können, sondern auch wissen, was ihre relative Stellung und ihre Aufgabe im gemeinschaftli-chen Handlungsvollzug ist. Dies bedeutet, dass sie im Zweifelsfalle wis-sen müssen, was sie von den anderen zu erwarten und was sie beizutra-gen haben. Wird im Falle des Scheiterns einer gemeinschaftlichen Hand-lung der Organisations- und Koordinationsaspekt sprachlich themati-siert, dann können die legitimen Erwartungen und Verpflichtungen der Individuen als Rechte und Pflichten rekonstruiert werden, und es kann untersucht werden, ob jeder entsprechend seiner Rechte behandelt wurde und entsprechend seiner Pflichten gehandelt hat. Ist das Ziel des ge-meinschaftlichen Handelns die Aufrechterhaltung des gemeinschaftli-chen Lebens selbst, dann bilden die diesbezüglich relevanten Rechte und Pflichten den Bereich der moralischen Personalität aus.

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Aus dieser Rekonstruktion wird ersichtlich, dass eine Vielfalt von moralischen Personenrechten und -pflichten möglich ist und diese je nach Gemeinschaftsform unterschiedlich bewertet werden können. Die Tatsache, dass in unserer Alltagswelt die Lebensschutzrechte an höchst prominenter Stelle stehen, ist selbst Ergebnis eines langen politischen Prozesses, dessen Entwicklung, wie wir wissen, einige Rückschläge er-fuhr und im Übrigen nicht abgeschlossen ist. Wie ist es dann aber denk-bar, dass ein personales Recht – der individuelle Lebensschutz – als ab-solut fundamental angesehen wird? Dass inzwischen seine Geltung si-tuationsinvariant durchgesetzt werden soll, wird nicht bestritten. Aber warum soll das so sein? Ich bin der Meinung, dass die Forderung nach Universalisierung mindestens dieses Rechtes mit einem zweiten Merk-mal gemeinschaftlichen Handelns zusammenhängt.

Gemeinschaftliches Handeln lässt sich in zwei Formen organisieren, die ich als das tayloristische und das Arbeitsgruppenmodell bezeichnen möchte. Im tayloristischen Modell ist die Handlungsweise des Indivi-duums genau bestimmt. Seine gesamte Tätigkeit erschöpft sich in der Erfüllung seiner Pflichten. Seine Rechte betreffen lediglich das, was Gegenstand der Pflichten der anderen ist. Beispiel einer tayloristisch or-ganisierten gemeinschaftlichen Handlung ist eine Fließband-Montagekette oder ein stark ritualisierter Tanz. In beiden Fällen führen die teilnehmenden Individuen – Arbeiter oder Tänzer – genau vorge-schriebene Handlungen aus, die den Erfolg der gemeinschaftlichen Handlung sicherstellen sollen. In der Montagekette bestehen die „Rech-te“ der Arbeiter in der Erwartung der Bereitstellung der Vorstufen von den anderen Mitgliedern der Montagekette, ihre „Pflichten“ in der Ver-pflichtung zur korrekten Durchführung ihrer Handlung zum Weiterbau des Werkstücks. Analog müssen die Ritualtänzer ihre individuellen Tanzfiguren in Abstimmung mit ihren Partnern durchführen und dürfen fest damit rechnen, dass diese ihrerseits die dazu passenden Vorgänger- bzw. Nachfolgerfiguren vollführen.18 Die Teilnehmer einer tayloristi-schen Kette brauchen keine weitere Vorstellung vom gemeinschaftli-chen Zweck zu haben, als dass sie einem solchen verpflichtet sind. Ihr „Wert“ für die Gemeinschaft bemisst sich bloß an der Bedeutung der

18 Sehr schöne – auch im ästhetischen Sinne – Beispiele tayloristisch organi-

sierter, nichtpoietischer (nicht materielle Güter herstellender) gemein-schaftlicher Handlungen sind Aufführungen der Peking-Oper. Sie sind üb-rigens ein Beispiel dafür, dass tayloristische Handlungsketten durchaus nicht „einfach“ bzw. „primitiv“ sein müssen. Die Akteure einer Peking-Oper beherrschen ihre Rollen dermaßen gut, dass sie beim Zuschauer den Eindruck der Spontaneität zu erwecken vermögen, obwohl ihre Handlun-gen streng aufeinander abgestimmt sind.

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Position, die sie innehaben, und an der Effektivität, mit der sie ihre Teil-aufgabe erfüllen. Als Individuen sind sie jederzeit austauschbar durch andere Individuen, die dieselbe Tätigkeit durchführen können. Für eine überwiegend nach dem tayloristischen Modell organisierte Lebensge-meinschaft, z. B. das altägyptische Reich, haben demnach individuelle Schutzrechte einen geringen Wert. Sie dienen lediglich der Sicherung der Gemeinschaft vor Eigenmächtigkeiten der übrigen Mitglieder und müssen von einer organisierenden Autorität gewährt und gewährleistet werden.

Im Arbeitsgruppenmodell wird die gemeinschaftliche Aufgabe in Teilaufträge unterteilt, die von kleineren Gruppen bearbeitet werden. Diese können die Arbeit unter sich selbständig weiter aufteilen, so dass am Ende jedes Individuum einen Auftrag erhält oder sich selbst stellt, den es im eigenverantwortlichen Handeln erfüllt. Im Gegensatz zum tay-loristischen Modell ist im Arbeitsgruppenmodell die Handlungsweise des Individuums nicht genau festgelegt. Was für das Gelingen der ge-meinschaftlichen Handlung maßgeblich ist, ist nicht die korrekte und unbedingte Durchführung einer individuellen Handlung, sondern ihr Re-sultat, der Beitrag des Individuums zum gemeinschaftlichen Handeln.19 Die Pflichten des Individuums beziehen sich hier auf seine Verpflich-tungen, seinen Beitrag vereinbarungsgemäß, zur rechten Zeit und im ab-gemachten Umfang zu leisten.20 Seine Rechte leiten sich von seiner legi-timen Erwartung ab, dass ihm die Möglichkeit gegeben wird, seinen Beitrag nach eigenem Ermessen und in eigener Verantwortung zu lei-sten. Das Individuum kann hier für sich beanspruchen, dass die Gemein-schaft ihm einen besonderen Schutz gewährt, damit es die Möglichkeit hat, seinen Beitrag ungestört zu leisten, da es in dieser Hinsicht, nämlich in seiner Entscheidungsfreiheit zur Realisierung seiner Pflicht einzigar-tig ist. Auf das gemeinschaftliche Ziel der Sicherstellung bzw. Realisie- 19 Wie im Falle der tayloristisch organisierten gemeinschaftlichen Handlun-

gen sind arbeitsgruppenmäßig organisierte Handlungen nicht auf die Her-stellung von Gütern beschränkt, sondern können im Rahmen beliebiger Praxiszusammenhänge auftreten. Die Aufführung eines Theaterstückes oder das Drehen eines Films sind Beispiele dieses Handlungstyps ebenso wie eine Wahl oder die Teilnahme an einem Wettbewerb.

20 Haben sich im Rahmen arbeitsgruppenmäßig organisierter Praxiszusam-menhänge metaphysische und moralische Personen „herausgebildet“, dann können sie in einem methodisch späteren Schritt sich als „freie Subjekte“ betätigen und sich selbst „autonom“ Ziele setzen und verfolgen (z. B. als freie Unternehmer u.ä.). In diesem Falle ist es nicht ausgeschlossen, dass sie die kumulierten Nebenfolgen ihres autonomen Handelns als Wider-fahrnisse (Marktlage, ökologische Katastrophen) erleben und gezwungen sind, auf sie zu „reagieren“, so dass der Eindruck entsteht, das Gesamtge-schehen werde von einer „unsichtbaren Hand“ gelenkt.

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rung gemeinschaftlichen Lebens bezogen, kann dieses Recht (und ande-re Individualrechte, wie z. B. das Erbrecht) soweit universalisiert wer-den, dass es als höchstes moralisches Personalitätsrecht betrachtet wer-den kann.

Das Einräumen der Möglichkeit eigenverantwortlichen Handelns er-fordert von den Individuen, dass sie ihre individuellen Zwecke in Bezug auf den gemeinschaftlichen Zweck auswählen, so dass das Resultat ihres Handelns als Beitrag zum gemeinschaftlichen Handeln zählt. Sie müssen in der Lage sein, nicht nur die gemeinsamen Zwecke nachzuvollziehen, sie müssen sie sich auch aneignen und in der Lage sein, das eigene Han-deln am gemeinschaftlichen Maßstab zu beurteilen. Alle diese Tätigkei-ten sind diskursive Tätigkeiten, d. h. sie finden im Rahmen besonderer gemeinschaftlicher Veranstaltungen statt, wo über das gemeinschaftliche Handeln beraten und der individuelle Beitrag bewertet wird. Damit der Diskurs gelingt, müssen die Individuen ihrerseits in einer Art „innerer Beratung“21 eine Bewertung des eigenen Handelns vorgenommen haben oder zumindest in der Lage sein, die gemeinschaftliche Bewertung ihres Beitrags im Nachhinein nachvollziehen und akzeptieren zu können. So-mit konstituiert sich innerhalb einer arbeitsgruppenmäßig organisierten Gemeinschaft der gemeinschaftliche Redebereich der metaphysischen Personalität. Die „Wesensgleichheit“ metaphysischer Personalitätsei-genschaften besteht darin, dass sie Ergebnisse der Reflexion über die Angemessenheit des eigenen Beitrages zum gemeinschaftlichen Projekt sind. Dazu gehört u.a. auch die Reflexion über die Zwecksetzungen und ihre Angemessenheit.

Fassen wir zusammen: Unsere Analyse hat gezeigt, dass beide Modi der Personalität, die moralische und die metaphysische Personalität, sich als im Rahmen gemeinschaftlicher Handlungen konstituierte Redeberei-che rekonstruieren lassen, einerseits über den Wert bzw. die Relevanz eines Individuums für das Gelingen gemeinschaftlichen Handelns und andererseits über die Bewertung des individuellen Beitrags zum Errei-chen des gemeinschaftlichen Zieles in arbeitsgruppenmäßig organisier-ten Gemeinschaften. Da reale Gemeinschaften immer eine Mischform mit variablen Anteilen aus beiden Organisationstypen darstellen, ist die „Ausprägung“ beider Bereiche für jede Gemeinschaft unterschiedlich. Der hohe Stellenwert, den gewisse Teilaspekte der moralischen und der metaphysischen Personalität in unserer Alltagswelt innehaben, resultiert aus ihrer besonderen sozialen Organisationsform als Interferenzprodukt von Gemeinschaften, als Gesellschaft. Gesellschaftliche Ziele werden ausschließlich über die Beitragsleistungen von Gemeinschaften und In-

21 Vgl. dazu auch Stekeler-Weithofer 1996.

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dividuen erreicht. Auch wenn manche der in einer Gesellschaft durchge-führten gemeinschaftlichen Handlungen nach dem tayloristischen Prin-zip organisiert sind, ist für die gesellschaftliche Relevanz eines Indivi-duums aufgrund der Tatsache, dass es an mehreren miteinander nicht verketteten gemeinschaftlichen Handlungszusammenhängen teilnimmt, nur sein Beitrag, sein „Lebenswerk“, maßgeblich. Deshalb kommt indi-viduellen Gesellschaftsmitgliedern ausschließlich der Status von morali-schen und metaphysischen Personen zu, und zwar a priori. D. h., dem Individuum werden seine Rechte schon im Augenblick seines Eintritts in die Gesellschaft zugesprochen und nicht erst, nachdem es sich durch das Bestehen von „Initiationsriten“ als dazu würdig erwiesen hat. Entspre-chend haben in Gesellschaften eingebettete Gemeinschaften den Status von korporativen Personen – auch wenn sie nur informell existieren.

Es bleibt nun nur noch die „materiale“ Frage nach den Fähigkeiten zu beantworten, die Individuen mitbringen müssen, um an arbeitsgrup-penmäßig (wir können jetzt sagen: gesellschaftlich) organisierten ge-meinschaftlichen Handlungen und Verantwortlichkeitsdiskursen teil-nehmen zu können. Einen Vorschlag C.F. Gethmanns22 aufgreifend, möchte ich die Fähigkeiten derartiger Individuen als praktische Subjek-tivität bezeichnen. Solche Fähigkeiten sind:

• Operative Fähigkeiten: Die Individuen müssen wenigstens prinzipi-

ell in der Lage sein, Handlungen nach Aspekten von Zweck und Mit-tel zu organisieren und Zwecke zu hierarchisieren. Diese Fähigkeit ist wichtig, damit sie überhaupt an gemeinschaftlichen Handlungen teilnehmen können.

• Diskursive Fähigkeiten: Die Individuen müssen in der Lage sein, Redeschemata und Redestrategien zu aktualisieren und an Diskursen teilzunehmen, in denen die Kooperation thematisiert wird.

• Soziale Fähigkeiten: Die Individuen müssen in der Lage sein, zwi-schen Individuum und Funktion in gemeinschaftlichen Handlungs- und Diskurszusammenhängen zu differenzieren.

Das Fehlen dieser Fähigkeiten bedeutet allerdings nicht, dass die ent-sprechenden Individuen automatisch aus dem Kreis der moralischen Personen ausgeschlossen werden dürfen. Da moralische Personalität gemeinschaftlich konstituiert wird, kann der Schutz der Gemeinschaft und später der Gesellschaft auch auf diejenigen Mitglieder ausgedehnt werden, die diesen nicht aus eigenem Antrieb einfordern können. In welchem Ausmaß dies geschehen soll, obliegt der alleinigen Verantwor-

22 Gethmann 1993.

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tung der im oben genannten Sinne kompetenten Diskursteilnehmer. Die Gesellschaft, in der wir leben, ist so stabil, dass sie auch denjenigen ei-nen eigenen Bereich gewährt, deren Leben außerhalb der normalen oder üblichen Kategorien abläuft. Dass dies bei uns so ist, besagt allerdings nichts darüber, wie es in anderen vielleicht instabileren Gesellschaften sein soll. Jeder Einzelfall muss eigens bewertet werden, wobei eine Viel-falt verschiedenartiger Überlegungen und Kriterien gegeneinander ab-gewogen werden muss. Zweck philosophisch-ethischer Überlegungen ist es in diesem Zusammenhang, Aufklärung über die Problemlage zu ge-ben und nicht, durch die Bereitstellung allgemeiner Prinzipien die Han-delnden von ihrer Verantwortlichkeit zu entbinden.

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Rotpeters Verwandlung

Rotpeters Bericht

In seiner Kurzgeschichte Ein Bericht an eine Akademie, die 1917 im Ok-toberheft der Zeitschrift Der Jude, herausgegeben von Martin Buber, er-schienen ist, erzählt Franz Kafka folgenden Vorfall: Am Anfang des 20. Jahrhunderts, die genaueren Umstände sind unbekannt, forderte eine nicht näher bezeichnete wissenschaftliche Akademie ein Individuum namens Rotpeter auf, einen Bericht einzureichen, der über das „Vorle-ben“ des Berichterstatters Auskunft geben sollte. Dieses Vorleben war insofern einzigartig, als es sich dabei um ein nichtmenschliches Vorle-ben handelte. „Nichtmenschlich“ bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass der Verfasser ein im moralischen Sinne inhumanes Leben ge-führt hatte und jetzt über seine „Rückkehr“ in das bürgerliche Leben be-richten sollte. Es bedeutet, dass Rotpeter bis zu einem bestimmten Zeit-punkt ein tierisches Leben geführt hatte, weil er im biologischen Sinne eine Affe war – vermutlich ein Schimpanse. Der zum Menschen gewor-dene Affe, der es irgendwie geschafft hatte, den Graben zwischen sei-nem tierischen und dem menschlichen Leben zu überwinden und Mit-glied der Gesellschaft zu werden, sollte nun der Akademie über sein vor- bzw. außermenschliches Vorleben berichten.

Diese Frage, nämlich „Wie ist es, ein Affe zu sein?“ beantwortet Rotpeter in seinem Bericht nicht. Als Grund dafür gibt er an, dass die Erinnerung an sein Affenleben im Laufe seiner Vervollkommnung als Mitglied der menschlichen Gesellschaft zusehends verblasst sei. Dieses Verblassen sei übrigens nicht nur auf die zeitliche Distanz zurückzufüh-ren, nein, es habe auch etwas mit seinem Verzicht auf seinen „äffischen Eigensinn“ zu tun, mit seiner Bereitschaft, sich dem Neuen zu öffnen.

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Zwischen Tier- und Menschendasein bestehe ein derart scharfer Unter-schied, dass das Überschreiten der Grenze unumkehrbar sei:

„War mir zuerst die Rückkehr, wenn die Menschen gewollt hätten, freigestellt durch das ganze Tor, das der Himmel über der Erde bildet, wurde es gleichzei-tig mit meiner vorwärtsgepeitschten Entwicklung immer niedriger und enger; wohler und eingeschlossener fühlte ich mich in der Menschenwelt [...] [D]as Loch in der Ferne, [...] durch das ich einstmals kam, ist so klein geworden, daß ich, wenn überhaupt die Kräfte und der Wille hinreichen würden, um bis dort-hin zurückzukommen, das Fell vom Leib mir schinden müßte, um durchzu-kommen.“

Trotz der Tatsache, dass die ursprüngliche Frage nicht beantwortet wur-de, ist Rotpeters Bericht von unschätzbarem Wert. Denn anstatt uns zu sagen, wie es ist, ein Affe zu sein, erzählt er uns die Geschichte seiner Menschwerdung. Er berichtet von seinen ersten Eindrücken in der Ge-fangenschaft, von seiner tierischen Verzweiflung angesichts der Enge des Käfigs und der dumpfen Erkenntnis, dass der Weg in die Freiheit im Grunde der Weg in eine andere Lebensform war. Er berichtet von den ersten Schritten auf diesem Weg und von der Hilfe, die ihm dabei zuteil wurde – und vom großen Augenblick seines Eintritts oder besser seiner Aufnahme in die Menschengemeinschaft. Rotpeters Bericht ist eine Antwort auf die Frage „Was ist der Mensch?“.

Man könnte mit Kant einwenden, diese Frage lasse sich nicht direkt und erst recht nicht mit einem „Bericht“ beantworten. Um zu erfahren, was der Mensch sei, müsse man zuerst die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, nach dem moralisch Guten und nach dem Wesen des Glaubens klären. Dies ist nur teilweise richtig. Die Vor-gehensweise des Philosophen richtet sich gegen diejenigen, die den „Menschen“ als Naturobjekt, als Lebewesentypus bestimmen wollen, ausgestattet mit einer Palette von Eigenschaften, die seine physischen und geistigen Kompetenzen bestimmen – wir werden sehen, Rotpeters Bericht räumt auch mit dieser naturalistischen Bestimmung des Men-schen auf. Der Philosoph formuliert aber seine Fragen nicht für sich selbst, sondern will damit sein „Aufgabenfeld“ bestimmen, eine Form von Praxis umreißen, an der auch andere teilnehmen können und sollen, und die auch kein Selbstzweck ist.1 Seine Ausführungen richten sich an Gesprächspartner, an „uns“, die ihm zuhören und seine Ideen mit ihm

1 „Der Philosoph muß also bestimmen können 1. die Quellen menschlichen

Wissens, 2. den Umfang des möglichen und nützlichen Gebrauches allen Wissens, und endlich 3. die Grenzen der Vernunft.“ (Kant, Logik, Einlei-tung: III).

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diskutieren sollen und wollen. Wer sind „wir“ aber, die „compari“ des Philosophen? Wir sind seine Mitmenschen, es geht ihm um „menschli-ches Wissen”. Bevor wir über Bedingungen der Erkenntnis, Sollenssätze und Glaubenserwartungen sprechen, müssen wir nun herausfinden, was wir „sind“, wer zu „uns“ gehört und wer nicht. Die Frage nach dem Menschen ist die Frage nach der Konstitution des Handlungs- und des Erkenntnissubjekts. Und sie ist der Frage nach der guten Handlung und der möglichen Erkenntnis methodisch vorgeordnet. Indem wir die Frage nach dem Menschen beantworten, beantworten wir auch die Fragen nach dem moralisch Guten, nach den Bedingungen der Erkenntnis und nach dem Inhalt unserer Hoffnungen.

Auch wenn man dies zugesteht – so ein weiterer Einwand – könne Rotpeters Bericht nichts Neues enthalten, höchstens ein paar neue Beob-achtungen aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel. Denn die Frage nach dem Wesen des Menschen habe die philosophierende Menschheit schon seit der Antike bewegt. Doch das, was Rotpeters Bericht in dieser Hin-sicht einmalig macht, ist der Umstand, dass er nicht aus der Perspektive eines Beobachters, sondern eines Betroffenen geschrieben worden ist. Er ist eine „Biographie“, die den Augenblick des Anfangs festgehalten hat. Warum das so ist, d. h. wieso Rotpeter etwas gelungen ist, das einem „normalen“ Menschen verwehrt bleibt, ist eine offene Frage, die aller-dings den Wert seines Berichts für die Beantwortung der Frage nach dem Menschen in keiner Weise beeinträchtigt.

Aristotel ische Def ini t ionen

Bereits die Tatsache, dass in dieser Erzählung der Berichterstatter kein Vertreter der biologischen Spezies Homo sapiens ist, erschüttert die Vorstellung, das Wort ‚Mensch’ benenne eine bestimmte Lebewesen-spezies, die sich durch einen Satz von spezifischen Eigenschaften aus-zeichne, die keiner anderen Lebewesenspezies zukommen würden, näm-lich Eigenschaften wie „vernünftig“, „rational“, „politiktreibend“, „Mängel in der organismischen Ausstattung aufweisend“2 oder „Bedürf-

2 Gehlen 1940: 22:

„Morphologisch gesehen ist nämlich der Mensch im Gegensatz zu allen höheren Säugern, hauptsächlich durch M ä n g e l bestimmt, die jeweils im exakt biologi-schen Sinne als Unangepaßtheiten, Unspezialisiertheiten, als Primitivismen, d. h. als Unentwickeltes zu bezeichnen sind: also wesentlich negativ (Sperrung im Ori-ginal).“

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nisse habend“3. Derartige Bestimmungen des Menschen, seit der Antike bekannt, sind nach dem in der aristotelischen logischen Tradition vorge-gebenem Definitionsmuster „species = genus proximum + differentia specifica“ aufgebaut. Sie sollen deshalb im Folgenden aristotelische De-finitionen heißen. Abgesehen davon, dass ihre Gültigkeit bzw. Ange-messenheit durch Gegenbeispiele, wie die schiere Existenz von Rotpeter in Frage gestellt wird, sind aristotelische Definitionen des Menschen als besonderes Lebewesen in einer tieferen Weise problematisch. Damit sie nämlich ihren Zweck erfüllen, müssen genus proximum und differentia specifica bzw. deren Bestimmungsstücke aus demselben Gegenstands-bereich stammen, im uns interessierenden Fall aus dem Bereich der zoo-logischen Gegenstände. Eine zoologische Definition nach aristoteli-schem Muster, bei der diese Regel nicht eingehalten wird, verfehlt ihren Zweck, auch wenn sie einen Sinn haben kann: Die Definition von Kat-zen als „nützliche, gemütliche, zärtliche wenn auch manchmal anstren-gende und pflegeintensive“ gibt z. B. völlig die Vorstellungen der Kat-zenfreunde wieder und ist in diesem Zusammenhang eine vollkommen verständliche und vernünftige Definition. Sie verfehlt jedoch die Ziel-setzung der Biologie, die ja die „natürlichen“ Eigenschaften und Ver-wandtschaftsverhältnisse der Lebewesen beschreiben möchte unabhän-gig davon, welchen Wert sie für den Haushalt und das seelische Gleich-gewicht der Menschen haben.

Wollte man also den Menschen als „animal rationale“, „animal poli-ticum“ usw. definieren, müssten beide Ausdrücke, „animal“ und „politi-cum“ sowie „animal“ und „rationale“, Bestandteile einer biologischen Sprache oder wenigstens Ausdrücke der Sprache einer Zuchtpraxis sein. Das ist aber bei keinem der genannten speziesbildenden Charakteristika des Menschen der Fall. Weder „Politik“, noch „Ratio“, „Mangel“ oder „Bedürfnis“ sind biologische Ausdrücke. Darüber hinaus sind sie nicht einmal rein deskriptive, auf einen bloß „äußeren“ Gegenstand anwend-bare Ausdrücke. Um sie zu verstehen, muss man selbst vernünftig sein, an einer Gemeinschaft teilnehmen, Politik betreiben und in der Lage sein, Mängel an sich und an anderen wahrzunehmen und Bedürfnisse zu formulieren. Das Verständnis der Eigenschaften, die das „Menschsein“ bestimmen, erfordert vom Verwender einer solchen Definition das Ein-nehmen einer Teilnehmerperspektive, das Partizipieren an einer Lebens-form und das Verwenden einer Sprache, in der diese Wörter einen Sinn haben. Und wenn man verstanden hat, was rational- und politisch-Sein

3 Kamlah 1973. Diese Lesart wird allerdings an manchen Stellen relativiert,

wo Kamlah „Bedürfnis“ als Resultat gemeinschaftlichen Beratens be-stimmt.

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heißt, dann weiß man auch, dass das „animal“ in der Definition des Menschen überflüssig ist.

Man könnte natürlich versuchen, Eigenschaften wie „politisch“ und „vernunftbegabt“ in den Bereich der Biologie anzusiedeln. Dies würde bedeuten, dass ohne jede Erziehung aufgewachsene Menschen – etwa ausgesetzte Kinder oder Fälle wie Romulus und Remus – naturwüchsig Sprache, soziales Verhalten, Sitten und Vernunft entwickeln würden, wenn auch in sehr primitiven Formen. Um dies allerdings festzustellen, müssten wir – die „Normalsozialisierten“ – mit diesen „Wolfskindern“ kommunizieren, was wiederum bedeutet, dass wir ihnen unsere Sprache beibringen und sie an unserer Lebensweise teilnehmen lassen müssten und dass sie unsere Sprache und Lebensweise als solche anerkennen würden. So hätten wir aber bereits die deskriptive biologische Perspekti-ve verlassen. Diese „Annäherungs-“ und „Integrationsversuche“ könnten allerdings auch scheitern, dann aber gehörten die in Frage kommenden Eigenschaften nicht zur natürlich-biologischen Ausstattung der Spezies Homo sapiens.

Man könnte auch versuchen, die aristotelische Menschendefinition dadurch zu retten, dass man Genus und Spezies nicht im Bereich der Biologie, sondern im Bereich einer allgemeinen Taxonomie der „Seien-den“ ansiedelt. Mensch wäre demnach das politische, vernünftige usw. „Wesen“. Allerdings bleiben auch bei diesem Manöver die Probleme be-stehen: Denn entweder ist der Bereich der „Wesen“ ein vollständig be-schreibbarer und klassifizierbarer Bereich, also so etwas wie ein „Über-genus“ zum Genus der Lebewesen,4 oder „Wesen“ ist ein Ausdruck, der 4 Es ist somit unerheblich, ob das aristotelische ‚ζῷον‘ mit ‘Sinnenwesen‘

oder ‚Lebewesen‘ o.ä. übersetzt wird. Ähnlich argumentiert auch Heideg-ger, SuZ §10:

„[...] Die Definition des Menschen: ζῷον λόγον ἔχον in der Interpretation: animal rationale, vernünftiges Lebewesen. Die Seinsart des ζῷον wird aber hier verstan-den im Sinne des Vorhandenseins und Vorkommens. Der λόγος ist eine höhere Ausstattung, deren Seinsart ebenso dunkel bleibt wie die des so zusammengesetz-ten Seienden [...] Dasselbe gilt nicht minder von der »Psychologie«, deren anthro-pologische Tendenzen heute unverkennbar sind. Das fehlende ontologische Fun-dament kann auch nicht dadurch ersetzt werden, daß man Anthropologie und Psy-chologie in eine allgemeine Biologie einbaut. In der Ordnung des möglichen Erfas-sens und Auslegens ist die Biologie als »Wissenschaft vom Leben« in der Ontolo-gie des Daseins fundiert, wenn nicht ausschließlich in ihr. Leben ist eine eigene Seinsart, aber wesenhaft nur zugänglich im Dasein. Die Ontologie des Lebens voll-zieht sich auf dem Wege einer privativen Interpretation; sie bestimmt das, was sein muß, daß so etwas wie Nur-noch-leben sein kann [...] Andererseits muß aber im-mer nur zum Bewußtsein gebracht werden, daß diese ontologischen Fundamente nie nachträglich aus dem empirischen Material hypothetisch erschlossen werden können, daß sie vielmehr auch dann immer schon »da« sind, wenn empirisches Material auch nur gesammelt wird.“

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für alle möglichen Gegenstände steht. Im ersten Fall wiederholt sich die Kritik an der aristotelisch-biologischen Menschendefinition nur auf hö-herer Ebene. Im zweiten versagt die Definition vollständig, denn sie wird entweder zu einer Tautologie (z. B. wenn ‚Wesen’ auch Gegen-stände der Politik umfasst – der Mensch ist dann ein politischer Politi-ker), oder der Ausdruck bleibt unexpliziert.

Rotpeter als Mensch und als Berichterstatter seines Schicksals unter-scheidet sich in einem weiteren Aspekt von Rotpeter dem Affen. Dieser Aspekt kann ebenfalls als Argument gegen eine aristotelische Men-schendefinition verwendet werden: Als Affe war das Individuum na-mens Rotpeter eine Realisierung des Tiertyps „Affe“. Die Beobachtung seines Lebens hätte Rückschlüsse auf das Leben aller seiner Artgenos-sen erlaubt. Da Affen in Gruppen leben, die ein so genanntes „erlernba-res Sozialverhalten“ aufweisen, hätte vielleicht die Beobachtung Rotpe-ters allein nicht ausgereicht, um die Lebensweise seiner Spezies voll-ständig zu erfassen. Dieses Problem wäre aber durch die Beobachtung einer oder mehrerer Gruppen behoben worden.

Rotpeter als Mensch ist jedoch nach unserem Verständnis einzigar-tig. Aus dem Studium seines Verhaltens würden wir kein Wissen ge-winnen, das über sein individuelles Leben oder höchstens über das Le-ben in der Kultur seiner Zeit hinaus gültig wäre. Würden wir heute seine sterblichen Überreste finden, die wahrscheinlich wider alle Gebote der Pietät in der Raritätensammlung eines Museums aufbewahrt werden, könnten wir mit den verfügbaren gentechnischen Mitteln vielleicht dar-aus ein zweites Individuum klonen. Doch dieses Individuum wäre wie-der ein Affe oder, wenn es uns gelingen würde, das Wunder seiner Ver-wandlung in einen „Menschen ehrenhalber“ erneut zu vollbringen, ein anderes menschliches Individuum. Um Rotpeter nochmals nach den Umständen seiner Verwandlung befragen zu können, müssten wir ihn selbst wiederbeleben.

Wir sehen, eine Definition des Menschen nach biologisch-aristotelischem Muster verfehlt unser intuitives Verständnis vom Men-schen in zweierlei Hinsicht: Erstens enthält sie einen Kategorienfehler – genus proximum und differentia specifica gehören zwei verschiedenen Redebereichen an – und zweitens ignoriert sie die Tatsache, dass das Wort ‚Mensch’ nicht einfach einen Gegenstands-Typus oder dessen Ex-emplare bezeichnet, sondern Individuen auf Grund bestimmter Kriterien als „Menschen“ auszeichnet, wofür Rotpeter selbst ein beredtes Beispiel liefert.

Eine andere, sowohl in der philosophischen Tradition als auch heute diskutierte Theorie besagt, dass die Menschen eine so genannte Äquiva-lenzklasse bilden. Das heißt, Individuen, die als Menschen gelten, wei-

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sen eine Äquivalenz bezüglich bestimmter Leistungen auf. Dies bedeu-tet, dass die äquivalenten Individuen in bestimmten Zusammenhängen austauschbar sind, ohne dass dabei die Beschreibung des Zusammen-hanges falsch wird.5 Dabei kommt es nicht auf die biologische oder on-tologische Spezieszugehörigkeit, d. h. auf die „kategoriale Gleichartig-keit“ der Individuen an, sondern ausschließlich auf die Liste der „Lei-stungen“ (oder anderer „Eigenschaften“), bezüglich derer die Äquiva-lenz besteht. Als solche werden normalerweise genannt: das Selbstbe-wusstsein, das Gedächtnis, die Fähigkeit, Absichten zu haben und Inter-essen zu verfolgen, die Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation ein-schließlich der Fähigkeit, Kommunikationsversuche anderer als solche zu erkennen und auf sie einzugehen, und die Fähigkeit, zugunsten der Kooperation gegenseitig auf Interessen zu verzichten bzw. das Interesse der anderen im eigenen Handeln zu berücksichtigen. Eine ebenso wich-tige, allerdings meistens nur stillschweigend zugegebene Fähigkeit der-artiger Individuen ist, dass sie erst ihr eigenes „Menschentum“ entdek-ken müssen, bevor sie erfahren können, dass die Welt auch mit anderen leistungsäquivalenten Individuen bevölkert ist.

Auf Rotpeter angewandt bedeutet dies, dass er ein außerordentliches Affenindividuum gewesen sein muss, das – aus welchen Gründen auch immer – schon vor seiner Gefangennahme die Leistungsfähigkeit eines „Menschen“ wenigstens potentiell besaß, obwohl es sich in freier Wild-bahn dieses Umstandes nicht bewusst werden konnte. Erst mit seiner Gefangennahme, im engen Käfig im Zwischendeck des Dampfers, sozu-sagen am Rande der Menschheit, erwachte in ihm die Erkenntnis, dass er ein handelndes Subjekt war, in der Lage, die Absichten der anderen zu erkennen, zunächst vielleicht an Hand ihrer Gebärden und ihrer Handlungen, und später, nachdem er sich in passiver Weise die Sprache angeeignet hatte, an Hand ihrer sprachlichen Kommunikationsversuche.

Stützt nun Rotpeters Bericht diese „äquivalenztheoretische“ Variante seiner Menschwerdung? Die erste Erinnerung, sagt er, habe mit dem Erwachen im engen Käfig eingesetzt. Eingezwängt zwischen einer Holzwand und drei Gitterfronten, in einer auch für Affen qualvollen halbhockenden Haltung, begann er nach der Überwindung des ersten Schocks nach einem Ausweg zu suchen. Einen Ausweg, das betont er, habe er gesucht, keine Freiheit. Er wollte nur, dass dieses Gefühl des Eingezwungenseins aufhörte oder wenigstens nachließ. Instinktiv, oder besser gesagt intuitiv, verspürte er, dass der Ausweg nicht in einer kopf-losen Flucht bestehen könnte. Das hätte ihm damals leicht gelingen kön-nen, hätte aber nur zum Tod oder zu einer noch schlimmeren Form der

5 Vgl. dazu Siegwart 1995.

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Gefangenschaft geführt. Fluchtversuche wären Verzweiflungstaten ge-wesen, sagt er und ergänzt:

„Ich rechnete nicht so menschlich, aber unter dem Einfluß meiner Umgebung verhielt ich mich so, wie wenn ich gerechnet hätte [...] Ein Ziel dämmerte mir auf. Niemand versprach mir, daß, wenn ich so wie [die Menschen] werden würde, das Gitter aufgezogen werde. Solche Versprechungen für scheinbar unmögliche Erfüllungen werden nicht gegeben. Löst man aber die Erfüllungen ein, erscheinen nachträglich die Versprechungen genau dort, wo man sie frü-her vergeblich gesucht hat.“

Man könnte die nach der Gefangennahme einsetzende Erinnerung und die Überlegungen, die er während dieser Zeit anstellte (besonders diesen kontrafaktischen Schluss), als ein Indiz für die Bestätigung der äquiva-lenztheoretischen Variante betrachten. Doch, wie Rotpeter selbst be-merkt, waren sie nicht die Erinnerungen und Überlegungen eines ausge-reiften Individuums, das entdeckt, dass es auch andere leistungsäquiva-lente Individuen gibt, mit denen es gilt, Kontakt aufzunehmen. Die Empfindungen und Verhaltensweisen im Käfig wurden erst in der Re-trospektive des menschlichen Rotpeter zu seinen Erinnerungen und Überlegungen. Erst nachdem er der Sprache mächtig war und in die La-ge versetzt wurde, seinen Bericht zu verfassen, erst dann konnte er seine als assoziative Erinnerung (gr. ἐνθύμησις) mehr oder weniger undiffe-renziert reproduzierbaren Erlebnisse in den Bereich des sprachlich ver-fassten, selektierenden und bewertenden, bewahrenden und verwerfen-den Gedächtnisses (gr. μνήμη) überführen. Erst nachdem er gelernt hat-te, was ein Versprechen und eine Bedingung ist, konnte er von sich sa-gen, dass seine Verwandlung in einen Menschen die Bedingung für sei-ne Entlassung aus dem Käfig war, für den verzweifelt gesuchten Aus-weg. Erst mit dem Erwerb der Sprache konnte er auch erkennen, dass schon Rotpeter der Affe ein quasirationales Verhalten an den Tag gelegt hatte, das ihm die Verwandlung ermöglicht hat. Mit dem Vollzug seiner Verwandlung konnte er diese als das Ziel des Verwandlungsprozesses begreifen und das Erlebte zu einer teleologischen Geschichte dieses Pro-zesses zusammenfügen. Rotpeters kognitive und emotive Leistungen, die man normalerweise unter dem Titel „Rotpeters Persönlichkeit“ zu-sammenfasst, sind Resultat seiner Geschichte. Rotpeter betritt nicht als fertiges quasi menschliches Individuum die Welt, ausgestattet mit be-reits in ihm angelegten „Menschheits-“ und „Personalitätseigenschaf-ten“, sondern er entwickelt diese Eigenschaften im Verlauf seiner „Hu-manisierung“, indem er mit anderen, bereits vorhandenen menschlichen Individuen in eine spezifische Art von Wechselwirkungen eintritt. Rot-

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peters Bericht spricht gegen die äquivalenztheoretische Definition des Menschen.

Das könnte nicht anders sein, denn die äquivalenztheoretische Men-schendefinition ist genauso problematisch wie die aristotelische: Die menschenkonstituierende Äquivalenz zwischen Individuen besteht näm-lich aus Leistungen, die sich – phänomenologisch gesehen – nur inner-halb von Praxen entfalten, mehrheitlich innerhalb von Kommunikations- oder Sprachpraxen. Praxen sind aber kollektive Einrichtungen, d. h. der Begriff der Praxis setzt voraus, dass mehrere Individuen am gegebenen Handlungszusammenhang beteiligt sind und dass die Inhalte der Praxis durch die Beteiligung an ihr erworben und weitergegeben werden. Die Annahme, menschliche Individuen würden gerade diejenigen Leistun-gen erbringen, die erst durch die Beteiligung an einer Praxis konstituiert werden, ist paradox. Man könnte versuchen, das Paradox aufzulösen, in-dem man postuliert, dass die Individuen selbst die Kriterien festlegen, an Hand derer sie die Äquivalenz der anderen Individuen erkennen. Doch dies würde bedeuten, dass Rotpeter entweder zufällig auf die richtigen Kriterien der Leistungsäquivalenz gestoßen ist, oder dass es grundsätz-lich keine allgemeingültigen Kriterien dafür gibt und somit keine „rich-tige“ Kommunikation unter den menschlichen Individuen geben kann, die über eine gewisse Konditionierung des Verhaltens des einen auf das Verhalten der anderen hinausgeht, oder dass es so etwas wie das „Menschlichkeitsgen“ gibt, das bei verschiedenen Organismen wie ein so genanntes Transposon individuell exprimiert werden kann und ihnen die Fähigkeit verleiht, eine menschliche Gemeinschaft aufzubauen.

Im ersten Fall wäre die Tatsache, dass die Menschheit existiert und dass wir miteinander und mit Rotpeter kommunizieren können, ein schieres Wunder. Die lebensweltliche Normalität des gemeinschaftli-chen Umgangs und der Kommunikation miteinander spricht allerdings dagegen. Es mag vielleicht sein, dass die Initiierung der Menschheit auf ein Wunder zurückgeht, seitdem sie sich aber in der Welt etabliert hat, scheint sie sich einer recht hohen Dauerhaftigkeit zu erfreuen. Diese Stabilität kann wiederum nicht auf der Wiederholung eines Wunders be-ruhen, denn ein sich wiederholendes Wunder ist keins mehr. Im zweiten Fall würden wir das intuitive lebensweltliche Vorverständnis des „Men-schen“ als handelndes und verantwortliches Subjekt verfehlen. Wären wir alle bloß Gegenstände wechselseitiger Konditionierung, dann hätte sowohl Rotpeters Bericht als auch dieser Essay keinen Sinn, weil es kei-nen Angesprochenen dafür gäbe. Ein jeder wäre in seiner eigenen Sub-jektivität gefangen und würde die anderen bloß als Werkzeuge zur Be-

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friedigung seiner privaten Begierden benutzen.6 Der dritte Fall schließ-lich ist eine Variante der aristotelischen Speziesdefinition nur diesmal auf molekularbiologischer Ebene, und weist deshalb auch deren Proble-me auf.

Wir ziehen an dieser Stelle ein vorläufiges Fazit: Der Ausdruck ‚Mensch’ kann weder über eine aristotelische Definition noch über die Bildung einer Äquivalenzklasse von leistungsäquivalenten Individuen definiert werden.

Per celebrat ionem ad hominem?

Ist Rotpeters Verwandlung nun ein unlösbares Rätsel? Kann man die Bedeutung des Wortes ‚Mensch’ ausschließlich durch Kontemplation er-fassen? Oder gibt es einen „dritten Weg“? Ich möchte mich einer philo-sophischen Tradition anschließen, die behauptet, dass es diesen dritten Weg gibt und ich glaube nachweisen zu können, dass Kafkas Erzählung eine Nachzeichnung dieses Weges enthält: Kurz nachdem Rotpeter den ersten Schock der Gefangenschaft überwunden habe – so sein Bericht –, sei er von einer inneren Ruhe erfasst worden, die letztendlich den Aus-weg ermöglicht habe. Diese Ruhe verdanke er den Matrosen an Bord. Sie waren von einfacher, aber herzlicher Natur, bedächtig in ihren Hand-lungen. Rotpeter begann, sie nachzuahmen. Bald konnte er wie sie spuk-ken und die Pfeife rauchen – obwohl er den Unterschied zwischen einer gestopften und einer leeren Pfeife lange nicht begriff. Doch die wichtig-ste Handlung, die er lernen musste, diejenige, die ihm den Schlüssel zum Menschsein in die Hand gab, war das Trinken aus der Schnapsflasche. Ein weiterer, in seiner Wichtigkeit nicht hoch genug zu schätzender Umstand war, dass Rotpeter unter den Matrosen einen Lehrer und Men-tor fand. Er war zwar, wie alle seine Kameraden im Zwischendeck ein einfacher und grober Mensch. Doch es schien, als ob er die Tragweite des Erlernens dieser Handlung für das weitere Schicksal Rotpeters intui-tiv erfasst hätte. Geduldig verbrachte er die Stunden seiner Freiwache damit, ihm die einzelnen Handlungssequenzen beizubringen, vom fach-männischen Entkorken der Flasche, über das korrekte Ansetzen an den Mund bis zum leichten Seufzen der Zufriedenheit nach dem kräftigen Schluck und dem Streicheln des Bauches. Man kann nicht behaupten, dass dieser Unbekannte die hohe Kunst der Pädagogik beherrschte. Sein 6 Nach den Erkenntnissen der Verhaltensforschung verhalten sich die höher

entwickelten Primaten tatsächlich so, als ob sie sich gegenseitig als Kondi-tionierungsgegenstände betrachten würden, und legen ein entsprechendes Sozialverhalten an den Tag. Vgl. Tomasello 1999.

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einziges Motivationsmittel war die brennende Pfeife, mit der er Rotpeter malträtierte, weil dieser es anfangs nicht schaffte, seinen instinktiven Abscheu gegen den Schnaps zu überwinden und die Handlung mit ei-nem kräftigen Schluck aus der Flasche zum Abschluss zu bringen. Doch, wie Rotpeter sagt, war er ihm nicht böse, denn der unbekannte Lehrer “sah ein, daß wir auf der gleichen Seite gegen die Affennatur kämpften und daß ich den schwereren Teil hatte”.

Beider Bemühungen wurden mit einem grandiosen Erfolg gekrönt, der zugleich die Aufnahme Rotpeters in die Menschengemeinschaft be-siegelte. Lassen wir ihn diesen Augenblick mit seinen Worten beschrei-ben:

„Was für ein Sieg dann allerdings für ihn wie für mich, als ich eines Abends vor großem Zuschauerkreis – vielleicht war es ein Fest, ein Grammophon spielte, ein Offizier erging sich zwischen den Leuten – als ich an diesem Abend, gerade unbeachtet, eine vor meinem Käfig versehentlich stehen gelas-sene Schnapsflasche ergriff, unter steigender Aufmerksamkeit der Gesellschaft sie schulgerecht entkorkte, an den Mund setzte und ohne Zögern, ohne Mund-verziehen, als Trinker vom Fach, mit rund gewälztem Auge, schwappender Kehle, wirklich und wahrhaftig leer trank; nicht mehr als Verzweifelter, son-dern als Künstler die Flasche hinwarf; zwar vergaß, den Bauch zu streichen; dafür aber, weil ich nicht anders konnte, weil es mich drängte, weil mir die Sinne rauschten, kurz und gut “Hallo!” ausrief, in Menschenlaut ausbrach, mit diesem Ruf in die Menschengemeinschaft sprang und ihr Echo: “Hört nur, er spricht!” wie einen Kuss auf meinem ganzen schweißtriefenden Körper fühl-te.“

Der Beitritt Rotpeters zur Menschheit erfolgte durch seine Teilnahme an einer Party! Was ist aber an einer Party so Besonderes, dass die Teil-nahme daran einem die Eintrittskarte zur Menschheit verschafft? Eine Party ist eine gemeinschaftliche Handlung, d. h. eine Handlung, die vermittels individueller Handlungen realisiert wird, ohne jedoch in der Summe oder der Superposition der Einzelhandlungen aufzugehen. Eine gemeinschaftliche Handlung muss für sich, d. h. ohne Rückgriff auf in-dividuelle Handlungen, eingeführt und beschrieben werden können. An-dererseits kann ein Geschehen, an dem mehrere Individuen beteiligt sind, unabhängig von der konkreten Identifikation der individuellen Handlungen als die falsche gemeinschaftliche Handlung interpretiert werden.

Der Eintritt Rotpeters in das menschliche Leben erfolgte innerhalb einer sich bereits im Vollzug befindlichen gemeinschaftlichen Handlung – einer Party –, wobei diese Handlung ein weiteres Merkmal aufweist: Die sie vermittelnden bzw. konstituierenden individuellen Teilhandlun-

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gen sind nicht im Voraus exakt bestimmt oder vorgeschrieben. Jedes teilnehmende Individuum hat die Freiheit, seinen Beitrag zum Gelingen der Party selbst zu gestalten. Zur Bewertung des Gelingens dieser Sorte gemeinschaftlicher Handlungen ist lediglich die Bewertung und Aner-kennung des individuellen Beitrags erforderlich und nicht ein bestimm-ter Modus seiner Realisierung. Die Individuen genießen diesbezüglich eine gewisse individuelle Handlungsfreiheit, die allerdings Rechte und Pflichten einschließt. Die Teilnehmer einer Party haben zum Beispiel das „Recht“, es sich gut gehen zu lassen und die verfügbaren Vergnü-gungsmöglichkeiten zu nutzen. Sie haben aber auch „Pflichten“: Sie müssen z. B. dafür sorgen, dass ihre Handlungen die anderen bei der Realisierung ihrer Wünsche nicht stören, sie müssen sich an bestimmte Anstandsregeln halten und vielleicht durch Trinksprüche und andere Äußerungen eine bestimmte Rolle wahrnehmen. Sie müssen außerdem in der Lage sein (wenigstens solange sie nicht völlig im Rausch liegen), ihren und den Beitrag der Anderen zur gemeinschaftlichen Handlung zu bewerten und ihr Verhalten, falls es den Erwartungen nicht entspricht, zu korrigieren.

Mensch und Person

An jenem Abend, als Rotpeter seinen Beitrag zur Schiffsfeier leistete, der von den anderen Teilnehmern als der Situation angemessen bewertet und anerkannt wurde, hat er zwei Stufen auf einmal genommen: Er wur-de Mensch und Person. Zwar dauerte es bis zur vollständigen Entfaltung seiner Personalität noch ein Weilchen – eine Zeit harten, unerbittlichen Lernens, wie er selbst sagt. Doch an jenem Abend im Zwischendeck, als er zwischen den berauschten und staunenden Matrosen seinen Beitrag zum Gelingen der Party leistete, indem er die Flasche entkorkte, den Weingeist in seine Kehle laufen ließ und einen Trinkspruch auf die ver-sammelte Mannschaft machte, fuhr der Geist der Menschheit in ihn.

Diesem Ereignis ist, wie wir aus seinem Bericht wissen, eine Zeit harten Trainings vorausgegangen, eines Trainings, das sich von einer Dressur nur darin unterschied, dass beide, Rotpeter und sein Trainer, “auf der gleichen Seite gegen die Affennatur kämpften”. Training ist auch eine Form gemeinschaftlichen Handelns, allerdings eine, die von den Teilnehmern in einem bestimmten Aspekt mehr erfordert als den bloßen Beitrag. Die Auszubildenden müssen das machen, was ihnen der Trainer vorschreibt, und so, wie er es haben will. Der Trainer muss sei-nerseits das Geforderte vormachen und ziemlich detailliert erläutern. Dieses „Erläutern“ erfolgt nicht nur sprachlich. Zu den Aufgaben des

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Trainers gehört vielmehr die Gliederung der einzuübenden Handlung in „pädagogisch sinnvolle“ Abschnitte, die isoliert eingeübt werden kön-nen. Manchmal muss er den Auszubildenden „körperlich führen“, z. B. indem er seine Hand nimmt und die Bewegung „in der Luft“ beschreibt, oder seinen Körper in die richtige Haltung bringt. Die einzuübenden Handlungen müssen nicht komplex sein. Einfache Gesten oder eine be-stimmte Art zu laufen oder eben das fachmännische Entkorken einer Schnapsflasche, gefolgt von einem kräftigen Zug, erfordern mitunter viel Mühe, Disziplin und Geduld. Zum Ausgleich fordert gemeinschaft-liches Handeln dieses Typs keine uneingeschränkte Verantwortlichkeit von den Handelnden, stattet sie aber auch nicht mit allgemeingültigen Rechten aus.

Gemeinschaftliches Handeln dieses zweiten Typs, das von den Indi-viduen den Vollzug mehr oder weniger wohldefinierter individueller Handlungen aus einem mehr oder weniger fest umrissenen Bereich von Handlungstypen verlangt und in dem die Individuen und ihre Handlun-gen hierarchisch geordnet sind, möchte ich tayloristisch organisierte gemeinschaftliche Handlungen nennen und daran folgenden terminolo-gischen Vorschlag anschließen: Teilnehmer an nichttayloristisch organi-sierten gemeinschaftlichen Handlungen sollen Personen, Teilnehmer an gemeinschaftlichen Handlungen beliebiger Art sollen Menschen heißen. Alle anderen Individuen, insofern sie ein inneres Bewegungsprinzip aufweisen, erhalten den Status eines Tieres. Es ist also nicht so, dass Tiere überhaupt nicht handeln können (obwohl es natürlich auch solche Tiere gibt, die nur ein Verhalten aufweisen), sondern dass Tiere nicht in der Lage sind, an gemeinschaftlichen Handlungen teilzunehmen.7 Die gesamte aristotelische Tier-Taxonomie in Genera und Spezies kann sich somit erst nach der Konstitution des Tier-Begriffes entfalten. Das Kom-plementaritätsverhältnis zwischen dem Tier und dem Menschen-Begriff bedeutet nicht, dass Individuen, denen der Menschenstatus zukommt, keine gemeinsamen Aspekte mit tierischen Individuen aufweisen und deshalb kein Gegenstand einer biologischen Wissenschaft sein können. Nur dürfen wir nicht vergessen, dass damit ein Individuum zum Gegen-stand der Biologie werden kann, bei ihm von bestimmten Rechten abge-

7 Selbstverständlich gibt es Tiere, die an speziellen rudimentären Formen

gemeinschaftlichen Handelns teilnehmen können, etwa Blinden- oder Schäferhunde. Doch dieser „Fähigkeit“ sind enge Grenzen durch das art-typische Verhaltensmuster gesetzt. Dennoch genießen solche „Helfer“ und auch manche Haustiere, die mit ihren Besitzern ein quasi-partnerschaftliches Verhältnis eingehen können, einen erhöhten Schutz. Sie haben gewisse „Tierrechte“ und können sogar als Rechtssubjekte auf-treten.

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sehen werden muss, nämlich von den „Menschenrechten“. Deswegen können Menschen nur mit Einschränkungen Gegenstand der Biologie (im Prinzip Gegenstand jeder Naturwissenschaft) sein. Die Betrachtung von etwas als Gegenstand einer Wissenschaft hat demnach auch eine moralische Dimension.

Reale Gemeinschaften stellen immer eine Mischform aus tayloristi-schen und nichttayloristischen Handlungstypen dar, wobei allerdings de-ren Anteile bei verschiedenen Entwicklungsstufen stark variieren. So finden wir bei den alten Ägyptern, bei den Kulturen des Zweistromlan-des, bei vorkolumbianischen indianischen Stämmen, bei den homeri-schen Griechen und bei rezenten so genannten „Naturvölkern“ einen größeren Anteil tayloristisch organisierter gemeinschaftlicher Hand-lungstypen als im Griechenland der Hochantike, den ihm nachfolgenden Kulturen des Mittelmeers und in den hoch entwickelten Kulturen Ost-asiens. Die Personalität ist somit in verschiedenen Formen der Gemein-schaft unterschiedlich ausgeprägt, obwohl alle diese Gemeinschaften aus Menschen „bestehen“.

Rotpeter lernte vor seinem Auftritt bei der Schiffsfeier an gemein-schaftlichen Handlungen teilzunehmen, allerdings an solchen, die strikt tayloristisch organisiert waren. Die erste – sagt er – war den Handschlag zu geben, und ergänzt: “Handschlag bezeigt Offenheit”. Indem er be-griff, dass der Handschlag mehr ist als bloß das „Pfötchengeben“ des braven Fido, dass auch der andere daran beteiligt ist, hat er den ersten vorsichtigen Schritt auf dem Pfad zur Menschheit getan, dem Pfad, der ihn an jenem Abend im Zwischendeck zur Würde der Person führte.

Bedingungen des Menschl ichen

Das Wort ‚Mensch‘, das ist das Fazit aus Rotpeters Bericht, ist kein Name für eine Lebewesenspezies. Es ist auch nicht die Bezeichnung für eine Klasse von Individuen, die bezüglich individueller kognitiver und moralischer „Verhaltens“leistungen äquivalent sind. ‚Mensch‘ ist eine Art Statuswort, das einem Individuum von anderen Individuen innerhalb einer Gemeinschaft verliehen wird, und zwar auf Grund der Tatsache, dass es sich an gemeinschaftlichen Handlungen beteiligt. Natürlich ist die Vergabe dieses Statuswortes an Bedingungen geknüpft:

1. Es muss eine Gemeinschaft vorhanden sein, welche die Möglichkeit

zur Teilnahme an gemeinschaftlichen Handlungen und den Modus dieser Teilnahme vorgibt. Dies bedeutet, dass bei der Rekonstruktion aller mit Menschsein und Personalität verbundenen Begriffe das

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Gemeinschaftliche dem Individuellen methodisch vorzuordnen ist. Ich möchte das allen Gemeinschaften Gemeinsame, das Prinzip der Gemeinschaft, als Hintergrundgemeinschaft oder Ummah bezeich-nen. Das Wort ‚Ummah‘ ist aus dem Arabischen entlehnt und bedeu-tet „Gemeinschaft aller Gläubigen“. Ich möchte es hier als Terminus technicus verwenden, da das Wort ‚Gemeinschaft‘ und seine griechi-schen und lateinischen Pendants bereits philosophisch vorbelastet sind.

2. Die Ummah stellt den Rahmen, in dem das Individuum seine Teil-nahmekompetenzen erst entfalten kann. Als höchste Stufe gemein-schaftlicher Handlungszusammenhänge, die gemäß der erwähnten pragmatischen Ordnung individuelle Handlungen überhaupt ermög-licht, ist die Ummah fortwährend, d. h. ohne Anfang und Ende, we-der im zeitlichen noch im methodischen Sinne.

3. Die Ummah besteht jedoch nicht unabhängig von den sie konstituie-renden Individuen. Sie wird durch diese „realisiert“, und zwar da-durch, dass die Individuen, verschiedene „konkrete“ Gemeinschaften ausbilden. Die bereits an der Ummah teilnehmenden Individuen sind definitionsgemäß Menschen, d. h. sie sind in der Lage, sowohl an gemeinschaftlichen Handlungen teilzunehmen als auch den eigenen und den Beitrag der anderen zu bewerten und anzuerkennen. Gegen-über einem Novizen, der in die Ummah aufgenommen werden soll, fungieren die bereits geformten Ummah-Mitglieder als Mentoren und Auditoren. D. h. sie führen den Novizen in die Ummah ein, in-dem sie die Teilnahme an gemeinschaftlichen Handlungen mit ihm einüben, ihn korrigieren und entscheiden, ob er die Anforderungen für eine Aufnahme erfüllt oder nicht.

4. Für das Individuum gilt, dass es für das „Gemeinschaftliche“ emp-fänglich sein muss. Es muss in der Lage sein zu begreifen, dass es mit anderen Individuen, die es in der Ummah vorfindet, interagiert, und dass es an gemeinschaftlichen Handlungen teilnimmt. Die Dis-position zur Teilnahme an gemeinschaftlichen Handlungen schließt die Möglichkeit ein, dass das Individuum allmählich selbst die Rolle eines Mentors und Auditors wahrzunehmen vermag, zunächst gegen sich selbst und seine unmittelbaren Mentoren und Auditoren, d. h. die Individuen, die seine Sozialisierung lehrend und korrigierend be-gleiten, und dann gegen jeden beliebigen Novizen bzw. gegen ande-re gleichermaßen Kompetente.

5. Ob diese Disposition ein arttypisches Merkmal darstellt oder ob sie eine Eigenschaft höherer Organismen ist, die auf vielfältige Art und Weise realisiert werden kann, ist eine empirische Frage. Der Fall Rotpeter, die Tatsache, dass es Autisten gibt, sowie die Tatsache,

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dass es Individuen anderer Tierspezies mitunter wiederholbar ge-lingt, rudimentäre Formen gemeinschaftlichen Handelns mit Men-schen auszubilden (s. auch Fußnote 7), spricht eher für die zweite Annahme. Vielleicht treffen aber beide Annahmen zu.

6. Darüber hinaus muss das Individuum die Fähigkeit entwickeln, sich von der Ummah zu emanzipieren in dem Sinne, dass seine Teilnah-me am gemeinschaftlichen Handeln einen Akt der bewussten Aner-kennung oder der Hingabe zur Ummah darstellt. Beim ersten An-blick mag es befremden, dass die Emanzipation von der Ummah durch die Hingabe, also durch Anerkennung und Akzeptanz erreicht wird. Man kann aber nur dann einen kontrafaktischen Gegenentwurf zum vorgegebenen Leben entwickeln, wenn man grundsätzlich weiß, in welchen Punkten man mit ihm übereinstimmt und zu welchen Themen man seinen Dissens formulieren will. Diese Bedingung ist auch dann gegeben, wenn das vorgegebene Leben als schicksalsver-fügt hingenommen wird. Denn die Erkenntnis des Schicksals setzt voraus, dass ein alternativer Entwurf wenigstens denkbar ist, zu dem man Hingabe zeigen könnte. Sowohl das blinde Befolgen von Re-geln bzw. die Hypostasierung des „Rechts“ oder des „öffentlichen Wohls“ zur alleinigen Triebfeder der Gemeinschaft als auch die tota-le Verweigerung zerstören das spezifische Gefüge menschlichen Le-bens und gemeinschaftlichen Handelns. 8

Rotpeter zeigt, dass er auch diesen Schritt zur Hingabe vollzogen hat, wenn er am Ende seines Berichtes über das Erreichte nachdenkt und ihn mit folgenden Worten beendet:

„Im ganzen habe ich jedenfalls erreicht, was ich erreichen wollte. Man sage nicht, es wäre der Mühe nicht wert gewesen. Im Übrigen will ich keines Men-schen Urteil […] ich berichte nur, auch Ihnen, hohe Herren von der Akademie, habe ich nur berichtet.“

Fasst man diese drei Bedingungen zusammen, dann lässt sich das Ver-hältnis Ummah/Individuum wie das Verhältnis zwischen einem Magnet-feld und einem magnetisierbaren Körper darstellen: Das Magnetfeld re-präsentiert hier die Ummah und der magnetisierbare Körper das zum gemeinschaftlichen Handeln disponierte Individuum. Damit ein Körper magnetisiert werden kann, muss ein Magnetfeld bestehen. Nicht jeder Körper ist aber magnetisierbar, er muss dazu aus einem Stoff bestehen bzw. einen enthalten, der eine Empfänglichkeit für das Magnetfeld zeigt.

8 Weil 1990: 10.

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Die Magnetisierbarkeit einzelner Körper kann somit je nach ihrer Zu-sammensetzung unterschiedlich ausfallen. Ähnlich zusammengesetzte Körper zeigen ähnliche Magnetisierbarkeit und umgekehrt. Indem ein Körper durch das Magnetfeld magnetisiert wird, modifiziert er dieses Feld. Menschen gleichen Körpern, deren Zusammensetzung es ermög-licht, dass sie nach der Induktion ein eigenes permanentes Magnetfeld entwickeln, das in einer anderer Weise mit dem vorhandenen Feld wechselwirkt. Jeder zum Magnetfeld neu hinzukommender Körper „fin-det“ also eine Anzahl bereits permanent magnetisierter Körper vor, die das Magnetfeld und somit auch die Bedingungen für die Magnetisierung des neuen verändert haben. D. h., jedes Individuum, das in die Ummah aufgenommen wird, findet sich in einer neuen historischen Situation vor.

Mensch und Ummah

In seiner Erzählung präsentiert uns Kafka ein Individuum, Rotpeter, des-sen „Zusammensetzung“ es für das Magnetfeld der Ummah empfänglich gemacht und es sogar permanent magnetisiert hat. Er ist so zu einem Menschen und zu einer Person geworden. Sein Bericht zeigt, welche Hürden er zu überspringen und welchen dornigen Weg er zurückzulegen hatte, bis seine Wechselwirkung mit der Ummah ihn in den Rang eines Menschen und einer Person erhoben hat. Eine Frage hat er allerdings nicht angesprochen: Warum müssen Angehörige der Spezies Homo sa-piens seinen Weg nicht beschreiten, warum wird ihnen die Status als Mensch und als Person gleich bei der Geburt – oder sogar noch vor der Geburt – zuerkannt? Ist diese Vorgehensweise ungerechtfertigt? Müssen wir unsere Beziehungen zu denjenigen Speziesangehörigen, die es nicht schaffen, den Anschluss an die Ummah zu finden bzw. ihn verlieren, der Gerechtigkeit halber revidieren?9 Eine Gemeinschaft, die so verfährt, ist gar nicht so abwegig, in der Antike war sie jedenfalls teilweise Realität. Nur dasjenige Individuum wurde in die Gemeinschaft der Sippe oder des Clans und somit auch in die Gemeinschaft der Polis aufgenommen, das vom zuständigen Clanvorstand akzeptiert wurde. In der antiken Welt war Personalität im heutigen Sinne, d. h. die Beteiligung am gemein-schaftlichen Handeln allein durch den Beitrag und nicht durch die Art des Beitrags, ein Privileg, das nur die Clanvorstände bzw. die freien Bürger der Polis genossen und das mit einer starken Verpflichtung ver-sehen war – der Verpflichtung es zum Wohle des Clans und der Polis einzusetzen. So gesehen musste der Clanvorstand bei jedem Neuzugang

9 Für eine derartige Revision plädiert z. B. P. Singer (Singer 1994).

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eine schwere Entscheidung treffen: War das Neugeborene zum gegebe-nen Zeitpunkt für den Clan erwünscht? Machte es den Eindruck, dass aus ihm ein gesunder, in das gemeinschaftliche Handeln integrierbarer Mensch entstehen würde? Erst durch die Stiftung der Institution des freien Reichsbürgers, des von allen Stammes-, Clan- und Polisangehö-rigkeiten entledigten unmittelbaren Untertans des spätrömischen Kaisers erfolgte die Transformation von einer gemeinschaftlichen Lebensform, in der tayloristische Organisationsformen mitkonstitutiv waren, zu einer grundsätzlich nichttayloristisch organisierten Lebensform, die zwar noch tayloristische Elemente enthält, sie aber als partikuläre zweckgebundene Organisationsformen besonderer Praxisbereiche ansieht. Mit der Hypo-stasierung der Personalitätskompetenzen zu einer unsterblichen Seele durch das Christentum zementierte sich die Vorstellung einer aus in der Substanz kognitiv, emotiv und moralisch „vollständigen“ atomisierten Individuen bestehenden Welt, in der das partikulare Leben unter taylori-stischen oder nichttayloristischen Verhältnissen, als Herr oder Sklave, Mann oder Frau, gesund oder gebrechlich akzidentell und für die letzt-endliche Bewertung des individuellen Beitrags vor dem jüngsten Gericht irrelevant ist. In der christlichen (und in dieser Hinsicht äquivalenten spätjüdischen und islamischen) Welt gibt es nur einen in der Figur des einzigen Gottes hypostasierten „pater familias“ und alle Nachkommen des von ihm geschaffenen ersten Menschenpaares sind miteinander ver-wandt. Folglich sind auch alle künftigen Nachkommen Menschen, auch wenn sie akzidentell ihr Menschsein, d. h. die Teilnahme an der Um-mah, nicht ausleben können. Anders ausgedrückt: In einer nichttaylori-stisch organisierten Ummah miteinander verwandter Individuen, in der jedes Individuum die Freiheit hat, seinen Lebensentwurf selbständig zu gestalten und seinen Beitrag zum gemeinschaftlichen Handeln frei aus-zuwählen, muss es von Anfang an als potentieller Mensch und potentiel-le Person angesehen werden, auch wenn es sich im Laufe seiner Ent-wicklung erweist, dass es seine Freiheit auf Grund seiner organismi-schen Konstitution nicht oder nicht vollständig entfalten kann. Es ist na-he liegend, dass unter diesen Umständen die Gefahr besteht, die biologi-sche Artzugehörigkeit zum alleinigen Kriterium der Vergabe des Men-schenstatus zu machen (was ja prima facie nicht verkehrt ist) und alle anderen speziesfremden Individuen, die wie Rotpeter die Kompetenz zur Teilnahme am gemeinschaftlichen Handeln zeigen, auszuschließen.

Die historische Entwicklung des Menschenbegriffs war nicht Kafkas Anliegen. Er wollte ja nur von Rotpeters Kampf um Aufnahme in die Ummah berichten und von seinem großartigen Erfolg. Kafka war es wahrscheinlich auch bewusst, dass Rotpeter für lange Zeit ein Einzelfall bleiben wird. Doch indem Kafka ihn von seinem schweren Weg zum

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Menschsein berichten lässt, formuliert er zugleich mit feiner Ironie eine Warnung gegen die Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit seiner Mitmenschen, die ihren Status als selbstverständlich betrachten, verges-send, dass er das fragile Ende eines langen und opferreichen historischen und politischen Prozesses darstellt.

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Individuelle Enkulturation oder

wie findet man den Weg in die Menschheit?

Individuen haben nicht etwa automatisch ei-ne Mitgliedskarte für die Menschheit – das trifft nur in biologischer Hinsicht zu. Sie müssen von der Brownschen Bewegung der Gesellschaft hin und her gestoßen werden: Dieses Prinzip erinnert die einzelnen Men-schen ständig daran, dass sie … nun, Men-schen sind. Terry Pratchett, Helle Barden

Soziologie als posit ive Wissenschaft

Soziologen verkörpern zumeist den Typus des „positiven Wissenschaft-lers“: Sie verfügen über einen eigenen Untersuchungsgegenstand – die Gesellschaft – und über eigene Forschungsmethoden, sie erforschen ihn seit über einem Jahrhundert und beliefern uns mit allerlei interessanten und praktisch relevanten Erkenntnissen. Sie wenden ihr soziologisches Wissen von der Gesellschaft auf gesellschaftliche Probleme im Mikro- und Makrobereich an und schlagen Lösungen für gesellschaftliche Pro-bleme vor. Soziologie begründet so eine angewandte „Soziotechnik“. In dieser Hinsicht ist die Soziologie in ihrer „Beschaffenheit“ den anderen großen „positiven Realwissenschaften“ Physik, Chemie, Biologie und Psychologie ähnlich. In ihrem Mainstream-Selbstverständnis verfügen diese auch über mehr oder weniger klar umrissene Untersuchungsgegen-stände, die unabhängig von den sie untersuchenden Forschern existieren – sie sind „objektiv“ in der Welt vorhanden. Darüber hinaus lassen sich

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die realwissenschaftlichen Gegenstandbereiche in eine Ordnung „stei-gender Komplexität“ bringen, wobei die konstitutiven Eigenschaften je-der höheren Ebene als Superpositionsresultat des „Verhaltens“ bzw. der Eigenschaften der Bestandteile der darunter liegenden Ebene betrachtet werden. So entstehen aus der Superposition der Eigenschaften der phy-sikalischen Gegenstände die chemischen Eigenschaften der Atome und Moleküle, aus der Superposition ihrer Eigenschaften wiederum die Ei-genschaften der chemischen und biochemischen Stoffe und a fortiori darauf aufbauend die Eigenschaften der Lebewesen, der „psychisch aus-gestatteten“ Lebewesen und der Gesellschaft.1

Man könnte seit dem „Wiener Kreis“ nicht nur von einem „Aufbau-programm“ der Wissenschaften reden, sondern auch von einem „Forma-lisierungs-“ und „Kalkülisierungsprogramm“, da die Superposition der Elemente der jeweils hierarchisch tieferen Ebene gemäß bestimmter Re-geln abläuft, die den Regeln eines mathematischen Kalküls nachgebildet sind – auch wenn sie im wissenschaftlichen Selbstverständnis den Status von objektiv gültigen „Naturgesetzen“ haben. Allerdings zeigte dieses Programm beim Übergang von der abiotischen zur biotischen Ebene, d. h. von der Ebene der bloßen physikalischen und chemischen Prozesse zur Ebene der Lebewesen, ihrer Wechselwirkungen und zu den darauf aufbauenden Ebenen der psychischen und sozialen Prozesse, einen gra-vierenden Bruch: Während der Jetzt-Zustand der physikochemischen Welt, d. h. der gegenwärtige Zustand des Universums und das geolo-gisch-chemische Bild der Erde, sich aus der iterierten Anwendung der-selben Naturgesetze in der Vergangenheit ableiten lässt, die auch ge-genwärtige physikalische und chemische Prozesse bestimmen, gilt dies für den gegenwärtigen Zustand der biotischen, der psychischen und der sozialen Welt nicht. Die Vielfalt der Lebewesen, der Umstand, dass – unseres Wissens – alle mit einem „Selbstbewusstsein“ ausgestatteten Lebewesen einer biologischen Spezies angehören, und der Umstand, dass trotz ihrer biologischen Einheit die Mitglieder dieser Spezies eine Vielfalt sozialer Welten ausgebildet haben, lassen sich nicht auf einige wenige „Grundgesetze“ zurückführen, wie die Gesetze der relativisti-schen Quantenmechanik und der Chemie, die nach heutigem Verständ- 1 An diesem positivistischen Bild der „wissenschaftlichen Einheit“ rüttelt

auch nicht der Umstand, dass manche Soziologen die „hierarchischen Verhältnisse“ umkehren und die Gegenstände aller anderen Wissenschaf-ten zu „sozialen Konstrukten“ erklären (z. B. Shapin und Schaffer 1985, Latour und Woolgar 1979 und Knorr-Cetina 1991). Denn auch so behalten zumindest die soziologischen Gegenstände ihren Tatsachenstatus bei, und die Soziologie wird an Stelle der Physik zur „Königin der Wissenschaf-ten“. Am superpositionellen Aufbauverständnis der Wissenschaften ändert sich aber auch bei diesem Sozialkonstruktivismus nichts.

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nis im Prinzip ausreichen, um zu erklären, warum das heutige Univer-sum und die heutige Erde (geologisch und geografisch)2 so und nicht anders aussehen.

Die Erkenntnis dieser „Diskontinuität“ drohte den Optimismus der positivistischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts nachhaltig zu trüben, bis die so genannte Evolutionstheorie die nötige Abhilfe geschaffen und die Einheit der Welt und der Wissenschaft wieder hergestellt hat. Der wichtigste Schachzug der Evolutionstheorie war dabei nicht die Einfüh-rung des Prinzips der „Mutation und Selektion“, sondern die Postulie-rung einer diesem Prinzip methodisch vorgelagerten ontischen Gleich-stellung und einer ebenfalls methodisch vorgelagerten existentiellen Dif-ferenz zwischen den konstitutiven Bestandteilen der physikochemischen Welt und der psychischen und der sozialen Welt. Der Terminus ‚existen-tiell‘ soll sich hier auf „das Dasein in der Zeit“ einer Sache beziehen, im Gegensatz zum Terminus ‚ontisch‘, der den bloß „zeitlosen“ Daseins-aspekt anspricht.

Die ontische Gleichstellung besagt, dass die konstitutiven Bestand-teile aller Weltebenen diskret und ontisch isoliert sind. Diskretheit be-deutet in diesem Zusammenhang, dass die jeweiligen Objekte räumlich definite Grenzen besitzen. Die ontische Isoliertheit besagt, dass jedes in-dividuelle Objekt – ob Elementarteilchen, Stuhl, Auto, Tier, Person oder Staat – durch eine abgeschlossene Liste von Eigenschaften beschreibbar ist, die dieses und nur dieses Objekt eindeutig und unabhängig von der übrigen Welt sowohl in seinem „Was-es-ist“ als auch in seinen raum-zeitlichen Koordinaten definieren. Die ontische Gleichstellung postuliert im Grunde, dass jede „Momentanaufnahme“ der gesamten Welt im Prinzip als ein „Mosaik“ diskreter Elemente darstellbar ist. Diese syn-chrone Einheit der Welt wird durch die Postulierung der existentiellen Differenz auch diachron gefestigt.

Die physikochemischen Bausteine der „Basiswelt“ – Elementarteil-chen, Atome, Moleküle und Feldquanten – sind individualexistentiell autark. Dies bedeutet, dass die betreffenden Gegenstände, einmal ent-standen, zu ihrer Fortexistenz in der Zeit keinerlei Wechselwirkung mit anderen gleichartigen oder andersartigen Bausteinen oder der Hilfe ir- 2 Die Geologie und die Geografie akzeptieren natürlich, dass das Bild der

Erde sich nicht ausschließlich chemischen und physikalischen Prozessen verdankt, sondern dass es durch die Einwirkung der biotischen Welt maß-geblich mitgestaltet worden ist. Deren Einfluss beschränkt sich jedoch auf die Erdoberfläche und die nicht so tiefen Regionen der Weltmeere. Phä-nomene wie die Kontinentaldrift, der Vulkanismus, das Wetter und die Bildung von Gebirgsketten, Gesteinen und Minerallagerstätten werden, von seltenen Ausnahmen abgesehen, ausschließlich physikochemisch er-klärt.

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gendwelcher Prozesse bedürfen. Ein individuelles Elementarteilchen, ein Atom oder ein Molekül existiert nicht „zu Lasten“ anderer Atome oder Energieflüsse, wie etwa ein Lebewesen. Wenn es zerfällt, dann auf Grund seiner internen Eigenschaften oder durch zufällige Wechselwir-kungen mit anderen Korpuskeln oder Feldquanten. Auch wenn es einen „inneren Aufbau“ aufweist, wie etwa die so genannten Baryonen3, die Mesonen, die Atome und die Moleküle, ist es trotzdem gegenüber der übrigen Welt „abgeschlossen“ und in seinem Zustand (insofern interne oder externe Störungen abwesend sind, die zum Zerfall führen4) von un-bestimmter Dauer. Der Grundsatz der individualexistentiellen Selbstän-digkeit gilt übrigens nicht nur für die „klassisch“ konstituierten Korpus-keln, sondern auch für die Teilchenwellen der Quantentheorie. Auch wenn es dort wegen der sogenannten Unschärferelation kein isoliertes und scharf abgegrenztes Teilchen geben kann, wird dieser Grundsatz auf die zum Aufbau der Teilchensysteme notwendigen „Eigenfunktionen“ übertragen, denn sonst wäre der Aufbau der Teilchenwelle eines be-stimmten Teilchens durch die Superposition seiner Eigenfunktionen nicht möglich.

Gemäß dem Postulat der existentiellen Differenz sind im Gegensatz dazu die individuellen Bestandteile der „höheren Welten“ (Lebewesen, Menschen, Kulturen usw.) individualexistentiell unselbständig. Sie be-dürfen zur Aufrechterhaltung ihrer individuellen Existenz der Wechsel-wirkung mit anderen Individuen aus derselben Ebene oder der Zufuhr von Bestandteilen tiefer liegender Ebenen. Paradigmatisch dafür sind die Lebewesen: Sie existieren nur durch die ständige Zufuhr von Energie und Stoffen, entweder indem sie andere Lebewesen auffressen oder in-dem sie die physikochemische Welt direkt ausbeuten (durch Photosyn-these, Chemolithotrophie usw.). Sie entstehen nicht durch Zufall oder durch streng determinierte Superpositionsprozesse, sondern bedürfen fortpflanzungsfähiger „Vorgängerindividuen“.

Die individualexistentielle Unselbständigkeit der Lebewesen wird im Rahmen des Programms der Einheitswissenschaft und der Evoluti-onstheorie durch ihren besonderen Aufbau erklärt. Zwar „bestehen“ Le-bewesen aus physikochemischen Bestandteilen, sie sind aber nicht deren bloßes Superpositionsresultat – wie etwa ein Atom oder ein Molekül –, sondern das Ergebnis eines Koordinierungsprozesses, der verschiedene physikochemische Prozesse zu einem Ganzen zusammenfügt und ver-

3 Die wichtigsten sind Protonen und Neutronen. 4 Aber auch im Falle zerfallender Teilchen ist ihre Lebensdauer eine für alle

gleichartigen Teilchen gültige Konstante, die von internen Faktoren be-stimmt wird, die mit ihrem Aufbau zu tun haben. Elementarteilchen, Ato-me und Moleküle zerfallen nicht, weil sie „verhungern“.

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bunden hält. Lebewesen gelten als offene Systeme, die mit ihrer Umge-bung ständig Energie und Stoffe austauschen. Da sie nicht durch die Ei-genschaften ihrer Bestandteile zusammengehalten werden5, sondern durch die Prinzipien dieses Koordinierungsprozesses selbst, sind sie – wenn es um die Aufrechterhaltung ihrer individuellen Existenz geht – untereinander nicht vollständig austauschbar. Sie haben auch keinen identischen Aufbau, sondern sie sind stets mehr oder weniger gelungene Realisierungen von Bauplänen bzw. von Lebewesentypen (Arten) im Gegensatz etwa zu den Atomen eines Elements und den Molekülen einer chemischen Verbindung, die untereinander ununterscheidbar und aus-tauschbar sind.

Auf Grund ihrer individualexistentiellen Unselbständigkeit interagie-ren Lebewesen als echte eigenzentrierte Individuen, die um Nahrung, Lebensraum und Interaktionspartner in Konkurrenz treten. An dieser Stelle tritt das evolutionstheoretische Prinzip der Mutation und Selektion in Kraft, welches besagt, dass Lebewesentypen, deren Realisate in dieser allgemeinen Konkurrenz um Lebensressourcen und Interaktionspartner relativ erfolglos bleiben, sukzessive verschwinden und durch andere Ty-pen ersetzt werden, die aus relativ erfolgreicheren Realisaten bestehen. Lebewesentypen und ihre Realisate (Lebewesen) treten dabei in ein „Rückkopplungsverhältnis“ ein, weil jedes Lebewesen durch seine Fort-pflanzung zur Aufrechterhaltung seines Typs beiträgt. Im Falle, dass ein von einem gegebenen Typ signifikant abweichendes Individuum über-lebt und Nachkommen erzeugt, fungiert es als „Keim“ eines neuen Typs, der den alten sukzessive ersetzen bzw. verdrängen kann.

Dieser Prozess soll, dem Verständnis der Evolutionstheorie nach, nicht nur sukzessive die heute vorhandene Vielfalt der Lebewesentypen (Arten) erzeugt haben, sondern auch einen besonderen Typ, den Men-schen, dessen Realisate mit besonderen kognitiven und emotiven Fähig-keiten ausgestattet sind, die die Welt des Psychischen6 konstituieren und ihnen eine besondere Autonomie in der Gestaltung ihres individuellen Lebens verleihen. Aus demselben Grund können sich psychisch ausge-stattete Lebewesen zur Sicherstellung ihrer individuellen Fortexistenz nicht mehr auf „biologische Mechanismen“ (Instinkte) verlassen, son-

5 Elementarteilchen, Atome und Moleküle werden hingegen durch die at-

traktiven Kräfte ihrer Bestandteile zusammengehalten und zerfallen, wenn bestimmte ebenfalls in diesen Bestandteilen vorhandene repulsive Kräfte überhand nehmen, oder wenn sie sich in einer energetisch ungünstigen Lage befinden.

6 Im Folgenden sollen die Termini ‚psychisch‘ und ‚Seele‘ bzw. ‚Psyche‘ als Sammelbegriffe für die kognitiven und emotiven Tätigkeiten und Kompetenzen gebraucht werden.

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dern sie müssen „ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen“ und mitein-ander kooperieren. Zu diesem Zweck bilden sie kleine und größere Ver-bände, die ebenfalls miteinander um die Mittel zur Sicherung sowohl der kollektiven als auch der individuellen Fortexistenz treten. Somit konsti-tuiert sich die letzte Weltebene, die Ebene des Sozialen bzw. der Gesell-schaft.7

An dieser Stelle ist es wichtig festzuhalten, dass die Realisate dieses besonderen Lebewesentyps ebenfalls als echte eigenzentrierte Individu-en miteinander interagieren. Dies bedeutet im Besonderen, dass sie in Bezug auf ihre „psychischen Eigenschaften“ von den übrigen Individuen als voneinander unabhängig und autark gelten. Die Herausbildung sozia-ler Strukturen wird als freiwilliger Akt dieser Individuen interpretiert, der auf Grund ihrer Einsicht in ihre individuelle existentielle Unselb-ständigkeit vollzogen wird,8 im Gegensatz etwa zu sozial lebenden Tie-ren, deren Zusammenschluss zu Herden, Horden oder Staaten instinktiv erfolgt. Es ist aber durchaus möglich, dass ausgeformte menschliche In-dividuen ihr Leben außerhalb sozialer Gebilde erfolgreich bestreiten, auch wenn dies die Hinnahme vieler Unbequemlichkeiten und Gefahren bedeutet.

Mit diesem hier nur in groben Zügen wiedergegebenen Weltbild meint die positivistische Wissenschaft erstens eine erschöpfende und in ihren Grundzügen wahre Beschreibung der Welt zu besitzen und zwei-tens über die Mittel zu verfügen, um die Vorgänge auf allen Ebenen zu beherrschen. Die methodischen Unterschiede zwischen den einzelnen Wissenschaften beruhen ihrer Ansicht nach auf der existentiellen Diffe-renz ihrer Gegenstände: Physik, Chemie, Biochemie und Molekularbio-logie suchen die „zeitlos gültigen“ Naturgesetze ihrer Bereiche aufzu-decken, während Evolutionsbiologie, Psychologie und Soziologie die „zeitlich wandelbaren“ Konstitutionsprinzipien der Organismen, der Seelen und der Gesellschaften beschreiben und den Weg ihrer Evolution nachzeichnen. Trotz dieser methodischen Unterschiede kann das Kalkü-lisierungs- und Systematisierungsprogramm der Einheitswissenschaft auf allen Ebenen durchgeführt werden, wobei es natürlich zu beachten gilt, dass evolutive Prozesse auf Grund ihrer Komplexität nicht mit den exakten „linearen“ mathematischen Methoden der Naturwissenschaften behandelt werden können.

7 Die Termini ‚Gesellschaft‘ und ‚das Soziale‘ werden hier synonym be-

nutzt und bedeuten den gesamten Bereich sozialer Interaktionen und so-zialer Gebilde. ‚Gesellschaft‘ wird hier nicht in Abgrenzung zur ‚Gemein-schaft‘ wie etwa im Sinne von Tönnies (1991) verwendet.

8 Systematisch wurde dieser Gedanke schon von Platon (Politeia) und Hob-bes (Leviathan) untersucht.

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Es soll und kann nicht geleugnet werden, dass die modernen Wis-senschaften – einschließlich der Soziologie und der Psychologie – in der Lösung konkreter, „technischer“ Probleme besonders erfolgreich waren und es immer noch sind. Doch gerade weil die Wissenschaften im Detail erfolgreich sind, ist ihre Vorstellung, dass sie eine einheitliche Welt als System erforschen und deren phänomenologische Mannigfaltigkeit er-klären in einem fundamentalen Sinne verfehlt und das Programm, diese vermeintlich einheitliche Welt durch die sukzessive Anwendung von Kalkülen „nachzubauen“, trotz der Eignung dieser Kalküle zur Beherr-schung partieller, wohldefinierter Probleme prinzipiell undurchführbar. Dies ist nicht so, weil die Welt „viel zu komplex ist“, sondern weil die Wissenschaften – und zwar alle Wissenschaften – sich in einem prekä-ren Abhängigkeitsverhältnis zur lebensweltlichen Alltagspraxis befin-den: Auf Grund der logischen Beschaffenheit des Begriffs der Wirkur-sache (causa efficiens), der sich auf den Anlaß einer systematischen Stö-rung eines Ablaufs bezieht,9 besteht die primäre Aufgabe der Wissen-schaften als „Wirkursachenerforschungsunternehmen“ darin, Dysfunk-tionalitäten und Störungen in den verschiedenen Bereichen einer „nor-malen“ lebensweltlichen Praxis10 zu erklären bzw. zu beseitigen. Ihre ganzen Theoriengebäude dienen also zunächst dazu, die Ursachen dieser „Störungen“ oder „Dysfunktionalitäten“ zu identifizieren und „Repara-turmethoden“ auszuarbeiten. Auch ihre Prognosen und die technischen Entwicklungen, die sie ermöglicht haben, bewegen sich entlang der „Störungslinien“, die in der lebensweltlichen Praxis offenbar und thema-tisch werden, und die dann aus vielfältigen sozialen und kulturellen Gründen gewissermaßen „planmäßig“ und kontrolliert in das lebens-weltliche Gefüge weiter gezogen werden. Dass wissenschaftliche, insbe-sondere „naturwissenschaftliche“ Erkenntnisse universell und interkultu-rell gültig sind, beruht darauf, dass sich diese Wissenschaften auch einen standardisierten, interkulturell gültigen Kanon der Beschreibung der Stö-rungen und Probleme ausgearbeitet haben, die es zu beheben gilt.11 Die

9 Eine Wirkursache ist primär die Ursache einer Störung bzw. Abweichung

vom Normalfall. Das zeigt sich am Umstand, dass nicht nur das Hinzu-kommen eines Faktors etwas verursacht, sondern auch sein Fehlen. Vit-amin C-Mangel verursacht z. B. Skorbut.

10 Bzw. eines „normalen“ Prozessverlaufs, wie etwa im Fall einer inertialen Bewegung.

11 Die globale Durchsetzung der wissenschaftlichen Methode und der damit verbundenen Technik bedeutet, dass auch eine bestimmte Lebensform sich wenigstens ansatzweise global durchgesetzt hat und von den Gegnern vie-ler ihrer Teilaspekte prinzipiell anerkannt wird. Die kulturelle Kluft zwi-schen den Mördern des 11. September 2001 und ihren Opfern war somit nicht so breit, wie von Anhängern eines „Kampfes der Kulturen“ propa-

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Themen der Wissenschaften werden ihnen also von der lebensweltlichen Praxis aufgegeben. Ihre Welten erschöpfen sich in der Beschreibung der ihnen herangetragenen Störungen und ihre Prognosen verlaufen entlang der lebensweltlich vorgegebenen „Bruchlinien“.12 Von diesen Erfolgen (zu Recht) begeisterte Wissenschaftler machen allerdings oft den Fehler zu meinen, dass sie aus diesen Beschreibungen ein „erschöpfendes Bild der Welt“ gewinnen können, also auch desjenigen Normalbereiches, et-wa eines „lebensweltlich funktionierenden Bereiches“, der noch nicht als Störung oder Dysfunktionalität thematisch geworden ist. Sie überse-hen dabei, dass die „Strukturierung“ der Lebenswelt nicht (nur) nach expliziten Kriterien erfolgt, und dass dabei auch Aspekte eine wichtige Rolle spielen, die dem Weltverständnis der Wissenschaften zuwiderlau-fen oder gar sich ihrem Horizont vollständig entziehen. Das Programm einer evolutionären Einheitswissenschaft könnte verglichen werden mit der Bemühung künftiger Archäologen in einer „autofreien Zeit“, aus in einer verlassenen Werkstatt gefundenen Autoteilen nicht nur die Funkti-on, sondern auch die soziale und kulturelle Bedeutung und die Form-mannigfaltigkeit dieser Apparate für die Lebenswelt des 20. und 21. Jahrhunderts rekonstruieren zu wollen.

Antiposit iv ist ische Kri t iker

Das Unbehagen gegen die positivistische Wissenschaft ist fast genau so alt wie das Programm der Einheitswissenschaft selbst, dessen Spuren sich bis ans Ende des Mittelalters und darüber hinaus zurückverfolgen lassen. Es ist von Philosophen und Wissenschaftlern in mannigfaltiger Weise geäußert worden, die wiederum von ihren positivistischen Kolle-gen teilweise vehement bekämpft worden sind. Günter Dux, Stein Bråten und Christopher Hallpike gehören zu dieser Fraktion der Kritiker, die die positivistische Soziologie an zwei sehr empfindlichen Stellen an-greifen: Dux und Bråten, indem sie die Frage „Was sind die Bedingun-

giert wird, was wiederum die Schwere des Verbrechens umso mehr unter-streicht.

12 Eventuelle „positive Nebenwirkungen“ einer theoretischen Prognose, z. B. die Erkenntnis, dass ein zur Behandlung einer gegebenen Krankheit kon-zipiertes Medikament sich auch zur erfolgreichen Behandlung anderer Krankheiten eignet, stellen sich zunächst als „zufällige“ Widerfahrnisse ein. Aber auch wenn man aus „theoretischen“ Überlegungen vermuten darf, dass ein Medikament sich auch zur Behandlung anderer Krankheiten eignet, werden die betreffenden Krankheitsbilder nicht durch medizini-sche, physiologische oder biochemische Theorien definiert, sondern sind ebenfalls lebensweltlich vorgegeben.

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gen, damit ein Lebewesen Mitglied der Gesellschaft werden kann?“ (oder wenn man „Gesellschaft“ mit „Menschheit“ gleichsetzt: „Wie fin-det man den Weg in die Menschheit?“) aus einer anti-individualistischen Perspektive zu beantworten versuchen, während Hallpike die gängigen evolutionstheoretischen Erklärungen der menschlichen Sozialität als Ausdruck einer liberalistisch-kapitalistischen Gesellschaftsideologie ent-larvt.

Die Standardantwort der positivistischen Soziologie (und Anthropo-logie) auf diese Frage ist, dass im Laufe der Evolution ein besonderer Lebewesentyp entstanden ist, der Mensch, dessen Realisate nicht nur in sozial strukturierten Verbänden leben,13 sondern mit besonderen psychi-schen Fähigkeiten ausgestattet sind, die sie in die Lage versetzen, mittels sprachlicher Kommunikation ihre Verbände aktiv aufzubauen, zu gestal-ten und aufrecht zu erhalten. Trotz seines guten Erfolges im Evolutions-spiel bleibt dieser Lebewesentyp von dem unerbittlichen Diktat der Evo-lution nicht verschont – es wirkt sich nur nicht mehr auf der organismi-schen, sondern auf der sozialen Ebene aus. Es sind jetzt die menschli-chen Verbände, die gegenseitig in Konkurrenz treten und die kulturelle Entwicklung einleiten.

Günter Dux greift mit seiner „historisch-genetischen Theorie der Kultur“ diese Kontinuitätsvorstellung an, indem er die These von der „psychischen Autarkie“ menschlicher Individuen in Frage stellt. Die Annahme einer im Individuum verankerten psychischen Autarkie und Autonomie reiche allein nicht aus – so Dux – um zu erklären, wie sozia-le Verbände zustande kommen. Vielmehr seien das Vorhandensein be-reits funktionierender sozialer Verbände – einschließlich von auf der so-zialen Ebene verankerten Handlungen – und die Sprache zwei wichtige Bedingungen dafür, dass ein psychisch ausgestattetes Individuum sich in einen sozialen Verband integrieren kann. Menschen sind laut Dux ihrem Wesen nach weder psychisch autark noch autonom, sondern müssten diese Kompetenzen während ihrer Einsozialisation im Kindesalter er-werben und im Laufe ihres weiteren Lebens vermittels sozialer Interak-tionen erhalten. Auf Grund dieser dialektischen Wechselwirkung zwi-schen Menschen und sozialen Verbänden können sich letztere nicht un-abhängig von ihren Konstituenten durch blinde Mutation und Selektion evolutiv verändern. Zu ihrer Entwicklung bedürfen sie vielmehr der grundlegenden „Bereitschaft“ ihrer Mitglieder, sich auf sie „einzulas-sen“. Ein sozialer Verband kann sich deshalb nur dann weiter entwik-

13 Z. B. die so genannten „staatenbildenden“ Insekten oder in hierarchisch

strukturierten Herden lebende höhere Säugetiere wie Elefanten, Löwen und viele Primaten.

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keln, wenn seine Mitglieder in ihrer psychischen Entwicklung soweit sind, dass sie den veränderten Strukturen und Regeln adäquat handeln können.

An Stelle eines kontingenten Evolutionsprozesses tritt somit laut Dux auf der Ebene des Psychischen und des Sozialen ein gekoppelter und gerichteter Entwicklungsprozess in Kraft, dessen Resultat die heuti-ge Menschheit und ihre Geschichte ist. Dux findet eine adäquate Be-schreibung des psychischen Entwicklungsprozesses in der Theorie der kindlichen Entwicklung Piagets: Ihr gemäß betritt ein menschliches In-dividuum die soziale Welt als ein quasi-autistisches, selbstbezogenes Wesen, das sich im Laufe seiner postnatalen ontogenetischen Entwick-lung gegenüber seiner sozialen Umgebung „öffnet“ und allmählich den Anschluss an sie findet. Dabei durchläuft es bestimmte Stufen kognitiver und „ethischer“ Reife, die im Normalfall bei der Entwicklungsstufe sei-ner sozialen Umgebung enden. Piagets Theorie konzentriert sich aller-dings auf die Beschreibung der psychischen Entwicklung eines Indivi-duums, das in eine moderne, industrialisierte und technisierte Gesell-schaft hineingeboren wird und während seines Sozialisierungsprozesses den Anschluss sowohl an eine abstrakte Mathematik Bourbakischer Pro-venienz als auch an eine elaborierte Naturwissenschaft und an ein kom-plexes öffentliches Leben finden muss. Das Ziel der individuellen Ent-wicklung ist für Piaget vorgegeben, seine Theorie ist teleologisch.

Dux’ Anspruch ist es, die Piagetsche Theorie in eine nichtteleologi-sche Beschreibung des diachronen sozialen Wandels zu integrieren. Um dies zu erreichen, postuliert er, dass die bei einem gegebenen sozialen Verband bestehende Struktur – einschließlich moralischer Normen und kognitiver Kompetenzen – gewissermaßen den psychischen Entwick-lungsstand seiner Mitglieder spiegelt. In diesen Verband hineingeborene Individuen sind auf Grund der „Operativität des Gehirns“14 in der Lage, die zunächst vorsprachlich erfasste Realität in die gleichzeitig erworbe-nen Kategorien der „lokalen Sprache“ zu integrieren und mit ihnen pro-duktiv zu verfahren. So reift allmählich und mit der Vervollkommnung der Handlungskompetenz einhergehend das individuelle Subjekt in stän-diger Wechselwirkung mit den bereits geformten Subjekten seiner sozia-len Umgebung heran und reproduziert dabei zusammen mit ihnen die vorgegebenen sozialen Strukturen. Diese Reproduktion ist mit zuneh-mender Komplexität der sozialen Strukturen durch eine ebenfalls zu-nehmende Reflexivität gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass die Subjekte sich zunehmend in die Lage versetzen, die Modi der Reproduktion der sozialen Strukturen und auch die sozialen Strukturen selbst zu themati-

14 Dux 2000: 298.

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sieren. Die Ebene des Psychischen und des Sozialen bilden somit ein in-stabiles und sich ständig neu formendes „Konglomerat“, dessen ver-schiedene Phasen die Phasen der historischen Entwicklung darstellen. Es ist für Dux klar, dass dieser Prozess nicht bloß selbstreferentiell ist, son-dern dass er sich in ständiger Wechselwirkung mit den anderen Welt-ebenen vollzieht. Diese Wechselwirkung hat aber nur modifizierenden Charakter. Die physische, die chemische und die biologische Welt betei-ligen sich darin als limitierende und restringierende, jedoch nicht als ak-tiv gestaltende Instanzen. Somit ist der Prozess des sozialen Wandels und der sozialen Entwicklung nicht dem blinden Wirken der Evolution ausgesetzt, obwohl er seine Entstehung diesem verdankt.

Dux’ Projekt der „historisch-genetischen Theorie der Kultur“ kann als der Versuch verstanden werden, einen reflektierten und bedächtigen Blick auf die soziale und psychische Welt zu werfen, ohne gleich auf die „guten“ Ergebnisse der positiven Wissenschaft zu verzichten. Vielmehr sollen letztere in die Reflexion über die „Bedingungen der Möglichkeit“ des Sozialen behutsam integriert werden. Allerdings unterliegt Dux bei diesem Versuch demselben Missverständnis gegenüber den Ergebnissen der positivistischen Wissenschaft wie diese selbst. Er betrachtet sie näm-lich als Erklärungen für das Funktionieren der Gesellschaft und nicht als Erklärungen für das Auftreten von Dysfunktionalitäten. Diese These soll am Beispiel der Piagetschen Untersuchungen erläutert werden:

Es ist bereits erwähnt worden, dass Piagets Untersuchungen teleolo-gisch waren, in dem Sinne, dass sie sich an bestimmten Zielvorstellun-gen orientierten, die die heranwachsenden Kinder erreichen sollten, da-mit sie als kompetente Gesellschaftsmitglieder anerkannt werden. An keiner Stelle wird aber bei Piaget thematisiert, warum der Katalog dieser Zielvorstellungen a) erschöpfend und b) universell ist. Es wurde an-scheinend auch nicht thematisiert, dass das anzustrebende Kompetenz-niveau das einer mitteleuropäischen bürgerlichen Gesellschaft sein soll. Piaget scheint vielmehr davon auszugehen, dass die geistige Entwick-lung des Kindes ein selbständig ablaufender Individualprozess ist, bei dem das Individuum sich an eine unabhängig von den Menschen existie-rende natürliche Welt und an eine ihm ebenfalls vorgegebene Kultur an-passen muss.15

Die Zielsetzung der Piagetschen Untersuchungen wurde von seinem Interesse motiviert, den Übergang des Kindes in das Erwachsenenleben für dieses möglichst vorteilhaft zu gestalten und die Faktoren herauszu-arbeiten, die zu „Persönlichkeitsverwerfungen“ führen könnten. Indem er untersucht, welche altersbezogenen „Fehler“ seine Probanden in Be-

15 Vgl. hier auch Piaget, Urteil: 35.

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zug auf die „Normallösung“ machten, hat er u.a. die Grenzen aufgezeigt, die ein Erzieher beachten muss, will er seine Schützlinge nicht überfor-dern und nicht zum blinden Autoritätsglauben abrichten.16 Was aber Piaget nicht thematisiert, sind die Bedingungen, unter denen seine Un-tersuchungen überhaupt möglich waren und zu sinnvollen Ergebnissen führten. Seine Untersuchungen übersehen die Tatsache, dass sie im Rahmen einer funktionierenden Kommunikation zwischen Forscher und Probanden stattfinden. Die Versuchsergebnisse zeigen eben partielle Fehler und nicht ein Scheitern der Kommunikation. Die Kinder sind stets in der Lage zu verstehen, was man von ihnen will. Sie beherrschen also im Großen und Ganzen die Regeln der Kommunikation (sonst wä-ren sie nicht den Anweisungen Piagets gefolgt), sie weichen nur an be-stimmten Stellen von der unter Erwachsenen üblichen Beurteilung der Situation ab. Beim Formulieren seiner Aufgaben orientiert sich Piaget offensichtlich an einem vorpsychologischen lebensweltlichen Wissen über die altersbezogenen Fähigkeiten von Kindern, so dass er ihnen nichts abverlangt, was sie prinzipiell nicht erfüllen können. Die Reihen-folge und die Charakterisierung der von ihm ausgemachten Entwick-lungsstufen sind somit begrifflich und methodisch vorgegeben und nicht Resultat seiner empirischen Untersuchungen. Bezüglich des allgemeinen Verlaufs der kindlichen psychischen Entwicklung entdeckt die Entwick-lungspsychologie Piagets nichts, was nicht jedes normal sozialisierte El-ternteil aus seiner lebensweltlichen Erfahrung wissen kann. Ihre Ergeb-nisse liefern allerdings ein detailliertes Wissen über die Grenzen und den zeitlichen Rahmen dieser Entwicklung.

Piaget beschreibt den Prozess der psychischen Entwicklung des Kindes als eine individuelle Leistung. Der junge Mensch muss dabei seinen Egozentrismus überwinden und sich der sozialen Welt anschlie-ßen. Die primäre Interaktion mit der Welt ist nicht praxeologischer oder kommunikativer Natur (bzw. der fundamentale kommunikative Aspekt wird nicht thematisiert), sondern wird mit den Termini „Assimilation“ und „Akkommodation“ beschrieben, die auf die Tätigkeit von ontisch isolierten und individualexistentiell unselbständigen Entitäten verweisen – wie die Realisate eines beliebigen Lebewesentyps –, die darüber hin-aus zumindest über ein Anfangsmaß an psychischer Autarkie verfügen. Diese Voraussetzung in Verbindung mit dem Umstand, dass seine Un-tersuchungen sich an einer lebensweltlich vorgegebenen Problemvorlage orientieren und somit nur Ursachen von Störungen bzw. Grenzen von Funktionszusammenhängen ausweisen können, machen ihre Inan-spruchnahme durch die Historisch-genetische Theorie unplausibel. We-

16 Montada 1987: 460 ff.

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der lässt sich mit Piagets Entwicklungspsychologie die These von der psychischen Autarkie angreifen noch liefert sie ein taugliches Darstel-lungsmittel für eine Rekonstruktion der Kulturgenese und –entwicklung. Am Ende verabschiedet sich sogar Dux teilweise von seinem ursprüng-lichen Vorhaben, indem er die Kompetenz zur kognitiven Erfassung der Welt und zur Interaktion in der biotisch verankerten „Operativität des Gehirns“ begründet sieht. Mit dieser biologistischen Reduktion wird aber dem gesamten Angriff auf die Absolutsetzung des Subjekts und auf eine bloß formale systemtheoretische Betrachtung Luhmannscher Prä-gung der sozialen und kulturellen Zusammenhänge der Boden entzo-gen.17

Stein Bråten sieht die Unzulänglichkeit der Piagetschen Entwick-lungspsychologie und des Piagetschen Subjektbegriffes für die Erklä-rung des Zustandekommens der Ebene des Sozialen und der sozialen Entwicklung. Zur Überwindung der Aporie einer individualistischen Ge-sellschaftskonzeption postuliert er eine primordiale „Alterzentrizität“ menschlicher Individuen, die sich bereits kurz nach der Geburt entfaltet. Wie bei Piaget durchläuft diese Kompetenz verschiedene Entwicklungs-stadien, die aber untereinander in einer „historischen Beziehung“ stehen. Im Gegensatz dazu versteht Piaget die Stadien der psychischen Entwick-lung als zeitlich abgegrenzte Episoden, die zwar für die Herausbildung der Persönlichkeit von immanenter Wichtigkeit sind, deren Wirkung aber sich nur auf ihre Manifestationsdauer beschränkt. Einmal „über-wunden“ beeinflussen sie nicht mehr das Leben des Individuums – es sei denn in Form von Peinlichkeits- oder Belustigungsgefühlen, wenn die Eltern dem ausgewachsenen Kind von seinen Heldentaten aus früher Kindheit erzählen. Bråten meint dagegen, dass die während einer Ent-wicklungsphase erworbenen Kompetenzen ein Stratum bilden, das wäh-rend der restlichen Lebensdauer des Individuums aktiv bleibt und die Basis für die Entfaltung der nächsten Phase darstellt.

Bråten untermauert seine Thesen mit vielen empirischen Untersu-chungen an Säuglingen und Kleinkindern, die belegen sollen, dass Men-schen bereits kurze Zeit nach der Geburt sich auf die Anwesenden ein-stellen und eine so genannte „intersubjektive Einstimmung“ auf die sor-gende Person zeigen: Manche Säuglinge sollen z. B. in der Lage sein, in der ersten Lebensstunde ihnen vorgemachte einfache Laute und Gesten nachzumachen und schon ein paar Tage später können sie in „tanzähnli-che“ Interaktionen mit der Mutter treten. 18 Diese Versuche und Demon-strationen zeigen die Feinstruktur eines Prozesses, dessen grober Verlauf

17 S. dazu Dux 2000. 18 Vgl. Bråten 2003.

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schon lebensweltlich bekannt ist und den begrifflichen Rahmen für sie hergibt. Dass die Reaktionen der Säuglinge und Kleinkinder als Bestäti-gung der These der primordialen Sozialität der Menschen angesehen werden, beruht wenigstens zum Teil darauf, dass letztere im Voraus als gültig unterstellt wird. Das abweichende Verhalten eines Säuglings wür-de nämlich nicht als Falsifikationsinstanz der Theorie gelten, sondern als Zeichen eines sich anbahnenden abnormalen Zustands, der der Beobach-tung und eventuell der Therapie bedarf – dies ist schließlich auch der Sinn der postnatalen, sich bis ins vierte Lebensjahr hinziehenden regel-mäßigen „Kinder-TÜV“-Untersuchungen. Der Unterschied zwischen Bråten und Piaget besteht darin, dass das Aufflackern „alterzentrischen“, primitivsozialen Verhaltens vom ersteren als Bestätigung seiner These angesehen wird, während Piaget es als „zu früh einsetzende“ spätere Entwicklungsphase zu exhaurieren19 versuchen würde, um seine Theorie der „Selbstregulierung“ zu retten.

Lag die Hauptleistung der Piagetschen Untersuchungen darin, die Unterschiede in den Modi der Wahrnehmung und der Erklärung der Welt zwischen Erwachsenen und Kindern zu erfassen und somit auch Grenzen eines bestimmten Erziehungsstils aufzuzeigen, so demonstriert uns Bråten, dass Kinder sich viel früher und bei subtileren Situationen auf die Erwachsenen einlassen und mit ihnen kooperieren, als es ge-meinhin lebensweltlich angenommen wird. Wofür er keinen experimen-tellen Nachweis erbringen kann, ist die seinen Versuchen zu Grunde lie-gende Annahme, dass Menschen nicht als psychisch autarke Entitäten die Welt betreten. Er braucht diesen Nachweis auch nicht, weil die psy-chische Interdependenz der Menschen keine Annahme ist, sondern schon die Lebenswelt mitkonstituiert. Nicht nur, dass es uns lebenswelt-lich sehr überraschen würde, einer Person zu begegnen, die behaupten würde, ihre personalen Kompetenzen außerhalb jeder Menschengemein-schaft erworben zu haben, wir hätten darüber hinaus jeden Grund ihr keinen Glauben zu schenken.

Die Akzeptanz der psychischen Interdependenz scheint jedoch für die modernen Menschen unbehaglich, ja sogar ungeheuerlich zu sein. Dies beruht auf einer Gleichsetzung der Bedeutungen von „Autarkie“ und „Autonomie“, die tiefreichende kulturgeschichtliche Wurzeln hat, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Eine der wichtigsten Kon-sequenzen für die Kulturwissenschaften ist jedoch das Bestreben, dieses Unbehagen durch die Zuflucht in die positive Naturwissenschaft über-

19 Exhaustion ist ein Terminus technicus für das Verfahren, falsifizierende

Experimentalbefunde durch die Aufstellung von „Störungsbeseitigungs-hyposthesen“ in die Theorie zu reintegrieren. S. dazu Dingler 1928.

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winden zu wollen: So proklamiert Günter Dux einerseits den Sturz des absoluten Subjekts, die Historizität und Prozessualität der gesellschaftli-chen und kulturellen Entwicklung, die Offenheit dieses Prozesses, das Primat der Handlung und der Sprache, die Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft, beeilt sich aber andererseits alle diese Aspekte auf die vermeintlichen biologischen Eigenschaften des Gehirns zurück zuführen – in den sicheren, deterministischen Hafen der positi-ven Wissenschaft.

In ähnlicher Weise will Bråten die primordiale Sozialität der Men-schen auf die neuronale Struktur des Gehirns zurückführen. Man soll darin schon so genannte „Spiegelungsneuronen“ entdeckt haben, die für das soziale Verhalten der Menschen verantwortlich gemacht werden. Daraus zieht Bråten nicht nur den Schluss, dass seine Theorie „wahr“ und diejenige Piagets „falsch“ ist, er entwickelt auch eine Erziehungs-theorie und eine evolutionistische Erklärung für den Überlebensvorteil, den die „Alterzentrizität“ mit sich bringt.20

Seine evolutionistische Erklärung für den Überlebensvorteil der Al-terzentrizität setzt an bei einem hypothetischen Verlust der Fähigkeit der Säuglinge und Jungtiere der Vorfahren der Menschen, sich am Mutter-tier festklammern zu können. Dadurch waren die Muttertiere gezwun-gen, ihren Nachwuchs gelegentlich abzusetzen, um bei der Nahrungssu-che und -aufnahme „eine freie Hand zu haben“. Dieser Umstand soll evolutiv diejenigen Individuen begünstigt haben, die sich aufeinander beziehen konnten: Entsprechend ausgestattete Elterntiere waren so in der Lage, ihren Nachwuchs gemeinsam aus der Ferne zu beaufsichtigen – was die Herausbildung eines primitiven „Familiensinns“ zur Folge hatte –, und Jungtiere haben sich nicht von den Eltern entfernt. Darüber hin-aus hat die Herausbildung der Alterzentrizität diesen Jungtieren es er-

20 Bråtens Erziehungstheorie läuft auf das Gebot hinaus, Kinder in einer Plu-

ralität der Meinungen und Weltbilder aufzuziehen und sie mit allen mögli-chen Stimulantien interagieren zu lassen, damit sie nicht Opfer der Mo-dellmacht einer einzigen Erziehungsinstanz werden. Auf Grund nämlich ihrer angeborenen, neurophysiologisch untermauerten Alterzentrizität und psychischen Dependenz neigen Kinder dazu, sich auf das Weltbild ihrer Betreuer einzulassen und es für sich zu übernehmen. Da dieser Prozess mit dem Alter nicht aufhört, sondern sich während des gesamten Lebens un-terschwellig fortsetzt, läuft der Mensch Gefahr, mehr und mehr andere Sichtweisen als die vertraute zu verwerfen und in seinen Ansichten mono-lithisch, konservativ und intolerant zu werden. Dieser Entwicklung soll durch eine breite, auf direkte Interaktion mit der Umwelt angelegte Erzie-hung entgegengewirkt werden, bei der die erziehende Person möglichst im Hintergrund bleibt. Es ist interessant, dass Bråten ein Erziehungsmodell propagiert, das große Ähnlichkeiten zum Piagetschen aufweist, aber dia-metral entgegengesetzt begründet wird.

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laubt, durch die Einstimmung in die Bewegungen und die Gesten der adulten Tiere von ihnen zu lernen – im Gegensatz etwa zu den Jungtie-ren von Affen, die an der Mutter festgeklammert nur deren Gesichtsfeld vor Augen haben und folglich nur ihre Handbewegungen imitieren kön-nen. Die „Fernaufsicht“ soll ferner die Entwicklung der lautlichen Kommunikation mit allen Implikationen für die Entwicklung des Ner-vensystems und des Gehirns gefördert haben, was wiederum die Ent-wicklung der höheren geistigen Fähigkeit der späteren Menschen maß-geblich beeinflusst hat.

Doch was soll die Existenz von „Spiegelungsneuronen“ belegen? Würde Bråten seine These der primordialen Sozialität der Menschen aufgeben, wenn es nicht gelingen würde, diese Neuronen nachzuweisen oder wenn ihre Existenz sich als falsch erweisen würde? Wie alle positi-vistischen Wissenschaftler übersieht Bråten, dass der „Zweck“ dieser Neuronen nicht im Rahmen einer neurophysiologischen Theorie defi-niert wird, sondern dass er auf der lebensweltlichen Ebene bereits vor-gegeben ist. Die Kriterien für das Gelingen und das Scheitern der Alter-zentrizität sind konstitutiver Bestandteil unseres alltäglichen Umgangs. Der Neurophysiologe sucht nach neuronalen Korrelaten zu „sozialen Tä-tigkeiten“, nachdem er aus dem breiten Angebot seiner sozialen Umwelt diejenigen Handlungen auswählt und „standardisiert“ (insofern ihm letz-teres gelingt), die er auch unter Laborbedingungen studieren kann. Was aber eine soziale Tätigkeit bzw. Handlung ist, weiß er auf Grund seiner Teilnahme an seiner sozialen Umgebung und nicht weil er es aus seiner Theorie neuronaler Systeme abgeleitet hat.

In einigen Fällen gelingt es dem Neurophysiologen tatsächlich, Kor-relationen zwischen einer Tätigkeit und der neuronalen Aktivität zu fin-den. Manchmal kann er sogar nachweisen, dass bestimmte personale Ausfälle – etwa der Verlust der Artikulationsfähigkeit oder Gedächtnis-verluste, Bewegungsausfälle usw. – mit der Beschädigung oder der Fehlfunktion bestimmter Hirnregionen einhergehen. Abgesehen davon, dass Bråten zur Begründung der Relevanz der „Spiegelungsneuronen“ für soziale Tätigkeiten auf Ausfallphänomene dieser Art nicht zurück-greifen kann,21 würde ihre Entdeckung auch nicht ausreichen, um zu be-legen, dass ihr Vorhandensein die Ursache der Alterzentrizität ist. Wie bei allen anderen neuronalen Korrelaten belegt die Tatsache, dass ihre Schädigung zu diversen psychischen Ausfällen führt, nur, dass sie für

21 Es sei denn, er würde auf das Mittel des Menschenxperiments zurückgrei-

fen und die geistige Entwicklung von Kindern studieren, deren entspre-chenden Hirnregionen zerstört worden sind. Da dieser Weg ihm aber aus ethischen Gründen versperrt bleibt, gilt bis auf weiteres: ignoramus et ignorabimus.

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den normalen Lebensvollzug notwendig sind – sie sind aber keineswegs ausreichend. Die Schädigung der neuronalen Korrelate ist eine oder manchmal die einzige Ursache für einen Ausfall auf der psychischen Ebene. Ihre normale Funktion ist aber nicht die Ursache der normalen psychischen Tätigkeit. Das eine mit dem anderen gleichzusetzen wäre analog etwa mit der Betrachtung der Tatsache, dass die Leitungen eines Telefonnetzes intakt sind, als einzige Ursache für sein Funktionieren und für seine gegebene Architektur. Zwar kann ein Telefonnetz durch das Kappen der Leitungen beschädigt werden, wenn Leitungen gekappt werden. Intakte Leitungen sind aber nicht die einzige Ursache für sein Funktionieren. Es gibt vielmehr verschiedene Ursachen dafür, die auf verschiedenen Weltebenen angesiedelt von unterschiedlicher Wichtig-keit sind. Die wichtigste Ursache ist aber das Bedürfnis der Gesellschaft nach einer erleichterten, ortsübergreifenden Form der Kommunikation. Dieses Bedürfnis definiert die primären Eigenschaften und Funktionen eines Telefonnetzes, z. B. seine Architektur und die verschiedenen Modi seiner Benutzung. Seine technische Ausstattung, die Auswahl der Mate-rialien und die Forderung nach physischer Integrität seiner Komponen-ten sind bezüglich der gesellschaftlichen Vorgaben und Bedürfnisse se-kundäre Bedingungen, die erfüllt werden müssen. Natürlich gibt es Grenzen des Machbaren, deren Ausweis zum Geschäft der Physik und der Chemie gehört. Doch diese Wissenschaften zeigen uns lediglich die Grenzen unserer Vorhaben auf und nicht ihre Ursachen.

Auf das Verhältnis zwischen der biotischen und der psychischen Ebene übertragen, soll die Telefonnetzmetapher auf Folgendes aufmerk-sam machen: Der Ausweis bestimmter individueller Tätigkeiten und Kompetenzen als Resultate des reibungslosen Funktionierens des Ner-vensystems erfolgt im Rahmen lebensweltlicher Kommunikations-, Er-ziehungs- und Beobachtungspraxen. Sie bestimmen diejenigen Aspekte, die erstens als „Eigenschaften“ bzw. Fertigkeiten des Individuums gel-ten und zweitens als Kandidaten für eine Abhängigkeit von den physio-logischen Funktionen des Körpers in Frage kommen. Praxen sind soziale Gebilde. Wenn die Ausweisung dessen, was in den Bereich der indivi-duellen Merkmale, Eigenschaften und Kompetenzen fällt, innerhalb von Praxen geschieht, dann müssen wir akzeptieren, dass die Individuen so-wohl in Bezug auf ihre körperliche als auch auf ihre psychische Defini-tion und a fortiori in Bezug auf die physiologischen Ursachen ihrer kör-perlichen und psychischen Tätigkeiten und Kompetenzen von ihrer so-zialen Umgebung abhängig sind. Diese Abhängigkeit ist ihrerseits kein Resultat bewusster planerischer Tätigkeit, wie das Telefonnetz, sondern gehört ebenfalls zum Netz der lebensweltlichen Unterscheidungen, die

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jedes menschliche Individuum bei seiner Einsozialisation beherrschen lernt.

Stein Bråten schafft es am Ende doch nicht, mit dem Reduktionis-mus der Neurophysiologie zu brechen und die These der primordialen Sozialität und Alterzentrizität zu einem methodischen Prinzip der Ent-wicklungspsychologie auszubauen. Der Versuch, die Alterzentrizität als organismisches Merkmal über ihren vermeintlichen evolutiven Vorteil als „Bindeglied“ zwischen der biotischen und der psychisch-sozialen Ebene zu etablieren, ist von zweifelhaftem Erfolg, denn der Entwurf die-ser „Erfolgsstory“ beruht ebenfalls auf der methodischen Präsupposition, dass Alterzentrizität und Sozialität konstitutive Aspekte des Menschen darstellen. Außerdem übersieht Bråten dabei, dass die Evolutionstheorie selbst egozentrisch und asozial ist, denn nur egozentrische Individuen können in einer totalen Konkurrenz gegeneinander antreten. Menschen aber sind auf Grund ihrer primordialen Alterzentrizität und Sozialität auch primordial solidarisch, natürlich nicht in dem Sinne, dass alle ei-nem verklärten Friedens- und Gleichheitsideal nachhängen, sondern in dem Sinne, dass sie zur Aufrechterhaltung ihrer sozialen Gebilde darauf angewiesen sind, die Schwächeren „mitzuziehen“, auch wenn dies nur zum Zwecke ihrer Ausbeutung geschieht. Es ist deshalb aus der Sicht der Evolutionstheorie ein Widerspruch, dass ein Prozess, der stets den Stärkeren begünstigt, einen Zustand hervorgebracht hat, der den Schwä-cheren zumindest nicht eliminiert.

Diesen Widerspruch nimmt Christopher Hallpike zum Anlass, sich mit der Rolle der Evolution im Bereich des Sozialen zu beschäftigen und einen weiteren Angriff auf die Selbstzufriedenheit der positivistischen Wissenschaft, diesmal auf dem Feld der anthropologischen Forschung, zu starten. Hallpike entlarvt zunächst die Darwin’sche Evolutionstheorie als ideologisch belastet, und zwar mit dem Geist des Manchester-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts. Das positivistische Bedürfnis nach „Fakten“ und die vermeintliche „Einsicht“, dass die Welt nur den Besse-ren eine Überlebenschance einräumt und die Schlechteren eliminiert, sei in der spezifischen Organisation der Gesellschaft und der Produktion im England der industriellen Revolution verankert. Hallpike nennt diese Einstellung die „Coketown-Mentalität“ in Anlehnung an eine fiktive, durchrationalisierte Stadt in Charles Dickens Roman Harte Zeiten. Den Konzepten der universellen Rationalität, Effektivität und Amelioration durch Selektion setzt Hallpike die aus seinen anthropologischen Studien bei „primitiven“ Stämmen und Kulturen abgeleiteten Prinzipien der Ak-kumulation von notwendigen Bedingungen, des Entwicklungspotentials

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und des Überlebens des Mittelmäßigen entgegen.22 Die soziale Entwick-lung – so Hallpike – lasse sich als eine Akkumulation notwendiger Be-dingungen für die weitere Entwicklung beschreiben, wobei für das Fort-bestehen einer „sozialen Entität“ – Tradition, Kultur, Praxis, Gemein-schaft, Stamm, Staat usw. – ihr Entwicklungspotential und ihre „Harm-losigkeit“ maßgeblich seien. Mit der Einführung des Prinzips der Ak-kumulation von notwendigen Bedingungen spricht Hallpike den Um-stand an, dass die soziale Entwicklung sich nicht durch den Aufbau einer sozialen Entität ab ovo vollzieht, sondern dass jede neue Entwicklungs-phase auf den Voraussetzungen beruht, die in den ihr vorausgehenden Phasen etabliert wurden. Die antiken Großreiche, erste Formen des Staa-tes, sind z. B. aus der Verschmelzung einer bereits etablierten landwirt-schaftlichen Praxis und einer clanartigen, Krieg treibenden Gemein-schaftsform hervorgegangen, die die religiöse, politische und militäri-sche Führungsschicht des Staates bereitgestellt hat. Zur Akkumulation von notwendigen Bedingungen beitragende Praxen zeichnen sich durch ihr Entwicklungspotential aus, d. h. durch ihre Verwendbarkeit für Zwecke, die ursprünglich nicht in den Skopus ihrer Teilnehmer fielen. Neben der Landwirtschaft sind z. B. die Praxen des Feuermachens und der Metallverwendung ebenfalls durch ein enormes Entwicklungspoten-tial ausgezeichnet. Beide Prinzipien sind antievolutionär, weil sie erstens den geschichtlichen Wandel nicht als eine bloße Abfolge von unterein-ander unabhängigen Entwicklungsphasen betrachten, sondern die struk-turelle Abhängigkeit der nachkommenden Phasen von den vorhergehen-den postulieren, und zweitens, weil für sie der Begriff der Konkurrenz nicht konstitutiv ist. Zwar führten die frühzeitlichen Menschen Kriege, aber nicht weil die Ressourcen knapp waren, sondern um Ruhm, Reich-tum und die Gunst der Götter zu erringen.

Das wichtigste Argument Hallpikes gegen die evolutionstheoretische Betrachtung der sozialen Entwicklung ist jedoch das Überleben von Praxen, Lebensformen, Sitten und Gebräuchen, die aus der Sicht des un-sere „westliche“ Kultur vertretenden effizienzbesessenen, rationalisti-schen und säkularisierten Coketown als durchweg unvernünftig, irratio-nal, verschwenderisch und sogar moralisch verwerflich zu bewerten sind. Paradigmatisch dafür steht die Lebensweise der Tauade, eines Stammes auf Papua-Neuguinea. Auffällig in diesem Zusammenhang ist ihre Sitte, besonders herausragende Mitglieder ihrer Gemeinschaft nach ihrem Tod nicht zu bestatten, sondern in den Häusern ihrer Familien aufzubewahren, bis der Verwesungsprozess vollendet ist, und danach die Knochen bei sich (als Amulette) zu tragen. Der Grund dafür ist, dass sie

22 Hallpike 2003.

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meinen, so den Geist den Toten einatmen und aufnehmen zu können. Zwar leiden sie unter dem Gestank und den anderen Nebenerscheinun-gen des Verwesungsprozesses, kommen aber nicht auf die Idee, diese Sitte aufzugeben. Hallpike stellt fest, dass die Tauade trotz ihrer „irra-tionalen“ Lebensweise als Volk und Kultur durchaus überleben und dass sie dabei nicht viel schlechter leben als „vernünftigere“ Völker der glei-chen Entwicklungsstufe. Er schließt daraus, dass im Bereich des Sozia-len die Prinzipien der Evolution durch Mutation und Selektion des Bes-seren unwirksam sind. Das Überlebenskriterium ist statt dessen die „Harmlosigkeit“ einer Praxis, die im Fall der Tauade dadurch begründet wird, dass dieses Volk hoch auf den Bergen Neuguineas lebt, so dass der Verwesungsprozess keine besondere Bedrohung ihrer Gesundheit dar-stellt. Mit ähnlichen Erklärungen versucht er das Überleben diverser ok-kulter Praxen zu plausibilisieren. Magie, Weissagerei und Voodoo-Kulte überleben, weil sie kaum zu falsifizieren sind. Falls sie Erfolg haben, werden sie bestärkt, Misserfolge werden aber durch kaum zu kontrollie-rende Exhaustionsstrategien wegerklärt. Der Schaden, den sie anrichten – falls sie überhaupt einen anrichten – bleibt so unbemerkt.

Ist aber das Prinzip des Überlebens des Mittelmäßigen (oder des „Harmlosen“) in der Lage, den Glauben an die Evolution in der Anthro-pologie und der Soziologie zu erschüttern? Hallpike beobachtet richtig, dass Sitten, Gebräuche und Lebensformen überleben, obwohl sie be-stimmte Rationalitätsstandards nicht erfüllen. Er hat auch Recht damit, die „naturwüchsige“ Universalität dieser Rationalitätsstandards in Zwei-fel zu ziehen und als ideologisch zu entlarven. Doch sein Nachweis des Überlebens des Mittelmäßigen ist keine Widerlegung des Evolutionis-mus, sondern nur die Feststellung, dass die Evolution im Sozialen nach anderen Auswahlkriterien abläuft. Anstatt dass das Beste das nicht so Erfolgreiche aussticht, verschwindet nur das ausdrücklich Schlechte, frei nach dem Motto „Was uns nicht umbringt, macht uns nur stärker“! Der fundamentale Selektionsmechanismus bleibt aber weiterhin in Kraft. Um den Evolutionismus auszuhebeln, bräuchte Hallpike nur darauf hinzu-weisen, dass im Bereich des Sozialen nicht nur das aus der Sicht der Ra-tionalität Harmlose überlebt, sondern auch das dezidiert Schlechte, und zwar wider besseres Wissen. Auf die Tauade übertragen bedeutet dies, dass sie ihre Totensitten auch dann nicht aufgegeben hätten, wenn re-gelmäßig Seuchen ausbrechen würden. Ihr Glaube, dass die Aufbewah-rung unter den Lebenden die einzig angemessene Behandlung der Toten darstellt, würde auch mit diesem „weltlichen“ Problem fertig werden, wie mit dem Ertragen des Gestanks und der Maden. Aber wir brauchen nicht so weit zu gehen: Auch unsere rationalisierte Welt ist voller Pra-xen und Sitten, die tradiert werden, obwohl sie aus der Sicht der wissen-

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schaftlichen und ökonomischen Rationalität derart unvernünftig sind, dass ihre Tradierung an die Grenze des moralisch Schlechten stößt. Dro-gen- und Alkoholkonsum, das Festhalten an einem energieaufwendigen und opferreichen Individualverkehr, das Siedeln in erdbeben- oder hochwassergefährdeten Regionen, der Nationalstolz, das Streben nach ökonomischem Profit, der Massentourismus, die energieintensive Struk-tur unserer Industrie, ja sogar der Glaube an die Rationalität sind Bei-spiele von zumindest potentiell schädlichen Praxen und Lebensweisen, die trotzdem fortgeführt werden. Nur wenige von uns, sowohl individu-ell als auch auf der Ebene des Sozialen, sehen sich veranlasst, eine Le-bensweise aufzugeben, nur weil sie im physiologischen oder im sozialen Sinne schädlich ist. Man versucht zuerst den Schaden zu minimieren, zu bekämpfen oder ihm vorzubeugen. Gerade dies ist die Aufgabe der Wis-senschaften: Uns zu ermöglichen, nach unseren Vorstellungen leben zu können, ohne Schaden davon zu tragen. Das wichtigste Motiv für die Aufgabe einer Lebensweise zu Gunsten einer anderen ist nicht die phy-siologische, biologische, physikochemische oder sogar die moralische „Unschädlichkeit“ der neuen Lebensweise, sondern die individuelle Zu-friedenheit und die soziale Anerkennung, die dieser Wechsel mit sich bringt. Die Leute geben das Rauchen nicht allein deswegen auf, weil sie sich ein längeres Leben im biologischen Sinne, sondern weil sie sich die Vermeidung bestimmter mit den prognostizierten Krankheiten erwarte-ter Leiden erhoffen, oder weil sie einsehen, dass dieser Schritt zu einem besseren „Lebenswandel“ führen kann. „Berufsverbrecher“ konvertieren nicht zu braven Bürgern, weil sie Angst vor dem Gefängnis oder gar der Todesstrafe haben, sondern nur weil sie einsehen, dass ihre Taten mora-lisch verwerflich waren und durch ihre Reue die Anerkennung und das Lob der Gesellschaft erwarten. Natürlich gibt es Leute, die einen Le-benswandel „nur“ aus Wissenschaftsgläubigkeit, Gesundheitsfanatismus oder Vorteilskalkül aufgeben. Solchen Fällen wird aber oft mit Spott, Mitleid oder Verachtung begegnet.

Das Fazit unserer Betrachtung der Versuche von Günter Dux, Stein Bråten und Christopher Hallpike, sich von einer positivistischen Sozial-wissenschaft zu lösen, ist folgendes: Sie alle behalten die problematische Vorstellung bei, Mensch und Gesellschaft seien genauso wie ein norma-ler Gegenstand einer Wissenschaft zu behandeln. Trotz ihres Unbeha-gens mit den Grundpostulaten des modernen Szientismus betrachten sie die Menschen letztendlich als ontisch isolierte, psychisch autarke, aber existentiell unselbständige Realisate eines Lebewesentyps und die sozia-len Entitäten als sekundär entstandene Agglomerate menschlicher Indi-viduen. So kann die immer wieder von diesen Autoren betonte Abhän-gigkeit der „Enkulturation“, sowohl der individuellen als auch der kol-

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lektiven, von genuin gemeinschaftlichen Handlungs- und Kommunikati-onszusammenhängen, wie etwa der Sprache und der Sitten, begrifflich und methodisch am Ende doch nicht eingeholt werden. Sie bleibt viel-mehr ein isoliertes, metaphysisches Postulat, das einen hartgesottenen Empiristen und Evolutionisten nicht zu beeindrucken vermag.

Ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων

Wie lassen sich nun die großen Fragen nach dem Ursprung des Sozialen und des Psychischen, nach dem Wesen des Menschen und nach dem Modus der individuellen Einsozialisation und des sozialen Wandels be-antworten? Wie kann man, ohne auf theologische Rezepte zurück zu greifen, die „präemptive Angepasstheit“ des menschlichen Kognitions-apparates erklären, d. h. die Frage beantworten, wieso Menschen schon vor einigen hundert tausend Jahren mit einem kognitiven Apparat ausge-stattet waren, der für die damaligen Anforderungen eindeutig überdi-mensioniert war, aber gerade deswegen die soziale und technische Ent-wicklung der Menschheit ermöglicht hat? Und wenn diese Fragen nicht empirisch zu beantworten sind, was sind Gegenstand und Aufgaben von Soziologie, Psychologie und Anthropologie? Und was sind die Gel-tungskriterien ihrer Aussagen?

Der Versuch einer alternativen Antwort schließt an eine Tradition an, die auf den Heraklitischen Spruch „ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων“23 und den Platonischen Dialog Kriton zurückreicht. Diese Tradition kehrt die hierarchische Reihenfolge zwischen Individuum und Gemeinschaft, zwischen dem Psychischen und dem Sozialen um und stellt nicht nur die existentielle Unselbständigkeit, sondern auch die psychische Autarkie und die ontische Isoliertheit menschlicher Individuen in Frage. Heraklits Fragment sagt uns knapp und prägnant worum es geht: Es ist die Sitte, das Brauchtum, die Strukturen einer gemeinschaftlichen Lebensform, die im Menschen „spuken“ und ihn antreiben. Im Kriton findet dieser Gedanke seine erste systematische Ausarbeitung, wenn Sokrates sich weigert, der Aufforderung Kritons Folge zu leisten und dem Gefängnis und dem sicheren Tod zu entfliehen. Alles ist bereit: der Wächter besto-chen, die Wege frei, die Stadt schläft, das todbringende Schiff noch mei-lenweit entfernt. Doch Sokrates verweist auf die Gesetze, denen er seine Existenz verdankt – nicht seine körperliche, sondern seine psychische und seine personale Existenz.24

23 Heraklit, Fragment B 119. 24 Platon, Kriton: 50b – 51c.

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Sokrates’ Hauptargument gegen die Flucht ist, dass dadurch das Ordnungsgefüge der Stadt und zugleich die „Geschäftsgrundlage“ für seine Personalität als Sokrates zerstört würden Man betritt nicht die Welt als „fertige“ Person, sondern man wird zu einer solchen, indem man in eine konkrete Gemeinschaft hineingeboren wird und an ihrem Leben partizipiert. Dieses Leben wird aber durch die Gesetze strukturiert, die dafür sorgen, dass man zu einer bestimmten, historisch situierten Person wird. Dies darf nicht so verstanden werden, dass die Gesetze den „In-halt“ der Personalität festlegen – dafür ist das eigene Handeln und die eigene Einstellung verantwortlich –, sie geben aber den Rahmen vor, die „zulässigen“ Optionen zur Entfaltung der Personalität. Außerhalb der durch die Gesetze wohlbestallten Polis, so Sokrates, ist keine Entfaltung der Personalität möglich. Andererseits ermöglichen uns die Gesetze die Entfaltung einer Personalität, die sich offensichtlich von ihnen emanzi-pieren kann – Sokrates könnte sich der Strafe durch Flucht entziehen. Doch diese Flucht würde ihn zunächst in die „Ortlosigkeit“, in die Ab-surdität eines „vogelfreien“ Lebens führen, eines Lebens, das durch kei-ne Gesetze und keine Sitte mehr geschützt wäre, eines Lebens nicht nur ohne Ehre und ohne Ansehen, sondern auch ohne Garantie auf Fortexi-stenz: Denn als Vogelfreier würde Sokrates jederzeit und an jedem Ort den Tod finden können, einen Tod, der viel schrecklicher sein könnte als das wohlige Dahindämmern im Schierlingsrausch. Und auch wenn er weiterleben könnte, würde dieses Leben immer von der Gnade der ihm Asyl Gewährenden abhängig. In seinem Alter – er war ja siebzig Jahre alt – könnte er sich kaum erhoffen, den Tag seiner Rehabilitation zu er-leben. Also lieber ein ehrenvoller Tod in der Geborgenheit einer „dura lex“ als ein Leben wie ein Hund in der Fremde. Aber nicht nur dies: Da sein Todesurteil nach einem gesetzeskonformen Verfahren zustande ge-kommen ist, wäre sein Widerstand willkürlich. Würde er hingenommen, dann könnte jeder Bürger sein beliebiges ureigenes Begehren über die Gesetze stellen, was zur Folge hätte, dass der Staat zerfiele.

Weder Heraklit noch Platon/Sokrates geben uns Auskunft darüber, wie dieses Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Individuum konkret gestaltet wird, d. h., was das Verbindungsglied zwischen einem kollekti-ven und einem individuellen Subjekt ist. Der zentrale Aspekt dieser Be-ziehung liegt im Umstand, dass die Gemeinschaftlichkeit handlungsmä-ßig („praktisch“) und nicht erkenntnismäßig („epistemisch“) konstituiert wird: Gemeinschaften sind keine Agglomerate von Individuen, die he-rausgefunden haben, dass es besser ist, zusammenzuarbeiten, anstatt miteinander zu konkurrieren, sondern sie sind „kollektive Subjekte“ von gemeinschaftlichen Handlungen, die ihrerseits aus ebenfalls handelnden „Untereinheiten“ bis hin zu handelnden Einzelindividue, bestehen. Der

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Ausdruck ‚Mensch’ ist nicht ein Name für einen Lebewesentyp, sondern die „Auszeichnung“ für ein Individuum, das an gemeinschaftlichen Handlungen teilnehmen kann. Gemeinschaften werden durch das Han-deln von Individuen realisiert, die ihrerseits an gemeinschaftlichen Handlungen dieser Gemeinschaften teilnehmen. Dies hat folgende Kon-sequenzen, die hier thesenartig präsentiert werden:

Zu erklären ist nicht der Prozess der individuellen Enkulturation, sondern dessen Scheitern. Wir erwarten, dass unsere Babys den Weg in unsere Menschheit finden; das ist der Normalfall. Probleme treten dort auf, wo dieser Prozess irgendwo zum Stillstand kommt oder sich gar nicht entfaltet. Unsere Medizin und Kinderpsychologie ist darauf ausge-richtet, die Ursachen für diese Fehlleistungen zu finden und zu beheben. Die normale Entwicklung ist nicht gleich der Summe der gefundenen „Reparaturmethoden“ für die bisher festgestellten Störungen.

Das Rätsel der oben erwähnten „präemptiven Angepasstheit“ des menschlichen Kognitionsapparates ist ein Scheinproblem. Denn der an einer gemeinschaftlichen Handlung teilnehmende Mensch muss nicht das gesamte deskriptive Wissen über diesen Handlungstyp mit sich tra-gen, er muss auch nicht wissen, was die anderen Teilnehmer gerade tun und wie ihr Handeln mit seinem zusammenhängt. Der Teilnehmer an ei-ner gemeinsamen Handlung braucht nur zu wissen, was das gemein-schaftliche Ziel ist und wie er sein individuelles Handeln darauf zu be-ziehen hat. Diese Aufgabe muss von jedem bewältigt werden, und zwar unabhängig davon, ob die betreffende Gemeinschaft das Entwicklungs-niveau einer steinzeitlichen Jäger- und Sammlerhorde oder einer moder-nen demokratisch verfassten und marktwirtschaftlich organisierten Ge-sellschaft aufweist. Insofern eine Gemeinschaft über deskriptives Wis-sen über ihre diversen gemeinschaftlichen Handlungen und die damit verbundenen Praxen verfügt, befindet sich dieses Wissen im öffentli-chen Raum, in Bibliotheken, in öffentlich angebrachten Gesetzestafeln, im Internet – und nicht in den Köpfen bzw. den Gehirnen der Gemein-schaftsmitglieder. Jedes Mitglied muss nur wissen, wo und wie es dieses Wissen finden und konsultieren kann.

Die Entstehungsfrage verliert ihren fundamental-ontologischen Cha-rakter. Ihre Beantwortung erschöpft sich im Entwurf einer plausiblen Erzählung dafür, wie die von uns als Norm vorgegebene gemeinschaftli-che Lebensform im Laufe der Zeit allmählich erreicht wurde. Wie die individuelle Enkulturation ist die kollektive Enkulturation Ausgangs-punkt und Ziel der historischen Rekonstruktion. Warum auf unserem Planeten nur eine Tierart das Niveau des gemeinschaftlich strukturierten Lebens erreicht hat, wird nicht eigentlich erklärt, sondern, dass es so ist, wird als Faktum vorausgesetzt.

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Es wäre trotzdem kurzsichtig zu meinen, die Sozialwissenschaften hätten keine Forschungsgegenstände, weil der „Normalfall“, den sie vermeintlich untersuchen, kein Explanandum darstellt, sondern sich nur normativ explizieren lässt. Dieser Schluss ist verfehlt, denn aus der Ex-plikation des normativen Rahmens und der relevanten Begriffe resultie-ren lediglich allgemeine Kriterien für die Einteilung des lebensweltli-chen Geschehens in die verschiedenen Forschungsbereiche, aber kein Wissen über die besonderen psychischen, anthropologischen oder sozia-len Phänomene. Diese müssen im Rahmen der jeweiligen Theorie be-schrieben und ins Verhältnis zueinander gesetzt werden. Der Stellenwert des Empirischen für die Sozialwissenschaften, die Psychologie und die Anthropologie kann verglichen werden mit dem Stellenwert der Wahlen für die Demokratie: Menschenrechte, Verfassungen und gerechte Rah-mengesetze (BGB, Straf- und Verwaltungsrecht) reichen eben nicht aus, um die legitimen Ziele und Handlungen einer Gesellschaft festzulegen. Demokratische Gesellschaften sind Gemeinschaftsformen und somit handelnde „Kollektivsubjekte“, deren Handeln sowohl der Kontingenz des Scheiterns als auch der Kontingenz der „äußeren Umstände“ unter-worfen ist. Als handelnde Subjekte müssen sich demokratische Gesell-schaften entscheiden, welche Ziele sie im von Menschenrechten und Rahmengesetzen abgesteckten Rahmen verfolgen wollen und wie sie es tun wollen. Wahlergebnisse sind der empirische Ausdruck dieser Ent-scheidungstätigkeit, die auch das Selbstverständnis dieser Gesellschaften modifiziert. In analoger Weise dienen die Ergebnisse empirischer Sozi-alforschung dazu, den normativen Rahmen unseres Vorverständnisses vom Sozialen an den kontingenten Widerfahrnissen sozialen Handelns zu messen, ihn gegebenenfalls zu modifizieren und somit zu unserem besseren, d. h. unserer jeweiligen historischen Situation adäquaten Selbstverständnis beizutragen.

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Eigenschaften der Personalität

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Autonomie und Autarkie

Das Junkt im zwischen Autonomie und Autarkie

Die Begriffe „Autonomie“ und „Autarkie“ spielen eine zentrale Rolle in der philosophischen Reflexion sowohl in theoretischer als auch in prak-tischer Hinsicht: Autarkie im Sinne von Selbstgenügsamkeit verweist auf den idealen Zustand der Existenz einer Entität, die von der Existenz anderer Entitäten sowohl in Bezug auf ihre Wesensbestimmung als auch in Bezug auf ihre Materialität unabhängig ist. Mit dem Begriff Autono-mie andererseits wird erstens das Vermögen eines Erkenntnis- und Handlungssubjektes beschrieben, unabhängig von äußeren Zwängen die Gegenstände seiner Erkenntnisbemühungen bzw. die Ziele seines Han-delns zu setzen. Zweitens wird der Begriff auch normativ verwendet, um die wesentliche Eigenschaft eines Erkenntnis- oder Handlungssubjektes zu charakterisieren. Gerade in dieser zweiten Verwendungsweise wer-den Autonomie und Autarkie miteinander verknüpft, denn in der klassi-schen erkenntnistheoretischen und moralphilosophischen Tradition wird ein gewisser Grad an Autarkie des Subjekts als „ontisches Fundament“ seiner Autonomie gefordert und die Sicherstellung einer größtmöglichen Autarkie zum Ziel einer jeden Autonomieentfaltung erklärt.

Belege für dieses Junktim zwischen Autonomie und Autarkie finden sich bereits in der antiken Philosophie, bei Platon, Aristoteles und Epi-kur.68 Platon führt die Entstehung der Polis auf die Nichtautarkie der einzelnen Menschen zurück, die sie veranlasst, sich zu einer selbsterhal-tenden und sich selbst genügenden Gemeinschaft zusammenzuschlie-ßen.69 Aristoteles definiert in Fortführung dieses Gedankens die Polis als eine 68 Für eine Übersicht s. HWP, Lemma Autarkie 69 Platon, Politeia: 369b.

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„Gemeinschaft aus Sippen und Siedlungen, [deren Wesensmerkmal] das voll-endete und autarke Leben [ist]. Das ist nämlich das gute und glückliche Leben. Um der guten Taten Willen wird also eine Polisgemeinschaft gestiftet und nicht wegen des bloßen Zusammenlebens.“70

Ein explizites Junktim zwischen Autarkie und Autonomie findet sich sowohl bei Platon als auch in Aristoteles’ Politik nicht. Im Zusammen-hang mit der Staatsführung des Tyrannen erwähnt Aristoteles aber, dass der gute Tyrann, die herausragenden und sich um das Staatswohl ver-dient gemachten Bürger so ehren soll, dass sie den Eindruck gewinnen, sie würden nicht mehr geehrt, hätten sie eine autonome Regierungs-form.71 Daraus wird ersichtlich, dass für Aristoteles Autonomie zu den wesentlichen Merkmalen der freien Polis gehört. Doch die freie Polis ist eine autarke Gemeinschaft.72 Daraus kann gefolgert werden, dass die Autonomie der freien Polis nur durch die Erreichung der größtmögli-chen Autarkie gewährleistet werden kann. Dass dieser Gedanke auch bei Platon zumindest implizit zu finden ist, geht aus dem Umstand hervor, dass der Zusammenschluss der nichtautarken, aber beruflich „speziali-sierten“ Individuen nicht vollendet ist, ehe ein „Wächterstand“ einge-richtet worden ist, der die Integrität und Autonomie der Stadt nach au-ßen gewährleistet.73

Eine Generation nach Aristoteles, in einer Zeit des Niedergangs der im Selbstverständnis der Zeit autonom-autarken Polis, erklärt Epikur die Autarkie zum höchsten Gut des Individuums,

„nicht damit wir stets wenige Dinge verwenden, sondern damit wir uns mit dem Wenigen begnügen, wenn wir nicht viel besitzen, in der festen Überzeu-gung, dass nur diejenigen, die des Wohlstands am wenigsten bedürfen, ihn am meisten genießen, und dass das Natürliche leicht und das Überflüssige schwer zu erwerben ist. Und darüber hinaus (glauben wir auch), dass einfache Speisen genauso schmackhaft wie luxuriöse Mahlzeiten sind, wenn der Schmerz, der durch die Kargheit entsteht, überwunden wird. Sogar Brot und Wasser bringen den höchsten Genuss, wenn sie jemand zu sich nimmt, der ihrer am meisten bedarf.“74

70 Aristoteles, Politik: 1280b39-1281a4. Eine ähnliche Definition wird auch

in 1275b21 gegeben: „[denn] eine Stadt ist, grob gesagt, diejenige Menge von Bürgern, die im Stande ist, die Autarkie des Lebens zu gewährlei-sten“.

71 Aristoteles, Politik: 1315a5. 72 Aristoteles, Politik: 1291a6 ff. 73 Platon, Politeia: 373d-374d. 74 Epikur, Menoik: 130.

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Im Gegensatz zu Platon und Aristoteles bestimmt Epikur die Eudämonie nicht mehr als gutes individuelles Leben in einer gut lebenden, d. h. wohlgeordneten und wohlhabenden Gemeinschaft, sondern als ausgegli-chene Gestaltung eines individuellen Mikrokosmos, die, damit sie ge-lingt, sowenig Bezüge wie möglich zur „Außenwelt“ haben sollte. Die mit dieser Konzeption von Autarkie verbundene Autonomie ist aller-dings nicht mehr nach außen, sondern nach innen gerichtet. Sie entfaltet sich innerhalb dieses Mikrokosmos – nach außen hin erscheint sie als Kargheit, als bewusst in Kauf genommener Verzicht auf geistige und materielle Interaktion mit gemeinschaftlich verfassten „Superstrukturen“ wie Staat, Markt oder Gesellschaft.

Die individuelle Autarkie als höchstes Gut und oberstes Ziel des tu-gendhaften autonomen Handelns hatte im epikureischen Denken noch einen stark präskriptiven Charakter: sie drückte eine Haltung gegenüber sich selbst und der Welt aus. Mit der Hypostasierung der Seele im neu-platonisch-christlichen Sinn zur individuierten Einheit von kognitiven, emotiven und rationalen Kompetenzen wurde jedoch das Junktim zwi-schen Autonomie und Autarkie zum deskriptiven Wesensmerkmal die-ser neuen Entitätsklasse, eine Entwicklung, die für die neuzeitliche Phi-losophie des Geistes konstituierend war: Handelnde Subjekte bestehen demnach aus einem nichtautarken und nichtautonomen materiellen Sub-strat (Körper) und aus einer im oben genannten Sinne immateriellen Seele, die nicht nur in der Setzung der Inhalte ihrer Tätigkeit von ande-ren Seelen autonom ist, sondern zu ihrer Selbstkonstitution und Selbster-fahrung der anderen Seelen nicht bedarf – sie ist in dieser Hinsicht au-tark. Die Notwendigkeit der Kooperation, die noch bei Platon und Ari-stoteles in der – in Bezug auf die Dichotomie zwischen Körper und See-le – undifferenzierten Nichtautarkie der Individuen begründet war, resul-tiert im neuplatonisch-christlichen Körper-Seele-Dualismus aus dem Umstand, dass die autonome Tätigkeit (nicht die Autarkie) der Seele in vielen Bereichen nur über den Körper realisiert werden kann. Die Seele ist somit bestrebt, den Körper am Leben zu erhalten, was auf Grund der Struktur der körperlichen Nichtautarkie nicht ohne Kooperation möglich ist.

Der Versuch der Rekonstruktion der Kooperation aus der Superposi-tion bzw. der Addition der Tätigkeiten autonom-autarker Seelen führt jedoch zur Aporie. Eine derartige Rekonstruktion kann nämlich nicht einsichtig machen, warum bestimmte Ziele als gemeinschaftliche aus-gewiesen werden und andere nicht. Wie kommen autarke Entitäten überhaupt zur Erkenntnis, dass ihre Bedürfnisse und ihre Zwecke über-einstimmen oder sich wenigstens berühren? Damit dies geschieht, müss-ten sie sich aufeinander beziehen, was wiederum die Aufgabe ihrer

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Selbstgenügsamkeit zur Folge hätte. Aus diesem Grunde können autarke Seelen auch keinen Vertrag schließen, denn schon die Idee des Vertrags beinhaltet die Aufgabe der Autarkie.

Ebenfalls aporetisch ist das Verhältnis zwischen einer autarken Seele und einem nichtautarken Körper: Entweder besteht absolut kein Zu-sammenhang zwischen beiden Substanzen, da es für die Seele eigentlich keinen Grund gibt, an eine derart fragile Entität festzuhalten, oder – wenn man unterstellt, dass der Körper zum „Verantwortungsbereich“ der Seele gehört – die Seele kann nicht zwischen zufälligen Begierden und notwendig zu erfüllenden Bedürfnissen des Körpers unterscheiden.

Die skizzierten Probleme weisen darauf hin, dass sowohl die Vor-stellung einer autonom-autarken Seele als auch das Junktim zwischen Autonomie und Autarkie im Allgemeinen nicht aufrechtzuerhalten sind. Ich werde diesen Verdacht zu belegen versuchen, indem ich folgende Thesen aufstelle und verteidige:

1. Die Autarkie einer Entität impliziert notwendigerweise die Hetero-

nomie dieser Entität. 2. Die Einführung autarker Entitäten ist angemessen nur im Bereich

kausal-mechanischer Erklärungen und kalkulatorischer Ableitungs-verhältnisse, wie sie in den Natur- und den Formalwissenschaften Anwendung finden.

3. Die Autonomie einer Entität impliziert notwendigerweise deren Nicht-Autarkie.

These 1 und 3 behaupten, dass Autonomie und Autarkie sich begrifflich gegenseitig ausschließen, dass es also keine autonom-autarken Entitäten geben kann. Möglich sind hingegen nichtautonome und zugleich nicht-autarke Entitäten wie etwa biologische Körper, Sklaven oder nichtfreie Staaten. Derartige Entitäten werden uns aber im Weiteren nicht beschäf-tigen.

Das logische Verhältnis zwischen Autonomie und Autarkie kann durch folgendes Schema veranschaulicht werden:

Autonomie Heteronomie

Autarkie widerspricht (a) impliziert (b) Nicht-Autarkie bedingt (c) widerspricht nicht (d)

Oder formal ausgedrückt:

a) ∀x. x ε autark → ¬x ε autonom

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b) ∀x. x ε autark → x ε heteronom c) ∀x. x ε autonom → x ε nichtautark d) ∀x. x ε nichtautark → x ε autonom ∨ x ε heteronom

An dieser Stelle ist eine terminologische Klärung angebracht: Der Aus-druck „Entität“ wird hier als Titelwort für alles verwendet, was in den Skopus einer wissenschaftlichen oder philosophischen Untersuchung ge-langen kann. Entitäten in diesem Sinne sind z. B. Individuen, Subjekte, Gemeinschaften, Elementarteilchen, aber auch „propositionale Entitä-ten“ wie Axiome, Prinzipien, Kalkülfiguren usw. Gerade die Bezeich-nung der letzteren als Entitäten bedeutet aber nicht, dass sie den gleichen ontischen Status wie materielle Gegenstände haben. Wenn von der Au-tarkie einer propositionalen Entität gesprochen wird, verweist dies auf ihre logische Unabhängigkeit von anderen derartigen Entitäten und auf den Umstand, dass ihre Wahrheit von der Wahrheit anderer Propositio-nen unabhängig ist.

Die Verteidigung der Thesen 1 und 3 wird über die Analyse der Be-griffe „Autarkie“ und „Autonomie“ erfolgen, die auch etymologische Aspekte berücksichtigen wird. Letztere sind deshalb relevant, weil der heutige Gebrauch dieser Begriffe – auch in Form von Übersetzungen wie „Selbstgenügsamkeit“ für Autarkie und „Selbstbestimmung“ für Autonomie – sich immer noch am antiken Verwendungszusammenhang orientiert.

Autarkie und Heteronomie

Der Terminus ‚Autarkie‘ geht auf das griechische Adjektiv ‚αὐτάρκης‘ zurück, das aus den Wörtern ‚αὐτός‘ (selbst) und ‚ἀρκέω‘ (genügen) gebildet wird. Im Deutschen bedeutet ‚autark‘ selbstgenügsam und ‚Au-tarkie‘ die Selbstgenügsamkeit. Eine autarke Entität ist eine Entität, die zu ihrer Existenz weder der Existenz anderer gleichartiger Entitäten be-darf noch der Existenz von Entitäten, auf welchen sie „parasitieren“ kann, etwa indem sie diese als Nahrungs- oder Energiequelle verwendet. Typische Fälle autarker Entitäten sind: Dinge, Elementarteilchen, empe-dokleische Elemente, Gene und Axiome bzw. Prinzipien.

Aus der begrifflichen Bestimmung von Autarkie als Selbstgenüg-samkeit ergeben sich folgende Eigenschaften autarker Entitäten:

1. Duration: Autarke Entitäten sind „zeitlos“ bzw. von unbestimmter

Dauer. Der Grundsatz der Duration gilt auch für nichtphysikalische autarke Entitäten wie z. B. die Gene, die nur durch äußere Einwir-

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kungen veränderbar sind. Wenn autarke Entitäten eine „Lebensdau-er“ haben (z. B. zerfallende Elementarteilchen, verwitternde Dinge, mutierende Gene), dann liegt dies entweder an äußeren Umständen (Stöße, Kräfte usw.) oder am „inneren Aufbau“ der Entität, was wie-derum bedeutet, dass die Autarkie der betreffenden Entität eine scheinbare war, und dass diese auf weitere autarke Entitäten zurück-geführt werden kann (Baryonen auf Quarks, so genannte schwere Leptonen auf Elektronen und Neutrinos u.ä.). Für propositionale En-titäten bedeutet die Duration, dass die Geltung autarker propositiona-ler Entitäten zeitunabhängig ist. Dies ist so, weil autarke propositio-nale Entitäten, wie Axiome oder Erhaltungssätze, den normativen Rahmen von empirischen Theorien und von Kalkülssystemen dar-stellen. Ihre Wahrheit kann daher nicht mit den innerhalb einer Theorie oder eines Kalkülsystems üblichen Mitteln angefochten wer-den – sie sind nicht fallibel. Sollte eine derartige Anfechtung den-noch erfolgreich sein, dann führt dies zur Aufstellung „grundlegen-der“ autarker propositionaler Entitäten, die die bisherigen als Spezi-alfälle enthalten. In der Chemie z. B. hatte der Satz der Erhaltung der Masse bei chemischen Reaktionen den Status einer autarken propo-sitionalen Entität, bis im Rahmen der Relativitätstheorie die Äquiva-lenz zwischen Materie und Energie nachgewiesen wurde. Dies führte dazu, dass der Satz der Erhaltung der Masse bei chemischen Reak-tionen zum Spezialfall des Satzes der Erhaltung der Masse und Energie geworden ist, der nicht nur für chemische, sondern auch für Nuklearreaktionen gilt.

2. Inertheit: Autarke Entitäten können aus sich heraus keinen Prozess bzw. kein Ereignis initiieren oder verursachen. Dieses „Unvermö-gen“ ist vor allem für die Naturwissenschaften, insbesondere für die Physik von Bedeutung, denn die Zulassung „aktiver“ Entitäten wür-de jegliche Prognose vereiteln. Deshalb wird die Trägheit physikali-scher, chemischer und biologischer Grundentitäten durch normative Erhaltungssätze gefordert und sichergestellt (Trägheitssatz, Energie-erhaltungssatz, Satz der Massenkonstanz bei chemischen Reaktio-nen, Postulat der konservativen Genreplikation usw.). Für axioma-tisch aufgebaute Satzsysteme gilt analog, dass sie ohne Ableitungs-regeln „folgenlos“ sind.

3. Passivität: Autarke Entitäten sind ausschließlich „erleidend“ – dies ist ein Korollar zu ihrer Trägheit. Sachverhalte (einschließlich Pro-positionen), die ausschließlich autarke Entitäten enthalten, müssen durch andere Sachverhalte erzeugt werden, wobei die „verursachen-den“ Sachverhalte auch autonome Entitäten, z. B. handelnde Perso-nen, enthalten können.

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4. Steuerungsunvermögen: Autarke Entitäten können über ihre Eigen-schaften (z. B. elektrische Ladung, magnetisches Moment, Struktur, topologische Eigenschaften) einen Prozess zwar modifizieren, aber nicht aktiv lenken bzw. steuern. Die autarken Entitäten selbst werden dabei auf Grund ihrer Trägheit und Passivität nicht modifiziert.

Aus den hier umrissenen Eigenschaften autarker Entitäten ergibt es sich, dass diese notwendigerweise fremdbestimmt, d. h. heteronom sind, weil sie weder einer Einwirkung von außen ausweichen können, noch in der Lage sind, einen Prozess einzuleiten. Der Widerstand etwa, den eine au-tarke Entität einer äußeren Einwirkung entgegenbringt, ist eine Eigen-schaft dieser Entität, die die Einwirkung modifizieren, aber nicht aktiv steuern kann. Der Trägheitswiderstand eines mit Masse behafteten Kör-pers gegenüber einer Beschleunigung z. B. ist eine endliche Größe und kann durch Einwirkung einer hinreichend großen Kraft überwunden werden. Die strikte Heteronomie autarker Entitäten impliziert ferner, dass diese Autarkie nur aus der Beobachterperspektive thematisiert wer-den kann. Auch wenn man unterstellt, dass es mit Selbstbewusstsein versehene autarke Entitäten gäbe,75 so könnten sie ihre Autarkie nur mit-tels einer gemeinsamen Sprache thematisieren. Dies würde aber ihre Au-tarkie aufheben, da eine gemeinsame Sprache bzw. Kommunikation die Kooperation mit den Anderen erfordert.

Die Relevanz autarker Ent i täten für die Natur- und die Formalwissenschaften

Das Autarkie-Konzept findet seine angemessene Anwendung in den Na-tur- und in den Formalwissenschaften. Sowohl die Gegenstände einer Naturwissenschaft als auch die Endpunkte naturwissenschaftlicher Er-klärungen werden als autarke Entitäten konzipiert. Der Grund für die Autarkie der Gegenstände der Naturwissenschaften liegt darin, dass da-mit letztere situationsunabhängig gültige Erkenntnisse über die Welt gewinnen, sie den Fluss der Ereignisse und Phänomene zu wohldefinier-ten Gegenständen konsolidieren müssen. Nur so lassen sich Gegenstän-de „herstellen“, die unabhängig von der lokalen raumzeitlichen Situation und der subjektiven Einstellung der Forscher untersucht werden können. Die Gegenstände der Naturwissenschaften (z. B. physikalische Körper, chemische Stoffe, Organismen, im Labor erzeugte Phänomene) erfassen daher nur bestimmte Aspekte realer Gegenstände und Phänomene. Ihre

75 Etwa Leibniz’sche Monaden.

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Konstitution richtet sich zwar nach den „Erfahrungswerten“ lebenswelt-licher Praxen – da die aus ihrer Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse diesen Praxen zu Gute kommen sollen –, orientiert sich aber auch an be-stimmten Idealvorstellungen, die aus dem Bestreben der Wissenschaften nach situationsunabhängiger Reproduzierbarkeit ihrer Gegenstände und Laborphänomene resultieren. Die Konstitution z. B. eines Gegenstandes der Chemie, eines „chemisch reinen Stoffes“, beinhaltet zunächst die Stiftung einer Äquivalenzrelation zwischen in Bezug auf bestimmte Ei-genschaften homogenen Dingen.76 Somit wird aber bloß ein „chemi-scher Stoff“ gewonnen, eine Entität, die nur in Bezug auf die ungefähre Reproduzierbarkeit ihrer charakteristischen Eigenschaften von anderen Stoffen unabhängig ist. Die Chemie will aber zunächst nur diejenigen Stoffe untersuchen,77 deren Eigenschaften sich exakt und unabhängig von der Anwesenheit anderer Stoffe reproduzieren lassen. Dies erfordert ein Ideationskriterium, das in der Anwendung bestimmter Herstellungs- und Kontrollverfahren der chemischen Reinheit besteht.78 Die chemisch reinen Stoffe erfüllen das Autarkie-Kriterium, denn ihre Existenz ist ein-eindeutig von ihren charakteristischen Eigenschaften bestimmt und so-mit auch unabhängig von der Existenz anderer chemisch reiner Stoffe.

Die Notwendigkeit der Autarkie für theoretische Entitäten naturwis-senschaftlicher Erklärungen resultiert aus der Forderung, dass derartige Unternehmungen nicht in einen infiniten Regress ausarten dürfen. Die theoretischen Entitäten, die als erklärende Instanzen postuliert werden (Elementarteilchen, Atome, Gene) müssen daher so beschaffen sein, dass ihre Eigenschaften in Bezug auf die zu erklärenden Phänomene der jeweiligen Naturwissenschaft nicht auf weitere Entitäten reduzierbar sind. So sind z. B. die Atome eines chemischen Elements untereinander gleich, aber in ihrer Existenz voneinander unabhängig. Ihr Verbindungs-verhalten richtet sich allein nach ihren Eigenschaften, und zwar so, dass das Verbindungsverhalten eines jeden Atoms unabhängig vom Verhal-ten der übrigen Atome ist. Nur so kann erklärt werden, dass bei der

76 Diese sind üblicherweise Dichte, Farbe, Geruch, Geschmack. Je nach Pro-

blemlage können weitere Eigenschaften herangezogen werden, die sich im lebensweltlichen Umgang mit Stoffen als relevant erwiesen haben. Damit ein Stoff als ein chemischer Stoff ausgewiesen werden kann, muss jedoch seine Homogenität bezüglich der gewählten Eigenschaften nach dem Durchlaufen eines fest-flüssig-gasförmig Zyklus reproduzierbar sein. In diesem Sinne ist Wasser ein chemischer Stoff, Honig aber nicht.

77 Für die Rekonstruktion der methodischen Gründe des chemischen Pro-gramms s. Psarros 1999: 117 ff.

78 Das primäre Verfahren für die Feststellung der chemischen Reinheit eines Stoffes besteht in der Bestimmung der Konstanz seines Schmelz- und Sie-depunktes.

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chemischen Reaktion zweier Elemente unter geeigneten Umständen mehr als ein Produkt entstehen kann.

Entsprechende Überlegungen gelten für die Notwendigkeit der Au-tarkie der Axiome formalwissenschaftlicher Kalküle. In diesem Fall er-scheint die Autarkie als logische Unabhängigkeit und evidente Geltung. Berücksichtigt man die Tatsache, dass naturwissenschaftliche Erklärun-gen auch als kalkülartige Ableitungen reformuliert werden können, so zeigt es sich, dass die Eigenschaften theoretischer Entitäten die Axiome der jeweiligen Kalküle sind.79 Die existenzielle Autarkie theoretischer Entitäten korrespondiert in diesem Fall mit der logischen Autarkie pro-positionaler Entitäten.

Die Autarkie naturwissenschaftlicher Entitäten hat zur Folge, dass naturwissenschaftliche Erklärungen nur durch Hinzunahme dreier Prin-zipien aufgestellt werden können:80

• mechanische Kausalität: Da aus autarken Entitäten nichts hervorge-

bracht werden kann, müssen sie, um etwas zu bewirken, von außen angestoßen werden. Deshalb entstehen innerhalb eines naturwissen-schaftlichen Erklärungszusammenhanges ausschließlich autarke En-titäten enthaltende Sachverhalte aus Vorgängersachverhalten nur durch Stoß oder Fernkrafteinwirkung.81

• Bewegung: Die mechanische Kausalität erfordert die Postulierung der raumzeitlichen Bewegung der autarken Entitäten als irreduzibles Moment mechanisch-kausal verknüpfter Sachverhalte. Die Irreduzi-bilität der Bewegung bedeutet nicht, dass sie nicht in Maßeinheiten von Raum und Zeit ausgedrückt werden kann. Raum und Zeit sind aber nicht die „Elemente“, aus denen Bewegungen zusammengesetzt werden, sondern nur Beschreibungsaspekte von Bewegungen.82

79 Für eine ausführliche Darstellung s. Psarros 1996. 80 Diese Prinzipien gewährleisten nur die Sinnhaftigkeit einer naturwissen-

schaftlichen Erklärung. Ihre Wahrheit muss empirisch nachgewiesen wer-den.

81 Gravitation oder elektromagnetische Felder. 82 Die Zenonischen Paradoxien (Achilles und die Schildkröte, der Pfeil) re-

sultieren aus der Annahme, Bewegung werde durch Raum und Zeit konsti-tuiert, und zwar als Korrelation von zwei Reihen miteinander verketteter Raum- und Zeitintervalle. Eine Bewegung lässt sich aber nicht aus der „Addition“ korrelierter Raum- und Zeitintervalle rekonstruieren, weil es einerseits nicht angegeben werden kann, wie der sich bewegende Gegen-stand von einem Intervallpaar in das nächste „hinüberwechselt“ (Pfeilpa-radoxon), und andererseits es unklar ist, wie Geschwindigkeitsverhältnisse in diesem „atomistischen“ Modell dargestellt werden können (Achil-les/Schildkröte). Deswegen betrachteten Empedokles und Demokrit die Bewegung als eine intrinsische Eigenschaft der von ihnen zur Erklärung

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• teleologische Kausalität: Die Eigenschaften und die Beziehungen zwischen den Entitäten, die eine naturwissenschaftliche Erklärung ausmachen, müssen so gewählt werden, dass daraus der zu erklären-de Sachverhalt resultieren kann. Diese Form der teleologischen Kau-salität in den modernen Naturwissenschaften unterscheidet sich von antiken und mittelalterlichen Vorstellungen einer causa finalis darin, dass der Endpunkt des zu erklärenden Prozesses nicht besonders ex-pliziert wird und einen „rückwirkenden“ Effekt hat, sondern in der mechanisch-kausalen Beschreibung bereits enthalten ist.83

Eine weitere Folge der Autarkie naturwissenschaftlicher Entitäten ist, dass eine Welt, die ausschließlich aus ihnen besteht, keinen Anfang und kein Ende in der Zeit hat, obwohl die Prozesse darin durchaus einen An-fang und ein Ende haben können. Die „Anfangslosigkeit“ einer Welt au-tarker Entitäten liegt darin begründet, dass gemäß dem Prinzip der me-chanischen Kausalität jeder Zustand dieser Welt aus einem Vorgänger-zustand entstanden sein muss. Da autarke Entitäten per definitionem irr-reduzibel und unzerstörbar sind, folgt daraus, dass sie in ewiger Bewe-gung bleiben.

Im Falle axiomatisch aufgebauter Kalkülsysteme sorgen so genannte Ableitungsregeln für die nötige „Bewegung“, d. h. dafür, dass aus gülti-gen Kalkülfiguren andere gültige Kalkülfiguren abgeleitet werden kön-nen. Darüber hinaus erfolgen die Ableitungen, um die Gültigkeit be-stimmter im Voraus gesetzter Figuren zu beweisen, was der teleologi-schen Kausalität entspricht.

der Phänomene postulierten Elemente bzw. Atome. Aristoteles folgte den beiden in der Betrachtung der Bewegung als eines auf Raum und Zeit irre-duziblen Prinzips, war aber offensichtlich mit der daraus resultierenden Anfangslosigkeit der Bewegung nicht einverstanden und postulierte einen das Universum umfassenden „unbewegten Beweger“ als autonom-autarken Ursprung aller perennialen Bewegungen. In der neuzeitlichen Philosophie hat Spinoza den Gedanken der anfangslosen Bewegung als in-trinsischer Eigenschaft der Materie wieder aufgegriffen, was in den Augen seiner Zeitgenossen mit der Leugnung Gottes als „unbewegten Bewegers“ und Schöpfers der Welt gleichbedeutend war. Diese Vorstellung Gottes als eines im aristotelischen Sinne autark-autonomen „unbewegten Bewegers“ degradiert ihn aber zu einem „endlichen“ Bestandteil der Welt und ver-kennt, dass die Rede über Gott auf einer anderen Ebene angesiedelt ist (vgl. dazu a. Hegel, Enzyklopädie: § 62).

83 Ein weiterer und sehr wichtiger Unterschied besteht darin, dass moderne naturwissenschaftliche mechanisch-kausale Erklärungen sich nicht in der Beschreibung der Erreichung des Prozesszieles erschöpfen, sondern dass sie darüber hinaus bis dahin nicht realisierte Prozesse und deren Endpunk-te voraussagen können (prognostische Kraft).

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Autonomie und Referenz

Der Terminus ‚Autonomie‘ geht ebenfalls auf ein griechisches Adjek-tivkompositum zurück, das diesmal aus „autós“ und dem Verb ‚νέμω‘ gebildet wird. „Némo“ bedeutet soviel wie „teilen“, „nehmen“, „wei-den“. „Autonom“ ist also eine Entität, die „sich selbst ihren Teil nimmt“, „sich selbst etwas zuteilt“ oder, modern ausgedrückt, „sich selbst be-stimmt“. An dieser Stelle ist ein schwacher von einem starken Autono-miebegriff zu unterscheiden: Autonom im schwachen Sinne ist eine En-tität, wenn sie nicht bezüglich der Zielsetzung, sondern lediglich bezüg-lich der „Realisierungsoptionen“ selbstbestimmt ist, etwa wenn das Ziel vorgegeben, aber die Methode zu seiner Erreichung freigestellt ist. Typi-sche Beispiele schwacher Autonomie sind politisch autonome Gebiete, die Subsidiarität staatlicher „Untereinheiten“ und der „Ermessensspiel-raum“ von Beamten. Im Bereich der Technik wird schwache Autonomie in Form von „blackbox-Prozessen“ realisiert. Schwache Autonomie ist ebenfalls in einem bestimmten Begriff des Menschen implementiert, et-wa beim Kind oder beim antiken Sklaven (ohne dass dies bedeutet, dass Kinder als Sklaven zu betrachten sind). Die Autonomie im starken Sinne hingegen (Souveränität) beinhaltet die Selbstbestimmung der Ziele und der Mittel. Beispiele dieser Form von Autonomie sind souveräne Staaten und Personen.

Im Begriff „Autonomie“ steckt ein Handlungsprädikator, das aktive Verb „némo“. Autonomie hat somit Handlungscharakter, der sich nur unter folgenden Bedingungen entfalten kann:

1. Zwecke und Mittel: Autonomie erfordert eine nach Zwecken und

Mitteln strukturierte Welt. Autonome Entitäten sind nicht träge und passiv, sondern aktiv, sie sind handelnde Entitäten. Handeln kann sich allerdings nur in einer Umgebung entfalten, die nach Maßgabe von Zweck und Mittel strukturiert ist und das Handeln nach Kriteri-en für Gelingen und Misslingen bewertet.

2. Notwendigkeit der Referenz: Autonomie erfordert Bezug auf etwas, was nicht in der autonomen Entität selbst liegt, denn: Etwas kann nur dann autonom sein, wenn es „etwas zu teilen“ gibt. Das „zu Teilende“ muss als „außerhalb“ der autonomen Entität ge-

setzt sein. 3. Anerkennung: Damit Autonomie sich als „Selbstbestimmung“ bzw.

„Selbstzuteilung“ entfalten kann, muss die autonome Entität in der Lage sein, überhaupt „bestimmen“ bzw. „zuteilen“ zu können. Die-ses Vermögen ist aber von der Anerkennung anderer abhängig, es ist ein soziales, kein physisches Vermögen. Damit allerdings die Ande-

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ren eine autonome Entität anerkennen, muss sie selbst in der Lage sein, das zu bestimmende Handlungsziel als Option für die eigene Selbstbestimmung zu akzeptieren.

Aus diesen Bedingungen folgt, dass autonome Entitäten nicht auf sich selbst bezogen und autark sein können. Dies gilt auch für die starke Form der Autonomie, die Souveränität, denn auch die Selbstbestimmung der Ziele des eigenen Handelns erfordert die Anerkennung durch die üb-rigen Handelnden. Dies ist so, weil schon der Begriff „Handlung“ sich nicht auf eine Unterklasse von Ereignissen, nämlich Körperbewegungen, bezieht, sondern selbst ein bewertender Begriff ist. Ein und dasselbe Er-eignis, etwa eine Armbewegung, kann nämlich je nach Kontext einmal als Handlung und einmal als Ausdruck eines kausal erklärbaren Verhal-tens oder Reflexes gedeutet werden. Andererseits kennen wir Handlun-gen, die nicht mit raumzeitlichen Ereignissen des Typs „Körperbewe-gung“ korrespondieren, wie z. B. das Fassen einen Entschlusses, die Setzung eines Willens oder das Nachdenken über ein Problem.

Was eine Handlung ist, kann also nicht extensional definiert, son-dern vor dem Hintergrund eines mit anderen geteilten Vorwissens näher bzw. genauer erläutert werden – eines Vorwissens, das nur durch die Teilnahme an Handlungszusammenhängen erworben werden kann. Handeln kann sich deshalb erst in einem gemeinschaftlichen Rahmen handelnder Subjekte entfalten, die sich gegenseitig als solche anerken-nen. Die Festlegung eines Handlungszieles ist ebenfalls das Resultat ei-ner Handlung. Das Handlungsziel muss daher mit den in einem gegebe-nen Praxiszusammenhang anerkannten Zielen kompatibel sein.

Eine Theorie der nicht-autarken Autonomie der Seele

Mit Hilfe der oben gegebenen Explikation des Autonomiebegriffes kann eine Theorie der nicht-autarken Autonomie der Seele als hypostasierter Titel für die kognitiven, emotiven und rationalen Kompetenzen han-delnder Subjekte entworfen werden, die auf folgenden Postulaten be-ruht:

Seelen sind in einen Handlungszusammenhang eingebettet, der das System der legitimen Ziele, das System der legitimen Bedürfnisse, die „Bandbreite“ der individuellen Handlungsoptionen und die Gelingens-kriterien für die individuellen Handlungen vorgibt.

Dieser Handlungszusammenhang hat selbst die Form einer Hand-lung, nämlich einer gemeinschaftlichen Handlung mit eigenen nur ihr

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zukommenden Zielen, Optionen und Gelingenskriterien. Eine gemein-schaftliche Handlung wird durch ihr zugeordnete individuelle Handlun-gen realisiert, und zwar so, dass sie nicht das Additions- oder Superposi-tions-, sondern das Interferenzresultat dieser individuellen Handlungen darstellt. Subjekt einer gemeinschaftlichen Handlung ist das Kollektiv der individuellen Handlungssubjekte, deren individuelle Handlungen die gemeinschaftliche Handlung realisieren. Ein derartiges Kollektiv heißt auch eine Gemeinschaft.

Ziele, Optionen und Gelingenskriterien für eine gemeinschaftliche Handlung werden, wie bei einer individuellen Handlung, nicht vom ge-meinschaftlichen Subjekt dieser Handlung bestimmt, sondern von einer ebenfalls gemeinschaftlich konstituierten „höheren“ Handlungsinstanz, z. B. einem Verbund von Gemeinschaften, einem Staat oder einem Großfamilienverband. Somit ergibt es sich ein System von ineinander geschachtelten gemeinschaftlichen Subjekten, wobei die jeweils höhere Ebene den sie konstituierenden Subjekten der tieferen Ebene je nach Form und Organisation der gemeinschaftlichen Handlung einen größe-ren oder kleineren Autonomiegrad zuweist. Das „innerste Element“ die-ses Systems ist das handelnde Individuum. Die ineinander geschachtel-ten Subjekte stehen in einem Rahmen/Inhalt- und nicht in einem mereo-logischen Teil/Ganzes-Verhältnis. Beispiele dafür sind etwa das Ver-hältnis zwischen der volonté générale und der volonté des touts,84 oder das Verhältnis zwischen Staat, Familie und Bürger.

An dieser Stelle erhebt sich die Frage, ob dieses System der ineinan-der geschachtelten gemeinschaftlichen Subjekte, das nach „innen“ beim handelnden Individuum ein Ende findet, auch nach „außen“ hin eine Grenze haben kann. Aristoteles und Platon sahen diese Grenze im sou-veränen Stadtstaat. Platon gibt jedoch zu, dass auch der ideale Stadtstaat sich ständig im Austausch mit anderen Stadtstaaten befindet, sei es in der Form des Krieges oder der friedlichen Kooperation. Aristoteles’ au-tarke Stadt ist stillschweigend in ein umfassenderes Gebilde eingebettet, in das mazedonische Reich das nach innen die Autonomie der (ihm ge-fügigen) Städte gewährleistet und diese von äußeren Feinden schützt. Aber auch die Vorsokratiker – z. B. Demokrit – und Epikur wussten, dass Autarkie einen Preis hat, nämlich ein Leben in Kargheit – die Ein-

84 Die volonté générale ist der Ausdruck der normativen Zielsetzung eines

Gemeinwesens, derjenigen Ziele also, die dem Gemeinwesen als Ganzes angemessen sind, und zwar unabhängig davon, ob sie mit Zielen von par-tikularen Gruppen oder Individuen innerhalb des Gemeinwesens kollidie-ren. Die volonté des touts ist der reale Ausdruck der volonté générale, ausgedrückt als Summe der untereinander und mit der volonté générale übereinstimmenden Einzelstimmen.

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schränkung der Autonomie. Der große politische Reformer Athens im 6. vorchristlichen Jahrhundert, Solon, hatte ebenfalls erkannt, dass die Au-tarkie der attischen Oikoi mit deren Autonomie als politische Unterein-heiten des Stadtstaates unvereinbar war und verfügte deshalb, dass die Neutralität eines freien Bürgers – der damals das Haupt eines Oikos dar-stellte – im Falle politischer Auseinandersetzungen den Verlust der Bür-gerrechte nach sich zog.

Auch der christliche Gott stellt nicht den Kulminationspunkt von Autonomie und Autarkie dar, denn er steht in Wechselwirkung mit den Seelen, die er erschaffen hat, in dem Sinne, dass er einerseits jeder Seele eine Autonomie in der Wahl der Mittel zur Erringung des Heils zubilligt und andererseits ihre freie Entscheidung zum „Abfall“ akzeptiert. Die Einsicht, dass das Verhältnis zwischen Gott und Seelen auf gegenseiti-ger Referenz beruht, findet ihren Niederschlag in der neuzeitlichen Reli-gionstoleranz- und Atheismusverbotsdebatte. Der Atheist gilt als je-mand, der durch die totale Aufkündigung des Glaubens seine Autonomie zu Gunsten seiner Autarkie aufgibt und sich somit außerhalb der Men-schengemeinschaft stellt.85

Will man trotzdem an einer Kulmination bzw. an einem Junktim von Autonomie und Autarkie festhalten, so könnte die „Gemeinschaft von Gott und Seelen“ oder – säkular ausgedrückt – die „gesamte Mensch-heit“ als die Ebene dieser Kulmination angesehen werden. Aber eine derartige Aussage hat soviel Gehalt wie der geometrische Satz, dass zwei parallele Geraden sich im Unendlichen schneiden.

85 Vgl. Locke, Toleranz.

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Rationalität und Gemeinschaft –

Sprachanalytische Reflexionen

Einlei tung

In seinem gleichnamigen Dialog lässt Platon den jungen Charmides, So-krates und Kritias einen Vormittag lang darüber sinnieren, was denn Be-sonnenheit sei. Im Laufe des Gesprächs zeigt sich, dass diese Tugend sich weder als eine Eigenschaft des Leibes (Bedächtigkeit),86 noch als ein Gefühl (Scham)87 und schon gar nicht als die Befolgung einer sozia-len Norm (jeder kümmere sich um das Seine!)88 definieren lässt. Auch der Versuch Kritias’, Besonnenheit als eine besondere Form des reflexi-ven Wissens auszuweisen, muss an Sokrates’ korrosivem Scharfsinn scheitern.89 Die Aporie entmutigt jedoch die drei Freunde nicht. Sie be-schließen, ihr Projekt der Klärung des Begriffes der Besonnenheit fort-zusetzen, ja sie erheben es zu einer Art Forschungsprojekt. Im Laufe der nächsten zweieinhalb Jahrtausende stellte es sich jedoch heraus, dass es eines der vielen nicht abgeschlossenen und nicht abzuschließenden Pro-jekte der Philosophie war, die von Sokrates und seinen Freunden in die Wege geleitet wurden.

Besonnenheit ist mit Rationalität zwar nicht synonym, jedoch eng verwandt. Jede gelungene Explikation eines der beiden Begriffe ebnet den Weg zur Explikation des anderen. Auch wenn die nachfolgenden Überlegungen also nicht dem Begriff der Besonnenheit, sondern dem Begriff der Rationalität gelten, so möchten sie an das Gespräch der dre, einen Tag nach Sokrates’ Rückkehr vom Schlachtfeld bei Potidaia an- 86 Platon, Charmides: 159a – 160d. 87 Platon, Charmides: 160e – 161b. 88 Platon, Charmides: 161c – 162b. 89 Platon, Charmides: 164d – 175d.

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schließen und einen dort nicht offen ausgesprochenen Gedanken weiter-verfolgen: Wenn Besonnenheit und Rationalität keine Eigenschaften des Leibes, der Seele oder des Verstandes des einzelnen Menschen und auch keine Eigenschaften der Gemeinschaft sind, so sind sie vielleicht Eigen-schaften von Beziehungen zwischen dem Einzelnen und der Gemein-schaft.

Was ist ‚Rat ional i tät ‘ nicht?

In der normalen Sprache hat ‚rational’ die grammatische Funktion eines Adjektivs oder eines Adverbs. Wir sagen, eine Handlung, eine Schluss-folgerung oder eine Zielsetzung sei rational, oder man handle, man den-ke rational usf. Adjektive und Adverbien – so die weitere Erläuterung der Grammatik – beschreiben Eigenschaften von Objekten, Handlungen oder Ereignissen, die ihrerseits durch Substantive und Verben beschrie-ben werden. Doch an dieser Stelle hört die Reichweite der herkömmli-chen grammatischen Analyse auf: Denn auch wenn z. B. die Wörter ‚silbrig’ (= silberfarben), ‚silbern’ (= aus Silber bestehend) und ‚rational konstruiert’ (= rational entworfen oder „designed“) auf das Substantiv ‚Becher’ passende Adjektive sind und Eigenschaften eines Bechers be-schreiben, so ist ein ‚silbriger Becher’ etwas Anderes als ein ‚silberner Becher’, und beide müssen nicht unbedingt Exemplare eines ‚rational konstruierten Bechers’ sein. Der Unterschied zwischen einem silbrigen, einem silbernen und einem rational konstruierten Becher ist freilich nicht von der Art des Unterschiedes zwischen einem silbrigen und einem blauen, einem schweren und einem leichten oder einem konischen und einem zylindrischen Becher. Es geht nicht um Unterschiede zwischen verschiedenen Körpereigenschaften dieses Dinges, sondern um ver-schiedene Redeweisen darüber: Über den Becher als Körper, über seine stoffliche Beschaffenheit und über den Becher in Bezug auf seine Ver-wendungsmöglichkeiten in einer Welt, die z. B. die Unterscheidung zwi-schen Zweck und Mittel kennt und Gebrauchsgegenstände nach Maßga-be ihrer Zweckmäßigkeit bewertet. Um diese Unterschiede aufzudecken und begrifflich fassen zu können, bedürfen wir einer anderen Form der sprachlichen Analyse, die nicht bloß die Regeln für rhetorisch wohlge-formte Sätze expliziert, sondern auch die „Sinnzusammenhänge“ zwi-schen sprachlichen Ausdrücken untersucht. Um sie von der „normalen“ oder rhetorischen Grammatik zu unterscheiden, wird diese Form der sprachlichen Analyse häufig philosophische oder auch logische Gram-matik genannt. Die logische Grammatik fragt nach der semantischen Funktion der sprachlichen Ausdrücke, d. h. nach ihrer Funktion in der

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Struktur eines sinnvollen Satzes, und zwar unabhängig davon, ob dieser Satz im rhetorischen Sinne wohlgeformt ist oder nicht. Wie die rhetori-sche Grammatik legt die logische Grammatik übrigens keine neuen Re-geln fest, sondern versucht zu explizieren, was wir als kompetente Be-nutzer unserer Umgangssprache immer schon tun. Allerdings geht es bei dieser Explikation nicht um ein empirisch kontrollierbares, objektives und universell gültiges Wissen im Sinne der Naturwissenschaften, son-dern um eine Erläuterung unserer Sprachgewohnheiten. Eine grammati-sche Analyse, ob rhetorisch oder logisch, liefert lediglich eine Übersicht über unsere Sprachpraxis, die an die Einsicht und die Anerkennung der Praxisteilnehmer appelliert.90 In diesem Sinne können wir als kompeten-te Sprecher die Frage nach der semantischen Funktion von ‚rational’ stellen, indem wir etwa bei unserem Beispiel die Unterschiede in den semantischen Funktionen von ‚silbrig’, ‚silbern’ und ‚rational konstru-iert’ untersuchen.

Im Falle das Satzes „Dies ist ein silbriger Becher“ stellen wir fest, dass das Farbwort seine Bedeutung ‚silbrig’ durch den Umgang mit far-bigen Dingen, durch Aufforderung und Hinweis erhält. Wir lernen so silbrige von roten, schwarzen, weißen und farblosen Dingen durch „di-rektes“ Zusprechen und Absprechen der dazugehörigen Farbwörter zu unterscheiden. So lernen wir übrigens auch Becher von Gläsern, Tellern, Autos, Katzen oder Steinen zu unterscheiden – durch Beispiel und Ge-genbeispiel und durch Befolgen von Aufforderungen, etwa „Reiche mir bitte den silbrigen Becher, nicht das blaue Glas!“. Im Gegensatz zur rhe-torischg-rammatischen Analyse des Satzes „Dies ist ein silbriger Be-cher“ ergibt die logisch-grammatische Analyse zunächst das verblüffen-de Ergebnis, dass ‚silbrig’ und ‚Becher’ die gleiche semantische Funkti-on erfüllen, nämlich die eines prädikativen Ausdrucks. Ein Unterschied besteht allerdings zwischen ihnen: Während der Satz „Dies ist ein Be-cher“ auch rhetorisch-grammatisch korrekt ist, ist der Satz „Dies ist ein silbrig(es)“ rhetorisch nicht wohlgeformt; man muss ihn zu „Dies ist ein silbriges Ding“ oder eben „Dies ist ein silbriger Becher“ ergänzen. Es lassen sich somit zwei Sorten von prädikativen Ausdrücken unterschei-den, rhetorisch-grammatisch „selbstständige“ Prädikatoren und „unselb-ständige“ Apprädikatoren.91 Nicht nur Substantive und Adjektive, auch Verben und Adverbien lassen sich logisch-grammatisch als Prädikatoren (genauer: als Handlungs- und Ereignisprädikatoren) und Apprädikatoren 90 Wenn es allerdings um den Neuzugang zu einer Sprachpraxis geht, dann

hat die Grammatik einen objektiv-normativen Charakter, denn sie formu-liert die Zugangsbedingungen zu ihr. Deswegen gehört sie explizit zum Lernkanon des Fremdsprachenunterrichts.

91 Lorenzen 1987.

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rekonstruieren (ebd.), die imperativ, d. h. durch Aufforderung und Kon-trolle, oder ostensiv, d. h. durch Beispiel und Gegenbeispiel, eingeführt werden können.

Verfügt man über einen „Grundwortschatz“ an Prädikatoren und Apprädikatoren, können dann weitere prädikative Ausdrücke durch so genannte Prädikatorenregeln gebildet werden. So kommen z. B. um-gangssprachlich folgende Prädikatorenregeln zur Anwendung:

( I ) x ist ein silbriger Becher ⇒ x ist ein farbiger Becher x ist ein silbriger Becher ⇒ x ist ein silbriges Trinkgefäß x ist ein silbriger Becher ⇒ x ist ein farbiges Trinkgefäß

Prädikatorenregeln sind als Erlaubnisregeln aufzufassen, die die Zuwei-sung weiterer, umfassender Prädikatoren an einen Gegenstand beherr-schen. Der in ( I ) verwendete Regelpfeil „⇒„ ist als eine wenn-dann-Erlaubnis zu lesen: Wenn x der Apprädikator ‚silbrig’ zugesprochen wird, dann darf ihm auch der Apprädikator ‚farbig’ zugesprochen wer-den. Wie alle anderen grammatischen Regelmäßigkeiten werden Prädi-katorenregeln in der alltäglichen Sprachpraxis nicht explizit thematisiert, sondern bilden den „Hintergrund“ unseres Umgangs mit Wörtern. Es gibt allerdings Situationen – z. B. beim Verfassen philosophischer Trak-tate oder bei vielen politischen, rechtlichen und wissenschaftlichen Tä-tigkeiten –, die die explizite Einführung, die Definition eines Wortes er-fordern. Logisch-grammatisch lässt sich eine Definition als die Zusam-menfassung mehrerer Prädikatorenregeln darstellen:

( II ) x ist ein Trinkgefäß x ist ein henkelloses Trinkgefäß

x ist ein konisches oder ein zylindrisches Trinkgefäß

Ließen sich alle Substantive, Verben, Adjektive und Adverbien unserer Sprache als prädikative Ausdrücke rekonstruieren, dann bestünde die Aufgabe einer philosophischen Reflexion über das Wort ‚rational’ bzw. die ‚Rationalität’ im Auffinden der geeigneten Einführungssituation oder der adäquaten Definitionssequenz. Bei unserem Beispiel des ratio-nal konstruierten Bechers müssten wir den Gebrauch – und somit auch die Bedeutung – von ‚rational konstruiert’ an Hand von Beispielen und Gegenbeispielen zeigen oder zumindest eine Liste von Prädikatoren an-geben können, die der Apprädikator ‚rational konstruiert’ ersetzen kann. Es zeigt sich jedoch, dass beide Verfahren in der Praxis scheitern: We-der können wir aus einer Ansammlung von Trinkgefäßen allgemein ver-

Bechereinist ⇒}

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bindliche Beispiele und Gegenbeispiele von rational konstruierten Be-chern angeben, noch ist es möglich eine Liste von prädikativen Aus-drücken zusammen zu stellen, die die Merkmale eines rational konstru-ierten Bechers verbindlich – im Sinne einer Definition – beschreiben. Auch eine Definition der Art:

( III ) x ist ein Becher

x ist für den Verwendungs- zweck als Becher am besten geeignet

ist nicht hilfreich, denn der Ausdruck ‚für den Verwendungszweck als Becher am besten geeignet’ ist prädikativ genauso unbestimmbar wie der Ausdruck ‚rational konstruiert’. Ein für religiöse Zwecke am besten geeigneter Becher sieht mitunter ganz anders aus als ein Becher, der für den Gebrauch in der Schwerelosigkeit konstruiert worden ist.

Substantive, Verben, Adjektive und Adverbien können allerdings auch andere semantische Funktionen erfüllen als die von prädikativen Ausdrücken. Das zeigt nicht nur der Fall der so genannten Modalverben (sein, haben, sollen, müssen, dürfen, tun usw.), die als Kopulae, als Ver-bindungselemente zwischen dem Nominal- oder Subjektteil und dem Prädikat- oder Objektteil des Satzes fungieren und seinen deskriptiven oder normativen Charakter bestimmen. Wörter wie ‚silbern’, ‚form-gleich’ oder ‚bedeutungsgleich’ lassen sich ebenfalls nicht direkt über Prädikation oder über einfache Prädikatorenregeln einführen bzw. als prädikative Ausdrücke rekonstruieren. Sie beschreiben vielmehr ein be-sonderes Verhältnis, nämlich eine Äquivalenzrelation92 zwischen den Gegenständen, denen sie zugesprochen werden: Alle Dinge z. B., denen das Adjektiv ‚silbern’ zugesprochen wird, sind untereinander in Bezug auf bestimmte prädikativ einführbare Eigenschaften äquivalent. Wenn es nur um ihre stofflichen Eigenschaften geht, dann sind ein silberner Be-cher, ein silbernes Amulett oder eine silberne Kette austauschbar. Sätze, die die stofflichen Eigenschaften von stoffgleichen Dingen beschreiben, bleiben gültig, unabhängig von welchem Ding die Rede ist. Sprachliche Ausdrücke, deren Bedeutung über die Stiftung einer Äquivalenzrelation festgelegt wird, haben die semantische Funktion eines Abstraktors (z. B. Stoff, Masse, Zahl, Form, Bedeutung, Begriff, Organismus, Staat u.a.) oder eines Abstraktnamens (z. B. silbern, der Stoff Silber, die Zahl drei, der Wirbeltierorganismus, der Begriff ‚Rot‘).

92 Zur Definition durch Abstraktion siehe auch Siegwart 1995.

Becherterkonstruierrationalein⇒}

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Es ist wichtig festzuhalten, dass zwischen einer prädikativen Defini-tion im Sinne von (III) und einer Definition durch Abstraktion über eine Äquivalenzrelation ein wichtiger Unterschied besteht: Im Falle der prä-dikativen Definition müssen alle individuellen Gegenstände, denen der zu definierende Ausdruck (Definiendum) und die definierenden Prädika-toren (Definientes) zugesprochen werden, kategorial gleich sein, d. h. demselben „Daseinsbereich“ entstammen. Becher und Trinkgefäße ge-hören z. B. dem Daseinsbereich materieller Gegenstände an und bilden darin die Unterabteilung „Haushaltsgegenstände“, Käfer und Insekten bilden eine Unterabteilung des Daseinsbereichs „Lebewesen“ usw. Für die Stiftung einer Äquivalenzrelation hingegen ist die kategoriale Gleichartigkeit der individuellen Gegenstände keine Bedingung, es muss nur die kategoriale Gleichartigkeit der Eigenschaften sichergestellt sein, bezüglich derer die Äquivalenzrelation gestiftet wird. Diese „Daseinsbe-reiche“ werden innerhalb der Praxen, in denen die betreffenden Prädika-toren und Apprädikatoren verwendet werden, gemäß impliziter und ex-pliziter praxisbezogener Kriterien konstituiert. Sie sind nicht durch die „Beschaffenheit“ der Welt „objektiv gegeben“, sondern werden uns während unserer Einsozialisation als Hintergrund der sprachlichen Kommunikation „aufgegeben“.93

Beschreibt nun ‚rational‘ oder ‚Rationalität‘ eine derartige Äquiva-lenzrelation? Bilden etwa alle ‚rational konstruierten’ materiellen Objek-te eine Äquivalenzklasse? Sind sie darüber hinaus in Bezug auf eine Li-ste von Eigenschaften oder Merkmalen mit allen anderen Entitäten, de-nen der Ausdruck ‚rational’ zugesprochen werden kann, austauschbar? Wäre dies der Fall, so müssten alle rationalen Gegenstände, seien sie Dinge, Handlungen, Schlussfolgerungen oder Behauptungen, einen Satz von kategorial gleichartigen Eigenschaften teilen, etwa so, wie alle sil-

93 Letzteres bedeutet allerdings nicht, dass die Festlegung der Grenzen von

Daseinsbereichen der Willkür der Praxisteilnehmer unterliegt. Sie werden vielmehr durch das Scheitern von Handlungen markiert, die mit Hilfe der „bereichsbezogenen“ sprachlichen Unterscheidungen beschrieben und an-gewiesen werden. So wird es z. B. verständlich, warum Walfische in der normalen, wissenschaftlich nicht kontaminierten Sprache als Fische gel-ten, während sie in der Sprache der Zoologie unter die Säugetiere zu sub-sumieren sind: Für die mit Hilfe der normalen Sprache relevanten Hand-lungen nämlich, mit denen Walfische traditionell „behandelt“ wurden, sind die Säugetiermerkmale ohne Bedeutung – das heißt, dass die Walfän-ger wussten, dass die Walfische Lungen (statt Kiemen) besitzen und nicht laichen (sondern lebendgebären), sie haben nur diesem Umstand keine Bedeutung beigemessen, weil diese Merkmale für ihre Tätigkeit keine Rolle spielten. Der Zoologe hingegen, der diese Merkmale nicht in seiner Taxonomie berücksichtigt, lebt gefährlich – zumindest was seine akade-mische Karriere betrifft.

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bernen Dinge in ihren substantiellen homogenen Eigenschaften quantita-tiv übereinstimmen, oder so, wie die bedeutungsgleichen Wörter ‚silve-ry‘, ‚argenteo‘, ‚argentin‘ und ‚ασημένιο‘ den Wahrheitswert eines Sat-zes nicht verändern, wenn sie gegen ‚silbrig‘ ausgetauscht werden.

In seinem Aufsatz Eine einheitliche Konzeption von Rationalität plädiert St. Gosepath für eine abstraktive Definition von ‚rational‘ über eine Äquivalenzrelation ‚wohlbegründet‘ bzw. ‚gerechtfertigt‘.94 Diese wiederum umfasst eine Liste von Eigenschaften mentaler Prozesse, die Gosepath als „regelgeleitete Bildung“ bezeichnet. Es ist demnach für ei-ne Person zu einem Zeitpunkt t „rational zu glauben, dass p, genau dann, wenn diese Meinung auf Grund bestimmter Regeln für die Bildung von Meinungen entstanden ist oder aufrechterhalten wird“. Da laut Gosepath auch Handlungen durch mentale Prozesse kausal erzeugt werden, kann man die Forderung nach Regelkonformität auch auf sie ausdehnen und eine strukturell ähnliche Definition rationalen Handelns erhalten. Somit bilden Handlungen, Handlungsergebnisse und Meinungen, insofern sie diesen „Regeln der theoretischen Rationalität“ (ebd.) genügen, eine Äquivalenzklasse, die mit dem Abstraktor ‚Rationalität‘ bzw. dem ab-straktiven Adjektiv ‚rational‘ beschrieben werden kann. Unabhängig von dem Problem, dass der Status dieser „Regeln der theoretischen Rationa-lität“ ungeklärt ist und dass es strittig ist, ob mentale Zustände Ursachen – im Sinne einer causa efficiens – von Meinungen und Handlungen sein können, ist Gosepaths abstraktive Rekonstruktion der Rationalität pro-blematisch, und zwar auf Grund der logisch-grammatischen Eigenschaf-ten von Äquivalenzrelationen Symmetrie, Transitivität und Reflexivität.

Symmetrie bedeutet, dass für zwei in der Äquivalenzrelation R= ste-hende Gegenstände a und b gilt:

( IV ) wenn a R= b dann b R= a

Transitivität bedeutet, dass für drei beliebige Gegenstände a,b,c gilt: ( V ) wenn a R= b und b R= c dann a R= c

Reflexivität95 bedeutet schließlich, dass für beliebige in der Äquivalenz-relation R= stehenden Gegenstände a und b gilt:

( VI ) wenn a R= b dann a R= a und b R= b

94 Gosepath 2002. 95 ‚Reflexivität‘ bezieht sich hier ausschließlich auf das Spiegelungsverhält-

nis und sollte nicht mit ‚Reflexion‘ im Sinne von Nachdenklichkeit oder Kritik verwechselt werden.

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Problematisch für die abstraktive Definition von Rationalität sind die Forderungen nach Transitivität und Reflexivität der Äquivalenzrelation ‚wohlbegründet‘ bzw. ‚gerechtfertigt‘. In Bezug auf die Transitivität müsste Gosepath nachweisen, dass alle mentalen regelhaften Verursa-chungen von Handlungen, Meinungen usw., die diese Äquivalenzrelati-on ausmachen, nach einem einheitlichen System von Regeln stattfinden. Angesichts der kulturellen Vielfalt und der Mannigfaltigkeit der Praxis-zusammenhänge menschlichen Lebens dürfte dieser Nachweis extrem schwierig, wenn nicht unmöglich sein. Der Hinweis, dass alle Menschen den gleichen Gehirnaufbau aufweisen, ist kein Argument für die Einheit-lichkeit des Regelsystems, denn ‚mental verursacht‘ ist nicht synonym zu ‚neuronal verursacht‘. Aus der (vermeintlichen) Tatsache, dass alle Menschen das gleiche Nervenkostüm besitzen, folgt nämlich nicht, dass alle Menschen auch die gleichen Personeigenschaften haben.

Wenn man darüber hinaus unterstellt, dass es so etwas wie ein inter-nes Regelsystem gibt, so folgt aus der Forderung nach Reflexivität, dass jede Person ihre Handlungen und Meinungen als rational auszeichnen kann, wenn sie zum Schluss kommt, dass sie ihren internen Rationali-tätsregeln entsprechen. Dies würde bedeuten, dass die bloße Erklärung einer Person genügen müsste, um die Rationalität ihres Handelns, Mei-nens oder Schlussfolgerns zu gewährleisten. Diese Auffassung wider-spricht aber sowohl unserem Verständnis, dass Rationalität nicht gegen Kritik immun sein darf, als auch unserem intuitiven Verständnis vom Unterschied zwischen dem aktiven Befolgen einer Regel und einem me-chanisch ablaufenden, naturgesetzlich determinierten Prozess, wie z. B. einem instinktiven Tun. Rein mechanisch ablaufende, naturgesetzlich determinierte körperliche Prozesse sind Widerfahrnisse,96 d. h. etwas, das uns zustößt und dessen Verlauf wir nicht steuern, sondern ihm höch-stens Widerstand leisten können. Die Realisierung bzw. der Ablauf me-chanischer Prozesse kann nicht nach Erfolg und Misserfolg oder nach richtig und falsch, sondern muss nach seiner Vollständigkeit oder Un-vollständigkeit beurteilt werden. Ein Individuum, dem der Ablauf eines mechanischen Prozesses widerfährt, kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden, es ist kein Subjekt, sondern ein Substrat. Gegenüber mechanischen Lebensprozessen können wir keine sittliche Haltung ein-nehmen, sie bestimmen nicht den Kern unserer Praxen, sie markieren höchstens ihre Grenzen: Wenn unser Handeln an mechanisch ablaufende Prozesse97 „stößt“, gilt der Grundsatz „ultra posse nemo obligatur“ – 96 Zur Explikation dieses Begriffs vgl. Kamlah 1973. 97 Etwa das Gefühl der Furcht und des Entsetzens, das jemanden daran hin-

dert, sich in eine große Gefahr zu begeben, oder ein starker Schmerz, der jemanden daran hindert, seiner vertraglichen Arbeit nachzugehen usw.

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niemand kann über das eigene Handlungsvermögen hinaus zu etwas ver-pflichtet werden. Das Befolgen von Regeln hat hingegen Handlungscha-rakter, d. h. es unterliegt unserer Kontrolle. Wir können eine Regel be-folgen oder eben nicht, wir können die Befolgung abbrechen, wir sind auch in der Lage die Regel zu verändern, so dass ein nicht regelkonfor-mes Handeln oder Schließen nachträglich regelkonform wird. Handeln-de Individuen sind Subjekte, die für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden können: Handeln gehört zum Bereich sittlichen Lebens. Das Be-folgen von Regeln hat allerdings nicht nur Individualhandlungscharak-ter, es ist auch eine Form gemeinschaftlichen Handelns: Das erfolgrei-che Befolgen einer Regel bedarf stets der begleitenden Kritik und der Beurteilung durch andere Regelkundige – man kann einer Regel nicht privatim folgen98, und zwar deswegen nicht, weil das Befolgen einer Regel das Vorhandensein eines Handlungs- (oder Folgerungs- oder Re-deschemas) voraus setzt, das durch die Befolgung realisiert wird und dessen Realisierung in Bezug auf das Schema als mehr oder weniger ge-lungen beurteilt werden kann. Dies kann aber nur in der Auseinanderset-zung mit Anderen gewährleistet werden. Als isoliertes Individuum ver-fügt man über keine Erfolgskriterien, bzw. man kann keine anwenden – man weiß nicht einmal, ob man einer Regel folgt, geschweige denn wel-cher Regel man folgt.99

Der Versuch, den Ausdruck ‚rational’ über eine Äquivalenzrelation zu explizieren, die als das individuelle Befolgen interner handlungs- und folgerungsleitender „Rationalitätsregeln“ expliziert wird, erklärt Ratio-nalität zu einem mechanisch ablaufenden, deterministischen, quasi in-stinktiven Prozess und entledigt ihn gerade jener Merkmale, die wir le-bensweltlich mit Rationalität verbinden: Vernünftigkeit, Angemessen-heit, sittliche Legitimität, Kritikfähigkeit und Ernsthaftigkeit. Deshalb können die Ausdrücke ‚rational’ und ‚Rationalität’ nicht die semantische Funktion eines abstraktiven Ausdrucks bzw. eines Abstraktors erfüllen.

98 Wittgenstein, PU: § 199-202 99 Das heißt allerdings nicht, dass man etwas nicht allein machen kann, oder

dass isoliert lebende Menschen sofort „verwildern“. Ein begleitendes so-ziales Umfeld ist jedoch unerlässlich, erstens um zu lernen, was es heißt, einer Regel zu folgen, und zweitens, wenn es darum geht, eine Regel auf einen neuen Fall anzuwenden. Dies belegen sowohl Fälle wie die so ge-nannten „Wolfskinder“ als auch der Umstand, dass isoliert lebende Men-schen einerseits ihre Flexibilität gegenüber neuen Situationen einbüßen, andererseits sich an ritualisierten Verhaltensweisen festhalten. Die Un-möglichkeit, einer Regel privat zu folgen, besagt im Grunde nur, dass die Psyche, genauso wie der Körper, nicht autark ist.

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Rational i tät a ls Status

Die bisherige logisch-grammatische Analyse von ‚rational’ bzw. ‚Ratio-nalität’ hat ergeben, dass beide Ausdrücke weder prädikativ noch ab-straktiv rekonstruiert werden können. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie über keine semantische Funktion verfügen und somit bedeutungslos sind – Scheinprädikate einer ideologisch belasteten Sprache. Ich werde im Folgenden einen neuen Versuch der Bestimmung ihrer semantischen Funktion unternehmen, der mit einer etymologischen Betrachtung be-ginnt: ‚rational‘ leitet sich bekanntlich aus dem lateinischen ‚Ratio‘ ab, was zunächst ‚Verhältnis‘ bedeutet. Wir können ‚rational‘ in erster Nä-herung mit ‚verhältnismäßig‘ oder ‚angemessen‘ übersetzen. Verhält-nismäßigkeit und Angemessenheit sind aber keine „materialen“ Eigen-schaft eines Gegenstandes, sondern so etwas wie „Auszeichnungen“, und zwar Auszeichnungen der Beziehung eines Gegenstandes zu ande-ren Gegenständen, oder zu seiner Umgebung. Eine Handlung z. B. heißt rational, wenn sie in einem Angemessenheitsverhältnis zu den übrigen Handlungen eines Handlungsrahmens steht, etwa dadurch, dass sie dem Erreichen des im Rahmen vorgegebenen Ziels dienlich ist.100 Entspre-chend ist eine Behauptung rational, wenn sie in einem gültigen Ablei-tungsverhältnis zu anderen Behauptungen eines Folgerungsschemas steht und unser bereits als Beispiel strapazierter silberner Becher gilt als rational konstruiert, wenn er auf Grund seiner Form und/oder seines Ma-terials für eine bestimmte Aufgabe geeignet ist.

Als Auszeichnung eines Verhältnisses benennt ‚rational’ keine Äquivalenzrelation zwischen individuellen Gegenständen. Es betont vielmehr die Eignung eines Gegenstandes, in eine bestimmte Beziehung zu anderen Gegenständen treten zu können, oder es dient dazu, diese Eignung zu sanktionieren. Man könnte auch sagen, dass ‚rational‘ den Status eines Gegenstandes als einem Rahmen angemessen angibt. Seine semantische Funktion ist die eines Statuswortes. Den Ausdruck ‚Ratio-nalität‘ könnten wir als Status-Titelwort101 bezeichnen, der den Redebe-reich rationaler Beziehungen markiert.

Insofern ‚rational‘ den Verhältnismäßigkeitsaspekt einer Beziehung zwischen Gegenständen benennt, beschreibt es eine formale, externe Ei-genschaft der betreffenden Gegenstände. Andererseits ist die Zuschrei-bung des Status ‚rational‘ an die „lokalen“ Umstände gebunden, in de-nen sich die betreffenden Gegenstände befinden. Dies bedeutet, dass als

100 Eine andere Form der Angemessenheit wäre, dass die betreffende Hand-

lung korrekt ausgeführt wird oder einer bestimmten „Etikette“ gehorcht. 101 Zu Titelwörtern i.A. s. Stekeler 1996.

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rational ausgezeichnete Gegenstände102 nicht automatisch und notwen-digerweise in einem Transitivitätsverhältnis stehen, obwohl sie unterein-ander eine bestimmte Ähnlichkeit aufweisen. Zwischen rationalen Ge-genständen besteht das Verhältnis der Familienähnlichkeit,103 d. h., aus a kann b rationalerweise folgen und aus b c, c muss aber nicht notwendi-gerweise aus a rational abgeleitet werden können. In einer hinreichend langen Kette von Rationalitätsverhältnissen kann es vorkommen, dass zwischen dem ersten und dem letzten Glied überhaupt kein Rationali-tätsverhältnis mehr besteht. Das Symmetrieverhältnis zwischen rationa-len Gegenständen ist ebenfalls eingeschränkt. Aus dem Umstand, dass b aus a rationalerweise abgeleitet werden kann, folgt nicht, dass a stets die rationale Prämisse für b darstellt: Es mag z. B. rational sein, aus Furcht vor göttlicher Strafe ein gesittetes Leben zu führen, es ist aber nicht un-bedingt rational, Kinder durch Androhung solcher Strafen zu einem ge-sitteten Leben anzuspornen.

‚Rationalität‘ und ‚rational‘ sind keine deskriptiven, sondern bewer-tende, normative Ausdrücke. Ihre angemessene Verwendung beruht nicht bloß auf und dient nicht allein der Bezeichnung individueller ko-gnitiver Prozesse, sondern setzt das Vorhandensein eines Kontextes ge-meinschaftlicher Handlungen kompetenter Teilnehmer voraus. Das Be-werten von Handlungen, Folgerungen und Verhaltensweisen als rational erfolgt zunächst aus der jeweiligen Teilnehmerperspektive der Individu-en und beinhaltet einen „verpflichtenden“ Moment. Wir sind angehalten, rational zu handeln und zu schlussfolgern, und die Anerkennung einer Handlung oder einer Folgerung als rational verpflichtet uns dazu, diese zunächst104 nicht zu unterbrechen (im Falle der Handlung) bzw. sie zu akzeptieren (im Falle der Folgerung). Allerdings gilt diese Verpflichtung nur für die formale Bestimmung der Rationalität. Da ihre inhaltliche Be-stimmung kontext- und situationsabhängig ist, kann es vorkommen, dass irrationales Handeln oder Folgern, sich im Nachhinein oder aus einer anderen Perspektive als das Richtige und somit als das „Rationale“ er-weist – und auch umgekehrt dass, was zunächst rational erscheint, unter einem anderen Blickwinkel sich als irrational entpuppt.

Wie wir gesehen haben, zeichnet Rationalität ein bestimmtes Ver-hältnis zwischen einer Handlung oder einer Folgerung und ihrer Umge-bung aus, das wir als Angemessenheit oder Verhältnismäßigkeit expli-

102 ‚Gegenstand‘ wird hier im Sinne von ‚Gegenstand der Betrachtung‘ oder

‚Gegenstand der Reflexion‘ verwendet. Es sind also nicht nur Dinge oder Situationen, sondern auch Handlungen und Schlussfolgerungen gemeint.

103 Wittgenstein, PU: § 67 104 Die Anerkennung einer Handlung oder Schlussfolgerung als rational be-

deutet aber nicht, dass sie gegen Kritik immunisiert wird.

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ziert haben. Dabei bedeutet „Umgebung“ sowohl den lebensweltlichen Rahmen, innerhalb dessen die Handlung oder die Folgerung stattfindet als auch eine Handlungs- bzw. Folgerungskette, deren Glied die betref-fende Handlung oder Folgerung ist. An dieser Stelle erheben sich zwei Fragen: 1. Gibt es im Falle des Rahmen-Inhalt-Verhältnisses so etwas wie einen letzten, allumfassenden Rahmen, der gewissermaßen das letz-te Maß für Rationalität darstellt? 2. Kann im Falle des Ketten-Glied-Verhältnisses das Kriterium der Rationalität auch auf das Anfangsglied einer Handlungs- oder Folgerungskette angewendet werden? Für Folge-rungsketten heißt dies: Was ist eine rationale Prämisse?

Die erste Frage weist eine strukturelle Ähnlichkeit mit den Fragen nach dem höchsten Gut, nach der endgültigen Wahrheit oder nach dem besten Leben auf und ist wie diese entweder in einem trivialen Sinne zu bejahen oder aber zu verneinen. Zu bejahen ist die Frage nach dem letz-ten Maß der Rationalität, wenn man die diachronische Kontinuität des menschlichen Lebens als den allumfassenden Rahmen betrachtet, in dem alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Handlungen und Fol-gerungen eingebettet sind und ein „großes Netz“, ein ahistorisches Uni-versum bilden, das alle vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Handlungen und Folgerungen enthält. Dann ist jede Handlung und Fol-gerung, insofern sie mit irgendeiner anderen zusammenhängt und dieser diachronisch-ahistorischen Kontinuität des Lebens nicht explizit entge-gensteht, „sub specie aeternitatis“ rational. Aus diesem Meer der Ratio-nalität würden höchstens die Taten von Schwachsinnigen und Autisten herausfallen. Doch diese Rationalität ist trivial und nutzlos, weil wir bei der Vergabe der Auszeichnung ‚rational’ unsere Aufmerksamkeit auf die jeweils konkrete historische Situation richten. Uns interessiert nicht, dass eine Handlung irgendwann in der Vergangenheit oder in der Zu-kunft sich als rational erwiesen hat oder erweisen wird (bzw. gemäß die-ser ahistorischen Aktualitätsbetrachtung im Prinzip schon rational ist), sondern uns interessiert ihre situationsgebundene Rationalität. Wenn wir versuchen „Rationalität zu universalisieren“, dann geht es uns nicht dar-um, weitere formale oder ahistorische Kriterien zu formulieren bzw. durchzusetzen, sondern darum, eine Handlung oder eine Folgerung in möglichst vielen Kontexten als rational auszuweisen, wobei die Eigen-schaft der Familienähnlichkeit der Rationalität uns zeigt, dass das Bestreben nach „absoluter Rationalität“ irrational ist.

Die Irrationalität eines Projektes zur Erreichung der „absoluten Ra-tionalität“ verweist auf die zweite Frage nach der Möglichkeit, Anfangs-glieder von Handlungs- oder Folgerungsketten als rational auszuweisen. Streng genommen müsste die Auszeichnung ‚rational‘ auf Anfangsglie-der und Regeln derartiger Ketten nicht anzuwenden sein, da eine Hand-

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lung oder eine Folgerung in einer Kette rational ist, wenn sie gemäß den Zwecken bzw. den Regeln der Kette zustande gekommen ist und aus den Vorgängergliedern im praktischen oder im logischen Sinne folgt. An-fangszwecke, Regeln, Anfangshandlungen und -sätze kann man aber frei festlegen, das einzige Kriterium dabei ist, dass eine konsistente und ko-härente Handlungs- oder Folgerungskette entsteht, deren Glieder in Be-zug auf die Regeln und die Vorgängerglieder rational sind. Da Konsi-stenz und Kohärenz der Kette durch die Regeln bzw. die verfolgten Zie-le gewährleistet werden, können die Anfangsglieder keinen Rationali-tätsstatus beanspruchen, auch nicht in Abhängigkeit von einem Wahrheits- oder Moralitätsstatus. Insofern seien Anweisungen der Art „Es ist rational, wahre Sätze zu Prämissen logischer Folgerungen zu ma-chen“, „Es ist rational, wahre Situationsbeschreibungen zur Grundlage von Handlungsentscheidungen zu machen“ oder „Es ist rational, mora-lisch gute Ziele zu verfolgen“ überflüssig.

Die Immunisierung der Anfangsglieder und der Regeln bzw. der Ziele einer Folgerungs- oder Handlungskette gegenüber Rationalitäts-überlegungen und -kriterien, die ebenfalls die Entkopplung von Rationa-lität und Wahrheit und Rationalität und Moralität einschließen, ist je-doch nicht aufrechtzuhalten, wenn man (1.) bedenkt, dass jede Hand-lungs- und Folgerungskette inklusive Regeln und Ziele in einem le-bensweltlichen Rahmen eingebettet ist, der seinerseits bestimmte impli-zite, „conjektive“105 Angemessenheitskriterien vorgibt, und wenn man (2.) Wahrheit und Moralität nicht in einem metaphysischen, sondern in einem pragmatischen Sinne ebenfalls als Status-Titelworte versteht, die auf bestimmte formale normative Geltungs- und Akzeptanzansprüche deskriptiver (Wahrheit) und sittlicher (Moralität) Sätze und somit eben-falls auf das Verhältnis von Rahmen und Inhalt verweisen. So ist es nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten zu überprüfen, inwiefern die Anfangsglieder und die konstitutiven Regeln bzw. Ziele von Folge-rungs- und Handlungsketten in Bezug auf ihren jeweiligen Rahmen ra-tional gewählt bzw. aufgestellt worden sind, indem z. B. die Wahrheit von deskriptiven Sätzen oder die sittliche Kompatibilität von Hand-lungszielen überprüft und sichergestellt wird.106 Auf Grund des Umstan-des allerdings, dass auch ein gegebener lebensweltlicher Rahmen Ge-genstand von Rationalitätsüberlegungen werden kann, ist es möglich, dass das Rationalitätsverhältnis zu seinem Inhalt durch Veränderung des Rahmens (wieder) hergestellt wird. Welche Strategie im Falle eines Ra- 105 Dieser Ausdruck wird im nächsten Abschnitt erläutert. 106 In diesem Sinne ist Rationalität auch an andere Status-Aspekte des Han-

delns und Redens gekoppelt wie z. B. an Klugheit, Vernunft oder Loyali-tät.

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tionalitätskonflikts verfolgt werden soll, ist somit nicht festgelegt, son-dern unterliegt seinerseits Rationalitätsüberlegungen, die auf einer „Me-taebene“ angesiedelt sind.

Typen von Rat ional i tät

Vor dem Hintergrund dieses pragmatischen Rationalitätsbegriffs, der die semantische Funktion eines nur formal universell anwendbaren Status- bzw. Titelwortes hat und dessen konkretes Zusprechen von den lokalen lebenspraktischen Umständen abhängt, lassen sich – wiederum nur for-mal – drei Typen von Rationalität unterscheiden, die sich auf die „Starr-heit“ des Rahmens oder des normativen Hintergrunds einer Handlungs- bzw. Folgerungskette beziehen.

Der erste Typ ist die objektive Rationalität. Sie ist gegeben, wenn die Angemessenheits- bzw. Verhältnismäßigkeitskriterien und der Ge-genstandsbereich der Rationalitätsüberlegungen so eindeutig expliziert sind, dass die Rationalität einer Handlung oder einer Folgerung von je-dem kompetenten Praxisteilnehmer direkt überprüft werden kann, wobei der Rahmen selbst nicht befragt wird. Fälle objektiver Rationalität sind zulässige Ableitungen in logischen, mathematischen oder wissenschaft-lichen Kalkülen, korrekte poietische Handlungen innerhalb einer techni-schen Praxis, korrekt aufgebaute experimentelle Anordnungen, funktio-nierende Maschinen, das richtige Verhalten im Straßenverkehr oder ein gut geplantes Gebäude. Objektive Rationalität setzt voraus, dass die Ge-genstände der jeweiligen Praxen durch Abstraktions- und Ideationsver-fahren eindeutig und weitgehend situationsinvariant definiert sind und dass die Ableitungs- und Verfahrensregeln zu keinen Dilemmata oder Widersprüchen führen. Eine besondere Form objektiver Rationalität stellt die mechanische Rationalität dar, bei der die Einhaltung der Ratio-nalitätskriterien weitgehend Maschinen bzw. Programmen überlassen werden kann. Beispiele mechanisch-rationaler Systeme sind Programme, die syntaktische Fehler in Programmquellcodes feststellen können, oder Produktionsketten mit Qualitätssicherungsroutinen u.ä.

Der Anwendungsbereich der objektiven Rationalität umfasst neben explizit regelgeleiteten Praxen, wie dem Straßenverkehr oder dem Kata-strophenschutzwesen, vor allem Natur- und Technikwissenschaften und die auf ihnen beruhenden Industriezweige sowie Formalwissenschaften wie Mathematik, Logik und Informatik. Der Umstand, dass sie in gewis-ser Hinsicht „reflexiv“ und „automatisierbar“ ist und zu eindeutigen Er-gebnissen führt, hat seit jeher die Menschheit angespornt, möglichst vie-le, wenn nicht alle, Lebensbereiche und Problemformulierungen einer

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objektiv rationalen Behandlung zugänglich zu machen. Das Bestreben nach „absoluter Rationalität“ kann mit dem Bestreben nach einer durch-gängigen Objektivierung, Kalkülisierung, Schematisierung und Syste-matisierung aller Lebensbereiche gleichgesetzt werden. 107 Wir haben aber gesehen, dass absolute Rationalität auf Grund der konstitutiven Kontextgebundenheit des Rationalitätsbegriffs nicht möglich ist. Die durchgängige Objektivierung, d. h. die Standardisierung und Idealisie-rung aller Lebensbereiche im wissenschaftlich-kalkulatorischen Sinne ist ebenfalls nicht möglich, weil die Objektkonstitution und die Aufstellung wissenschaftlicher Normen und Kalkülregeln stets in einem lebenswelt-lichen Rahmen eingebettet sind, der einerseits den „Bedarf“ nach wis-senschaftlicher Forschung anmeldet und andererseits in Form wissen-schaftlicher Praxen die Vorgehensweise der Wissenschaften in einem lebenspraktischen Sinne „kontrolliert“. Objektkonstitution und Normen- bzw. Regelaufstellung sind somit ebenfalls kontextgebunden, auch wenn dieser Kontext (die naturwissenschaftliche Praxis) für seine Objekte Kontextinvarianz – Objektivität – beansprucht und durchzusetzen ver-sucht. Eine universelle Anwendung objektiv rationaler Kriterien, d. h. der Versuch, die gesamte Lebenswelt so zu gestalten, dass sie in den Be-reich der objektiven Rationalität fällt, ist daher ein irrationales Vorha-ben, dessen Irrationalität aber sich an den Kriterien des zweiten Typs der Rationalität, der conjektiven Rationalität bemisst.

Die conjektive Rationalität unterscheidet sich von der objektiven Ra-tionalität darin, dass ihre Kriterien und ihr Anwendungsbereich nicht explizit definiert und fest umrissen sind, sondern im Lebensvollzug durch Teilnahme an bereits bestehenden Praxen und gemeinschaftlichen Handlungszusammenhängen erfahren und erworben werden. Die Dinge und Ereignisse der Alltagswelt sind keine im Rahmen standardisierter und „mechanisierter“ Praxen und kalkülmäßig vorgehender Wissen-schaften wohldefinierten und kontextunabhängig existierenden Objekte, sondern in unser Leben und Handeln miteinbezogene und uns umgeben-de Conjekte.108 Conjektive „Weltzustände“ werden primär im Modus des Zu-handenseins erfahren und nicht – wie z. B. objektive Laborsy-stemzustände – im Modus des Vor-handenseins.109 Dies bedeutet, dass wir unser Wissen um sie im Umgang mit ihnen erwerben und nicht durch Theoretisieren, durch kontrollierte Experimente und methodisch geleitete Beobachtungen sammeln. Solange Conjekte und conjektive „Weltzustände“ uns zuhanden sind und unser Handeln nicht beeinträch- 107 Einen Vorschlag in dieser Richtung unterbreitet G. Ropohl 2002. 108 Aus lat. conjicio: umgeben, beitragen (auch versammeln, werfen). 109 Die Unterscheidung zwischen Zuhandensein und Vorhandensein geht auf

Heidegger, SuZ: §15 zurück.

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tigen, werden sie auch nicht als Probleme thematisiert. Werden sie pro-blematisch, dann werden sie solange „objektiviert“, bis das Problem be-hoben worden ist und sie in den conjektiven Status zurückkehren. Ihre „Beständigkeit“ kann von unterschiedlicher Dauer und „Qualität“ bzw. „Präzision“ sein, die bis zur institutionalisierten Definiertheit wissen-schaftlicher Objekte reicht. In diesem Zusammenhang muss nochmals daran erinnert werden, dass die objektive Rationalität sich stets inner-halb conjektiv-rationaler Zusammenhänge herausbildet. Die Aufgabe objektiv-rationalen Handelns besteht darin, problematische Fälle zu lö-sen, die nicht mit den Mitteln conjektiv-rationalen Handelns und Fol-gerns behandelt werden können. Aus dieser Konstellation folgt, dass die Resultate objektiv-rationalen Handelns so beschaffen sein müssen, dass sie in die korrespondierenden conjektiven Handlungszusammenhänge reintegriert werden können, wobei die Feststellung dieser Eignung in die Zuständigkeit der conjektiven Rationalität fällt. Es gibt allerdings Fälle – und diese häufen sich mit dem Fortschreiten der Wissenschaften und der objektiven Rationalisierung, z. B. der Verrechtlichung vieler Lebensbe-reiche –, bei denen objektiv-rational vorgehende Praxen auf die Le-benswelt „sedimentieren“ und neue conjektiv relevante Zusammenhänge und „Tatsachen“ etablieren, wie etwa die Möglichkeit neuer Therapien und lebensverlängernder Maßnahmen in der Intensivmedizin, die frühe Feststellung möglicher Krankheitsdispositionen in der Genforschung oder die Etablierung supranationaler Rechtsverhältnisse und Organisa-tionen mit staatsähnlichen Befugnissen. In solchen Fällen kann das Pri-mat der conjektiven vor der objektiven Rationalität ins Wanken kom-men, so dass ein innerhalb der gegebenen Rationalitätsrahmen scheinbar nicht aufzulösender Konflikt entsteht.110

110 Eine sehr gute Darstellung des möglichen Konfliktes zwischen objektiver

und conjektiver Rationalität gibt Ch. Rehmann-Sutter (2002) am Beispiel der Diskussion um die Zulassung der Präimplantations- bzw. Pränataldia-gnostik als Mittel zur Früherkennung von Dispositionen zu Erbkrankhei-ten. Er vergleicht die objektive Rationalität der Präimplantationsdiagnostik mit der absoluten, kontextunabhängigen göttlichen Perspektive des Del-phischen Orakels, das in der Geschichte des Ödipus keine Rücksicht auf die aus seiner Sicht beschränkte, kontextabhängige Perspektive des menschlichen Lebens nehmen kann und will und somit eine Kette von Er-eignissen mit fatalem Ausgang für Ödipus und sein Geschlecht einleitet. Der Konflikt entsteht, weil die Prioritätsordnung zwischen conjektiver und objektiver Rationalität zu Gunsten der vermeintlich „wahren“ objektiven Rationalität umgedreht wird. Rehmann-Sutter schließt aus der Diskussion des Beispiels, dass in solchen Konfliktfällen der conjektiven Rationalität „wider besseres objektives Wissen“ der Vorzug zu geben ist. Trotz vieler Sympathien für Rehmann-Sutters Position ist meiner Meinung nach diese Konfliktlösungsstrategie nicht zu verallgemeinern. Die Lösung der Kon-

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Ein weiterer Konflikt innerhalb conjektiv-rationaler Verhältnisse kann entstehen, wenn es um die Veränderung der bestehenden Rationali-tätskriterien einer lebensweltlichen Praxis geht. Conjektive Rationali-tätskriterien werden von den Teilnehmern lebensweltlicher Praxen em-praktisch erworben und stellen darüber hinaus den Beurteilungsrahmen für individuelles Handeln zur Verfügung. Jeder Versuch, diese Kriterien „von innen“ anzugreifen, würde zu einer Zerstörung der Praxis führen. Teilnehmer lebensweltlicher Praxen würden somit in eine „Rationalitäts-falle“ geraten, die jede Veränderung ihrer Lebensumstände irrational er-scheinen ließe. Unsere Lebenserfahrung zeigt uns jedoch nicht nur, dass bisher gültige conjektive Rationalitätskriterien nicht nur durchaus er-folgreich angegriffen und verändert werden können, ohne dass dabei sämtliche Praxisbezüge zusammenbrechen, sondern dass derartige Ver-änderungen durchaus als rational angesehen werden können. Bei dieser Bewertung handelt es sich jedoch um eine besondere Form der Rationa-lität.

Diesen dritten Typ der Rationalität möchte ich als distanzierte Ra-tionalität bezeichnen. Distanziert ist diese Form der Rationalität deshalb, weil sie nicht das Angemessenheitsverhältnis in Richtung vom Einzel-glied zur „Kette“ oder vom Inhalts-„Element“ zum Rahmen evaluiert, sondern umgekehrt das Einzelne in den Vordergrund stellt und die An-gemessenheit des Rahmens, der Regeln und der Form der „Kette“ in Be-zug auf den „Wert“ des Einzelnen hinterfragt. Die näheren Kriterien der distanzierten Rationalität sind diffus, und zwar auf Grund der umgekehr-ten Betrachtung und weil sie an einen besonderen lebensweltlichen Pra-xiszusammenhang gekoppelt sind, nämlich den freien Diskurs zwischen Personen. Die Ausprägung von Personalität als Anerkennung der indivi-duellen Autonomie und als Respektierung der individuellen Interessen ist eine notwendige Bedingung für die Entfaltung der distanzierten Ra-tionalität. Da der Begriff der Person heute zu den konstitutiven Merkma-len einer globalen Kultur gehört – auch wenn die Ausprägung der Per-sonalität je nach lokalem kulturellem Umfeld unterschiedlich ausfällt –, erhebt die distanzierte Rationalität einen globalen Anspruch auf Aner-kennung, ohne jedoch die strikten Kriterien einer objektivierenden Wis-senschaft zu erfüllen. Auf das Individuum bezogen nutzt sie zu ihrer Entfaltung die Gunst der Situation und des Augenblicks aus, akzeptiert aber das damit verbundene Risiko des Scheiterns. So ermöglicht sie in-dividuelles Handeln, das unter „normalen“ objektiven oder conjektiven

flikte bedarf vielmehr der Zuschaltung einer „höheren“ Rationalitätsin-stanz, die ich im Text unter dem Titel distanzierte Rationalität zu explizie-ren versuche.

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Bedingungen als irrational ausgewiesen und verworfen worden wäre. Sie rechtfertigt darüber hinaus Versuche zur Veränderung bestehender Praxen, und hilft auch, Konflikte zwischen überlieferter und neuer, im historischen Prozess entstandener oder aus der objektiven Welt „sedi-mentierter“ conjektiver Rationalität zu lösen.

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Im Grunde der Seele Anmerkungen zum Gegenstandbereich

der Psychologie

Einlei tung

Neben den Naturwissenschaften und der Medizin genießt die Psycholo-gie in Forschung und praktischer Anwendung große Anerkennung. Be-leg dafür ist nicht nur die erfolgreiche Anwendung psychologischen Wissens in der psychotherapeutischen und der psychiatrischen Praxis, sondern auch die Tatsache, dass so genannte „psychologische Eignungs-tests“ inzwischen in vielen Bereichen des Lebens anzutreffen sind. Vom „Idiotentest“ für negativ aufgefallene Führerscheininhaber und -kandidaten über Eignungstests bei der Einstellung in große Konzerne oder bei der Aufnahme in besondere Ausbildungsinstitute bis hin zum Schuleingangstest: es ist heute geradezu undenkbar, dass ein im „westli-chen“ Kulturkreis sozialisierter Mensch nicht irgendwann mit einem psychologischen „Gutachten“ gesegnet wird.

Andererseits haben in den vergangenen Jahrzehnten Missbrauchsfäl-le die Psychologie und ihre Anwendung teilweise in Misskredit ge-bracht. Berichte über die psychiatrische Zwangsbehandlung von Dissi-denten in autoritär regierten Ländern, Filme wie Einer flog übers Kuk-kucksnest, die auf die Verhältnisse im psychiatrischen Alltag ein kriti-sches Licht werfen, literarische Aufarbeitungen der Erlebnisse in ent-sprechenden Anstalten – wie z. B. die Romane Matto regiert von Fried-rich Glauser oder Das Hospital der Verklärung von Stanislaw Lem – lassen, untermauert durch die fundamentalen historischen Arbeiten Mi-chel Foucaults zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Phänomen des „psychisch Abweichenden“, ein eher bedrohliches und beklemmendes

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Bild der psychologischen Wissenschaft und ihrer Anwendungen entste-hen. Dieses Bild wird verstärkt, wenn man berücksichtigt, dass auch „normale“ Lebensbereiche und Beschäftigungen, wie die Gestaltung der Wohnung, das Einkaufen und sogar politische Ansichten durch psycho-logisches Wissen beeinflusst werden.

An dieser Stelle ist eine erste einschränkende Bemerkung ange-bracht: Wenn hier von „der Psychologie“ die Rede ist, dann ist damit die so genannte Individualpsychologie gemeint. Sie befasst sich mit der Un-tersuchung individueller psychischer Phänomene, im Gegensatz zur So-zialpsychologie, die psychische Phänomene in Sozialverbänden oder Massenansammlungen von Menschen untersucht. Die Einschränkung auf die Individualpsychologie erfolgt aus zwei Gründen: Erstens stellt sie das beherrschende Paradigma in der psychologischen Forschung dar, und zweitens kann vieles, was die Konstitution individualpsychischer Gegenstände betrifft, auf sozialpsychische Gegenstände übertragen wer-den.

Der „psychologische Determinismus“

Einer weit verbreiteten Ansicht zufolge verfährt die Individualpsycholo-gie wie eine Naturwissenschaft. Das heißt, sie untersucht einen eigen-ständigen Bereich von Gegenständen, so wie die Physik die Körper oder die Chemie die Stoffe. Ins Deutsche übersetzt bedeutet Psychologie See-lenkunde, man könnte somit als Gegenstände der Individualpsychologie die individuellen „Seelen“ erklären. Um Verwechslungen mit ethischen und vor allem theologischen Diskursen zu vermeiden, wo ebenfalls von „Seelen“ die Rede ist, und im Zuge einer „materialistischen“ Tendenz am Ende des 19. und in den Anfängen des 20. Jahrhunderts, welche die Annahme einer immateriellen Seele verwarf, hat man den Begriff ‚See-le’ zu Gunsten des Begriffs ‚psychisches’ oder ‚mentales Phänomen’ aufgegeben. Die Gegenstände der Individualpsychologie sind heute die psychischen bzw. die mentalen Phänomene wie „Denken“, „Lernen“ und „Verlernen“, „Gedächtnis“, „Emotionen“ u.a. Trotz dieser Vielfalt geht man davon aus, dass die Gegenstände der Psychologie untereinan-der eine formale Ähnlichkeit aufweisen wie die Gegenstände der Physik, der Chemie, der Biologie oder der Mathematik, dass sie also nach einem bestimmten Verfahren „definierbar“ – man sagt auch konstituierbar – sind. Darüber hinaus sollen sie über Eigenschaften verfügen, die durch empirische Forschung entdeckt und mit Hilfe von naturgesetzartigen Aussagen beschrieben werden können. Mit anderen Worten, es soll möglich sein, ein „naturgesetzlich-kausales“ Wissen über psychische

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Phänomene zu gewinnen, welches neben dem physikalischen, dem bio-logischen und dem chemischen Wissen über den Menschen als der „vierte Teil“ seiner Konstitution anzusehen ist. Dieses naturgesetzlich-kausale Wissen muss im Übrigen nicht ausschließlich deterministischer Natur sein. Viele psychologische „Gesetze“ sind stochastisch, d. h. sie beschreiben eine wahrscheinlichkeitsfunktionale Verteilung der mögli-chen Folgen einer Ausgangssituation. In jedem Fall ist es jedoch so, dass das Verhalten jedes menschlichen Individuums eine Komponente ent-hält, deren Voraussagbarkeit nicht sozialer Natur ist, sondern auf seinem organismischen Aufbau beruht. Die sozial determinierte Komponente des individuellen Verhaltens (insofern sie überhaupt akzeptiert wird) kommt sekundär durch die „Superposition“ der individuellen organis-misch verankerten Verhaltensweisen zustande. Diesem „psychologi-schen Determinismus“ gemäß ist der individuelle Mensch Geisel seiner psychischen Konstitution, genauso wie ein Tier in seinem Verhalten die durch seine Speziesangehörigkeit gesetzten Grenzen nicht zu überschrei-ten vermag. Der Unterschied besteht darin, dass der Mensch sich seiner Lage bewusst werden kann.

Aus der Sackgasse der Voraussagbarkeit wird man nicht einfach be-freit, indem man neben dem Bereich des „psychologisch Determinier-ten“ einen Bereich der individuellen Autonomie und der „Willensfrei-heit“ postuliert. Man wird nur vor ein unüberbrückbares Dilemma ge-stellt: Entweder ist eine Handlung Resultat einer freien Entscheidung, für die man die volle Verantwortung zu tragen hat (und die mit dem Makel der Willkür behaftet ist) oder Ausdruck psychisch determinierten Verhaltens, für das der Handelnde entweder gar nicht verantwortlich ist oder sich höchstens vorwerfen lassen muss, er habe „die Beherrschung“ verloren. Für ethisch relevantes Handeln bedeutet dies im Extremfall, dass es entweder keine Gnade bei der Sanktionierung von Straftaten zu geben braucht (und dass die Strafe nicht als „Erziehung zur Einsicht“ bzw. „Resozialisation“ verstanden wird) oder dass man als „krank“ ent-lastet wird (um dann häufig in den entsprechenden Verwahrungsanstal-ten zu verschwinden).

Ein psychologischer Determinist braucht nicht unbedingt ein biolo-gischer Reduktionist zu sein, d. h. die These zu vertreten, dass psychi-sches Geschehen auf neuronale oder andere physiologische Vorgänge teilweise oder vollständig zurückgeführt werden kann. Es reicht, dass er einen autonomen, irreduziblen Bereich psychischer Gegenstände postu-liert, dessen Bestandteile in kausalen, gesetzmäßigen Beziehungen zu-einander stehen.

Die Akzeptanz des „psychologischen Determinismus“ birgt auch ei-nen fundamentalen Konflikt, der auf einem grundsätzlichen Unterschied

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zwischen naturwissenschaftlichem und psychologischem Wissen beruht: Im Umgang mit unserem naturwissenschaftlichen deterministischen Wissen sind wir prinzipiell frei. Wir sind auf Grund dieses Wissens zwar in der Lage, bestimmte technische Ziele zu erreichen, aber nicht ge-zwungen, dies zu tun. Wir müssen z. B. nicht die Radioaktivität zur Energiegewinnung verwerten oder uns eine bestimmte medizinische Be-handlung angedeihen lassen. Die Frage ist hier nicht, ob es vernünftig ist, auf eine Technik zu verzichten oder nicht, sondern allein die, dass es möglich ist, dies zu tun, auch wenn es einen sozialen Rückschritt, Krankheiten oder gar Selbstmord bedeuten kann. Diese Entscheidungs-freiheit wird nicht dadurch beeinträchtigt, dass jemand anders gerade das tut, wogegen wir uns entschieden haben, denn auch er hat eine Entschei-dung getroffen. Wir bleiben in unserer Einstellung gegenüber naturwis-senschaftlichem Wissen frei, auch wenn es, statistisch gesehen, unaus-weichlich erscheint, dass das, was möglich ist, eines Tages durch das Handeln eines Einzelnen oder einer Gruppe wirklich wird.

In Bezug auf psychologisches Wissen sind wir jedoch in gewisser Hinsicht unfrei, nicht in dem Sinne, dass die äußere Natur uns ein un-überwindliches Hindernis entgegenstellt oder ein unabwendbares Schicksal bereitet, sondern in dem Sinne, dass unsere innere – psychi-sche – Konstitution uns in unserer kognitiven und emotiven „Gestal-tungsfreiheit“ Grenzen setzt. Das psychologische Wissen betrifft (we-nigstens im Verständnis der Psychologen) die Modi unserer individuel-len kognitiven und emotiven Einstellung gegenüber uns selbst und der Welt, und dies unabhängig davon, ob wir psychologische Deterministen sind oder nicht. Anders ausgedrückt: Naturwissenschaftliches Wissen er-fordert vom Erkenntnissubjekt lediglich das Einnehmen einer Beobach-terperspektive (auch wenn er als „beobachtender Wissenschaftler“ stets an einer Praxis teilnimmt, die die begrifflichen und apparativen Mittel seines Handelns zur Verfügung stellt), psychologisches Wissen erfordert hingegen stets die Teilnehmerperspektive. Das Einnehmen der Teilneh-merperspektive bedeutet, dass man zu den psychischen Phänomenen ei-ne intentionale Haltung einnimmt, dass sie einen in „existentieller“ Wei-se betreffen.

Der Konflikt entsteht dadurch, dass der psychologische Determinist den Bereich des Psychischen als genauso naturgesetzmäßig-kausal orga-nisiert betrachtet wie den Bereich des Physischen. Da er „weiß“, dass seine psychische Konstitution ihm als Naturgegenstand „aufgegeben“ ist, ist er bestrebt, seine Teilnehmerperspektive aus der Beobachterper-spektive heraus kausal zu erklären – als Ergebnis objektiv wirkender psychischer Gesetze. Doch die Teilnehmerperspektive kennt keine na-turgesetzmäßige Kausalität und die Beobachterperspektive keine Inten-

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tionalität, man kann nicht gleichzeitig beide Perspektiven einnehmen. Gegenüber seinen Mitmenschen (und seinen Kollegen) muss auch ein psychologischer Determinist als freies Individuum auftreten, das eigene Interessen und Ziele verfolgt. Er muss an Diskursen teilnehmen, Gründe und Argumente austauschen, Rechte beanspruchen und Pflichten über-nehmen. Er muss auch häufig die Position eines „Richters“ übernehmen und Bewertungen vornehmen. Doch spätestens hier kann er sich nicht mehr auf seinen psychologischen Determinismus berufen, weil eine Be-wertung von keinem naturgesetzlich-kausalen Wissen bestimmt sein kann, sonst wäre sie keine Bewertung. Der psychologische Determinist kann – und wird – versuchen, diesen Konflikt durch geeignete Strategien zu entschärfen, lösen kann er ihn nicht und auf Dauer auch nicht damit leben. Er muss versuchen, ihn soweit wie möglich zu ignorieren.

Psychologie: determinist ische Natur- oder hermeneutische Kulturwissenschaft?

Beim psychologischen Wissen ist die Teilnehmerperspektive unentrinn-bar. In dieser Hinsicht ähnelt die Psychologie einer Kulturwissenschaft. Auch soziologisches oder historisches Wissen erfordern vom Erkennt-nissubjekt das Einnehmen der Teilnehmerperspektive, denn die Er-kenntnis, dass ich dieser oder jener sozialen Schicht oder Nation ange-höre oder abstamme, beeinflusst meine Einstellung gegenüber mir selbst, meiner sozialen Schicht und der Menschheit und ihrer Geschich-te. Lässt sich deshalb der Bereich der psychischen Phänomene mit Mit-teln einer hermeneutisch vorgehenden Kulturwissenschaft angemessener erfassen? Wie wir wissen, gibt es eine Vielzahl psychischer „Krankhei-ten“, die sich mit narrativen und hermeneutischen Mitteln erfolgreich behandeln lassen. Auch soziale Phänomene wie z. B. die charismatische Wirkung von Individuen oder der Erfolg politisch-sozialer Bewegungen konnten psychologisch-hermeneutisch analysiert und verstanden wer-den. Die Generalisierung der hermeneutischen Methode hätte die will-kommene Vermeidung des „existentiellen“ Konfliktes des psychologi-schen Determinismus zur Folge. Die Existenz so genannter „psychoso-matischer“ Phänomene und der Umstand, dass es doch psychische Phä-nomene gibt, die einer naturwissenschaftlichen Behandlung zugänglich sind, lassen jedoch an dieser Generalisierung der hermeneutischen Me-thode Zweifel aufkommen. Gibt es deshalb zwei psychologische Wis-senschaften, eine naturwissenschaftlich und eine hermeneutisch vorge-hende? Wenn ja, was ist dann das verbindende Merkmal naturwissen-schaftlich und hermeneutisch behandelbarer psychischer Phänomene?

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Zur Lösung dieses „Leib-Seele-Problems“ sind von Philosophen und Psychologen viele Vorschläge unterbreitet worden, über die eine um-fangreiche Literatur existiert. Ich meine jedoch, dass eine Alternative zwischen einer naturwissenschaftlichen und einer hermeneutischen Psy-chologie überhaupt nicht besteht, weil es nicht möglich ist, einen ein-heitlichen Bereich psychischer Gegenstände zu konstituieren, der seiner-seits Gegenstand einer einheitlichen Wissenschaft ist. Dies trotz der Tat-sache, dass es in unserer Sprache eine Vielzahl von Ausdrücken gibt, die sich auf so genannte psychische Gegenstände beziehen, und auch trotz der Tatsache, dass es möglich ist, psychische Gegenstände erfolgreich mit naturwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Mitteln zu be-handeln. Die These der „Nichtexistenz“ eines einheitlichen Bereiches psychischer Gegenstände soll weder dahingehend verstanden werden, dass psychologisches Wissen ein Scheinwissen darstelle, noch dass es keinen „Anwendungsbereich“ gebe. Das Gegenteil ist der Fall. Die an-fangs angeführten Beispiele therapeutischer, beratender und erziehender Praxen, die sich psychologischen Wissens bedienen und deren Erfolg mehr oder weniger auf diesem Wissen beruht, sind Beleg für die Wich-tigkeit dieses Wissens, ebenso wie die ebenfalls erwähnte Tatsache, dass psychologisches Wissen erfolgreich missbraucht werden kann. Was be-hauptet wird, ist, dass sowohl die Gegenstände der Psychologie (die psychologischen Gegenstände) als auch die ihnen „zu Grunde liegen-den“ lebensweltlichen psychischen Gegenstände in einer Art und Weise konstituiert werden, die sich in vielen Punkten von der Konstitution der Gegenstände einer Naturwissenschaft (sowie von der Konstitution der Gegenstände der sogenannten Formalwissenschaften Mathematik und Geometrie) und einer Kulturwissenschaft unterscheidet.

Lebenswelt l iche Praxis und Wissenschaft

Um zu zeigen, worin genau der Unterschied zu den Natur- und den Formalwissenschaften besteht, sind einige Erläuterungen bezüglich des Zwecks und der Verfahrensweise der Formal- und Naturwissenschaften nötig. Alle Wissenschaften sind Praxen, d. h. Systeme von tradierten Zwecksetzungen, von Handlungsschemata zu ihrer Erreichung, von Wissensbeständen über Verfahren und Eigenschaften der für die Praxis relevanten Weltabschnitte und von einer Sprache, die die Kommunikati-on zwischen den Praxisteilnehmern ermöglicht und in der die Wissens-bestände formuliert sind. In der sozialen Welt treten Praxen häufig in Form von Disziplinen auf, etwa als Sportarten, Handwerke, Universi-täts- und Schulfächer, Forschungsrichtungen oder Fachverbände. Im

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Gegensatz zu herstellenden – poietischen – Praxen wie den verschiede-nen Handwerken, der Baukunst oder der Rechen- und Zeichenkunst, die „seit jeher“ Bestandteil unserer Alltagswelt sind und mehr oder weniger „naturwüchsig“ im Laufe der Entwicklung menschlicher Gemeinschaf-ten entstehen und vergehen, sind Formal- und Naturwissenschaften Er-gebnis bewussten Reflektierens über poietisches menschliches Handeln. Sie sind auch nicht durch Überlieferung zu uns gekommen, sondern sie entstanden in bestimmten Epochen der menschlichen Entwicklung vor-wiegend in den Gemeinwesen des Mittelmeers und Westeuropas und haben sich seitdem zu ihrer heutigen Form entwickelt. Der Grund für die Entstehung von Formal- und Naturwissenschaften war (und ist), dass der Geltungsbereich des in einer jeden lebensweltlichen poietischen Praxis vorhandenen Wissens auf ihren jeweiligen Wirkungsbereich beschränkt ist. Formal- und Naturwissenschaften sind angetreten, die lebensweltli-chen poietischen Praxen mit Wissen zu versorgen, das den jeweiligen „lokalen“ Einschränkungen nicht unterliegt. Deshalb sind ihre Gegen-stände nicht mit den Gegenständen der poietischen Praxen identisch, die von diesen Wissenschaften gestützt werden sollen. Lebensweltliche poietische Praxen stellen konkrete Gegenstände, z. B. Dinge, Vorgänge und ihre Eigenschaften her und bearbeiten sie. Formal- und Naturwis-senschaften hingegen untersuchen gemeinsame Aspekte der lebenswelt-lichen poietischen Praxen. Dementsprechend befassen sie sich mit ge-meinsamen Eigenschaften der konkreten Gegenstände, z. B. Form, Ge-wicht, Farbe, Lebensform bei Tieren, Dauer und Intensität von Ereignis-sen usw. Die Gegenstände der Formal- und Naturwissenschaften werden konstituiert, indem man sich auf bestimmte Eigenschaften der Konkreta „konzentriert“, die konkreten Dinge, Vorgänge und dergleichen bezüg-lich einer oder mehrerer interessierender Eigenschaften als gleichwertig – äquivalent – betrachtet und einen besonderen sprachlichen Ausdruck zur Bezeichnung der Äquivalenzbeziehung einführt. Im wissenschaftli-chen Forschungsbetrieb werden nun nicht konkrete Dinge untersucht, sondern die durch die jeweilige Äquivalenzrelation konstituierten Ge-genstände. Die Konkreta sind lediglich Repräsentanten oder Realisatio-nen des Untersuchungsgegenstandes. Zu erläutern, wie das in jedem ein-zelnen Fall geschieht, würde unseren Rahmen sprengen. Für unsere Überlegungen ist wichtig, dass die Gegenstände der Formal- und der Naturwissenschaften durch eine bestimmte einschränkende Betrachtung und durch eine Einschränkung der Rede über die konkreten Gegenstände zustande kommen. Sie sind im Gegensatz zu den Gegenständen der ih-nen zu Grunde liegenden lebensweltlichen Praxen abstrakt. Wie wir se-hen, bezieht sich die Bedeutung von ‚konkret‘ und ‚abstrakt‘ nicht auf den Umstand, ob etwas sichtbar oder unsichtbar, schwer oder leicht, ma-

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teriell oder immateriell, vorhanden oder vergangen ist. Sie bezieht sich vielmehr auf die Redeebene: ‚Konkret‘ ist etwas, dessen sprachliche Be-zeichnung in einer Handlungssituation durch Aufforderung, Verbot oder Hinweis im direkten Redegebrauch eingeführt werden kann, ‚abstrakt‘ etwas, dessen Bezeichnung nur in einer Redesituation über konkrete Ge-genstände eingeführt wird. Sprachliche Ausdrücke, die sich auf konkrete Gegenstände beziehen, heißen Prädikatoren, solche, die über eine Äqui-valenzrelation eingeführt werden, Abstraktoren.

Formal- und Naturwissenschaften untersuchen abstrakte Gegenstän-de. Wissen in den Formalwissenschaften wird durch die Anwendung von Regeln gewonnen, die die Konstitution und die Beziehungen zwi-schen ihnen bestimmen. Obwohl auch die Gegenstände der Naturwis-senschaften mit Hilfe von Regeln konstituiert werden, resultiert natur-wissenschaftliches Wissen nicht aus ihrer bloßen Anwendung, sondern aus der empirischen Untersuchung von Vorgängen, an denen diese Ge-genstände „teilnehmen“. Es ist allerdings so, dass abstrakte Gegenstände auch in manchen lebensweltlichen poietischen Praxiszusammenhängen eine fundamentale Rolle spielen, z. B. in den Stoffe herstellenden und verarbeitenden Praxen.

Stoffe sind, bezogen auf Stoffportionen, Abstrakta. Eine Stoffbe-schreibung ähnelt der Artbeschreibung eines Lebewesens. Sie umfasst diejenigen wesentlichen Eigenschaften, die festlegen, dass eine Portion Materie die konkrete Realisierung eines bestimmten Stoffes ist. Die Ge-genstände der Chemie sind ebenfalls Stoffe, die allerdings bestimmten „Reinheitsanforderungen“ und einigen anderen Bedingungen genügen müssen. Die Beschreibung eines chemischen Stoffes umfasst deshalb wesentliche Eigenschaften, die in einigen Aspekten von den wesentli-chen Eigenschaften eines lebensweltlichen Stoffes abweichen. Zwischen den Gegenständen poietischer lebensweltlicher Praxen und den Gegen-ständen der Natur- und Formalwissenschaften besteht also ein kon-kret/abstrakt-Verhältnis oder ein abstrakt/abstrakt-Verhältnis, wobei die „wissenschaftlichen“ Abstrakta nach besonders stringenten Kriterien konstituiert werden.

Der Unterschied zu den Naturwissenschaften

Psychische und psychologische Gegenstände unterscheiden sich sowohl von den konkreten und abstrakten Gegenständen poietischer Praxen als auch von den „streng regulierten“ abstrakten Gegenständen der Formal- und der Naturwissenschaften. Sie stehen außerdem in einem eigentümli-chen Verhältnis zueinander, das sich ebenfalls von dem kon-

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kret/abstrakt- und dem abstrakt/abstrakt-Verhältnis zwischen den Ge-genständen poietischer Praxen und Natur- bzw. Formalwissenschaften unterscheidet. Es sei jedoch vorausgeschickt, dass sowohl psychische als auch psychologische Gegenstände nach demselben Verfahren konstitu-iert werden, d. h. sie sind in einem gewissen Sinne „verwandt“, wie etwa die lebensweltlichen und die chemischen Stoffe. Es reicht deshalb für unsere Zwecke aus, das Konstitutionsverfahren der lebensweltlichen psychischen Gegenstände und die semantische Funktion der dazugehö-rigen sprachlichen Ausdrücke zu erläutern.

Psychische Gegenstände können deswegen keine Konkreta sein, weil ihre sprachlichen Bezeichnungen nicht im direkten Aufforderungs- oder Prädikationsmodus eingeführt werden können. Das heißt nicht, dass psychische Ausdrücke wie ‚Handeln‘, ‚Wahrnehmen‘, ,Denken‘ oder ‚Fühlen‘ ohne jeglichen Bezug zu konkreten Tätigkeiten oder Ereignis-sen eingeführt werden, sondern dass dies nicht allein dadurch geschieht. Der Ausdruck ‚Denken‘ kann z. B. nicht dadurch eingeführt werden, dass man auf sitzende Menschen in einer bestimmten Körperhaltung zeigt und sagt, sie würden denken. Man muss bereits wissen, was Den-ken ist und dass Menschen „beim Denken“ gewöhnlich bestimmte Kör-perhaltungen einnehmen, um das sich bietende Bild als das eines „(nach)denkenden Menschen“ wahrzunehmen. Es ist zwar möglich, Prädikatoren durch Angabe einer Liste von Prädikatoren einzuführen (wir nennen dieses Verfahren explizite Definition), es ist aber nicht so, dass jede beliebige Liste von Prädikatoren ihrerseits einen „sinnvollen“ Prädikator explizit definiert.

Man kann z. B. den Prädikator „Branntwein-Brennen“ explizit defi-nieren, indem man sagt „Man brennt Schnaps, indem man Wein in eine Retorte füllt, einen Kühler darauf setzt, die Retorte bis zum Sieden des Weines erhitzt und die bei verschiedenen Siedetemperaturen im Kühler abkondensierenden Dämpfe in getrennte Behälter auffängt“. Dieser Satz hat die allgemeine Form:

(I) B Tun (oder Sein oder Haben) ist gleichbedeutend mit C, D, E Tun

(oder Sein oder Haben)

Der Satz „Angst-Haben manifestiert sich in Schüttelfrost, Blutleere im Hirn, Magenkrämpfen und dem Sich-Entfernen aus dem Geschehen“ lässt sich zwar in der allgemeinen Form (I) formulieren, zwischen ihm und der Definition des Branntweinbrennens besteht jedoch folgender Unterschied: In der Definition des Branntwein-Brennens gehören die auf beiden Seiten auftretenden Prädikatoren derselben Kategorie an, sie sind poietische Handlungsprädikatoren. Beim Angst-Haben liegt der Fall an-

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ders: Angst-Haben und die auf der Definiensseite angeführten Prädikato-ren gehören nicht derselben Kategorie an, Angst-Haben ist ein psychi-scher Ausdruck, während die im Definiens aufgelisteten Prädikatoren auch von Dritten beobachtbare Zustände des Körpers und Verhaltens-weisen (Schüttelfrost, Sich-Entfernen) benennen. Diese Ansammlung heterogener Ereignistypen wird unter besonderen Umständen mit dem Ausdruck ‚Angst-Haben‘ belegt.

Wie lernt man aber die korrekte Verwendung psychischer Ausdrük-ke, wenn sie keine „kategoriale“ Beziehung zu der Situation haben, die sie benennen sollen? Beim Angst-Haben geschieht dies normalerweise dadurch, dass eine für den Novizen zum ersten Mal auftretende Situati-on, in der er diese Symptome zeigt, von bereits kompetenten Sprechern mit dem Satz „Du hast Angst!“ kommentiert wird. Die Erkenntnis, dass man Angst oder Schmerzen hat, dass man handelt oder denkt, mit ande-ren Worten die Erkenntnis, dass gerade ein psychisches Phänomen vor-liegt, besteht in einer derartigen Kommentierung der jeweiligen Situati-on. Hier erhebt sich die grundsätzliche Frage, wie man denn überhaupt versteht, dass es sich um eine Kommentierung und nicht um eine Be-schreibung der Situation handelt, wie man lernt, mit Ausdrücken wie ‚Angst‘, ‚Denken‘ usw. richtig umzugehen? Die Antwort lautet: durch den sozial kontrollierten Gebrauch innerhalb einer Sprach- und Praxis-gemeinschaft.

Warum sind ‚Branntwein-Brennen‘, ‚Wein-Erhitzen‘ und ‚Auffan-gen von Dämpfen‘ kategoriengleich und ‚Angst-Haben‘, ‚Schüttelfrost-Haben‘, ‚Blutleere-im-Kopf-Haben‘ und ‚Sich-aus-derSituation-Entfernen‘ nicht? Das liegt daran, dass alle poietischen Handlungen und die damit verbundenen Konkreta auf dieselbe Art und Weise intersub-jektiv zugänglich sind. Die Teilnehmer einer Praxis oder die Mitglieder einer Gemeinschaft müssen in der Lage sein, poietische Handlungen und damit verbundene Konkreta zu reproduzieren, damit die Praxis bzw. das Zusammenleben in der Gemeinschaft gelingt. Was also für die einzelnen definierenden Teilhandlungen des Branntweinbrennens gilt, muss auch für das Branntweinbrennen selbst als komplexe poietische Handlung gelten. In demselben Sinne sind ‚Schimmel‘ und ‚Pferd‘ oder ‚III‘ und ‚Zahlzeichen‘ kategoriengleiche Konkreta, sie gehören zum selben „Re-debereich“. Zwischen ‚Angst-Haben‘ und ‚Schüttelfrost-Haben‘ besteht jedoch keine Kategoriengleichheit, weil ‚Angst-Haben‘ als psychischer Ausdruck nicht in derselben Art und Weise intersubjektiv zugänglich ist wie ‚Schüttelfrost-Haben‘. ‚Schüttelfrost-Haben‘, ‚Blutleere-im-Kopf-Haben‘ und ‚Sich-aus-der-Situation-Entfernen‘ benennen Symptome für das, was ‚Angst-Haben‘ benennt, sie sind aber nicht mit ‚Angst-Haben‘ äquivalent. Um das Auftreten dieser Symptome als ‚Angst-Haben’ zu in-

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terpretieren, muss man über ein gehöriges Maß an Teilnahmeerfahrung an einer gegebenen Lebensform verfügen und einiges an Wissen über Lebensmodalitäten investieren. Nicht jedes Auftreten der geschilderten Symptome bedeutet, dass der Betroffene tatsächlich Angst hat – er könnte sich verstellen oder eine Grippe, eine Lebensmittelvergiftung oder eine unbekannte, mit Fluchtbewegungen verbundene Krankheit ha-ben. Fazit: Psychische Gegenstände sind keine Konkreta und psychische Ausdrücke keine Prädikatoren.

Zwischen psychischen Gegenständen und einigen Konkreta wie Dingen, Tieren, Ereignissen besteht jedoch eine Ähnlichkeit: Beide sind individuierbar, d. h. man kann sie auseinander halten, mit Eigennamen belegen, die nur für einen einzigen Gegenstand gelten – und man kann sie auch zählen. Die sprachlichen Ausdrücke für konkrete wie für psy-chische Gegenstände sind gemäß einer bestimmten grammatischen Klassifikation Zähltermini. Die Fachsprachen der Naturwissenschaften enthalten allerdings nicht nur eine Sorte von Zähltermini, nämlich Prä-dikatoren, sondern auch Zähltermini, die sich auf so genannte theoreti-sche Konstrukte beziehen. Theoretische Konstrukte werden in manche naturwissenschaftlichen Theorien eingeführt, um verschiedene Phäno-mene miteinander in Verbindung zu bringen und in eine einheitliche er-klärende Theorie zu integrieren. Theoretische Konstrukte sind nicht Be-standteile der Lebenswelt, sie werden zum Zwecke der theoretischen Er-klärung erfunden und können, sollte sich die Theorie nicht bewähren oder gar falsifiziert werden, wieder aufgegeben werden. Theoretische Begriffe, d. h. die sprachlichen Ausdrücke, die sie bezeichnen, können nicht wie Prädikatoren in der direkten Gebrauchs- und Handlungssitua-tion eingeführt werden. In dieser Hinsicht sind sie den psychischen Aus-drücken ähnlich. Bedeutet dies, dass psychische Ausdrücke ebenfalls theoretische Begriffe (und mutatis mutandis psychische Gegenstände theoretische Konstrukte) sind? Theoretische Begriffe werden durch den theoretischen Kontext implizit definiert. Gilt für psychische Ausdrücke dasselbe? Ist unser lebensweltliches psychisches Vokabular im Grunde eine „primitive“ Theorie zur Erklärung unseres Verhaltens, eine Art „Vulgärpsychologie“? Gegen diese These, die in der psychologiephilo-sophischen Diskussion in der Position des so genannten eliminativen Materialismus vertreten worden ist, sind folgende Argumente vorgetra-gen worden:

1. Psychische Ausdrücke sind im Gegensatz zu theoretischen Begriffen

Bestandteil unserer Alltagssprache und treten ebenfalls originär in den Fachjargons lebensweltlicher Praxen auf. Dementsprechend sind psychische Gegenstände originärer Bestandteil unserer Lebenswelt.

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2. Psychische Ausdrücke dienen dazu, Vorgänge und Ereignisse, in de-nen psychische Gegenstände involviert sind, zu beschreiben und nicht zu erklären. Psychische Gegenstände bzw. ihre Eigenschaften werden selbst durch psychologische Theorien erklärt.

3. Auch wenn in lebensweltlichen Zusammenhängen Vermutungen an-gestellt und Hypothesen geäußert werden, auch wenn wir im Alltag verschiedene „Theorien“ über das Zustandekommen von Ereignissen vertreten, sind diese keine Hypothesen und Theorien im wissen-schaftlichen Sinne. Zwischen alltagsweltlichen „Hypothesen“ und „Theorien“ und ihren wissenschaftlichen Pendants kann mitunter ein sehr großer Unterschied bestehen, der die Ähnlichkeit fast auf eine bloße Homonymie reduziert.

Es wird nicht behauptet, dass in psychologischen Theorien keine theore-tischen Begriffe auftreten, auch nicht, dass in der Lebenswelt keine Er-klärungen gemacht werden. Es wird nur behauptet, dass die psychischen Ausdrücke in der Lebenswelt nicht die Funktion von theoretischen Be-griffen haben. Psychische Ausdrücke sind keine Prädikatoren und keine theoretischen Begriffe, psychische Gegenstände sind weder lebenswelt-liche Konkreta noch theoretische Konstrukte. Die letzte Möglichkeit, der Psychologie noch einen Platz unter den Naturwissenschaften zu sichern, wäre der Nachweis, dass psychische Gegenstände Abstrakta sind, etwa wie die lebensweltlichen Stoffe – und psychische Ausdrücke Abstrakto-ren. Zu diesem Zweck müssten wir psychische Ausdrücke über eine Äquivalenzrelation zwischen Individuen bezüglich irgendwelcher psy-chischen Eigenschaften einführen können. Wir haben aber bereits gese-hen, dass es nicht möglich ist, psychische Konkreta irgendeiner Art zu konstituieren, weil die Rede über psychische Gegenstände nicht eine prädizierende, sondern eine kommentierende oder „interpretierende“ Rede ist. Psychische Ausdrücke können deshalb auch keine Abstrakto-ren und psychische Gegenstände keine Abstrakta sein. Weil nun Ab-strakta die Gegenstände der Naturwissenschaften sind, kann die Psycho-logie keine Naturwissenschaft sein. Wie ist es dann möglich, dass über psychische Gegenstände naturwissenschaftliches Wissen gesammelt werden kann oder dass psychische Phänomene mit naturwissenschaftli-chen Mitteln (z. B. Psychopharmaka) beeinflussbar sind? Wie in jeder spannenden Geschichte wird die Antwort für das Ende aufgespart.

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Der Unterschied zu den Kulturwissenschaften

Wie die Naturwissenschaften sind die Kulturwissenschaften „beratende“ Praxen, d. h. sie dienen der Stützung lebensweltlicher Praxen – oder sollten es wenigstens sein. Allerdings sind diese Praxen keine poieti-schen, d. h. keine materielle Güter herstellenden und verarbeitenden Praxen, sondern Praxen des sozialen Lebens. Zu ihnen gehören u.a. die Beratung von öffentlichen Angelegenheiten, das Schlichten von Kon-flikten, der Warentausch, das Festhalten und Nacherzählen von vergan-genen Ereignissen und das Lehren von poietischen und sozialrelevanten Fähigkeiten. Gemeinsames Merkmal der Praxen des sozialen Lebens ist, dass ihre Gegenstände keine über poietische Handlungen zugänglichen Konkreta sind, keine „handhabbaren“ Dinge – wie ein Stein, eine Axt oder ein Cocktail – und keine herstellbaren Vorgänge – wie ein Feuer oder die Bewegung einer Rolltreppe. Was eine „Gemeinschaft“, ein „Spiel“, ein „Fest“, ein „Wettlauf“, ein „Konflikt“, ein „Freund“ ist – um einige Beispiele zu nennen –, kann man nicht dadurch erlernen und „erfahren“, dass man den Anweisungen eines Lehrers folgt, seine Hand-lungen imitiert und dazu „bloß“ den korrekten sprachlichen Ausdruck lernt. Die Konstitution der Gegenstände der Praxen des sozialen Lebens ist in einem tieferen Sinne mit der Sprache und dem Leben der Gemein-schaft verbunden, in der diese Praxen vorkommen. Es geht dabei nicht um das korrekte Prädizieren, sondern um den angemessenen Gebrauch der sprachlichen Ausdrücke zur Beschreibung einer gegebenen Situation des sozialen Lebens als Gegenstand einer sozialen Praxis. Man muss z. B. lernen, wann es angemessen ist, eine Ansammlung von Menschen, Tieren, Gebäuden und Geräten als „Dorf“, „Stadt“, „Gehöft“ oder „Sied-lung“ zu bezeichnen. Oder wann es angemessen ist, eine Menschenan-sammlung, die sich auf der Straße bewegt, als „Demonstration“, „panik-artige Massenflucht“, „Erstürmung des Winterpalais“, „Volksmarathon“ oder „Menschenmenge beim Abendshopping“ zu nennen. In beiden Fäl-len würde eine Beschreibung des Geschehens mittels Prädikatoren für alle unterschiedenen sozialen Situationen gleich ausfallen – Auflistung von Menschen, Tieren, Gebäuden und Geräten im ersten Fall; von Men-schen, die sich auf der Straße mit der und der Geschwindigkeit und in der und der Richtung bewegen, im zweiten. Die Gegenstände der Praxen des sozialen Lebens konstituieren sich – wie im Falle der psychischen Gegenstände – dadurch, dass man das soziale Geschehen kommentiert. Selbstverständlich ist diese Kommentierung nicht willkürlich, sondern richtet sich nach Kriterien, die teilweise in der Sprache der direkten Prä-dikation angebbar sind. An Hand der zu Grunde gelegten Kriterien und der Kommentierungssituation können weitere Differenzierungen vorge-

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nommen werden, etwa in Bewertungen, Geschmacksurteilen, Festlegun-gen und dergleichen. Für alle diese Differenzierungen gilt, dass man, um die dazugehörigen Kriterien zu formulieren, zuvor den angemessenen Gebrauch der sozialen Ausdrücke gelernt haben muss, was mit dem Er-lernen des angemessenen Kommentierens gleichbedeutend ist. Die Kri-terien spielen erst dann eine Rolle, wenn mit der Kommentierung etwas schief geht, wenn z. B. ein Kind einen Polizisten mit „Hey Bulle“ anstatt mit „Herr Wachtmeister“ anspricht. Gegenstände des sozialen Lebens werden durch die Anwendung von Regeln des Gebrauchs sprachlicher Ausdrücke konstituiert. Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass auch der Gebrauch von Prädikatoren und Abstraktoren an Regeln ge-knüpft sei. Das stimmt zwar, der Gebrauch von Prädikatoren und Ab-straktoren kann aber am Ergebnis von poietischen Handlungen „abgegli-chen“ und korrigiert werden, und zwar so, dass ein Novize, nachdem er die handlungsorientierte Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ge-lernt hat, sich selbst am Ergebnis seiner Handlungen korrigieren kann, während man im Umgang mit sozialen Gegenständen immer auf die Re-aktion der Anderen angewiesen ist.

Ein weiterer Unterschied zwischen Konkreta poietischer Praxen und sozialen Gegenständen besteht in der Haltung der Praxisteilnehmer ih-nen gegenüber. Der angemessene Gebrauch von sozialen Ausdrücken ist mit einer spezifischen praxisabhängigen (und somit auch kulturabhängi-gen) moralischen Einstellung sowohl des Einzelnen als auch der Ge-meinschaft gegenüber den ihnen korrespondierenden sozialen Gegen-ständen verbunden. Beispiele:

• Einen Polizeibeamten als „Bullen“ anzusprechen, ist in Deutschland

nicht nur ein semantischer Fehltritt, es ist unter Umständen (etwa im formellen oder offiziellen Rahmen, vor Gericht usw.) auch Zeichen der Geringschätzung oder der Feindschaft gegenüber dem Amt des Polizisten und der Person, die es ausübt.

• Ist eine Ansammlung sich in einer Richtung bewegender Menschen ein „Volksmarathon“, bin ich als Zuschauer verpflichtet, diese Leute in der Ausübung des Wettlaufs nicht zu behindern, etwa indem ich im Weg stehe. Erkenne ich in derselben physischen Situation eine „Massenpanik“, dann bin ich verpflichtet, diesen Leuten zu helfen, indem ich wenigstens Polizei und Feuerwehr alarmiere.

• Wenn ich meiner Umgebung mitteile, dass ich Schmerzen habe, so erwarte ich von meinen Mitmenschen eine bestimmte Reaktion – ich habe sogar ein Recht darauf.

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Die moralische Einstellung gegenüber den sozialen Gegenständen (und somit auch der Gebrauch der sozialen Ausdrücke) wird weder von einer pragmatischen Ordnung von Handlungen, die zum Erreichen poietischer Zwecke notwendig ist, noch von irgendeiner „Naturnotwendigkeit“ dik-tiert. Sie wird allein durch den kulturellen Kontext in der Gemeinschaft oder der Praxis bestimmt bzw. steht mit ihm in einer steten Wechselwir-kung. Änderungen des Kontextes ziehen eine Änderung der moralischen Einstellung und somit des sprachlichen Gebrauchs nach sich – Änderun-gen im Sprachgebrauch die Änderung der moralischen Einstellung und in letzter Konsequenz des Kontextes. Der Ausdruck ‚Bulle’ z. B. drückte anfänglich die Anerkennung gegenüber einer Gruppe erfolgreicher (und stämmiger) Kriminalbeamter im Berlin der 20er Jahre aus (der gering-schätzige Ausdruck für ‚Polizist‘ war damals ‚Deckel‘ oder ‚Teckel‘). Erst im Laufe der Zeit hat er seinen heutigen pejorativen Charakter an-genommen. Zum Vergleich: Man kann zwar mit einem Schraubenzieher jemanden niederstechen und mit einem Messer eine Schraube drehen. Die Möglichkeit des zweckentfremdeten Gebrauchs führt allerdings we-der zur Umbenennung der Gegenstände noch zur Veränderung ihrer Form bei Beibehaltung des Namens, auch wenn der normalerweise zweckentfremdete Gebrauch die Form einer Praxis annehmen kann (et-wa in Gefängnissen, wo auf Grund des Messerverbots teilweise andere Werkzeuge als Waffen verwendet werden).

Wie erfüllen nun die Kulturwissenschaften ihre beratende Funktion und worin besteht der Unterschied zur Psychologie? Weil die Gegen-stände der Praxen des sozialen Lebens keine Konkreta wie die Gegen-stände poietischer Praxen sind und weil mit ihnen keine technisch repro-duzierbaren Vorgänge eingeleitet werden können, hat es keinen Sinn, kausal-deterministisches Wissen über aspektbezogen konstituierte Ge-genstände zu sammeln, das zur Stützung der lebensweltlichen Praxen dienen könnte. Das, was Kulturwissenschaften durch empirische For-schung und logische und begriffliche Analyse leisten, ist die Ausarbei-tung von Kriterien, die zu einem angemessenen Gebrauch und zu einer angemessenen Kommentierung (man sagt dazu auch Deutung oder Ver-ständnis) sozialer Situationen führen. Dazu gehört neben der Herstellung eines diachronischen und synchronischen Konnexes zwischen allen Formen sozialen Lebens durch Geschichtsschreibung und soziologische Forschung auch die Beschäftigung mit gemeinsamen Aspekten der Pra-xen des sozialen Lebens, wie dem ökonomischen, dem linguistischen oder dem ästhetischen Aspekt. Die Gegenstände aller dieser Kulturwis-senschaften werden durch denselben Prozess der Kommentierung kon-stituiert, der natürlich im wissenschaftlichen Rahmen nach stringenten und expliziten Kriterien abläuft.

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Im vorigen Abschnitt haben wir gesehen, dass psychische Gegen-stände ebenfalls durch Kommentierung physischer Situationen konstitu-iert werden. Es wäre also nahe liegend, die Individualpsychologie doch als eine Kulturwissenschaft zu bezeichnen. Der maßgebliche Unter-schied zwischen Individualpsychologie und Kulturwissenschaften be-steht jedoch im Gegenstand der Kommentierung. Soziale Gegenstände konstituieren sich durch Kommentierung von gemeinschaftlichen Hand-lungen und durch Kommentierung der Organisation und der Reaktion von Gemeinschaften. Die Gegenstände der Individualpsychologie kon-stituieren sich hingegen durch die Kommentierung der Handlungen und der Reaktionen von Individuen, und zwar unter der Prämisse, dass sie von ihrem gemeinschaftlichen Kontext isolierbar und vom ihm auch un-abhängig sind. Es ist deshalb auch nicht zufällig, dass die Psychologie eine der jüngsten Wissenschaften ist. Sie konnte erst entstehen, nachdem sich das Individuum von seinem gemeinschaftlichen Kontext soweit emanzipiert hatte, dass es nicht nur weitgehend autonom agieren konnte, sondern auch dass das Bewusstsein dieser Autonomie sich unter dem Namen „Seele“ etablieren konnte. In der Sprache des gemeinschaftsge-bundenen Individuums – wie es z. B. in den Homerischen Epen be-schrieben wird – waren die psychischen Ausdrücke noch in der Masse der sozialen eingebettet. Psychisches war ein Teil des sozialen Lebens. Individuen mit sozial abweichendem Verhalten, das wir heute auf psy-chische Störungen zurückführen, wurden in homerischen Gemeinschaf-ten entweder toleriert (als ‚Idioten‘, die für sich Seienden) oder als gött-lich bzw. übernatürlich beeinflusst angesehen und teilweise sogar ver-ehrt (vgl. ‚mondsüchtig‘, ‚lunatic‘, ‚kami‘ in Japan) – oder, wenn sie das soziale Leben empfindlich störten, aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Erst nachdem die antiken homerischen Stammesangehörigen ihre Ge-meinwesen der übrigen Natur gegenübergestellt und wider ihre Launen entwickelt und durchgesetzt hatten, erst nachdem sie sich zu „Politi-kern“, d. h. zu bewusst beratenden und planenden und ihre Umgebung planmäßig gestaltenden Individuen entwickelt hatten, vollzogen sie eine „innere Auftrennung“ in einen autonomen, immateriellen und außerwelt-lichen Bereich, ihre „Seelen“, und in einen materiellen, vergänglichen, mundanen Rest, ihre Leiber oder Körper. Im Laufe der weiteren Ent-wicklung führte die Erfahrung, dass die politischen Individuen auch ge-genüber und nicht bloß im Rahmen der Gemeinschaft erfolgreich tätig sein können, zur Vorstellung, dass alle Instanzen des sozialen Lebens al-lein durch das individuelle Handeln in Form der bewussten Kooperation zustande kommen. Abweichendes Verhalten in der Gemeinschaft wird jetzt auf psychische Defekte zurückgeführt. Man hofft, durch wissen-schaftliche Untersuchung der inzwischen als selbständig angesehenen

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psychischen Phänomene, die soziale Leistung der Individuen zu verbes-sern. Im letzten Viertel des 19. und im Anfang der 20. Jahrhunderts, des Jahrhunderts der vollständigen und globalen Individualisierung, etabliert sich die Individualpsychologie als die Wissenschaft der „Seelenmecha-nik“.

Arten psychologischen Wissens

Die Psychologie ist – so das Ergebnis unserer Analyse – weder eine Na-tur- noch eine Kulturwissenschaft. Sie ist keine Naturwissenschaft, weil ihre Gegenstände nicht durch ein operational vorgehendes Abstraktions-verfahren über konkrete Gegenstände poietischen Handelns konstituiert werden können. Sie ist keine Kulturwissenschaft, weil ihre Gegenstände trotz ihrer Konstitution durch Kommentierung alltagsweltlicher Hand-lungssituationen sich nicht auf gemeinschaftliches, sondern auf indivi-duelles Handeln und individuelles Verhalten beziehen. Individuelles Handeln und Verhalten werden aber einerseits durch physische Ereignis-se vermittelt – wir sind ja keine Zauberer, wir müssen uns bewegen, wenn wir etwas handelnd erreichen wollen, uns widerfahren körperliche Regungen, wenn wir etwas erleiden, wir sind auf unsere funktionieren-den Körper angewiesen, um etwas wahrzunehmen oder um mit anderen kommunizieren zu können. Andererseits sind wir stets in gemeinschaft-liche Zusammenhänge eingebunden, unser Handeln und Verhalten voll-zieht sich immer in einem sozialen Rahmen. Insofern die Aufmerksam-keit des Psychologen auf das physiologische Substrat psychischer Ge-genstände gerichtet ist, d. h. auf die körperlichen Funktionen, deren Aus-fall oder Beeinträchtigung psychische Tätigkeiten ebenfalls beeinträch-tigen oder gar zum Ausfall bringen (ohne andere physiologische Funk-tionen des Körpers zu beeinflussen), insofern ist die Akquisition psy-chisch relevanten naturwissenschaftlichen, deterministischen Wissens möglich. Wir können sogar theoretische Konstrukte einführen, die psy-chische und physiologische Phänomene in eine „psychophysiologische“ Theorie integrieren. Wir sollten aber dabei nicht vergessen, dass diese Konstrukte sekundäre Erklärungsinstanzen und keine „Ursachen“ der Phänomene sind. Wir sollten auch nicht vergessen, dass das determini-stische Wissen die Funktion des physiologischen Substrates betrifft und nicht die Konstitution des psychischen Gegenstandes, der mit ihm ver-bunden ist – denn der psychische Gegenstand ist der an praxis- und kul-turabhängige Sprachregeln gebundene Kommentar zum physiologischen Geschehen. Insofern aber das zu untersuchende psychische Phänomen die Anschlussleistungen des Individuums an die Gemeinschaft bei „in-

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taktem“ physiologischen Substrat betrifft, insofern kann das Phänomen nur mit hermeneutischen kulturwissenschaftlichen Mitteln beschrieben und verstanden werden. Die psychologische Forschung bewegt sich im Niemandsland zwischen deterministischen Phänomenen und hermeneu-tischen Erzählungen, zwischen Individuum und Gemeinschaft. Es ist kein einheitliches Gebiet, weder in Bezug auf den Gegenstandsbereich noch in Bezug auf die zu stützenden lebensweltlichen Praxen. Der Psy-chologe steht vielmehr vor der Aufgabe, seine Tätigkeit ständig neu zu definieren und die Gegenstände seiner Forschung stets neu zu bewerten und zu kommentieren. Das Fehlen eines einheitlichen Gegenstandsbe-reiches bedeutet nicht, dass die Psychologie eine „mangelhafte“ Wissen-schaft sei, im Gegenteil: Beim Abstieg in den Grund der Seele erblickt der Psychologe die Mannigfaltigkeit der conditio humana aus einer Per-spektive, die allen anderen Wissenschaftlern verschlossen bleibt.

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Schmerzaussagen als Urteilsformen

Arten von Schmerzen

Im Alltag bezieht sich der Ausdruck ‚Schmerz’ auf einen inhomogenen Bereich negativer Empfindungen, Emotionen, Gefühle und Erfahrungen, die grob in drei Kategorien unterteilt werden können: somatische Schmerzen, verursacht durch Verletzungen, somatische oder psychische Krankheiten, Heilungsprozesse, Körperfunktionen, Stress, Entzündun-gen, Überreizung der Wahrnehmungsorgane, physische Gewalt oder Elektroschocks; emotionale Schmerzen, verursacht durch Stress, Dro-hungen oder das Durchleben von Gewaltsituationen, schweren Unfällen und anderen tragischen Situationen; intellektuelle Schmerzen, die durch das Erlebnis von Enttäuschungen auf Grund des Scheiterns von Vorha-ben und Handlungen aufkommen oder aber durch ungerechtfertigte An-schuldigungen, Mobbing, Verachtung oder durch entwürdigende Be-handlung verursacht werden.

Die gegenwärtig herrschende Meinung ist, dass die beiden letzteren Schmerzenskategorien so etwas wie den Bereich des metaphorischen Gebrauchs des Wortes ‚Schmerz‘ ausmachen, während somatische Schmerzen als seine eigentliche ontologische Referenz zu betrachten sind, d. h. als die einzige Art von Schmerzen, die unmittelbar wahrge-nommen werden können.111 Dies bedeutet natürlich weder, dass wir emotionale oder intellektuelle Schmerzen als „moralisch minderwertig“ betrachten – aus der Sicht des Rechts ist das Verursachen von intellektu-ellen Schmerzen eine strafbare Handlung und ihre Opfer können zumin-dest eine finanzielle Entschädigung beanspruchen –, noch, dass wir emotionale oder intellektuelle Schmerzen gar nicht fühlen können. Wir

111 Von Wright 1968: 70; Hardcastle 1999: 16 ff.

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assoziieren sie aber mit Gefühlen wie Trauer oder Enttäuschung, so dass die Ausdrücke ‚emotionaler’ und ‚intellektueller’ Schmerz so etwas wie eine hohe Intensität derartiger Gefühle und extreme Gemütszustände be-zeichnen und kein eigenständiges Gefühl wie der somatische Schmerz.

Diese angebliche ontologische Primordialität des somatischen Schmerzes kommt häufig mit der Vorstellung einher, dass sein Bereich – zumindest für Menschen – ontologisch homogen ist. Dieses Junktim wird normalerweise durch den Verweis auf die Medizin und die Biolo-gie gerechtfertigt, für die jeder menschliche Körper die Realisation des-selben Typs biologischen Organismus ist. Im Gegensatz dazu werden die Ausdrücke ‚emotionaler’ und ‚intellektueller Schmerz’ als Sammel-ausdrücke ohne einheitlichen ontologischen Status angesehen.

Die Überzeugung, dass der somatische Schmerz eine universelle „anthropologische Konstante“ darstellt, ist in unserem Weltbild tief ver-ankert. Diese Universalität wird u.a. durch den Umstand bestätigt, dass wir normalerweise die Schmerzen bei anderen Personen durch direktes Beobachten ihres Verhaltens zur Kenntnis nehmen: Leiden, Jammern, Versuche, Schmerzquellen auszuweichen oder diese zu neutralisieren usw. In den Augen der Neurophysiologen wird die Universalität der so-matischen Schmerzen auch durch ihre erfolgreichen Bemühungen bestä-tigt, wenigstens Teile des menschlichen „Schmerzsystems“ 112 identifi-ziert und kartiert zu haben, und durch den Nachweis, dass Menschen re-produzierbare Muster neuronaler Aktivität zeigen, wenn sie vordefinier-ten Arten von Schmerzstimuli ausgesetzt werden. Der Umstand, dass manche Leute von diesem universellen Schmerzverhalten abweichen, wird durch Verweis auf kulturelle und idiosynkratische Haltungen ge-genüber Schmerzen erklärt, die die universelle Reaktion auf den Schmerz überlagern,113 und nicht etwa dadurch, dass Leute Schmerz auf verschiedene, untereinander inkompatible Weisen erleben.

Der feste Glaube an die Universalität des Schmerzes erlaubt es uns sogar, Schmerzerlebnisse auch höheren Tieren zuzuschreiben und deren Verhalten in diesem Sinne zu interpretieren. Manche Leute – darunter bekannte Philosophen wie Peter Singer – meinen, dass jedes Tier, das ein hinreichend komplexes Nervensystem besitzt, zum Erleben von Schmerzen in der Lage ist und dass es entsprechend schmerzschonend behandelt werden müsse.114

Derselbe feste Glaube an die Universalität des Schmerzes in Verbin-dung mit der Ansicht, dass Schmerzen einen ontologisch einheitlichen

112 Hardcastle 1999: 101 ff. 113 Vgl. Zborowski 1952, Sternbach und Tursky 1965, Melzack 1973. 114 Singer 1994.

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Bereich ausmachen, dient als metaphysische Grundlage einer rein exten-sionalen und realistischen Semantik der Schmerzausdrücke. Prima facie scheint eine derartige Semantik philosophisch adäquat und für techni-sche Anwendungen sehr gut geeignet zu sein, z. B. für den Aufbau eines formalontologischen Systems für medizinische Zwecke. Ich möchte je-doch zeigen, dass eine rein extensionale Semantik der Schmerzausdrük-ke schwerwiegende logische, ontologische und ethische Probleme zur Folge hat. Ich behaupte nämlich, dass der Bereich der somatischen Schmerzen genauso ontologisch inhomogen ist wie die anderen beiden Bereiche von Schmerzen, und dass der Ausdruck ‚Schmerz’ nicht durch eine erschöpfende Liste von extensional bestimmten Eigenschaften defi-niert werden kann.

Fakt ischer und moral ischer Schmerz – ontologische und epistemische Probleme

Mediziner und Neurophysiologen betrachten somatische Schmerzen als „Warnsignale“, die die Fehlfunktion, Zerstörung oder Überreizung von biologischem Gewebe und von Organen anzeigen. Die Abwesenheit derartiger Signale kann fatal sein: Die medizinische Literatur enthält zahlreiche Berichte über die so genannte „kongenitale Schmerzunemp-findlichkeit“,115 eine glücklicherweise seltene Störung des Nervensy-stems, die sich als völlige Abwesenheit jeglicher Schmerzempfindung manifestiert, einschließlich der so genannten „kinästhetischen“ Schmer-zen, z. B. derjenigen Schmerzen, die durch eine Überbeanspruchung der Gelenke entstehen. Menschen mit diesem Syndrom sterben relativ jung und verkrüppelt und weisen eine Vielfalt von Infektionen, offenen Wun-den, Geschwüren usw. auf, die auf Grund ihrer Unfähigkeit, den norma-lerweise damit verbundenen Schmerz zu fühlen, Überhand nehmen. An-dererseits hat die Medizin seit jeher mehr oder weniger erfolgreiche Ver-fahren eingesetzt, um Menschen von akuten oder chronischen Schmer-zen zu befreien – schmerzstillende Medikamente, Psychotherapie oder chirurgische Eingriffe. Wir wissen darüber hinaus, dass es Schmerzen ohne konkrete Ursache gibt und auch „Phantomschmerzen“, die von amputierten oder paralysierten Gliedern auszugehen scheinen. Neben unserer Alltagserfahrung scheint so auch die Medizin die Ansicht zu be-stätigen, dass der Schmerz ein Faktum ist, ein homogenes Phänomen, das die Menschen von der Wiege bis zur Bahre begleitet wie das Atmen und der Herzschlag. Diese angebliche Faktizität des Schmerzes erlaubt

115 Vgl. Melzack 1977: 15; Hardcastle 1999: 59.

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es uns, ihn als Gegenstand der Wissenschaft zu behandeln, ihn zu studie-ren, Theorien über ihn zu formulieren und Methoden zu seiner Behand-lung und Eliminierung zu entwickeln.

Vom philosophischen Standpunkt aus gesehen, bedeutet die Existenz des Phänomens „Schmerz“, dass wir nach seinem ontologischen Status fragen und uns mit dem epistemischen Problem des „Wissens von Schmerzen“ beschäftigen können. Diesbezüglich gibt es in einer ersten Näherung drei monistische Betrachtungsweisen der Ontologie und Epi-stemologie des Schmerzes – es sei denn, man möchte an einem strikten cartesianischen res cogitans-res extensa Substanzdualismus116 festhalten: • Der Phänomenalismus: Schmerzerfahrungen, einschließlich ihrer

unangenehmen Eigenschaften, sind eine Form „nichtpropositiona-len“ Wissens117 über einen besonderen Zustand unseres Körpers als Ganzes, zu dem wir einen direkten, „prälinguistischen“ Zugang ha-ben. Schmerzausdrücke erhalten ihre Bedeutung auf Grund der gene-rischen Äquivalenz unserer Körper, die zu gleichem Verhalten bei gleichen Umweltbedingungen führt. Wir erkennen Schmerzen bei Anderen – einschließlich höherer Tiere – zunächst in nichtproposi-tionalen vis-à-vis-Situationen, indem wir ein Verhalten wahrneh-men, das unserem Schmerzverhalten ähnlich ist,118 und wir anerken-nen deren Leiden, weil wir auch eine direkte Erfahrung der Schreck-lichkeit des Schmerzes haben. Neuronale Zustände und andere Kör-perprozesse werden im phänomenalistischen Zusammenhang als notwendige Bedingungen der Schmerzwahrnehmung angesehen.

116 Der Cartesianische Substanzdualismus muss mit der Schwierigkeit der In-

teraktion der beiden, voneinander strikt getrennten, Substanzbereiche fer-tig werden. Descartes dachte, dass es eine Form der schwachen Einfluss-nahme der res cogitans auf die res extensa gibt, die durch eine spezielle Drüse im Gehirn vermittelt wurde. Diese Theorie wurde durch die Occa-sionalisten angegriffen. Die Annahme eines derartigen Dualismus ist je-doch mit der Universalität und der Faktizität der Schmerzen durchaus ver-träglich, da sie akzeptiert, dass die individuellen res extensae funktional äquivalent sind. Die einzige Abweichung von einem monistischen Ansatz ist, dass Tiere, da sie keine res cogitantes sind, keine Schmerzen erleiden können. Diese kontraintuitive Konsequenz macht den Substanzdualismus eine wenig attraktive Position, da sie ebenfalls kontraintuitive Konsequen-zen für die moralische Behandlung von Tieren hat.

117 Schildknecht 2003. 118 Für eine Explikation des Konzepts der vis-à-vis-Situation vgl. Berger und

Luckmann 1970: 31. Eine ähnliche Ansicht vertritt auch Schütz 1974: 137 ff. Roelcke und Knipper 2000 wenden diese phänomenologische Betrach-tungsweise auf die Thematik von Schmerz und Krankheit an.

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• Der occasionalistische Materialismus:119 Schmerzwahrnehmungen sind Beschreibungen mentaler Zustände, die auf bestimmte neurona-le Zustände oder neurophysiologische Prozesse bezogen sind. Diese kann eine Koinzidenz-, eine Supervenienz-,120 eine Kausal- oder eine Identitätsbeziehung zwischen mentalen und neuronalen Zuständen sein. Die Universalität der Schmerzausdrücke beruht auf der funk-tionalen Äquivalenz der mentalen und der neuronalen Konstitution der Menschen. Die Schrecklichkeit der Schmerzen ist Teil ihres mentalen Aspektes, während physiologische und verhaltensmäßige Reaktionen auf schmerzverursachende Agentien Manifestationen der neuronalen Aktivität sind.

• Der eliminative Materialismus: Schmerzwahrnehmungen sind Be-schreibungen gewisser neuronaler Zustände mit Hilfe eines „rohen und überkommenen“121 alltagsweltlichen Vokabulars. Von den Prä-

119 Der Occasionalismus ist eine philosophische Theorie, die bis auf die Stoi-

ker und die arabischen mittelalterlichen Philosophen zurückverfolgt wer-den kann. Seine Hauptthese ist, dass keine Substanz in der Welt mit einer anderen Substanz direkt kausal interagieren kann. Die Instantiierung der Substanzen wird allein durch Gott bewirkt, so dass die Substanzen und ih-re Aktivitäten Fälle (Occasionen) göttlichen Handelns sind. Auf die Philo-sophie des Geistes wurde der Occasionalismus zunächst von Louis de la Forge und Arnold Geulincx angewandt und von N. Malebranche in seine reife Form gebracht. Ihre occasionalistischen Theorien behaupteten, dass (die Cartesianisch verstandenen) res cogitantes und res extensae vonein-ander derart getrennt sind, dass weder der Geist auf die Materie einwirken kann noch umgekehrt die Materie auf den Geist. Das Hauptargument dafür war, dass Kausalität nur dann gegeben sein kann, wenn man weiß, dass man etwas getan hat (quod nescis quo modo fit, non facis – wenn man nicht weiß, wie etwas bewerkstelligt wird, dann hat man es nicht getan). Da kein individueller Geist weiß, wie er es schafft, den mit ihm assoziier-ten Körper zu bewegen, kann er folglich diese Bewegung nicht verursacht haben. Geister sind reine Beobachter körperlicher Bewegungen, die nur von Gott verursacht werden. Malebranche ging einen Schritt weiter, indem er behauptete, dass auch Wahrnehmungen und Vorstellungen von Gott in den Geist hineinprojiziert werden. Ich verwende hier den Ausdruck ‚occa-sionalistischer Materialismus‘ statt des häufig verwendeten Ausdrucks ‚Parallelismus‘, um die formale Ähnlichkeit zwischen der occasionalisti-schen Variante des Substanzdualismus und dem Monismus zu betonen, und zwar sowohl in Bezug auf die kategoriale Trennung zwischen neuro-nalen und mentalen Prozessen als auch auf den Umstand, dass beide Be-reiche in einem einheitlichen dritten Bereich eingebettet sind, der für die klassischen Dualisten Gott und für die modernen Monisten die Natur bzw. die physikalische Welt ist.

120 Ich betrachte Davidsons anomalen Monismus als eine Spielart des occa-sionalistischen Materialismus, da er die Identität zwischen Realisaten (to-kens) zweier kategorial verschiedenen Ereignistypen postuliert.

121 Hardcastle 1999: 152.

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missen ausgehend, dass die Bedeutung eines einzelnen sprachlichen Ausdrucks nicht unabhängig vom sprachlichen Kontext bestimmt werden kann und dass die Bedeutung deskriptiver Ausdrücke stets in einem „theoriegeladenen“ präsuppositionalen Rahmen eingebettet ist, behauptet der eliminative Materialismus, dass unser alltagswelt-liches mentales Vokabular, dessen Teil die Schmerzausdrücke sind, eine primitive Theorie ist, eine Art von „Volkspsychologie“, die sich inzwischen als falsch erwiesen hat.122 Die einzige Theorie, die bis dato mentale Phänomene korrekt beschreibt, ist die Neurophysiolo-gie. Die alltagsweltlichen Schmerzausdrücke werden letztendlich verschwinden, da sie entweder im neurophysiologischen Sinne be-deutungslos oder mit wissenschaftlichen Beschreibungen schmerzre-levanter neuronaler Zustände synonym sind. Da alle alltagsweltli-chen mentalen Ausdrücke dieser falschen volkspsychologischen Theorie angehören, werden sich die negativen Gefühle, die Schmerzempfindungen begleiten, entweder als neuronale Zustände oder ebenfalls als bedeutungslos erweisen – Schmerzen werden so-mit ihre Schrecklichkeit nach und nach verlieren. Die Objektivität des Schmerzes resultiert in der eliminativ-materialistischen Sicht ausschließlich aus der funktionalen Äquivalenz der menschlichen Nervensysteme.

Trotz der Detailunterschiede zwischen diesen Ansätzen bezüglich des exakten ontologischen Status von Schmerzen und der epistemischen Haltungen, die wir ihnen gegenüber einnehmen können, behandeln alle drei die Schmerzphänomene rein deskriptivistisch. Die Folge ist die ka-tegoriale Trennung von „Schmerz als Tatsache“ und „Schmerz als einem Fall von Sollen“, oder in meiner Terminologie die Trennung des fakti-schen vom moralischen Schmerz.123 Auch wenn der ontologische und epistemische Status des faktischen Schmerzes nicht endgültig geklärt ist, über den moralischen Schmerz scheint Einigkeit zu bestehen: Faktische Schmerzen sind schrecklich, deshalb wird das vorsätzliche Verursachen von Schmerzen und die vorsätzliche Unterlassung von Schritten zu ihrer Linderung normalerweise nicht nur als moralisch verwerflich, sondern in einigen Fällen als eine schwere Straftat bewertet. Das Aushalten von Schmerzen wird nur dann toleriert, wenn es entweder keine Möglichkeit gibt, sie zu vermeiden, oder wenn ihre Eliminierung schwerere gesund-heitliche Folgen nach sich zieht als das Hinnehmen einer bestimmten

122 Churchland 1981; Hardcastle 1999. 123 Diesbezüglich gibt es keinen Unterschied zwischen Materialismus und

Cartesianischem Substanzdualismus.

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Schmerzintensität – wie z. B. in manchen Fällen der Zahnbehandlung oder bei der Versorgung von leichten Verletzungen. Das vorsätzliche Verursachen von Schmerzen für nicht heilungsrelevante Zwecke und ih-re generelle Androhung ist in den meisten Ländern der Welt strengstens verboten.

Die kategoriale Trennung des faktischen vom moralischen Aspekt des Schmerzes lässt jedoch die Frage nach ihrer Verbindung aufkom-men: Wieso wissen wir, dass das, was wir weder verursachen noch tole-rieren dürfen, identisch ist mit dem, was wir als Schmerz identifizieren und beschreiben? Welche Aspekte am Verhalten Anderer lassen uns er-kennen, dass sie an Schmerzen leiden? Warum leiden wir überhaupt, wenn wir Schmerzen wahrnehmen? Worin besteht der Unterschied zwi-schen Schmerzen und anderen unangenehmen Gefühlen wie Kitzeln oder Jucken? Sind nur Lebewesen, die mit einem Nervensystem ausge-stattet sind, zu Schmerzwahrnehmungen fähig? Warum würden wir die Vivisektion eines Wurms, aber nicht die eines Hundes zulassen?

Ein Monist könnte die Verbindung zwischen den beiden Aspekten des Schmerzes als konventionell erklären: Da Schmerzen von einer gro-ßen Mehrheit der Menschen als unangenehm empfunden werden (die wenigen Masochisten werden allgemein als recht verquer angesehen), ist im Laufe der Menschheitsgeschichte eine (zunächst implizite) Konven-tion zustande gekommen, die Schmerzen als etwas zu Vermeidendes er-klärt und die im Laufe des zivilisatorischen Prozesses den Menschen auch bewusst geworden ist. Unabhängig von den partikulären Rekon-struktionen dieser Konvention – als Koordination von Überzeugungen, Intentionen und Verhaltensweisen im Sinne Lewis’124 oder als eine Form expliziter Übereinkunft im Sinne des Kontraktualismus –, löst eine derartige Erklärung das eigentliche Problem nicht, sondern verschiebt es auf die Bestimmung des Gegenstandes dieser Konvention, nämlich auf die Umstände oder die Phänomene, die den Bereich des faktischen Schmerzes ausmachen. Dieses Desideratum kann nicht durch eine medi-zinische oder neurophysiologische Erklärung des Schmerzes ersetzt werden, da auch diese Erklärungen sich auf alltägliche Schmerzerfah-rungen als ihre Erklärungsinstanzen zu beziehen haben. Die Bemerkung der Eliminativisten, dass bis zum Aufkommen der Neurophysiologie die Leute einfach falschen Meinungen über ihre aktuelle Situation nachhin-gen, die unter dem Titel ‚Schmerz‘ zusammengefasst waren, hilft uns hier nicht weiter, denn indem man die Schmerzen und unsere Haltungen ihnen gegenüber zu neuronalen Zuständen erklärt, kollabiert der Unter-schied zwischen faktischem und moralischem Schmerz.

124 Lewis, Convention.

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Um moralische Schmerzen als das Resultat einer wie auch immer gearteten Konvention zur Haltung gegenüber faktischen Schmerzen zu erklären, ist es darüber hinaus nötig, die faktischen Schmerzen von ihren Trägern abzutrennen, d. h., somatische Schmerzen als etwas von dem jeweiligen darunter leidenden Subjekt Unabhängiges zu behandeln. Nur so können wir nämlich einen Gegenstand konstituieren, über den eine Konvention etabliert wird. Sonst würden sich Schmerzkonventionen auf einzelne Verhaltensmuster einzelner Individuen beziehen, eine ziemlich kontraintuitive Vorstellung von Schmerzen. Die Trennung des Schmer-zes von seinem „Träger“ ist jedoch unmöglich, da der von einem Sub-jekt wahrgenommene Schmerz weder etwas Externes ist, das über das Subjekt „hereinbricht“, noch eine Eigenschaft seines Körpers. Der Schmerz ist vielmehr ein Zustand des Subjektes. Ich kann weder meinen Schmerz abgeben, noch kann ich den Schmerz einer anderen Person übernehmen. Ich kann auch nicht meinen Schmerz mit dem Schmerz meines Nachbarn vergleichen, so wie ich etwa mein Körpergewicht mit seinem vergleichen kann, und ich kann auch nicht den Schmerz meines Nachbarn beobachten, so wie ich seine Gesichtszüge beobachten kann: Den Schmerz meines Nachbarn kann ich nur solange beobachten, solan-ge er darunter leidet, seine Gesichtszüge hingegen sind beobachtbar, auch wenn er sich dieser Beobachtung nicht bewusst ist, z. B. wenn er schläft oder sogar auch dann, wenn er abwesend ist – man kann auch ein Foto seines Gesichtes machen und es in seiner Abwesenheit studieren. Materialisten beider Provenienz würden vielleicht an dieser Stelle ein-wenden, dass es uns mittlerweile durchaus gelungen ist, Bilder des akti-ven nozizeptiven Systems zu erhalten,125 so dass Schmerz inzwischen unabhängig von seinem Träger beobachtet werden kann. Sie übersehen dabei jedoch, dass eine derartige Beobachtung stets von der Person, die unter Schmerzen leidet, glaubhaft bestätigt werden muss, dass also eine Person nicht gezwungen werden kann, die aus der Beobachtung ihres aktiven nozizeptiven Systems gefolgerte Diagnose zu akzeptieren, dass sie unter Schmerzen leidet. Die Beobachtung der reinen neuronalen no-zizeptiven Aktivität kann die Aussage einer Person nicht widerlegen, dass sie zu jenem Zeitpunkt keine Schmerzen verspürt. Da es nun aus begrifflichen Gründen nicht möglich ist, eine objektive Bestimmung des Schmerzes zu geben, wird es klar, dass die moralische Behandlung von Schmerzen kein Ergebnis einer Vereinbarung oder einer Konvention im herkömmlichen Sinn dieser Wörter sein kann.

Eine mögliche Strategie, die Konventionaltheorie zu retten, könnte darin bestehen, alles, was die Leute als faktischen Schmerz betrachten,

125 Hardcastle 1999: 109 ff.

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auch als moralischen Schmerz zu akzeptieren, sei dies eine körperliche Wahrnehmung, ein neuronaler Zustand oder was auch immer. Dies wür-de jedoch eine Situation ergeben, die durch Wittgensteins „Käfer in der Schachtel“-Allegorie recht treffend beschrieben wird:

„Angenommen, es hätte Jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir “Kä-fer” nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Andern schaun; und Jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. – Da könnte es ja sein, daß Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, daß sich ein solches Ding fortwährend veränderte. – Aber wenn nun das Wort “Käfer” dieser Leute doch einen Gebrauch hätte? – So wä-re er nicht der der Bezeichnung eines Dings. Das Ding in der Schachtel gehört überhaupt nicht zum Sprachspiel; auch nicht einmal als ein Etwas: denn die Schachtel könnte auch leer sein.“ 126

Wittgenstein zeigt hier, dass die Auffassung einer rein deskriptiven Be-deutung kollabiert, wenn sie auf etwas angewendet wird, das auf Grund seines Wesens nicht reifiziert werden kann. Wenn man diese Überle-gungen auf den somatischen Schmerz anwendet, dann ergibt sich fol-gende Alternative:

Auf Grund der Unmöglichkeit, faktische Schmerzen zu reifizieren, führt die Annahme, faktischer Schmerz sei die primär existierende Enti-tät und moralischer Schmerz eine Konvention darüber, zu einem Kollaps beider Konzepte. Die Konventions-Theorie wird somit obsolet.

Wenn wir die Existenz faktischer Schmerzen leugnen, aber trotzdem darauf bestehen, dass moralischer Schmerz ein sinnvolles Konzept ist, dann wird letzterer von jeglicher Faktizität unabhängig – eine rein kon-tingente moralische Haltung gegenüber einer disparaten Mannigfaltig-keit von Verhaltensweisen und medizinischen Befunden, die zufälliger-weise das gleiche Etikett tragen.

Wenn wir der zweiten Auffassung folgen, dann können wir den mo-ralischen Schmerz nicht mehr als das Ergebnis einer Konvention begrei-fen, sondern vielmehr als ein soziales Konstrukt, das durch schiere so-ziale Macht installiert und aufrechterhalten wird.127 Der Schmerz wird

126 Wittgenstein, PU: §293. 127 Die „Soziale Macht“ ist nach M. Foucault der entscheidende Faktor, der

das Vorherrschen einer spezifischen historischen Haltung gegenüber ei-nem sozialen Phänomen bestimmt. In seinen soziohistorischen Arbeiten versucht Foucault diese These zu belegen, indem er zeigt, wie das Ver-ständnis und der Umgang mit sozialen Anomalien wie Strafe, Krankheit, geistige Störung und Schmerz sich fundamental im Laufe der historischen Entwicklung der westeuropäischen Gesellschaften veränderte. Speziell in Bezug auf Schmerz demonstriert dies Foucault in den einleitenden Seiten

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dadurch zu einer rein moralischen Kategorie ohne exaktes Korrelat in der materiellen Welt. Die Leute leiden unter Schmerzen nur, wenn ihre Wahrnehmungen, ihr Verhalten oder ihre Körperzustande der Norm des moralischen Schmerzes entsprechen, die in ihrer sozialen Umgebung gültig ist und durchgesetzt wird. Schmerz ist somit keine auf Grund sei-ner Faktizität universelle Kategorie, er bleibt jedoch eine homogene En-tität, zumindest im Geltungsbereich der jeweiligen Norm. Was sind je-doch die Kriterien, die diese Norm ausmachen? Wie können wir zwi-schen jemandem unterscheiden, der bloß Schmerzen simuliert, und je-mandem, der tatsächlich darunter leidet? Wer setzt diese Norm durch und warum wird sie akzeptiert? Was könnte einen bösartigen Inquisitor davon abhalten zu behaupten, dass – gemäß der Schmerzensnorm seiner Organisation – die Leute in seinem Folterkeller nicht unter der Folter leiden, sondern nur, weil sie seelisch noch nicht darauf eingerichtet wor-den sind, die Wahrheit zu sagen? Was passiert, wenn jemand der Schmerzensnorm nicht entsprechen kann? Gibt es eine Möglichkeit, ihr zu widersprechen, sie zu unterminieren, zu erweitern oder Alternativen durchzusetzen? Sollten wir darauf verzichten, unseren Schmerz auszu-drücken und Hilfe zu verlangen, nur weil unser Verhalten nicht in den Skopus der Schmerzensnorm einer fremden sozialen Umgebung fällt? Und wie sollten wir Leute behandeln, die unsere Schmerzensnorm nicht teilen und Tiere, die sie ja nicht einmal begreifen können? Spüren Tiere deshalb auch keine Schmerzen?

Unsere Überlegungen haben uns bisher gezeigt, dass die Auffassung, der Schmerz sei ein homogenes Phänomen der faktischen Welt, dazu führt, entweder die Bedeutung sowohl des faktischen als auch des mora-lischen Aspektes von Schmerzen aufzulösen, oder den faktischen Aspekt des Schmerzes abzulehnen und den moralischen Schmerz zum einzig sinnvollen Schmerzkonzept zu erklären – ein Konzept, das allerdings nur im Rahmen einer konkreten sozialen Umgebung anwendbar ist.

von Überwachen und Strafen (Foucault 1994), wo er den Hinrichtungsbe-richt des Prinzen Damien zitiert, welcher im Jahr 1747 seinen Vater und König von Frankreich getötet hat. Während der Exekution, die mehrere Stunden dauerte und verschiedene Torturen umfasste, hat der Delinquent, um der Rettung seiner Seele Willen, alle Schmerzen tapfer ertragen und sogar seine Henker aufgefordert, ihr Werk fortzusetzen – eine Haltung, die von den Zeugen und den Richtern positiv gewertet wurde. Foucault be-hauptet, dass sowohl der Delinquent als auch seine Peiniger keine andere Wahl hatten, als die soziale Macht der Idee zu akzeptieren, dass diese Form der Bestrafung nicht grausam und brutal war, sondern die einzige Möglichkeit, die Sünde des Vater- und Königsmords zu sühnen. Beide Parteien haben ihre erwarteten Rollen in einem ausgeglichenen sozialen Drama gespielt.

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Schmerz als formale Ent i tät

Beide skizzierten Perspektiven sind höchst unbefriedigend, denn sie wi-dersprechen unserer alltäglichen Intuition, dass Schmerzen zugleich ein Faktum und eine moralische Angelegenheit, und dass sie auch – trotz kultureller „Anpassungen“ – etwas Universelles sind. Die erörterten Probleme ergeben sich aus der kategorialen Trennung des faktischen vom moralischen Schmerz, die auf der Vorstellung beruht, dass nur die Beschreibbarkeit in einer reinen Beobachtungssprache das entscheiden-de Merkmal einer faktischen und objektiven Entität ist, und dass die normative bzw. die moralische Bewertung etwas ist, das in einem zwei-ten Schritt auf die normfreie Beschreibung hinzuaddiert oder ihr aufge-drückt werden kann. Dies mag gelten für Dinge wie Steine, Autos oder Vögel, aber es gilt nicht für Schmerzen: Reden über Schmerzen beinhal-tet stets normative Elemente einschließlich kulturell überlieferter Regeln und Ansichten darüber, was als Schmerz zu gelten hat und was nicht, und Regeln, die es uns erlauben, unsere subjektiven Wahrnehmungen mit den Schmerzkonzepten unserer jeweiligen kulturellen Umgebung abzugleichen.

Der Bereich des Schmerzes kann mit dem Bereich der Gerechtigkeit verglichen werden: Gerechtigkeit ist ein universelles Konzept in dem Sinne, dass jede Kultur über Gerechtigkeitsvorstellungen verfügt. Auf der „materialen“ Ebene hingegen ist das, was als „gerecht“ ausgezeich-net wird, nicht in jedem Fall und in jeder Kultur dasselbe. Die gerechte Beilegung eines Grenzstreits zwischen zwei Landbesitzern ist von der gerechten Beilegung eines Diebstahls verschieden. Im ersten Fall könnte eine gerechte Beilegung darin bestehen, dass der Richter die Grenze der Grundstücke in die Mitte zwischen beiden Besitztümern legt und somit die eine der beiden Parteien zwingt, etwas Land an die andere ab-zugeben. Wenn man aber das gleiche Verfahren in Falle eines Dieb-stahls anwenden würde, wäre dies eine höchst ungerechte Angelegen-heit. Die Gerechtigkeit verlangt hier, dass der Dieb das gesamte gestoh-lene Eigentum an den rechtmäßigen Besitzer zurückgibt und zusätzlich eine Strafe hinnimmt. Die Gerechtigkeit erschöpft sich aber nicht in der einseitigen Durchsetzung der sozial akzeptierten Sicht der Dinge gegen den Einzelnen. Die Legitimität des Gerichtshofes und der Urteils muss vom Beklagten akzeptiert werden, der das Recht auf Einspruch hat. Al-lerdings könnte die gerechte Behandlung der hier geschilderten Beispie-le in anderen Kulturkreisen anders ausfallen bis zum Punkt, dass es ei-nem Europäer schwer fallen würde zu erkennen, worin ihre Gerechtig-keit besteht. Unsere Erfahrung mit Gerechtigkeit zeigt, dass „gerecht sein“ keine materiale, sondern eine formale Eigenschaft ist. Eine forma-

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le Eigenschaft zu sein, bedeutet, dass wir zu ihrer Bestimmung über kei-ne festen empirischen und deskriptiven Kriterien verfügen, sondern dass wir stets normative Kriterien heranziehen müssen – Konzepte, Ideale, Regeln, Gebräuche usw. „X ist gerecht“ ist weder eine Proposition noch eine wahre Beschreibung einer Tatsache, sondern eine angemessene Evaluation einer Situation.

Trotz aller Unterschiede zwischen Gerechtigkeit und Schmerz kann dieser ebenfalls als eine formale Entität angesehen werden, die auf ver-schiedene materiale Weisen realisiert wird. Gemäß dieser Analogie ha-ben Schmerzäußerungen den Charakter von bewertenden Urteilen und nicht von propositionalen Beschreibungen. Sie sind in gewisser Hinsicht weder wahr noch falsch, sondern angemessen oder unangemessen, rich-tig oder unrichtig, je nach den Umständen und dem Kontext, in dem sie ausgesprochen werden. Ein Beispiel dieses komplexen Sachverhaltes ist die Schmerzsozialisation von Kindern. Sie müssen lernen, dass nicht je-des kleine Unbehagen die Bezeichnung Schmerz verdient. Beklagt sich ein Kleinkind über Schmerzen in einer Situation, die nach Ansicht der Erwachsenen bloß eine „schmerzlose Berührung“ war, so wird es erfah-ren, dass man in einer derartigen Situation nicht „es tut weh“ sagen darf.128 Natürlich gibt es Ausnahmen und unklare Situationen und auch ein „Einspruchsrecht“: Wenn z. B. das Kleinkind darauf besteht, dass eine normalerweise schmerzlose Berührung trotzdem bei ihm Schmer-zen verursacht, dann sollte man doch einen Arzt aufsuchen. Noch beun-ruhigender ist jedoch der umgekehrte Fall der Unempfindlichkeit gegen-über Schmerzen. Wenn alle vernünftigen Erklärungen nicht mehr grei-fen, müssen wir annehmen, dass die betreffende Person entweder am be-reits erwähnten kongenitalen Schmerzunempfindlichkeitssyndrom leidet oder die Regeln des Schmerzvokabulars nicht beherrscht, wobei diese Regeln nicht bloß Sprachregeln im engeren Sinne sind, sondern auch nichtverbale Ausdrücke, Gesten, Grimassen und sonstige Verhaltens-elemente enthalten.

Schmerzäußerungen haben den Charakter von bewertenden Urteilen. Als solche können sie angemessen oder unangemessen sein, ein Um- 128 Dieses Lernen beginnt bereits in der Phase der präverbalen Kommunikati-

on zwischen Eltern und Babies in einem Prozess, der von Bråten 1998 als „alterzentrische Partizipation“ oder als „intersubjektive Abstimmung im triangulären Subjekt-Subjekt-Format“ (Bråten 2003) beschrieben worden ist. Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Kommunikationsform keine bloße Konditionierung, sondern der Beginn einer kooperativen Tätigkeit zwischen Eltern und Baby ist. So lernt ein neugeborenes menschliches Wesen bereits in seinen ersten Lebenstagen die Welt auszudifferenzieren, und zwar vermittels der Haltungen ihr gegenüber, die es mit seiner Familie teilt.

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stand, der sich in der Anerkennung derartiger Äußerungen durch den Anderen und in ihrer Reaktion darauf zeigt. Ihre Angemessenheit vari-iert darüber hinaus in Abhängigkeit von den konkreten Umständen ähn-lich wie die Angemessenheit von gerichtlichen Urteilen: Auch wenn zwei Leute dasselbe Verbrechen begangen haben, erhalten sie nicht au-tomatisch dasselbe Strafmaß. Es gibt eine Vielzahl von Faktoren, die be-rücksichtigt werden müssen, so dass jedes Urteil einzigartig und auf je-den einzelnen Angeklagten „maßgeschneidert“ ist.

Selbstverständlich fällen wir im Fall von Schmerz keine Urteile im juristischen Sinne und unser Schmerzvokabular beruht nicht auf einem Begriffssystem, das durch einen politischen Akt installiert worden ist. Trotzdem unterscheiden wir zwischen verschiedenen Bedingungen und Umständen, so dass unsere Haltungen bezüglich des Ausdrückens von Schmerzen nicht uniform sind. Dies kann sehr schön an Hand der Be-ziehung zwischen Schmerzen und Leiden demonstriert werden: Nicht jedem Schmerz wird dasselbe Maß an Leiden zugeschrieben und auch nicht jeder Schmerz wird mit Leiden verbunden. Äußerungen z. B., dass jemand unter Zahnschmerzen, Migräne, rheumatischen oder Verlet-zungsschmerzen leidet, gelten unter normalen Bedingungen als völlig angemessen und werden auch als solche akzeptiert. Derartige Schmer-zen berechtigen zum Leiden und zum uneingeschränkten Ausdrücken des Leidens und verpflichten uns, dem Leidenden gegenüber unser Mit-gefühl auszudrücken und alles, was in unserer Macht steht, zu tun, um ihn von seinen Leiden zu erlösen. Im Falle von Wehen sind die „Lei-densberechtigung“ und die Pflicht, Abhilfe zu leisten, jedoch „schwä-cher“, in dem Sinne, dass während des Gebärens eine gewisse Schmerz-intensität als eine vollkommen normale Nebenerscheinung angesehen wird. Eine Frau in Wehen wird nicht bemitleidet, noch würde sie ihre Si-tuation normalerweise so beschreiben. Das bedeutet natürlich weder, dass der Geburtsprozess sowohl die werdende Mutter als auch das Neu-geborene nicht physisch stark beansprucht, noch kann es ausgeschlossen werden, dass irgend etwas dabei schief gehen kann, so dass der die Ge-burt begleitende Schmerz unerträglich wird und eine sofortige ärztliche Intervention notwendig macht. Noch „schwächer“ ist die Leidensberech-tigung für jemanden, der die Schmerzen heilender Wunden wahrnimmt. Manchmal verabreichen Ärzte in solchen Fällen Schmerzmittel, aber sie müssen es nicht tun und sie tun es auch nicht, solange der Schmerz in einem erträglichen Rahmen bleibt.

Es gibt aber auch Fälle, wo Schmerzen und Leiden anscheinend sich gegenseitig ausschließen: Ein Masochist z. B. kann nicht unter dem erlit-tenen Schmerz leiden, denn er ist für ihn eine Quelle der Lust. Ein christlicher Märtyrer erträgt alle Qual mit Freude (wenigstens in der

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Überlieferung), vergibt seinen Folterern und bezeugt dadurch die Güte und Allmacht Gottes. Masochisten und Märtyrer repräsentieren zugege-benermaßen nicht den Normalfall der Schmerzwahrnehmung, doch das Wichtige ist, dass wir sie in unser Schmerzkonzept integrieren können. Wir sind andererseits sehr überrascht, wenn wir hören, dass in manchen Teilen der Welt die Leute Gebräuche praktizieren, die unserer Auffas-sung nach sehr schmerzhaft sein müssten, ohne jedoch dabei irgendein Schmerzverhalten an den Tag zu legen und ohne den Eindruck zu ma-chen, ein derartiges Verhalten zu unterdrücken. Dazu gehören das „Ha-kenschwingen“ in manchen Regionen Indiens, bei dem ein Feiernder an Stahlhaken frei aufgehängt wird, die an seinem Rücken angebracht wer-den,129 und die Anastenaria, ein Tanz auf glühenden Kohlen aus Nord-griechenland.130 Die Überraschung über solche Berichte beruht auf der Tatsache, dass diese Praktiken nicht in unseren alltäglichen Vorstellun-gen von Schmerzen enthalten sind, auch wenn sie – wenigstens was die Anastenaria betrifft – in unserer Nachbarschaft vorkommen. Der durch-schnittliche Grieche ist übrigens über die Unverletzbarkeit der Anastena-ria-Tänzer genauso überrascht wie der durchschnittliche West-Europäer.

Der Urteilscharakter von Schmerzäußerungen zeigt sich auch auf der Ebene der individuellen Erfahrung. In einer Studie aus dem Jahre 1959 erklärten auf dem Felde verletzte Soldaten, dass ihre Wunden weniger schmerzhaft oder sogar schmerzlos waren, im Gegensatz zu Aussagen von Zivilisten, die ähnliche Verletzungen erlitten hatten. Diese „soldati-sche“ Haltung Schmerzen gegenüber galt aber interessanterweise nicht für Verletzungen wie Injektionsstiche.131 Wir müssen uns aber keinen 129 Melzack 1973: 22. 130 Dieser Tanz wird in zwei nordgriechischen Dörfern jährlich im Januar und

März zelebriert. Nach einer Nacht der Meditation und des Gebets begin-nen die Tänzer am nächsten Morgen um das Feuer zu tanzen, wobei sie die Ikonen der Heiligen Konstantin und Helena tragen. Nach einigen Stunden betritt ihr Anführer die Glut gefolgt von den übrigen. Sie tanzen auf der Glut in einem Trancezustand bis diese erlischt und die Aschen sich abkühlen. Die Tänzer erleiden dabei weder Verbrennungen, noch verspü-ren sie irgendwelche Schmerzen.

131 Vgl. Beecher 1959. Der Autor dieser Studie betont, dass die verletzten Soldaten nicht im Schockzustand waren, der ihre Unempfindlichkeit Schmerzen gegenüber erklären könnte. Derartige Phänomene werden heu-te durch den Verweis auf die so genannten Endorphine erklärt, körperei-gene Stresshormone, die eine opiatähnliche Wirkung haben. Ein Materia-list könnte die Endorphin-Theorie als Argument gegen den Urteilscharak-ter von Schmerzaussagen verwenden (vgl. Hardcastle 1999: 140), da die-ser Mechanismus anscheinend automatisch in Stresssituationen ausgelöst wird. Das Problem ist jedoch, dass die Charakterisierung einer Situation als „sehr risikoreich“ selbst ein bewertendes Urteil ist, das von vielen in-dividuellen und sozialen Faktoren beeinflusst wird. So bleibt die Endor-

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größeren Gefahren aussetzen, um festzustellen, dass wir die Schmerz-haftigkeit einer Situation nicht auf eine einheitliche Weise beurteilen: Leute mit einer Abneigung gegen Injektionen fühlen mitunter den Stich-schmerz, ehe die Kanüle ihre Haut durchdringt; wir können unter Um-ständen Schmerzen ignorieren, wir können sie simulieren und wir haben manchmal Probleme, den Betriebsarzt davon zu überzeugen, dass wir keine Schmerzen simulieren, um einen arbeitsfreien Tag zu bekommen.

Gegen die hier skizzierte Theorie, dass Schmerzäußerungen Urteils-charakter haben, könnte man einwenden, dass sie die Tatsache außer Acht lässt, dass Schmerzen stets von bestimmten basalen Verhaltens-weisen begleitet werden wie dem Fluchtreflex, dem Jammern und schmerzspezifischen Körperhaltungen, welche bei allen höheren Wirbel-tieren anzutreffen sind. Es kann nicht verleugnet werden, dass Schmer-zen mit Reflexen verbunden sind; doch diese Assoziation beruht – wie jede schmerzbezogene Körperreaktion – auf der Bestimmung dessen, was als Schmerz gilt, und nicht andersherum. Dieselben Typen von Re-flexen sind auch mit anderen Empfindungen assoziiert, z. B. mit Furcht, oder sie zeigen sich auch, wenn wir überrascht oder in tiefer Trauer sind.

Wären übrigens Schmerzen bloß eine Art von Reflexen, dann wäre Folter kein selbständiges Verbrechen, sonders höchstens eine Form von Einschüchterung. Kein Folterer jedoch verursacht bloß Reflexe bei sei-nen Opfern, nicht einmal die am härtesten Gesottenen dieser Zunft wür-den ihre Tätigkeit so beschreiben. Folterer verursachen Schmerzen, weil sie wollen, dass ihre Opfer leiden. Wären Schmerzen bloße Reflexe, dann müssten auch Operationspatienten nicht anästhetisiert werden, eine einfache Unterbindung der Muskelaktivität würde ausreichen.132

Gemäß der hier vorgestellten „Urteilstheorie des Schmerzes“ ist so-wohl der faktische Aspekt des Schmerzes mit dem moralischen verwo-ben als auch der individuelle mit dem sozialen. Schmerzäußerungen be-ziehen sich nicht auf einen einheitlichen Bereich körperlicher und neu-ronaler Zustände, sondern auf ein plurales Netz von individuellen Hal-tungen, kulturspezifischen Regeln, Normen, und Sprachspielen, die durch eine Wittgensteinianische „Familienähnlichkeit“ miteinander ver-knüpft sind.133 In diesem Beziehungsgeflecht ist Platz sowohl für die kulturspezifischen Normen, die den Rahmen für angemessene Schmerz-

phin-Theorie eine gute Erklärung für bestimmte Schmerzphänomene, sie erklärt uns aber nicht das Wesen des Schmerzes.

132 Verdauungstrakt- und Herzoperationen erfordern die Stilllegung der Mus-kelaktivität, was durch lokale Verabreichung von Curare-ähnlichen Dro-gen bewerkstelligt wird.

133 Wittgenstein, PU: §67.

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urteile festlegen, als auch für die „Autorität der ersten Person“ des Indi-viduums, das stets diesen Rahmen anfechten und verschieben kann.

Die „Urteilstheorie des Schmerzes“ verleugnet und übersieht jedoch nicht die Bedeutung des „materialen Fundaments“ der Schmerzen, näm-lich das Nervensystem mit seinen spezialisierten Nozizeptoren und dem neuronalen Apparat, der mit der Verarbeitung ihrer Signale beschäftigt ist. Im Gegensatz zu deskriptivistischen und empiristischen Theorien je-doch betrachtet sie die Funktion dieses Apparates (d. h. seine Reaktion auf Schmerzstimuli) nicht als die Ursache der Schmerzwahrnehmung, sondern seine Fehlfunktion als die Ursache von spezifischen Störungen dieser Wahrnehmung. Mit anderen Worten, die Funktion des nozizepti-ven Nervensystems ist nur eine notwendige Bedingung der Schmerz-wahrnehmung und nicht ihre alleinige Ursache.

Ausbl ick

Die „Urteilstheorie des Schmerzes“ ermöglicht es uns zu verstehen, wie ein kulturübergreifender Konsens über den Schmerz erreicht werden kann trotz der Tatsache, dass jede Person in einer partikulären sozialen Umgebung mit ihren partikulären Schmerznormen und -regeln auf-wächst, ohne auf irgendwelche „Sozialmacht“-Theorien oder die angeb-liche Überlegenheit der westlichen Welt zurückgreifen zu müssen. Weil Schmerz auch innerhalb eines jeden kulturellen Kontextes durch das Zu-sammenspiel von individuellen und gemeinschaftlichen Haltungen kon-stituiert wird, sind wir stets in der Lage, unsere Schmerzkonzepte durch die Integration fremder Haltungen zu erweitern, und wir sind auch in der Lage, Argumente bereit zu stellen, die Mitglieder anderer Kulturen überzeugen können, unsere Auffassung vom Schmerzen zu akzeptieren. Die Tatsache, dass in der heutigen Welt niemand gezwungen ist, in Be-zug auf Schmerzen derartige kulturelle Barrieren zu überwinden, ist ein Zeichen für den Fortschritt auf dem Felde der Etablierung einer univer-sellen Schmerzkultur.

Andererseits ermöglicht die „Urteilstheorie des Schmerzes“ die Auf-stellung einer breit akzeptierten Schmerzontologie für medizinische Zwecke durch die Integration neurophysiologischer Entdeckungen in ei-ne erweiterte Theorie des Schmerzes. Als eine strikt geregelte und hoch-standardisierte weltweit anerkannte Praxis kann die moderne Medizin eine Umgebung „konstanter Haltung“ gegenüber Schmerzen bereitstel-len, die diese Aufgabe durchführbar macht. Selbstverständlich wird eine derartige Ontologie eine ebenenreiche hierarchische Struktur aufwei-

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sen.134 Gleichzeitig wird sie unscharfe Grenzen haben, da die moderne Medizin nicht in jeder Kultur auf dieselbe Art und Weise integriert ist.

Schließlich kann die „Urteilstheorie des Schmerzes“ das Fundament für ein besseres Verständnis der Schmerzwahrnehmungen von Tieren ohne jegliche neurophysiologische Metaphysik bereitstellen. Denn ge-mäß der Urteilstheorie ist die Angemessenheit der Zuschreibung von Schmerzen an Tieren von der Intensität ihrer Interaktion mit uns und von der Stärke unserer Bande mit ihnen abhängig. Es ist deshalb nicht überraschend, dass wir für die Schmerzen von Tieren, die eng mit uns zusammenleben und an unserem Leben mehr oder weniger teilnehmen, empfindlicher sind. Es ist aber auch nicht überraschend, dass wir Schwierigkeiten haben, den Schmerz von Tieren wahrzunehmen, mit denen wir unseren Lebensraum nicht teilen, und zwar unabhängig von ihrer Artzugehörigkeit. Das Gebot, Grausamkeit gegen Tiere zu vermei-den, beruht somit nicht allein auf unserem Mitleid und unserer Sympa-thie mit Kreaturen, die ähnliche Schmerzverhaltensmuster aufweisen, sondern – im Sinne Kants135 – in einem großen Maße auch auf der Tat-sache, dass wir Grausamkeit als etwas betrachten, das zu Verrohung des menschlichen Charakters führt.

134 Für ein Beispiel vgl. Smith and Rosse 2004. 135 Kant, MS: §17.

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Die Welt der Person und ihre Grenzen

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Der Begriff der Lebenswelt

Einlei tung

Eines der Grundpostulate der methodischen Wissenschaftsphilosophie in den Traditionen der „Erlanger Schule“ und des „Methodischen Kultura-lismus“136 ist, dass die Rekonstruktion der Fachsprache, sei es einer Formal-, einer Natur- oder einer Kulturwissenschaft, bei der jeweiligen lebensweltlichen Basis der jeweiligen Wissenschaft ihren methodischen Anfang zu suchen hat. Unter ‚lebensweltlicher Basis‘ versteht man Pra-xen, d. h. regelmäßige, regelgeleitete und personeninvariant aktualisierte Handlungszusammenhänge.137 Sie sind Bestandteil einer gegebenen „Lebenswelt“ und versorgen die jeweilige Wissenschaft mit Gegenstän-den, Zwecken, Handlungen und Werkzeugen, damit sie ihrer Aufgabe gerecht wird, nämlich ebendiese Praxen theoretisch zu stützen. Die im Rahmen dieser lebensweltlichen Basis gesetzten Zwecke, die zu ihrer Erreichung ausgeführten Handlungen und die dabei geprägten Wörter werden somit als ein vom Rekonstruktor nicht mehr hintergehbares le-bensweltliches Apriori angesehen,138 das das Begründungsfundament seiner Bemühungen bildet.

Soll jedoch dieses lebensweltliche Apriori mehr als eine begrün-dungstheoretische „Barrera“ sein – jene hölzerne Wand, die dem Stier-kämpfer zeitweiligen Schutz vor dem rasenden Stier bietet –, muss die lebensweltliche Basis einer Wissenschaft so bestimmt werden, dass sie zur operationalen, handlungsvermittelten Fundierung des gegebenen Fachvokabulars und zur Aufstellung von generellen und universellen Geltungskriterien gereichen kann, aber trotzdem nicht auf ein bestimm-

136 Vgl. dazu Hartmann und Janich 1996. 137 Hartmann und Janich 1996: 37. 138 Mittelstraß 1991.

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tes historisch gewachsenes Vokabular und auf die faktisch vorfindlichen Geltungskriterien dieser Wissenschaft „maßgeschneidert“ ist. Voraus-setzung einer im obigen Sinne gelungenen Eingrenzung der lebenswelt-lichen Basis ist somit die Klärung und terminologische Fixierung des Ausdrucks ‚Lebenswelt‘ bzw. ‚lebensweltlich‘ und die Klärung des Ver-hältnisses zwischen den Begriffen ‚lebensweltlich‘ und ‚vorgefunden‘ und zwischen ‚Lebenswelt‘, ‚Gegenwart‘, ‚Vergangenheit‘ und ‚Zu-kunft‘.

Lebenswelt -Konzepte

Zur Klärung dieser Probleme werden wir uns zunächst mit einigen phi-losophiehistorisch überlieferten Lebenswelt-Konzepten befassen, wobei wir selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Die Auswahl der im folgenden vorzustellenden Konzepte erfolgte vielmehr auf Grund ihrer Relevanz für den von uns im 3. Abschnitt dieses Bei-trags erarbeiteten Lebensweltbegriff und stellt daher keinen Versuch ei-ner „Begriffsgeschichte der Lebenswelt“ dar.

Ansätze zur Unterscheidung vorwissenschaftlicher und wissen-schaftlicher Erfahrungszusammenhänge lassen sich schon bei älteren Autoren (Kant, Schopenhauer, Nietzsche, Dilthey, Scheler, Avenarius) feststellen, die teilweise in Konzepten „profaner Weltbegriffe“ ihren Niederschlag fanden139. Locus classicus für die philosophische Beschäf-tigung mit dem Begriff der Lebenswelt ist jedoch die 1936 erschienene so genannte Krisisschrift von E. Husserl. Von der Diagnose motiviert, dass die „positivistische Tatsachenwissenschaft” seiner Zeit sich in einer Krise befindet,140 weil sie „in unserer [...] Lebensnot [...] uns nichts zu sagen [hat]“,141 versucht er den Nachweis zu erbringen, dass das rationa-le „europäische Menschentum“

139 für eine systematische Darstellung s. Welter 1986 140 Auch Husserl befasste sich mit dem Problem der Lebenswelt nicht erst in

der „Krisisschrift“. Sie war ihm ein „Anliegen, das Husserl sowohl unter verschiedenen Problemperspektiven als auch unter verschiedenen >Pro-blemtiteln< in seiner ganzen phänomenologischen Arbeit immer mitge-führt hat“ (Welter 1986: 41).

141 Husserl: „In unserer Lebensnot [...] hat diese Wissenschaft uns nichts zu sagen. Gerade die Fragen schließt sie prinzipiell aus, die für den in unse-ren unseligen Zeiten den schicksalvollsten Umwälzungen preisgegebenen Menschen die brennenden sind: die Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins“ (Husserl, KR: 4).

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„eine absolute Idee in sich trägt und nicht ein bloßer empirischer anthropologi-scher Typus ist wie „China“ oder „Indien“; und wieder, ob das Schauspiel der Europäisierung aller fremden Menschheiten in sich das Walten eines absoluten Sinnes bekundet, zum Sinn der Welt gehörig, und nicht zu einem historischen Unsinn derselben“.142

Der Weg zur Erreichung seines Zieles beginnt für Husserl damit, dass alle Wissenschaften auf „der Selbstverständlichkeit der Lebenswelt [aufbauen], indem sie von ihr her das für ihre jeweiligen Zwecke jeweils Nötige sich zunutze machen“. Diese Lebenswelt bestimmt er als

„die raumzeitliche Welt der Dinge, so wie wir sie in unserem vor- und außer-wissenschaftlichen Leben erfahren und über die erfahrenen hinaus als erfahr-bar wissen. Wir haben einen Welthorizont als Horizont möglicher Dingerfah-rung. Dinge: das sind Steine, Tiere, Pflanzen, auch Menschen und menschli-che Gebilde; aber alles ist da subjektiv-relativ, obschon wir normalerweise in unserer Erfahrung und in dem sozialen Kreis, der mit uns in Lebensgemein-schaften verbunden, zu „sicheren“ Tatsachen kommen [...]. Aber wenn wir in einen fremden Verkehrskreis verschlagen werden, [...] dann stoßen wir darauf, daß ihre Wahrheiten, die für sie feststehenden allgemein bewährten uns zu bewährenden Tatsachen, keineswegs die unseren sind“.143

Damit das Ziel der Wissenschaften, eine “für alle Subjekte unbedingt gültige Wahrheit über die Objekte [herzustellen], ausgehend von dem, worin normale Europäer, normale Hindus, Chinesen usw. bei aller Rela-tivität doch zusammenstimmen”, erreicht wird, muss die Lebenswelt so bestimmt werden, dass sie trotz ihrer Relativität eine allgemeine Struktur aufweist:

„Vorwissenschaftlich ist die Welt schon raumzeitliche Welt; freilich ist hin-sichtlich dieser Raumzeitlichkeit von idealen mathematischen Punkten, von „reinen“ Geraden [...], von der zum Sinn des geometrischen Apriori gehörigen „Exaktheit“ keine Rede. Die lebensweltlich uns wohlvertrauten Körper sind wirkliche Körper, aber nicht Körper der Physik. Ebenso steht es mit der Kau-salität, mit der raumzeitlichen Unendlichkeit. Das Kategoriale der Lebenswelt hat den gleichen Namen, aber kümmert sich sozusagen nicht um die theoreti-schen Idealisierungen und hypothetischen Substrukturen der Geometer und Physiker.“.144

142 Husserl, KR: 14. 143 Husserl, KR: 141. 144 Husserl, KR: 142.

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Der Husserlsche Lebensweltbegriff lässt sich nach dieser Darstellung145 als ein Prädikator rekonstruieren, der „Ansammlungen von Dingen“ be-schreibt, die bereits in „konstanten Relationen“ zueinander stehen, so dass sie vom objektivierenden Wissenschaftler von ihrem „kulturellen Ballast“ befreit und zu „wissenschaftlichen Wahrheiten“ hochstilisiert werden können. Es steht somit für ihn fest, dass Wissenschaft eine Kul-turleistung ist, die auf einem vorwissenschaftlichem Kulturfundament steht.

Die Sicherstellung des wissenschaftlichen Erfolges ist jedoch keine Kulturleistung mehr: Der Aufbau der Wissenschaft aus der Lebenswelt ist die Leistung eines – jedem menschlichen Individuum innewohnenden – „transzendentalen Ego“, das – mittels der ihm eigenen „Anschauung“ und seiner „Erlebnisse“ – den „Bewußtseinskreis“ des jeweiligen Indivi-duums sukzessive auf umliegende Dinge, die „Eigenwahrnehmung“, an-dere Individuen und zuletzt auf die mit diesen Individuen geteilte Le-benswelt ausdehnt.146 Die Bewußtseinsstufe des „transzendentalen Ego“ 145 Diese Interpretation ist nicht die einzige: Welter (1986: 77) listet sechs

verschiedene Auffassungen der Husserlschen Lebenswelt auf, die von ver-schiedenen Autoren stammen. Sie reichen von der Auffassung Lebenswelt sei „die konkrete Welt, in der wir leben“, über die Feststellung, L. sei „nur indirekt zugänglich auf dem Umweg über eine spezifische Methode der »Rückbesinnung«“ bis hin zur Behauptung, sie sei „die historische Um-welt menschlicher Gruppen vor dem Entstehen einer wissenschaftlichen theoria“ (Welter 1986: 77). Diese Vielfalt der Interpretationen wird be-günstigt durch den Umstand einer vielbeklagten fehlenden terminologi-schen Disziplin bei Husserl selbst (Welter 1986: 41, Fußn. 2). Dennoch bewegen sich alle diese Interpretationen im Rahmen einer engen Rekon-struktion von ‚Lebenswelt‘ als Prädikator zur Beschreibung der vorwis-senschaftlich „vorhandenen“ Welt.

146 Husserl:

„Als [...] völlig „uninteressierter“ Betrachter der Welt, rein als der subjektiv-relativen Welt (derjenigen, in der unser gesamtes alltägliches Gemeinschaftsleben, Sichmühen, Sorgen, Leisten sich abspielt), halten wir nun eine naive Umschau, immer darauf aus, nicht ihr Sein und Sosein zu erforschen, sondern, was immer als seiend und soseiend galt und uns fortgilt, unter dem Gesichtspunkt zu betrachten wie es subjektiv gilt, in welchem Aussehen usw. Zum Beispiel, da sind die jeweili-gen einzelnen Dinge der Erfahrung; ich fasse irgendeines davon ins Auge. Es wahrnehmen, [...] ist ein sehr Mannigfaltiges; es sehen, es tasten, es riechen, es hö-ren usw., und in jedem habe ich Verschiedenes. [...] [D]as reine Sehen, das Sicht-bare „vom“ Ding, ist zunächst seine Oberfläche, und dieses sehe ich im Wandel des Sehens einmal von dieser „Seite“ und einmal von jener. [...] Jede Seite gibt mit etwas vom Sehding. Im kontinuierlichen Wandel des Sehens hört eben die gesehe-nen Seite zwar auf, wirklich noch gesehen zu sei, aber sie wird „behalten“ und mit den von früher fortbehaltenen „zusammengenommen“, und so „lerne“ ich das Ding „kennen“ (Husserl, KR: 160).

[...] Wir hatten bisher den Blick gerichtet auf die Mannigfaltigkeiten der Seitendar-stellungen eines und desselben Dinges und auf den Wandel der Nah-

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wird durch das Husserlsche Verfahren der „transzendentalen Reduktion“ oder „radikalen Epoché“ erreicht, d. h. durch das bewusste In-Zweifel-Stellen aller „objektiven“ Geltungsansprüche, ohne jedoch die Lebens-welt in ihrer Totalität zu negieren.147

Warum das durch die Epoché „enthüllte“ Ego einen transzendenta-len Charakter hat, nach welchen Kriterien dann das „Abgleichen“ der Einzelwahrnehmungen erfolgt und die „Intersubjektivität“ von Aussagen über die Welt sichergestellt wird, woher die Wörter für diese „Verge-meinschaftung“ kommen, mit anderen Worten, wie der methodische An-fang einer Wissenschaftssprache zu gestalten ist, darauf gibt Husserl kei-ne Antwort.148 Für eine methodische Rekonstruktion im Sinne des Er-langer und des Marburger Programms ist somit der Husserlsche Le-bensweltbegriff zu eng und sein monadologischer149 Aufbau derselben unbrauchbar. Er scheint nämlich dem Umstand wenig Bedeutung beizumessen, dass die Menschen ihre „Lebenswelt“ nicht als autarke In-dividuen betreten und erst später auf andere Individuen zugehen, son-dern dass sie stets in Gemeinschaften und Praxiszusammenhängen ein-gebettet sind, wozu auch die Wissenschaften gehören. Praxiszusammen-

Fernperspektiven. Wir merken bald, daß diese Darstellungssysteme „von“ zurück-bezogen sind auf korrelative Mannigfaltigkeiten von kinästhetischen Verläufen, die den eigentümlichen Charakter des „Ich tue“, „Ich bewege“ [...]. Die Kinästhesen sind unterschieden von den sich körperlich darstellenden Leibbewegungen und sind doch eigentümlich mit ihnen eins, gehören dem eigenen Leib in dieser Dop-pelseitigkeit [...] zu. Fragen wir nach diesem „Zugehören“, so merken wir, daß je-weils „mein Leib“ besondere weitreichende Beschreibungen fordert, daß er seine besonderen Eigentümlichkeiten hat in der Weise, sich in Mannigfaltigkeiten darzu-stellen (Husserl, KR: 164).

[...] Doch anstatt in der Sphäre unserer eigenen Anschauungen weiter zu forschen, richten wir unsere Aufmerksamkeit darauf, daß wir in unserem kontinuierlich strömenden Weltwahrnehmen nicht isoliert sind, sondern in diesem zugleich mit anderen Menschen Konnex haben. Jeder hat seine Wahrnehmungen, seine Verge-genwärtigungen, seine Einstimmigkeiten, Entwertungen [...]. Aber im Miteinander-leben kann jeder am Leben der anderen teilhaben. So ist überhaupt die Welt nicht nur seiend für die vereinzelten Menschen, sondern für die Menschengemeinschaft, und zwar schon durch die Vergemeinschaftung des schlicht Wahrnehmungsmäßi-gen“ (Husserl, KR: 166 – typogr. Bes. im Original).

147 Husserl, Ideen: 65 ff. 148 Der phänomenologische Verzicht auf einen methodischen Anfang erfolgt

laut Lorenzen bewußt

„und ist u.a. in dem Diltheyschen Satz zu finden, daß die Erkenntnis nicht hinter das Leben zurückgehen könne. Versteht man unter »Leben« zugleich den Besitz einer natürlichen Sprache, in dem man sich immer schon vorfindet, so erscheint dieser Verzicht notwendig“ (Lorenzen 1974: 41.)

149 Habermas 1981.

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hänge, die darin verfolgten Zwecke, die innerhalb der Gemeinschaften und der Praxen stattfindenden Diskurse über Zwecksetzungen und die Festlegung von Rationalitätsstandards, sind aber bereits Bestandteile dieser „Lebenswelt“, sie sind – wie A. Gurwitsch am Ende seiner Ana-lyse des Zugangsproblems an das Fremdpsychische feststellt – „Modi des Zusammenseins mit Anderen, Modi mitmenschlicher Begegnungen in der Milieuwelt, die dadurch charakterisiert ist, dass wir ihr nicht ge-genüberstehen, sondern in ihr leben“150. Sie sind in jedem Fall nicht die Ergebnisse eines ordnungswilligen „Verstandes“, von denen es sich mit-tels der so genannten „Epoché“ zu distanzieren gilt. Trotz aller Zustim-mung zu Husserls Kritik am Naturalismus und Psychologismus, der schon zu seiner Zeit Ausdruck der von ihm diagnostizierten und – heute teilweise noch verschärften – „Krisis“ der Wissenschaft war, kann die von ihm entwickelte phänomenologische Methode nicht als Ausgangs-punkt einer methodischen Rekonstruktion dienen.

Die auf Husserl aufbauende phänomenologische Tradition hat diesen monadologischen Zugang zu einer ontologisch verstandenen, terminolo-gisch nicht klar umrissenen Lebenswelt beibehalten und in den seit dem Erscheinen der „Krisisschrift“ vergangenen sechzig Jahre nicht klarer herausgearbeitet.151 Der bereits erwähnte A. Gurwitsch hat allerdings ei-nen eigenen Weg eingeschlagen und in seiner postum veröffentlichten Habilitationsschrift152 gezeigt, dass das Miteinanderleben und das Wis-sen um den Anderen innerhalb der von ihm beschriebenen „soziologi-schen Kategorien“153 „Gesellschaft“, „Gemeinschaft“ und „Bund“ der Sphäre des Individuellen methodisch vorausgeht. Seine Überlegungen bauen jedoch auf der von M. Scheler stammenden soziologischen Be-stimmung der Lebenswelt als einer von sozialen Rollen geprägten „Mi-lieuwelt“ auf und sind somit bereits auf eine wissenschaftliche Theorie bezogen.

Eine gewisse Erweiterung stellt die Übernahme des phänomenologi-schen Lebensweltkonzeptes durch den Soziologen A. Schütz und seine Schule (u.a. T. Luckmann und P.L. Berger) dar. Für Schütz und Luck-mann muss die Soziologie als eine Wissenschaft zur Deutung und Erklä-rung des menschlichen Handelns mit einer Beschreibung der „Grund-strukturen der vorwissenschaftlichen Wirklichkeit beginnen“, die als die

150 Gurwitsch 1977: 219. 151 Welter 1991. 152 Gurwitsch’ origineller Ansatz hat wegen seiner Flucht vor der Nazidikta-

tur und der dadurch bedingten Aufgabe seines Habilitationsprojektes nicht die ihm gebührende Beachtung gefunden.

153 Gurwitsch 1977: 216.

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„alltägliche Lebenswelt“ definiert wird.154 Der Zugang zu dieser Wirk-lichkeit erfolgt zwar im Anschluß an Husserl monadologisch155, doch die alltägliche Lebenswelt wird nicht nur ontologisch erfaßt. Zu ihr ge-hören nicht nur die „erfahrene Natur, sondern auch die Sozial- bzw. Kul-turwelt [...]. Die Lebenswelt besteht nicht erschöpfend aus den bloß ma-teriellen Gegenständen und Ereignissen, denen ich in meiner Umgebung begegne“.156

In einem anderen Werk unterscheiden Berger und Luckmann in der Lebenswelt verschiedene „Ausschnitte“, die mehr oder weniger unpro-blematisch sind, und zwar in dem Grade, in dem sie sich in „meine Rou-tine“ integrieren lassen.157 Der Übergang vom „Unproblematischen“ zum „Problematischen“ ist dabei fließend und die Grenzziehung kontin-gent. Praxen, sowohl poietische als auch politische oder künstlerische – wie das Theater –, und auch die Wissenschaften bilden darin klar umris-sene „Sinnprovinzen“. Ein weiteres Merkmal der Lebenswelt nach Ber-ger und Luckmann ist ihre räumliche und zeitliche Vorstrukturiertheit: Es gibt einen „Raum“ und eine „Zeit“, an der die Individuen via ihrer physiologisch-organismischen Konstitution teilhaben.158

Die Erweiterung des Schütz/Luckmann/Bergerschen Lebenswelt-konzeptes gegenüber der Phänomenologie Husserls besteht in der aus-drücklichen Einbeziehung der Sprache als Bestandteil und Konstituti-onsmittel der Lebenswelt. Dies geschieht in mehreren Schritten: Zu-nächst wird die gegenseitige “Begreifbarkeit” der Individuen mittels „Objektivationen“, d. h. durch den symbolischen Gebrauch von Dingen oder Handlungen, hergestellt. Subjektive Empfindungen in einer Situati-on der unmittelbaren gegenseitigen Wahrnehmung („Vis-à-vis-Situation“) werden durch „Ausdrucks-Objektivationen“, d. h. durch Ge- 154 Schütz und Luckmann 1988: 25. 155 Schütz und Luckmann 1988: 25.

„Unter alltäglicher Lebenswelt soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Men-schenverstandes als schlicht gegeben vorfindet.“

156 Schütz und Luckmann 1988: 28. 157 Berger und Luckmann 1970: 26. 158 Berger und Luckmann 1970: 29.

„Jedes Individuum ist sich des Flusses seiner Zeit bewußt, welcher eng mit den physiologischen Rhythmen seines Organismus verbunden ist, wenngleich er mit diesen nicht etwa identisch ist. [...] Die Alltagswelt [Lebenswelt b. Berger und Luckmann – NP] hat ihre eigene Standardzeit. Diese ist intersubjektiv zugänglich. Die Standardzeit kann als der Schnittpunkt der kosmischen Zeit mit ihrem gesell-schaftlich etablierten Kalender aufgefaßt werden. Hier treffen die zeitlichen Se-quenzen der Natur und der inneren Zeit zusammen“ (typogr. Bes. im Original).

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sten, Mienenspiel oder Körperstellung, mitgeteilt. Ihr „Überdauern“ über die „Vis-à-vis-Situation“ hinaus erfolgt über die symbolische Verwen-dung von Dingen oder Handlungen. Als „höchste Form“ einer „konser-vierenden“ Handlungs-Objektivation wird schließlich die Sprache einge-führt: Mittels ihrer Hilfe können die Gegenstände der Alltagswelt be-schrieben, klassifiziert, “Grade gesellschaftlicher Intimität” differenziert und ein Wissensvorrat über diese Alltagswelt angehäuft werden.

„Sprache gründet in der Vis-à-vis-Situation, kann aber leicht von ihr abgelöst werden, und zwar nicht nur, weil ich im Dunkel oder aus der Ferne rufen kann, am Telefon und im Radio zu sprechen und Sprache in Schrift zu übertragen vermag. [...] Die Ablösbarkeit der Sprache gründet tiefer, nämlich in der Fä-higkeit, Sinn, Bedeutung, Meinung zu vermitteln, die nicht direkter Ausdruck des Subjektes “hier und jetzt” sind. [...] Weil Sprache die Kraft hat, das “Hier und Jetzt” zu transzendieren, überbrückt sie die verschiedenen Zonen der All-tagswelt und integriert sie zu einem sinnhaften Ganzen. Durch Sprache kann ich die Kluft zwischen der Zone meiner Handhabung und der des Anderen überbrücken. Ich kann die Sequenzen meiner Lebenszeit mit denen der seinen abstimmen. Ich kann schließlich mit ihm über Individuen und Gruppen reden, mit denen wir keinerlei Vis-à-vis-Interaktion haben“.159

Auch wenn Schütz, Berger und Luckmann durch den Einbezug der Sprache gegenüber Husserl einen Schritt weiter vorangekommen sind, krankt ihr Lebenswelt-Konzept an den gleichen Unzulänglichkeiten wie das phänomenologische. Es bleibt beim prädikativen Charakter des Ausdrucks ‚Lebenswelt’ – auch wenn es über die Beschreibung von Dingen und Ereignissen auch Handlungen und Situationen umfaßt –, und es bleibt beim methodischen Primat des Individuums vor der Ge-meinschaft. Der Gewinn durch den Einbezug der Sprache wird durch die Reduktion ihrer Funktion auf die „Intersubjektivierung“ von individuel-len Empfindungen – gemäß der Definition von ‚Objektivation’ – ver-spielt. Universelle Geltungskriterien für das „Wissen“, sowohl für das alltägliche als auch für das wissenschaftliche, werden gar nicht erst ge-sucht, sondern zum Bestandteil von „Sinnprovinzen“ erklärt.

Obwohl das Projekt von Berger und Luckmann kein philosophisches ist, ist ihr auf Schütz zurückgehendes Lebenswelt-Konzept aus zwei Gründen von philosophischem Interesse: Erstens ist ihr darauf beruhen-des Anliegen der Rekonstruktion der sozialen „Wirklichkeit“ als Produkt der lebensweltlichen sozialen Interaktionen von Individuen von den nachfolgenden „Sozialkonstruktivisten“ auf die Rekonstruktion der Gel-tungskriterien wissenschaftlicher Aussagen im selben Sinne ausgedehnt 159 Berger und Luckmann 1970: 39 - 41.

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worden. Zweitens stellt dieses Konzept den Ausgangspunkt für die Aus-arbeitung des „kommunikationstheoretischen“ Lebenswelt-Konzeptes von Habermas.

Habermas diagnostiziert am phänomenologischen Lebenswelt-Konzept von Schütz, Luckmann und Berger160 die bereits beschriebenen Probleme des monadologischen Aufbaus einer ontologisch verstandenen Lebenswelt. Seiner Auffassung nach ist dieses Konzept „kulturalistisch verkürzt“,161 d. h. es reduziert Lebenswelt auf soziale Interaktionen au-tonom agierender Individuen und bedient sich der

„kulturellen Deutungs-, Wert- und Ausdrucksmesser als Ressourcen für die Verständigungsleistungen von Interaktionsteilnehmern, die eine gemeinsame Situationsdefinition aushandeln und in deren Rahmen einen Konsens über et-was in einer Welt herbeiführen möchten“ .162

Das „kulturalistisch“ (besser: soziologistisch) verkürzte Lebenswelt-Konzept übersieht den Umstand, dass diese Individuen unentrinnbar in einer kollektiven kommunikativen Alltagspraxis eingebettet sind. Sein „Reparaturvorschlag“ läuft darauf hinaus, Lebenswelt als „Komplemen-tärbegriff“ zum kommunikativen Handeln einzuführen. Dies geschieht dadurch, daß die Lebenswelt als „das intuitiv gegenwärtige, insofern vertraute und transparente, zugleich unübersehbare Netz von Präsuppo-sitionen“ definiert wird, die „erfüllt sein müssen, damit eine aktuelle Äußerung überhaupt sinnvoll ist, d. h. gültig oder ungültig sein kann“.163 Eine kommunikative Handlungssituation, etwa die Erteilung des Auf-trags vom ältesten Arbeiter in einer Baukolonne an den jüngsten Kolle-gen, zum Frühstück Bier zu holen, kann nur dann gelingen, wenn alle Teilnehmer einige Umstände im voraus als „unhinterfragbar“ und „rele-vant“ betrachten. Dazu gehört z. B. das Recht des Ältesten, dem Jüng-sten derartige „Befehle“ zu erteilen, die Gewohnheit im Baugewerbe, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Frühstückspause einzulegen, aber auch der Umstand, daß ein Kiosk in der Nähe vorhanden ist oder daß ein Auto zur Verfügung steht. Zu diesem „Netz der Präsuppositionen“ gehö-ren sowohl die Sprache als auch die Kultur:

„Die Kommunikationsteilnehmer bewegen sich, indem sie eine Sprechhand-lung ausführen oder verstehen, so sehr innerhalb ihrer Sprache, daß sie eine

160 Er bezieht sich dabei allerdings ausschließlich auf die Arbeit von Schütz

und Luckmann (1. Auflage 1979). 161 Habermas 1981: 201. 162 Habermas 1981: 203. 163 Habermas 1981: 199.

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aktuelle Äußerung nicht als “etwas Intersubjektives” in der Weise vor sich bringen können, wie sie ein Ereignis als etwas Objektives erfahren, wie sie ei-ner Verhaltenserwartung als etwas Normativem begegnen oder einen Wunsch, ein Gefühl als etwas Subjektives erleben bzw. zuschreiben. Das Medium der Verständigung verharrt in einer eigentümlichen Halbtranszendenz. Solange die Kommunikationsteilnehmer ihre performative Einstellung beibehalten, bleibt die aktuell benutzte Sprache in ihrem Rücken. Ihr gegenüber können die Sprecher keine extramundane Stellung einnehmen. Dasselbe gilt für die kultu-rellen Deutungsmuster, die in dieser Sprache tradiert werden“.164

Die „Komplementarität“ zwischen kommunikativem Handeln und Le-benswelt-Konzept nach Habermas besteht darin, dass zwischen „den kommunikativen Handlungsvorgängen der kulturellen Reproduktion, der sozialen Integration und der Sozialisation“ und den „strukturellen Kom-ponenten der Lebenswelt Kultur, Gesellschaft und Person“ eine Entspre-chung hergestellt wird:

„Kultur nenne ich den Wissensvorrat, aus dem sich die Kommunikationsteil-nehmer, indem sie sich über die Welt verständigen, mit Interpretationen ver-sorgen. Gesellschaft nenne ich die legitimen Ordnungen, über die Kommuni-kationsteilnehmer ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen regeln und damit Solidarität sichern. Unter Persönlichkeit verstehe ich die Kompetenzen, die ein Subjekt sprach- und handlungsfähig machen, also instandsetzen, an Verständi-gungsprozessen teilzunehmen und dabei die eigene Identität zu behaupten“.165

Im Gegensatz zur monadologischen Konstitution der Lebenswelt bei den Phänomenologen vollzieht sie sich bei Habermas innerhalb eines Kol-lektivs „konzertiert“ handelnder Individuen, die zur Koordination ihrer Handlungen sich der Mittel der Sprache bedienen und diese Handlungen vor dem Hintergrund gemeinsamer „Präsuppositionen“ durchführen. Die Ausdrücke ‚Lebenswelt‘, ‚Kultur‘ und ‚Gesellschaft‘ werden dabei nicht mehr wie bei den Phänomenologen als Prädikatoren einer Objektspra-che, sondern in einem reflektierenden Sinne verwendet. Es geht bei Ha-bermas nicht mehr um eine Beschreibung eines wie auch immer gearte-ten fundamentalen Zustandes, sondern um das Auffinden von „Bedin-gungen der Möglichkeit“ kommunikativen Handelns in einer primär gemeinschaftlich erschlossenen und – sowohl von den Kollektiven als auch von den Individuen – vorgefundenen Welt. Dieses für den metho-dischen Kulturalisten durchaus verlockende Lebenswelt-Konzept bedarf jedoch der weiteren Präzisierung, besonders bezüglich der semantischen

164 Habermas 1981: 190. 165 Habermas 1981: 209.

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Funktion der Ausdrücke ‚Lebenswelt’, und ‚Kultur’, soll es auch für die Zwecke einer methodischen Rekonstruktion von Nutzen sein. Habermas formuliert nämlich keine Relevanzkriterien für die „Präsuppositionen“, die die jeweils „aktuelle“ Lebenswelt bilden, für den „Wissensvorrat“, der die Kultur ausmacht, und er sagt auch nicht, wie man „legitime“ von „illegitimen“ Ordnungen unterscheiden kann. Das Fehlen derartiger Re-levanzkriterien mag für die Theorie des kommunikativen Handelns ohne Konsequenzen sein, für die Auszeichnung eines bestimmten Ausschnit-tes der „Lebenswelt“ als Basis für die methodische Rekonstruktion einer Fachsprache – sei sie die Sprache einer streng regelgeleiteten Praxis166 oder einer normativ fundierten Wissenschaft – ist es jedoch von großer Bedeutung. Darüber hinaus beschränkt sich Habermas auf den Bereich der Sprache: ‚Lebenswelt‘ bezieht sich auf Äußerungen, und die daraus abgeleiteten Begriffe ‚Kultur‘ und ‚Gesellschaft‘ beziehen sich jeweils auf Aussagen und Normen.

In ähnlicher Weise wie Habermas siedelt J. Mittelstraß die Rede über das „Lebensweltliche“ nicht in der Objektsprache einer phänome-nologischen Ontologie, sondern in der metasprachlichen Ebene an. Im Gegensatz aber zu ihm geht es Mittelstraß nicht um die Gewinnung all-gemeingültiger Richtlinien für das gesellschaftliche Zusammenleben, sondern um Festlegung eines begründungstheoretischen Anfangspunktes für die methodische Rekonstruktion einer wissenschaftlichen Theorie:

„Das lebensweltliche Apriori im begründungstheoretischen Sinne impliziert [...] keine ausgearbeitete [ontologische – NP] Theorie der Lebenswelt. Gesucht sind vielmehr lediglich diejenigen vortheoretischen Elemente, die im Sinne ei-nes methodischen Aufbaus als apriorische Voraussetzungen in die Theorien-bildung [...] eingehen bzw. als solche rekonstruierbar sind. Rekonstruierbarkeit wird dabei nicht als etwas Beliebiges verstanden, etwas, was man tut oder läßt, sondern als etwas, das sich als ein methodisches Postulat gegenüber Sprach- und Wissenschaftskonstruktionen formulieren läßt. Anders ausgedrückt: Maß-gebend für die Ausarbeitung eines lebensweltlichen Apriori in theoretischen Fundierungszusammenhängen ist allein die [...] Einsicht, daß unsere wissen-schaftlichen Konstruktionen [...] auf elementaren Orientierungen basieren, die durch die Konstruktionen selbst nicht begründet werden können, die also in methodischer Weise nicht hintergehbar sind. [...] Was in einem wissenschafts-theoretisch relevanten Sinne zur Lebenswelt gehört, fördert daher auch nicht eine Philosophie der Lebenswelt, die sich auch noch als Ontologie zu verste-hen sucht, zutage, sondern die wissenschaftstheoretische Arbeit selbst insofern

166 Als ‚streng regelgeleitete Praxen‘ werden hier Praxen wie die Rechtspre-

chung, die parlamentarische Beratung oder die Arbeit einer Ethikkommis-sion verstanden.

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sie der Idee eines begründeten oder methodischen Aufbaus der Theorienbil-dung folgt. Man könnte auch sagen, daß sich das lebensweltliche Fundament der Theorienbildung in dieser selbst „zeigt“ [...], nicht aber in einer phänome-nologischen Analyse der Lebenswelt, die von sich aus gar nicht deutlich zu machen vermag, was hier für den begründeten Aufbau wissenschaftlicher Theorie und Empirie relevant ist [...].“167

Wie in der Einleitung bemerkt, erscheint die Mittelstraßsche Definition des „Lebensweltlichen“ einerseits als vage, andererseits aber als zirku-lär: Vage ist sie, weil außer dem Verweis auf die allgemeine Fähigkeit der Menschen zu handeln, Unterscheidungen zu treffen und ihr Handeln und Unterscheiden mittels Sprache zu organisieren und mitzuteilen, kei-ne weiteren Anhaltspunkte enthält, die die Differenzierung des „Le-bensweltlichen“ von dem schlicht „Vorgefundenen“ ermöglichen. Jede Praxis erfordert eine gewisse Unterscheidungs- und Fertigungsfähigkeit, ohne dass dies bedeutet, dass jede beliebige Praxis das methodische Fundament für die Rekonstruktion jeder beliebigen Theorie hergeben kann. Sie ist darüber hinaus zirkulär, weil laut Mittelstraß das partikulare lebensweltliche Fundament einer Theorie, das ihren begründungstheore-tischen Ausgangspunkt darstellt, zugleich Resultat der wissenschafts-theoretischen Arbeit sein soll. Ein weiteres Problem ist, dass Mittelstraß im Falle der Rekonstruktion empirischer Theorien stets dem lebenswelt-lichen Apriori ein auf diesem basierendes messtheoretisches Apriori fol-gen lässt. Dadurch sollen „die Maßstäbe für die die Objektivität einer messenden (empirischen) Theorie sichernden Messverfahren zur Verfü-gung gestellt werden“.168 Es ist allerdings so, dass nicht jede empirische Theorie im selben Ausmaß und im selben fundamentalen Sinne auf Messungen angewiesen ist wie die Mittelstraß als Vorbild dienende Physik, was man am Beispiel der Chemie, der Zoologie und anderer Biowissenschaften ersehen kann.

Lebenswelt a ls Ti te lwort

Die methodische Rekonstruktion einer Wissenschaft findet jedoch stets vor dem Hintergrund von spezifischen vortheoretischen Konsensen in den verschiedenen Praxen statt, zu deren Stützung die jeweilige Wissen-schaft entwickelt worden ist. Jeder vortheoretische Konsens enthält so-wohl sprachliche als auch nichtsprachliche Bestandteile – Äußerungen und Dinge, Zwecke, Handlungen und Prozesse – und markiert mehr oder 167 Mittelstraß 1991: 137. 168 Mittelstraß 1991: 138.

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weniger klar einen Ausschnitt aus der erlebten Welt. Als erlebte Welt soll dabei die Gesamtheit der Dinge, Ereignisse und Prozesse bezeichnet werden, denen die Menschen gemeinschaftlich und individuell in der Gegenwart ausgesetzt sind und mit denen sie umgehen. Zu der erlebten Welt der durchschnittlichen Europäer gehören somit undifferenziert u.a. der gelegentlich am Abendhimmel zu erblickende Mond, die vielfältigen individuellen familiären, sozialen und beruflichen Verhältnisse eines je-den, das Vorhandensein von Nationen und die Nachrichten von Krisen, wissenschaftlichen Durchbrüchen und merkwürdigen Bauten in entfern-ten Teilen der Erde.

Nicht alle vorgefundenen Bestandteile einer Praxis stehen jedoch in Wechselwirkung mit einer Wissenschaft: Die Chemie z. B. hat einige Methoden und Zwecke der Färberpraxis übernommen und trägt ihrer-seits zur Verbesserung dieser Methoden und zur Entwicklung neuer für das Färben relevanter Stoffe bei. Eine eventuell vorhandene besondere soziale, ökonomische oder verfahrenstechnische Organisation dieser Praxis ist aber für die Chemie ohne Relevanz und sie kann nichts zu ih-rer theoretischen Stützung in diesen Aspekten beitragen. Ist eine diesbe-zügliche Verbesserung erwünscht, so müssen sich die Färber an eine an-dere Sozial- oder Technikwissenschaft wenden oder die Hilfe einer streng regelgeleiteten Praxis in Anspruch nehmen. Diejenigen vorgefun-denen Bestandteile einer Praxis, die in Wechselwirkung mit einer gege-benen Wissenschaft oder streng regelgeleiteten Praxis treten, wollen wir als lebensweltlich bezüglich dieser Wissenschaft oder streng regelgelei-teten Praxis nennen.

Durch diese Definition wird klar, dass das Zusprechen des Prädika-tors ‚lebensweltlich‘ erst im Rahmen der Rekonstruktion der jeweiligen Wissenschaft geschieht. ‚Lebensweltlich‘ kann somit nicht unmittelbar imperativ, exemplarisch oder operational, sondern als Ergebnis der Re-flexion über die Anfänge der Rekonstruktion eingeführt werden. Man kann dann in „objektivierender“ Weise über diesen offenen Bereich le-bensweltlicher Elemente einer gegebenen Praxis reden, indem man das Titelwort ‚Lebenswelt‘ einführt und von der Lebenswelt des den prä-diskursiven oder präaktiven Konsens der Praxis teilenden Kollektivs spricht (Konsens-Kollektiv). ‚Lebenswelt‘ ist im Übrigen nicht das ein-zige Titelwort: Andere Aspekte und Beziehungen der erlebten Bestand-teile der Welt lassen sich unter den Titelwörtern ‚Raum‘, ‚Zeit‘169 oder ‚Substanz‘170 subsumieren. Aus der Einführung des Prädikators ‚le-bensweltlich‘ bzw. des Titelwortes ‚Lebenswelt‘ resultiert folgendes:

169 S. dazu Janich 1974, 1981, 1989. 170 S. dazu Psarros 1996.

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Die Prädikatoren ‚lebensweltlich‘ und ‚erlebt‘ sind nicht umfangs-gleich, vielmehr besteht zwischen ihnen folgende Beziehung: Alles Le-bensweltliche ist erlebt, aber nicht alles Erlebte ist lebensweltlich.

Das kompetente Zusprechen des Prädikators ‚lebensweltlich‘ kann grundsätzlich nur aus der Teilnehmerperspektive erfolgen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass man ein „Fachmann“ sein muss, um über die je-weilige Lebenswelt eines Kollektivs mitreden bzw. sie mitgestalten zu können. Die Beteiligung an einer Praxis kann auf verschiedene Weise erfolgen und in verschiedenen Graden ausgeprägt sein. Es reicht, dass der potentielle Teilnehmer bezüglich des betrachteten Konsenses über eine gewisse „praktische Subjektivität“ verfügt.171 J. Habermas z. B. muss nicht im westdeutschen Bauwesen gearbeitet haben, um die le-bensweltlichen Gepflogenheiten innerhalb einer Baukolonne kompetent beschreiben zu können: Vielleicht hat er entsprechende Erfahrungen als Bauherr seines Einfamilienhauses gemacht oder darüber von einem Freund oder einem Verwandten gehört.

Je nach Größe des Konsens-Kollektivs und je nach den partikularen Inhalten des jeweiligen Konsenses gibt es verschieden große Lebenswel-ten, die ineinander verschachtelt sind oder die sich überschneiden. In der Lebenswelt der Bewohner der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union z. B. sind die Lebenswelten der Bewohner der jeweiligen Mitgliedsstaa-ten eingebettet und darin die Lebenswelten der verschiedenen Berufs-gruppen. Andererseits überschneiden sich z. B. die Lebenswelten der Feuerwehrleute und der Briefmarkensammler, weil einige Feuerwehr-leute auch Briefmarkensammler sind, usw.

Da das Zusprechen der Prädikatoren ‚räumlich‘, ‚zeitlich‘ und ‚le-bensweltlich‘ voneinander methodisch unabhängig ist, kann eine gege-bene Lebenswelt auch Gegenstände umfassen, die miteinander und zu den Mitgliedern des Konsens-Kollektivs in verschiedenen räumlichen und zeitlichen Beziehungen stehen: So können vergangene Ereignisse immer noch Bestandteile einer gegebenen Lebenswelt sein. In den Sü-den der USA eingewanderte Nordstaatler berichten z. B. verblüfft, dass dort „der Bürgerkrieg erst gestern zu Ende gegangen ist“. Ähnliches fin-det man in traditionsbewussten Gemeinschaften, Praxen oder sogar in Familien. Andererseits kann eine Lebenswelt räumlich stark variieren: Die Lebenswelt der am Apollo-Projekt Beteiligten reichte zeitweilig bis zum Erdtrabanten.

171 Gethmann 1993.

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Lebenswelt , Natur , Kultur

Die Bestandteile einer gegebenen Lebenswelt können in einem zweiten Schritt, je nachdem, ob sie das Ergebnis der Handlungen des Konsens-Kollektivs172 sind oder nicht, in künstliche und natürliche unterschieden werden. Auch hier bezieht sich das Zusprechen dieser Prädikatoren nicht auf die diesen Bestandteilen „anhaftenden“ Eigenschaften, sondern auf ihre Beziehung zum handelnden Konsens-Kollektiv: Ein Stadtpark ist als Ergebnis der planerischen und gärtnerischen Tätigkeit der Stadtbe-wohner etwas Künstliches. Das Wachstum der Bäume im Stadtpark hin-gegen ein natürliches Ereignis. Eine Sonnenfinsternis ist ebenfalls ein natürliches Ereignis, das Aufdecken eines Abhörskandals ein künstli-ches. Auch hier erfordert das kompetente Zusprechen der Prädikatoren ‚natürlich‘ und ‚künstlich‘ das Einnehmen der Teilnehmerperspektive. Ein Fremder muss dies erstmals durch Einsozialisation in das Kollektiv lernen. Durch die Unterscheidung in ‚natürlich’ und ‚künstlich‘ „zer-fällt“ die Lebenswelt eines Konsens-Kollektivs in zwei Teilbereiche, die mit den Reflexionstermini ‚Natur‘ und das ‚Künstliche‘173 belegt werden können. Die Bestandteile des Künstlichen können weiter nach Maßgabe dessen, ob sie im Rahmen von Zwecksetzungen oder Zwecksetzungs-diskursen relevant sind oder nicht, in kulturelle und extrakulturelle un-terschieden werden. Somit konstituieren wir innerhalb der Kunst einen Bereich der Kultur und einen Bereich, der den extrakulturellen Rest des Kollektivs umfasst. Die Zugehörigkeit eines Gegenstandes zu einem dieser Bereiche ist ebenfalls nicht immerwährend. Bestandteile des ex-trakulturellen Restes (störende Abfälle, unbeabsichtigte Folgen von Ent-scheidungen und Beschlüssen) können im Konsens-Kollektiv jederzeit thematisiert und somit in den Bereich der Kultur „geholt“ werden. Das Gegenteil kann mit Gegenständen geschehen, an denen das Kollektiv „das Interesse verliert“. Die Abhängigkeitsverhältnisse der Reflexions-termini ‚Lebenswelt‘, ‚Natur‘, ‚Kunst‘, ‚Kultur‘ und ‚extrakultureller Rest‘ können folgendermaßen schematisch dargestellt werden:

172 Darunter sind sowohl die gemeinsamen Handlungen des Kollektivs als

auch die individuellen Handlungen von Mitgliedern des Konsens-Kollektivs zu verstehen, die innerhalb des Konsens-Rahmens und zur Er-reichung der vom kollektiv geteilten Ziele durchgeführt werden.

173 Der Ausdruck ‚das Künstliche‘ wird hier im Sinne des Aristotelischen Be-griffes ‚τέχνη‘ verwendet.

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Für alle diese Begriffe gelten die über den Umfang, die zeitliche und die räumliche Ausdehnung der Lebenswelt gemachten Feststellungen. Ins-besondere für den Kulturbegriff bedeutet dies, dass man nicht von der „Kultur schlechthin“ reden sollte, sondern stets von der Kultur einer Gemeinschaft. Je nachdem, ob diese Gemeinschaft die Organisations-struktur z. B. einer „Gesellschaft“, einer „Berufsgruppe“ oder einer „Fa-milie“ aufweist, können wir von der Lebenswelt bzw. der Kultur dieser „Gesellschaft“, „Berufsgruppe“ oder „Familie“ reden. Und sollte die Organisationsstruktur des Kollektivs die Herausbildung von „Personen“ ermöglichen, kann man katachrestisch auch die „persönliche Lebens-welt“ eines Individuums thematisieren.

Somit kehren wir an den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu-rück, nämlich an die Frage, nach welchen Kriterien die lebensweltliche Basis einer Wissenschaft aus der Mannigfaltigkeit der Praxen abge-grenzt wird. Eine Wissenschaft ist selbst eine Praxis und ebenfalls wie die von ihr zu stützenden Praxen in einer umfassenderen Kultur und ei-ner umfassenderer Lebenswelt eingebettet, nämlich in der Kultur und der Lebenswelt der Gemeinschaft, das die Gemeinschaften der betrach-teten Wissenschaft und der von ihr gestützten Praxen enthält. Das Aus-zeichnen einer lebensweltlichen Basis für diese Wissenschaft bedeutet also definitionsgemäß, die Auswahl derjenigen Praxen aus der gemein-samen Lebenswelt (des übergeordneten Konsens-Kollektivs) vorzuneh-men, die in manchen Aspekten (Gegenstände, Begriffe, Methoden, Werkzeuge usw.) mit der gegebenen Wissenschaft in Wechselwirkung treten. Weil diese Aspekte nicht scharf räumlich und zeitlich abgegrenzt werden können, ist die lebensweltliche Basis einer Wissenschaft nicht auf das „Hier und Jetzt“ ihres Konsens-Kollektivs eingeschränkt, son-dern erstreckt sich sowohl „räumlich“ als auch „zeitlich“, insofern sie „aspektverwandte“ Praxen entfernter Regionen und Kulturkreise und vergangener Zeiten umfasst und für die Aufnahme künftiger Praxen of-fen ist.

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Utopien als Demarkationen des

Menschlichen

Der Zweck utopischer Entwürfe

Utopien sind nicht mit dem Genre des phantastischen Romans oder der Science-Fiction identisch und sie gehören auch nicht zu den historischen Erzählungen und Romanen. Die konkreten ,,Plots“ utopischer Erzählun-gen können sich in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft abspielen. Insofern sie sich allerdings in der Gegenwart des Lesers abspielen, sind sie in einem fernen, von der übrigen Welt schwer zu erreichenden und bisweilen völlig unbekannten Land angesiedelt. Dieser Umstand wird schon im Begriff Utopie angedeutet, der ja ,,Kein Ort“ bedeutet. Utopien sind Beschreibungen fiktiver Gemeinwesen, die sich von ,,normalen“ Gemeinschaften durch die Erhebung eines oder einiger weniger Merk-male zum absoluten Prinzip gemeinschaftlichen Lebens unterscheiden, wobei diese ,,Einseitigkeit“ als besonders positiv oder negativ ausge-zeichnet wird. Im Falle ,,positiver“ Einseitigkeiten wird die betreffende fiktive Gemeinschaft innerhalb der utopischen Erzählung oft als eine Idealgesellschaft (bzw. Idealstaat) bezeichnet, in der es gelungen ist, so die Behauptung des Erzählers oder eines Repräsentanten dieser Ge-meinwesen, das Elend des menschlichen Daseins zu überwinden und ih-ren Mitgliedern ein Leben in ewig währendem Glück zu ermöglichen. Schlechte bzw. negative utopische Gemeinwesen entstehen ebenfalls durch die Verabsolutierung eines Prinzips. Der Grund für diese Verabso-lutierung ist auch hier die Amelioration des menschlichen Lebens, und aus der Sicht der Figuren, die diese Gesellschaftsform verteidigen, ist dieses Ziel erreicht worden. Der Unterschied zwischen positiven und negativen Utopien besteht darin, dass die Lebensumstände in den erste-ren einigen unserer Intuitionen vom guten Leben (zumindest dem An-

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schein nach) entsprechen, während sie in den letzteren diesen Intuitionen offensichtlich widersprechen.

Während negative Utopien als Mahnungen vor bestimmten gesell-schaftlichen Fehlentwicklungen betrachtet werden und in der Regel von ihren Verfassern auch so verstanden werden wollen, sind positive Utopi-en mit dem Nimbus des Modernen, des Progressiven und vielleicht auch des Kreativen umgeben, auch wenn dies von ihren Verfassern nicht be-absichtigt worden war. So wird z. B. bereits die erste utopische Erzäh-lung der Neuzeit und zugleich Namensstifterin des Genres, Thomas Mo-rus’ Utopia, seit ihrem Erscheinen als Verkünderin der Sehnsucht nach Gleichheit in Freiheit apostrophiert. Der Umstand, dass Morus selbst seinem Gesellschaftsentwurf kritisch gegenüber stand und ihn bloß als Anlass für eine Debatte über den Missbrauch des Privateigentums an Land verstanden wissen wollte, wird in Interpretationen dieses Werkes vernachlässigt. Thomas Morus’ Utopia ist freilich nicht das erste Exem-plar dieser Spezies. Als Vorbild des Typus der positiven Utopie kann Sokrates’ Darstellung des idealen Staates in Platons Dialog Politeia an-gesehen werden, auch wenn diese nicht die Form einer fiktiven Erzäh-lung hat, sondern als prosaischer, planmäßiger und rationaler Entwurf eines vermeintlich möglichen Gemeinwesens daher kommt. Die Erzähl-weise Sokrates’ und die Haltung seiner Gesprächspartner zeigen jedoch, dass weder sie noch Sokrates selbst diese Erörterungen für das Pro-gramm oder gar den Verfassungsentwurf eines idealen Staates halten. Die Darstellung des idealen Staates ist eine dem ,,Arbeitsstil“ Sokrates’ gemäße, funktionale Analyse der Idee des Staates. Sokrates vertritt die These, dass ein gut funktionierender Staat einer ,,Klasse“ von Menschen bedarf, die nicht auf die Durchsetzung ihrer Privatinteressen hin arbei-ten, sondern sich um den Staat selbst kümmern, dessen Aufgabe die Si-cherstellung der Eudaimonie seiner Bürger ist. Diese Tätigkeit der Staatsdiener (in Sokrates’ Terminologie: Wächter und Regenten) darf nicht mit einer normalen Berufstätigkeit eines Handwerkers oder Händ-lers verwechselt oder als Aufgabe einer Herrscherfamilie angesehen werden. Politiker sind keine Berufstätigen und kein besonderes Ge-schlecht. Die Beschaffenheit der Politikertätigkeit ist derart, dass letzt-endlich jeder Bürger zugleich Berufstätiger (Poietiker) und Staatsdiener (Praktiker) sein kann bzw. soll, wenn er bereit ist, in seiner Eigenschaft als Politiker auf seine familiären Bindungen und auf die eigene Berei-cherung zu verzichten.

Sowohl die Auswahl des programmatischen Titels für Th. Morus’ Erzählung als auch die Ähnlichkeit der Haltung zwischen ihm und So-krates bzw. Platon bezüglich des geschilderten Gemeinwesens (beide stellen sich die Frage: Wollen wir in einem solchen Staat leben?) weisen

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darauf hin, dass die eigentliche Funktion utopischer Entwürfe keinesfalls die Darstellung von Gemeinschaften ist, in denen man in immerwähren-der Eudaimonie leben könnte bzw. in denen Eudaimonie grundsätzlich ausgeschlossen ist (negative Utopien). Genaueres Hinsehen zeigt näm-lich, dass auch in den so genannten positiven Utopien einschließlich Morus’ Utopia und Platons idealem Staat das Leben durchaus nicht eu-daimonisch ist: Der Morussche Utopier muss nicht nur auf Privateigen-tum an Produktionsmitteln verzichten, was ja tatsächlich die Ursache für allerlei Übel sein kann, sondern auf jedes Privateigentum über den un-mittelbaren momentanen Lebensbedarf hinaus. Zusätzlich kennt er kaum eine Privatsphäre, was aber nicht bedeutet, dass er in die Anonymität der Öffentlichkeit abtauchen kann, denn öffentliches Leben, Theater, Feste u.ä. findet in Utopia kaum statt. Utopia ist der perfekteste Überwa-chungsstaat, der mit den Mitteln des 15. und des 16. Jahrhunderts er-reicht werden kann. Aber auch die Geborgenheit einer festen Bleibe bleibt dem Utopier verwehrt, denn er muss alle zehn Jahre umziehen, damit auch diese letzte Möglichkeit einer Aussonderung im Keim er-stickt wird. Die einzige feste zwischenmenschliche Beziehung ist die Ehe, die aber vorrangig der Reproduktion dient, und die einzige Mög-lichkeit zur Zerstreuung bieten die allabendlichen Mahlzeiten im Kreise einer ,,erweiterten Wohngemeinschaft“, wo ein bisschen musiziert und vorgetragen werden darf. Ansonsten lebt jeder im Grunde für sich allein und hat sein Handeln mit Ausnahme des Ehebruchs nur vor den Staats-instanzen zu verantworten. Ähnlich wenig beneidenswert ist das Leben der platonischen Wächter und Regenten. Ihnen werden sogar die Gefüh-le verwehrt, die mit der Eltern-Kind-Beziehung verbunden sind. Ihre ge-samte Aufmerksamkeit und Loyalität dient dem Staat und den Interessen ihrer Schutzbefohlenen. Der Umstand, dass Platon/Sokrates nicht for-dert, dass allein Eunuchen der Zugang zu dieser Kaste vorbehalten wer-den sollte, weist erneut darauf hin, dass es sich bei der Politeia nicht um den Entwurf eines konkreten Staates handelt, sondern um eine formale Analyse der Struktur einer staatlich organisierten Gesellschaft verbun-den mit der Forderung, dass alle erwachsenen Männer und Frauen sich um die Angelegenheiten des Staates zu kümmern haben und diese Tä-tigkeit nicht mit der Verfolgung ihrer Privatinteressen verwechseln oder gar vermengen dürfen. Diese kurze Untersuchung der beiden prototypi-schen utopischen Erzählungen hat ergeben, dass in beiden keine idealen Staatszustände, sondern notwendige Bedingungen für einen gut funktio-nierenden Staat genannt werden. Platon betont den Unterschied zwi-schen normalen berufstätigen ,,Privatleuten“ und staatsdienenden Beam-ten und Bürgern. Er verweist hier auf die Notwendigkeit, Staatsangele-

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genheiten nicht als Privatangelegenheiten eines Berufsstandes, einer Sippe oder einer Klasse zu betrachten.

Morus, sein Vorbild konkretisierend und zugleich erweiternd, zeigt, dass die Beteiligung an den staatstragenden Tätigkeiten alle Bereiche der Gesellschaft erfasst, so dass jeder Beruf und jede Beschäftigung ei-nen Beitrag zum Erhalt der staatlich verfassten Gesellschaft beinhaltet. Darüber hinaus betont Morus die Notwendigkeit des kollektiven Eigen-tums, das die Entfaltung der individuellen Personalität als berufstätiger Bürger überhaupt ermöglicht. Beide Erzählungen schildern jedoch nicht erstrebbare Gesellschafts- und Staatskonfigurationen, die beschriebenen Lebensformen beruhen auf einem einzigen Prinzip, vernachlässigen oder leugnen gar, dass es weitere notwendige Bedingungen für ein gutes Le-ben in einer gut lebenden Gemeinschaft gibt, und situieren sich dadurch außerhalb des Bereiches des guten menschlichen Lebens.

Utopie vs. Ideal

Vor dem Hintergrund dieser Analyse können wir den Unterschied zwi-schen einer Utopie und einem Ideal folgendermaßen bestimmen: Eine Utopie verabsolutiert eine notwendige Bedingung guten menschlichen Lebens zum alleinigen Prinzip des menschlichen Lebens überhaupt, was zur Folge hat, dass die betreffende notwendige Bedingung zum unerfüll-baren utopischen Wunsch wird. Ein Ideal hingegen beschreibt ein Ziel des guten menschlichen Lebens. Ideale haben einen normativen Charak-ter, sie geben eine bestimmte Orientierung für das Handeln vor. Im Ge-gensatz zu Utopien, die auf Grund faktischer Umstände nicht realisierbar sind, z. B. weil ihre unbedingte Realisierung die Erfüllung weiterer not-wendiger Bedingungen verhindern würde, sind Ideale stets annäherbar, auch wenn es klar ist, dass sie niemals erreicht werden können.

Die Nichterreichbarkeit des Idealen ist nicht durch unüberwindbare Hindernisse faktischer Natur bedingt, sondern einerseits durch den Um-stand, dass es stets einzelne Menschen gibt, die sich an dem Ideal nicht orientieren, und andererseits, weil mit jeder Annäherung an das Ideal die Erfüllungskriterien desselben verschoben werden: Der Satz ,,Die Würde des Menschen ist unantastbar“ beschreibt ein Ideal. Er formuliert ein Ziel menschlichen Handelns, das dadurch näher rückt, dass man sich ge-genseitig nicht behelligt. Der Zustand einer ,,absoluten“ Achtung der Würde des Menschen wird deswegen nicht erreicht, weil erstens nicht erzwungen werden kann, dass alle Menschen sich an diese Norm halten, und auch weil zweitens die Kriterien dafür, was als Verletzung der Men-schenwürde gilt, sich mit jeder ,,Verbesserungsrunde“ verändern.

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Waren vor zwei Jahrhunderten die Abschaffung der Folter als legi-timen gerichtlichen Verhörmittels und die Abschaffung von so genann-ten ,,grausamen und unüblichen Strafen“ hinreichende Kriterien für die Unantastbarkeit der Menschenwürde, so ist man heute der Ansicht, dass bereits abschätzige Bemerkungen über die Herkunft oder das Geschlecht eine Verletzung derselben darstellen. Im Gegensatz dazu ist die Forde-rung ,,Jedem Arbeitswilligen einen festen Arbeitsplatz“ ein typischer Fall eines utopischen Satzes. Auch wenn eine derartige Forderung auf den ersten Blick als eine Norm idealen Charakters erscheint, beschreibt sie einen Zustand, der nicht nur faktisch nicht herstellbar ist, sondern auch kein vernünftiges Ziel darstellt.

Im Gegensatz zum Ideal besteht die Unerfüllbarkeit dieser utopi-schen Forderung nicht darin, dass man die Menschen nicht dazu zwin-gen kann, sie zu erfüllen, und dass die Erfüllungskriterien verschoben werden. Dieser Zustand ließe sich erzwingen. Man müsste aber dabei feststellen, dass man dabei nicht alle Beschäftigungswünsche erfüllen könnte, dass die Flexibilität der Güterproduktion unnötigerweise gesenkt und dass so die letztendlich legitimen Interessen aller Gesellschaftsmit-glieder beeinträchtigt würden. Mit der Aufstellung der Forderung nach einem festen Arbeitsplatz für jeden Arbeitswilligen wird ein Ziel ange-strebt, das sich außerhalb der Grenzen des guten menschlichen Lebens befindet und deshalb kein vernünftiges Ziel im Sinne eines Ideals dar-stellt.

Ein Beispiel

Utopien zeigen uns keine Idealzustände, sondern stecken Grenzen des guten menschlichen Lebens ab, indem sie einzelne notwendige Bedin-gungen dafür aufzeigen, aber zugleich vor einer Verabsolutierung einer einzigen Bedingung warnen: Gesundheit z. B. ist eine derartige notwen-dige Beziehung. In einer möglichst ideal konstituierten Gesellschaft würde Gesundheit zwar einen hohen Stellenwert besitzen, man würde aber auch ein gewisses Maß an Gesundheitsrisiken zulassen, um andere notwendige Bedingungen erfüllen zu können wie den Genuss, die Auf-rechterhaltung gemeinschaftlicher Bindungen, die Sicherheit oder die Versorgung mit wichtigen Rohstoffen, deren Abbau und Verarbeitung nicht gesundheitlich unbedenklich ist. Ein utopischer Entwurf mit dem zentralen Thema Gesundheit würde vielleicht eine Gesellschaft be-schreiben, die zwar über ein vorbildliches Gesundheitssystem verfügt und Krankheit und Schmerz weitestgehend besiegt hat, deren Mitglieder aber unter einer ,,Ärtztediktatur“ zu leben hätten. Nennen wir die dazu-

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gehörige Staatsideologie Asklepeiismus. Die Asklepeier gestalten ihren Tag nach den Maßgaben eines von Gesundheitsexperten zusammenge-stellten Programms, dem selbstverständlich Tätigkeiten wie Rauchen oder das Einnehmen von gesundheitsbeeinträchtigenden Genussmitteln völlig unbekannt ist. Viermal am Tag sind sie angehalten, sich zu gym-nastischen Übungen auf öffentlichen Plätzen zu versammeln. Hierzu werden sie traditionell von Gymnasten aufgerufen, die diese Tätigkeit aus hohen Türmen, die an jede Turnhalle gebaut sind, ausüben. Es ist überflüssig zu sagen, dass die Einhaltung des Gymnastikgebots streng-stens kontrolliert wird, und zwar durch eine Behörde, die auch das Recht hat, jeden Bürger regelmäßig auf seinen Gesundheitszustand und seine Gewohnheiten hin zu überprüfen und den Bürger gegebenenfalls zu ei-ner Änderung dieser Gewohnheiten anzuhalten. Je nach Schwere des Falles können auch Zwangsmaßnahmen angeordnet werden. Der Anbau von Tabak und anderen Drogenpflanzen ist natürlich strikt verboten, mit Ausnahme geringer Mengen, die ausschließlich der medizinischen For-schung und der Staatsverteidigung vorbehalten sind. Der Anbau von Pflanzen, aus denen leicht zu vergärende Säfte gewonnen werden kön-nen, wie z. B. Trauben, steht unter staatlicher Aufsicht wie auch die Produktion von Wein und Bier. Die Herstellung von Schnäpsen und al-koholhaltigen Likören ist ebenfalls strikt verboten. Der Ausschank bzw. der Verkauf von Wein, Bier, Kaffee und Tee sind kontigentiert und wer-den auf Bezugskarten notiert. Diese Getränke sind nur deshalb erlaubt, weil aus medizinischen Gründen darauf nicht verzichtet werden darf. Al-lerdings wird zurzeit im obersten Medizinalrat heftig darüber debattiert, ob die entsprechenden wissenschaftlichen Untersuchungen, die ihren Konsum rechtfertigen und auch vorschreiben, stichhaltig sind. Die Wohnungen der Asklepeier sind nach den neuesten hygienetechnischen Erkenntnissen konzipiert, wobei jedes Mal, wenn diese Erkenntnisse er-weitert werden, die Leute gezwungen sind, neue Wohnungen zu bezie-hen. Die Kosten dieses andauernden Wohnungsbaus inklusive der Um-zugskosten werden durch die Erhebung einer allgemeinen Kopfsteuer mitfinanziert, die allerdings von den Bürgern gerne abgeführt wird, weil der Bezug einer neuen Wohnung mit einem dreijährigen Erlass der rela-tiv hohen Gebühren für Energie, Wasser und Frischluft belohnt wird. Selbstverständlich sind Teppiche aus den Schlafzimmern verbannt und in den Wohnzimmern darf ihre Fläche einen bestimmten Anteil der Wohnfläche nicht überschreiten. Um die negativen Auswirkungen elek-trischer Felder zu minimieren, werden die Schlafzimmer mit akkubetrie-benen Lampen beleuchtet, was eine gewisse Einschränkung des Wohn-komforts bedeutet. Private Kochstellen oder gar Küchen sind aus hygie-nischen und diätetischen Gründen nicht erlaubt. In den Wohnungen dür-

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fen nur geringe Mengen an Früchten und nichtalkoholischen Getränken sowie Milch und Jogurt aufbewahrt werden. Die Bürger essen in Kanti-nen an ihren Arbeitsplätzen (die Schüler und Studenten in Mensen), in Gemeinde-Esshallen, die auch die Kranken und Alten versorgen, und in staatlich lizenzierten privaten Restaurants (nicht allzu oft, weil recht teu-er). So kann man eine gleich bleibende hohe Qualität der Mahlzeiten gewährleisten und auch für eine ausgeglichene Ernährung sorgen, da die Zusammensetzung des Speiseplanes der letzten acht Wochen auf der Nahrungsmittelkarte vermerkt wird. So kann einseitige oder ungesunde Ernährung rechtzeitig erkannt und korrigiert werden.

Trotz der Zubereitung nach medizinischen Kriterien und trotz der Tatsache, dass viele Gewürze nicht zugelassen sind, ist das Essen recht schmackhaft, und man versucht, eine gewisse Vielfalt der Küchen anzu-bieten auch aus trophologischen Gründen. Es ist übrigens erlaubt, aus Anlass eines Festes oder eines geselligen Beisammenseins und gegen Gebühr Mahlzeiten und Getränke mit nach Hause zu nehmen und dort zu konsumieren. Die Bekleidung der Asklepeier ist vor allem gesund-heitsfördernd; Mode hat sich dem Diktat der Gesundheitsbehörde zu un-terwerfen. Jeden Tag wird eine Bekleidungsempfehlung ausgegeben, die den Wetterverhältnissen und der Jahreszeit angemessen ist. Ihre Nicht-befolgung gilt im Falle mancher Erkrankungen als Indiz eines Selbstver-schuldens. Individualtransportmittel sind nicht vorhanden mit Ausnahme von Fahrrädern und Rikschas. Aber auch diese dürfen nicht beliebig be-nutzt werden, um Verschleißerscheinungen zu vermeiden. Es besteht keine generelle Reisefreiheit. Dies gilt nicht nur für Auslandsreisen, die generell von der Gesundheitsbehörde genehmigt werden müssen und mit strikten Auflagen und peinlichen Kontrollen verbunden sind, sondern auch für Inlandsreisen, die je nach Gesundheitslage der Reisenden, ihrer Wohnorte und ihrer Reiseziele eingeschränkt oder untersagt werden können. Bei Aufenthalten in manchen Ländern Südeuropas, des Mittel-meerraumes, Afrikas und Asiens müssen sich Asklepeier zu wöchentli-chen Urin- und Blutuntersuchungen in den diplomatischen Vertretungen des Asklepeiischen Staates einfinden, um sicher zu stellen, dass sie kei-ne schädlichen Konsumgewohnheiten angenommen haben. Darüber hin-aus haben sich alle in einem fremden Staat verweilenden Bürger zu fi-xierten Zeiten bei ihrer diplomatischen Vertretung einzufinden, um an den vorgeschriebenen Leibesübungen teilzunehmen. Längere Zeit im Ausland verweilende Bürger müssen sich alle sechs Monate einer Gene-raluntersuchung in der Botschaft unterziehen lassen und sind darüber hinaus verpflichtet, sich bei einem vom Asklepeiischen Staat lizenzier-ten Gymnastikstudio anzumelden, um dort regelmäßig zu üben. Noch strikter wird die Visaerteilung an Ausländer gehandhabt. Einzige Aus-

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nahme bilden gewisse Gruppen von Kranken, die in besonderen Kran-kenhäusern behandelt werden, da die Asklepeier selbstverständlich die beste medizinische Versorgung auf der Welt gewähren können und diese Dienstleistung sich teuer bezahlen lassen (es gibt jedoch Kontingente für arme Ausländer sowie für Menschen aus Entwicklungsländern). Natür-lich betreiben die Asklepeier Eugenik, pränatale Diagnostik und strikte Gesundheitsvorsorge. Regelmäßige Check-ups sind obligatorisch und die Fortpflanzungspartner werden nach eugenischen Kriterien ausge-wählt (Fortpflanzung und Partnerschaft oder die Bildung von Lebens-gemeinschaften sind zwei vollkommen getrennte Angelegenheiten). Selbstverschuldete Erkrankungen werden mindestens als Ordnungswid-rigkeiten angesehen und mit saftigen Bußgeldern geahndet. ,,Verbrecherisches Erkranken“ zieht schwere Strafen nach sich, meistens die Verurteilung zu Zwangsaufenthalt in Gesundheitslagern. Menschen, die an Krankheiten leiden, die nach den Maßgaben der medizinischen Wissenschaft als unheilbar gelten, werden bei Erreichung eines vordefi-nierten Stadiums euthanasiert. War die Krankheit selbstverschuldet, er-folgt die Euthanasie beim ersten Auftreten von Invaliditätssymptomen.

Es gibt natürlich auch im Asklepeiischen Staat Tätigkeitsbereiche, die schwere Gesundheitsschäden verursachen. Solche Tätigkeiten wer-den von Leuten ausgeübt, deren Lebenserwartung geringer als die Inku-bationszeit der von der Tätigkeit verursachten Krankheit ist – in der Re-gel werden hierfür Leute mit angeborenen Krankheiten oder selbstver-schuldet unheilbar Kranke bis zum Auftreten der Invalidität herangezo-gen. Es ist einleuchtend, dass ein Staatswesen wie der hier nur kurso-risch beschriebene Asklepeiische Staat alles andere als ein Hort der De-mokratie, der individuellen Freiheit, der Entfaltung der Personalität und eines reichen intellektuellen Lebens ist, auch wenn seine Bürger viel-leicht sich einer besonders hohen Lebenserwartung in relativer Gesund-heit erfreuen mögen. Wäre dieser Lohn es wert diesen Staat zu realisie-ren? Ich glaube nicht, nicht zuletzt, weil ich nicht auf die genüssliche Er-fahrung des Kochens in den eigenen vier Wänden nach meinen eigenen Vorstellungen und im Bewusstsein, damit meiner Familie und meinen Freunden einen Genuss bereiten zu können, verzichten möchte.

Utopische Demarkat ionen

In der von Platon und Morus gestifteten literarischen Tradition erfüllen utopische Entwürfe die philosophisch wie auch moralisch wichtige Auf-gabe, mit literarischen Mitteln die notwendigen Bedingungen für ein gu-tes Leben in einer gut lebenden Gemeinschaft abzustecken. Stellvertre-

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tend für einen schier unübersichtlichen Literaturcorpus sollen hier fol-gende Autoren genannt werden: Platon entdeckt, wie wir gesehen haben, den Unterschied zwischen politischem Bürger und poietischem Hand-werker, Morus betont die Bedeutung von Kollektiveigentum als Funda-ment und Voraussetzung der Entfaltung der Individualität, Bacon spricht in Nova Atlantis die Notwendigkeit einer vernünftigen technischen In-frastruktur und die Wichtigkeit von autonomen Gemeinschaften unter-halb der Gesamtgesellschaft an, Johann G. Schnabel präpariert in seinem Roman Insel Felsenburg die Bedeutung von Freiwilligkeit, Loyalität, Respekt und natürlicher Autorität heraus. Last but not least zeigen Al-dous Huxley und Walter Jens in ihren ,,negativen“ Utopien Schöne neue Welt und Nein – Die Welt des Angeklagten, dass menschliches Leben sich nicht kalkülisieren lässt. Damit menschliche Gemeinschaften exi-stieren können, bedarf es, so das Fazit dieser Utopien, Individuen, die über ,,volle Personalität“ verfügen, die frei und fehlbar sein können. Ihre Eliminierung führt unweigerlich zur Zerstörung des genuin Menschli-chen und zur Mutation von Menschengemeinschaften zu Ameisenhau-fen.

Der Unterschied zwischen den so genannten positiven und den nega-tiven Utopien besteht daher hauptsächlich darin, dass erstere eine derar-tige notwendige Bedingung zum zentralen Prinzip des gesellschaftlichen Lebens erheben und ein Gemeinwesen entwerfen, das auf den ersten Blick attraktiv erscheint, während letztere Gemeinwesen beschreiben, die eine notwendige Bedingung überhaupt nicht erfüllen bzw. als solche gar nicht anerkennen. Somit wird ihr Defekt offensichtlich. Bei positi-ven Utopien hingegen zeigen sich die Defekte indirekt, etwa in der eifer-süchtig gehüteten Isolation von der übrigen Menschheit, in der eifrigen gegenseitigen Überwachung der Bürger oder im rigiden und drakoni-schen Strafsystem. Es ist nämlich seltsam, dass eine vermeintlich ideale Gesellschaft, wie sie in Morus’ Utopia oder in Bacons Nova Atlantis be-schrieben wird, nicht allein durch die spontane Loyalität ihrer Mitglieder aufrechterhalten wird, sondern der gegenseitigen Bespitzelung und einer übermächtigen, aber verborgenen Staatgewalt bedarf. Darüber hinaus sind die Bürger Utopias und Nova Atlantis’ durch eine Arroganz ge-kennzeichnet, die teilweise an Rassismus heranreicht und unserer Intui-tion vom Auftreten eines wahrhaft ausgeglichenen, vernünftigen und in Eudämonie lebenden Menschen stark widerspricht. Umgekehrt erschei-nen die positiven Figuren in negativen Utopien, wie z. B. der ,,Wilde“ Michel, Siegmund Marx und Helmholtz Watson in Huxleys Schöne Neue Welt, Walter Sturm in Jens’ Nein – Die Welt des Angeklagten oder Winston Smith in Orwells 1984 umso menschlicher, weil sie gerade die verleugneten Bedingungen erfüllen oder weil sie spüren, dass etwas

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fehlt. Eine Sonderstellung in der utopischen Literatur nimmt Schnabels Insel Felsenburg ein.

Schnabels Gemeinschaft ist als große, patriarchale Familie konzi-piert, die aber durch die Adoption von einigen auserwählten Fremden und die Aufnahme von Ehepartnern erweitert wird. Zentrales Prinzip dieser Gemeinschaft ist der natürliche Respekt der Kindergeneration vor ihren Eltern und die natürliche Autorität der Älteren. Schnabels Welt wird aber im Gegensatz zu Utopia und Nova Atlantis nicht durch Staats-gewalt und Gesetz zusammengehalten, sondern durch die Loyalität ihrer Bewohner und durch die göttliche Vorsehung, die es irgendwie verhin-dert, dass Störenfriede die Insel erreichen können, oder wenn sie sie doch erreichen, kurze Zeit darauf gewaltlos dahinscheiden. Allerdings sieht Schnabel ein, dass eine derartige Gemeinschaft nicht über mehrere Generationen hinweg stabil bleiben kann, da die familiären Loyalitäts-bande mit jeder Generation schwächer werden. So kommt es letztendlich zur Auflösung der Felsenburg-Gemeinschaft, teils durch innere Zwie-tracht, teils durch kriegerische Maßnahmen der Großmächte der Zeit, die ein anarchisches Gemeinwesen nicht dulden können.

Fazi t

Unsere Reflexionen zum Verhältnis von Utopie und Ideal haben erge-ben, dass utopische Entwürfe nicht mit ernst zu nehmenden geschweige denn kreativen Staatsentwürfen verwechselt werden dürfen. Praktisch und philosophiegeschichtlich relevante Staatsentwürfe, wie z. B. Platons Nomoi, Hobbes’ Leviathan oder Machiavellis Principe sind besonders skeptisch gegenüber utopischen Verabsolutierungen und sehr um ihre Realisierbarkeit besorgt, wobei die auf Einsicht beruhende Akzeptanz durch den Einzelnen das zentrale Kriterium ihrer Tauglichkeit ist.

Staatsverfassungen sind das Heim, in dem Gemeinschaften sich auf lange Zeit einzurichten haben. Ausflüge ins Utopische sind dazu da, ei-nem die Geborgenheit des eigenen Staatsheims bewusst zu machen, auch wenn dieses Heim noch weit vom idealen Staat entfernt ist.

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