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MartenMarquardt,UnterlagenzumSeminar„SimchatTora„WarumundseitwannkonnteLuthersichnichtmitfreuenmitdenJuden?“13.-15.10.2017
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S i m c h a t T o r a – Warum und seit wann konnte Luther sich nicht mitfreuen mit den Juden?
DerjüdischeKalender
imHerbst2017,imjüdischenKalender
derBeginndesJahres5778
21.-22.9. Roschha-Schana(Neujahrsfest5778)30.9. JomKippur(Versöhnungsfest)5.–11.10. Sukkot(Laubhüttenfest)12.10. SchminiAzeret(Der„achteTag“der Festversammlung)13.10. SimchatTora(Gesetzesfreude)
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DasjüdischeJahr
VorwenigenTagen,am21.9.2017(RoschhaSchanah),hatdasjüdischeJahr5778be-gonnen.DerjüdischeKalenderzähltdieJahreseitdemangenommenenTagderSchöp-fung;demnachwäredieWeltnun5778Jahrealt.DasjüdischeJahrhat12Monate,wobeiallerdingsdieMonatereinnachdemMondzyk-lusberechnetwerden,lunar.DerMondbraucht29½Tage,umdieErdeeinmalzuum-kreisen.12x29,5=354Tage.MitdieserRechnungkämederKalendervölligausdemnatürlichenJahresrythmus.Darumwirdsiebenmalinnerhalbvon19Jahreneinzusätz-licherMonat(AdarScheni)indenKalendereingefügt(Schaltjahre),umKalenderundnatürlicheEntwicklungeinigermaßeninBalancezuhalten.:
DerjüdischeTagunddamitjedesjüdi-scheFestbeginntmitdemSonnenunter-gangundendetmitdemSonnuntergang.DiebeidenTafelnzeigen,dassdasjüdi-scheJahrimGrundzweiJahresanfängehat:InderlinkenTafelbeginntdasJahrmitdemMonatNissanundmitdemPessachfest;inderrechtenTafelbeginntdasJahrmitdemMonatTischriundmitdemRoschhaSchanah.BeidehabennatürlicheAssoziationen(FrühlingundHerbst,SaatundErnte)undgeschichtlicheAssoziationenausderTora:ExodusundSukkot.
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DiegrößerenFeiertageRoschhaSchanah:1.und2.TischriTagderSchöpfung.DasSchofarHornwirdgeblasen.JomKippur:10.TischriVersöhnungstag.BeginntmitdemKolNidre,indemumVergebungfüralleGottgegebe-nen,abernichteingehaltenenVersprechengebetetwird.(VertonungvonMaxBruch!)Sukkot:15.–23.Tischri(Wallfahrtsfest)„InHüttensolltihrwohnen...“(Lev.23,42ff).DassiebentägigeWall-fahrtsfest(nebenPessachundSchawuoth),dasandenExoduserinnertundamachtenTagSchminiAseretindenTora-TanzinderSynagogemündet.EsistgleichzeitigeinErntedankfestundhatdenamerikanischenPilgrim-FathersdieVorlagefürdasamerikanischeThanksgiving,denhöchstenUS-amerikanischenFeiertag,geliefert.SimchatTora:23./24.TischriDieFreudeanderTora:DasfröhlichsteFestinderSynagogemitdemeingelagertenWasserschöpffest(SimchatBeithaSchoewa):„WernochniedasWasserschöpffestinJerusalemerlebthat,hatnochniewirklicheFreudeerlebt“.Chanukka:25.KislewDasLichterfest,dasandasLicht-undÖlwundertbeiderWiedereinweihungdesTem-pelsimJahr165v.d.Z.erinnertPurim:14.AdarDasPurimfesterinnertanEstherstapferesEintretenfürdasjüdischeVolkbeidemgrausamenKönigAhasver.Pessach:15.Nissan(Wallfahrtsfest)BefreiungausägyptischerSklaverei,BeginndesExodus.GleichzeitigFrühlingsfestundersterGrasschnitt.Schavuot:8.Siwan(Wallfahrtsfest)Wochenfest,siebenWochennachdemBeginnderHeuernte.Gleichzei-tigderTag,andemIsraeldieZehnWortedurchMosebekam.TishabeAv:9.AvDerTag,andemderersteundderzweiteTempelzerstörtwurden,andemdieVertrei-bungderJudenausSpanienbegann(1492).DertraurigsteTagimjüdischenKalender.
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SimchatToraHeuteistder13.Oktober2017.HeutefeierndieJudeninallerWeltaußerhalbIsraelsdasfröhlichsteFestihresreligiösenJahreskalenders:SimchatTora.DiesesFesthatun-seremSeminardasThemaunddenTitelgegeben.SimchatToraistthematischundzeit-lichdirektverbundenmitdenbeidenvorrangehendenFesten,demsiebentägigenFestSUKKOT(wirnennenes„Laubhüttenfest“)unddemeintägigenSCHMINIAZERET(dasheißtderachteTagderFestversammlung).MitSukkotwirdjedesJahrinjederjüdischenFamilieundinjederjüdischenGemeindedieprägendeVorgeschichtedesVolkesIsraelre-inszeniertunddurchlebt.ManlebtachtTagelangmitderganzenFamilieineinerlichtenHütte,mannimmtindieserHüttealleMahlzeitengemeinsameinundmanliestgemeinsaminderToraundmansingtundbe-tetundfeiertinderLaubhütte.DieTexteunddieErzählungendrehensichumdiezent-ralenEreignissederUrgeschichteIsraels:ÄgyptischeSklaverei–AuftrittdesMose–Exodus–40-jährigeWüstenwanderung–AnkunftamBergSinai–EmpfangderToraauf„dem“Berg–dieTora.AmachtenTagnachdensiebenTagenSukkotwerdenalleErzählungenundErinnerun-gennocheinmaltheologischkonzentriertundaufdenPunktgebracht:Tora.AmachtenTagstehtganzundgardieToraimMittelpunktderFeiern.DerachteTagmündetdannübergangslosindasausgelassenenFestSimchatTora,Tora-Freude.MitdiesenThemenistSUKKOTeigentlichdasGründungsfestIsraels,dasherbstlichePendantzumfrühlingshaftenPessach(indiesemJahrwurdePessachgefeiertvom11.biszum18.April).–DasPessachfesthatnocheinenNachklangimchristlichenOsterfest,weilJesus,wieallefrommenJuden,zumPessachfestnachJerusalemhinaufgestiegenwarunddanndortschließlichgekreuzigtwurde.DurchJesuWallfahrtistunsPessachundOsternüberliefert.AberJesuswar,wiejederfrommeJude,auchzuSukkotnachJerusalemhinaufgestiegen:Joh7.UndzurMittedesSUKKOT-FestestritterinJerusalemausderbisherigenVerbor-genheitherausundlehrt–sehrzumErstaunenseinerjüdischenUmwelt–inallerÖf-fentlichkeitTora:Joh.7,14ff.–WarumfeiernwirSimchatToranichtmit?–WirfeiernAdventundHimmelfahrt,Re-formationstagundKonfirmation...WarumalsonichtSimchatTora?UndseiesnurinBegleitungdesfröhlichstenunddynamischstenjüdischenFeiertags?DasistdieFrageunseresSeminarsbisSonntag.UnddieseFragewirdumsodrängender,alsunsinSach-arja14,16ausdrücklichdiesePerspektivezugesagtwird:„Undalle...Völker...werdenjährlichheraufkommen...umdasLaubhüttenfestzuhalten“(Hervorhebung:mm).SukkotistdemnachdaseinzigejüdischeFestmitdiesemuniversalenAnspruch,dasseinmalalleVölkerderWeltesmitfeiernwerden1.Warumfeiernwiresnichtschonheutemit?
1RabbiJonathanSacks:www.aish.com/h/su/tai/Sukkot-The-Dual-Festival.html
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SimchatTora–Tora-FreudeWarumundseitwannwollteLuthersicheigentlichnichtmitfreuenmitdenJuden?
Schehechejanu:DerSegenbesondererTage(PowerPoint-Präsentation:PP) PP SimchatTora PP
a. Sukkotb. SchminiAzeretc. SimchatTorad. DasSimchat-Tora-FensterderSynagogeBadKreuznache. E.Levinas,DieToramehrliebenalsGott(SchwierigeFreiheit,S.109ff)
1. Tora a. ירה werfen, einen Pfeil schießen, zeigen, mit dem Finger den Weg weisen
b. mündlicheTora c.schriftlicheTora d.Tradition e.MündlicheToraistwichtigeralsschriftlicheTora
2. JesusunddieTora a.Joh1,1-18LogosundTora(WengstI,49-51)
b.DerZwölfjährigeimTempel(Lk2,41ff)undderLehrer(Mt23,1-3a) c.Bergpredigtauf„dem“Berg:SinaiMt5,17 d.JesustrugZizit(Mk5,27//Mt9,20) e.Mt23„Allestut...“und„Weheuch...“
3. Tora,nichtNomos,nichtLex,nichtGesetz a. DasgesetzlicheMissverständnis b. DieZehnWorte,nichtGebot c. DieToraistguteBotschaft d. DasEvangeliumistTorafürdieHeiden e.DieToraistauchfürdieHeiden
4. LutherzwischenGesetzundEvangelium a.DassJesusChristuseingeborenerJudesei(1523)–WA11,314 b.LuthersHochachtungfürdieJuden c.LuthersHochachtungderhebräischenSprache d.LuthersverächtlicheSchmähschriftengegendieJuden e.LuthersTischredevom16.Juli1539(TR4707)
5. Tora-Freude–Tora-Treue–Tora-Trost a.DoppelteTora–Freude b.DoppelteTora–Treue c.Tora-Trost
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PP-Präsentation: Simchat Tora
1)STisteinbiblischesFest(Lev23,42f+Dt16,13ff).Esschließtdirektanandassog.Laubhüttenfest(hebr.Sukkot)undistmitdiesemengverbunden.EsisteinbesondersfröhlichesFest.EsistIsraelsFest,alsoJesuFest.–WirsindnichtIsrael.Abermitfreuenkönntenwirunsdennoch.WenigstenseinübenkönntenundsolltenwirdiesesFest,weilnachSach14,16-19derTagkommenwird,andemalleNationenderErdemitIsraelgemeinsamSukkotfeiernwerden.Dieseruniversale(IsraelsGeschichteundNaturundMenschheiteinbeziehende)AspektzeichnetSukkotgegenüberallenanderenjüdischenFestenaus.2–UndLutherhatsich1523nochsobegeistertdarüber,„dassJesusChristuseingeborenerJudesei“,dassmansicherannehmenkönnte,dassLutherundalleProtes-tantensichmitIsraelmitfreuenkönntenundwolltenandemfröhlichstenFestderJu-den.–AberirgendwieistdabeiLutheretwasabgebrochen.Warumundseitwann?–Umdaszuverstehen,müssenwirzuerstdasfröhlichsteFestIsraelskennenlernen:2) Stichworte zum Thema
3) Der Segen besonderer Tage Schehechejanu:
EsgibteinenjüdischenSegen,denmanimmerdannspricht,wennmanetwasganzBe-sondereserlebtoderbeginnt:z.B.dieersteFruchtdesJahresgenießen,denerstenWeintrinken,BarMizwaodersonsteingroßesFestfeiert.SoauchamerstenTagdesSukkot-Festes,wennmanzumerstenmaldenPalmwedelschwenktunddasFestbeginnt.HörenwirzuerstdiesenSegengesungen:(s.o.)WirsegnenDICH!DerMenschsegnetGottebenso,wieERdenMenschensegnet.EsgibtalsoeineArtAugenhöhezwischenGottundMensch,einePartnerschaft,keineKnecht-schaft,keinenblindenGehorsam.DasistkeineservileReligion,sonderneinvonGottherdemVolkIsraelundinandererWeisedurchJesusChristusauchunsangebotenerBund,andemwirdankbarundentschlossen,demütigundmutigbeteiligtsind.EinbesondererAusdruckfürdiesenBundistdasbiblischeWort„chesed“,daswirChristenfälschlichimmermit„Gnade“übersetzen.„Gnade“istabereinevölligausgebleichteÜbersetzungdeshebräischenWortes חסד(chesed),daseigentlichsovielheißtwie„Solidarität“3.WeildergnädigeGottsolidarischist,gibtesSolidaritätGottesmitdemMenschenunddesMenschenmitGott.4DasbedeutetdasWortBund(gr.Testament).„KönigallerWelt“:DerGlaubeandiesenGotthatalsoimmereinenuniversalenAspekt.„Melechhaolam“:Esgehtumallesundalle!„DerunsdasLebengibtundwiederbringt“,d.h.derunslebendigmachtundhält.„Derunsaufrechtmacht“,unsaufrechthält,derunsdenaufrechtenGanggibt.,damitwirgemeinsamdenaufrechtenGangüben.„Derunsbishierhergebrachthat“.VglEG329,1-2„BishierherhatmichGottgebracht...“
2Vgl. o. Anm. 1: JonathanSacks:www.aish.com/h/su/tai/Sukkot-The-Dual-Festival.html3Vgl.NelsonGlueck,HesedintheBible,Cincinatti19674Vgl.MidraschzuPsalm123,1„‚Youaremywitnesses,saystheLord’–thatis,ifyouareMywitnesses,IamGod,andifyouarenotMywitnesses,Iam,asitwere,notGod.“(E.Fakenheim,Tomendtheworld,p.331).–Vgl.auchRoseAusländer,Respekt,in:ImAtemhauswohnen,Ffm,1984,S.63:„IchhabekeinenRespektvordemWortGott/HabegroßenRespektvordemWortdasmicherschufdamitichGotthelfedieWeltzuerschaffen.“
WirsegnenDich,Herr,KönigallerWelt:DuhastunsdasLebengegeben,Duhastunsaufrechtgehalten,Duhastunshierhergebracht.
GesegnetseistDU,Adonai,KönigderWelt,derDUunsdasLebenschenkst,derDUunsaufrechterhältst,derunsbishierherbringt.
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4) SIMCHATTORAHeißt:FreudeanderTora –FreudevonderTora–FreudemitderTora–und–FreudeüberdieTora.STistderfröhlicheundkrönendeAbschlussdes7tägigenSukkot-FestesimHerbst.Sukkotendetnichtam8.Tag(Schminiasseret),sondernSukkotgehtmitdemFesttagSchminiAsseretineinanderesFestüber.MitdemAbenddes8.TagsderVer-sammlung(schminiasseret)beginntschondasberauschendfröhlichFestSimchatTora.EserinnertandiewichtigstenfrühenStationenderGeschichteIsraels:
1. BefreiungausderägyptischenKnechtschaft2. EmpfangderToraamBergSinai3. BundesschlussamSinai
DieletzteZuspitzungdieserBefreiungsgeschichteäußertsichinderFormulierungdesJosselRackoverinderHöllevonWarschau:„IchhabeIHNlieb,dochSEINETorahabeichlieber“.5) DASNEUESYNAGOGENFENSTERAm7.MärzdiesesJahres(2017)wurdeinderkleinenSynagogeinBadKreuznacheinkunstvollgestaltetesFenstereingeweiht.Esheißt„DasSimchat-Tora-Fenster“.Vor15JahrenwurdedievondenAmerikanernaufgegebeneMilitärkapellederjüdischenGe-meindealsSynagogenraumzurVerfügunggestellt(diealteSynagogewurde1938vondenNaziszerstört).DerSohndesfrüherenVorstandsmitgliedsNicolausBlättermannistderKünstlerRenéBlättermann.ErhatdieArbeitderGemeindegeschenkt,SponsorenhabendasGanzefinanziert.Am7.MärzwurdedasneueFenster,dasnundieganzeSy-nagogeunterderÜberschrift„SICHCHATTORA“mitbestimmt,feierlicheingeweiht.(Farbeindrückesammeln).6) DASMITTLEREFENSTER,DERHIRSCH(Gen49,21)DieserHirschistTeileinesScherenschnitts,derdemSchmuckeinerLaubhütte,einerSukka,diente.Erschautzurückundstrebtnachvorne:FluchtundNeuanfang?7) DREIAUSSCHNITTE 8) MITTLERERAUSSCHNITTDerSteinfriesmitdenErinnerungenandenTempel,diealtenrheinischenSynagogen,besondersderSchumstädte5.DieMenorahDasSchofarhornDasSchin(Schofar,Schumstädte,SchemaIsrael,Sinai)DasVolkamFußdesBergesDerSinaiDasWasser.(WährendderZeitdesTempelsgehörtezuSukkoteinbesonderesRitual:Simchatbeitha-schoevah,dasWasserschöpffest.DabeiwurdeinfeierlicherundäußerstfröhlicherProzession(BTSukka5:1:„WernochniedieBeitha-Schoewa–Feiergesehenhat,hatnochniewirklicheFreudeerlebt“)WasservomTeichSchiloaüberfünfzehnStufenhin-aufgetragenzumTempel;aufdenStufenwurdendie15Ma‘alotPsalmen(120-134)rezi-tiert.–DiesesfeierlicheRitualwirdheutezwischendemRheinuferunddemKölnerDommitdemvielschichtigenKunstwerk„Ma‘alot“desisraelischenKünstlersDaniKaravanständiginErinnerunggerufenfüralle,diehinschauenundverstehenwollen.)
5Sch=Speyer,U=Worms,M=Mainz
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9) DIESIEBENBEDEUTUNGSEBENENVONSIMCHATTORA10) DIELAUBHÜTTEDasIdealgemäldeeinerSukka11) DASBIBLISCHESUKKOTFEST:5.MOSE16,13-1512) SUKKAIMHINTERHOF13) BIBELTEXT:3.MOSE23,42-44(BUBER/ROSENZWEIG-ÜBERSETZUNG)14) DERLULAVDerfrommeJudehälteinenLulav(BündelmitdreiZweigen)inderHand.ErträgteinenTallit(Gebetsmantel),überderSchulterliegendieZizit(Nu15,37-41)(inunseremNTmeistmit„Quasten“übersetzt,wiesieauchJesusgetragenhat:Mk5,27//Mt9,20).15) DIEVIERPFLANZENARTENDESLULAV16) EINESTÄDTISCHESUKKAINISRAEL17) SCHMINIAZERET18) GEMÄLDEVONSHOSHANAHBROMBACHER„HAKAFOT“ (Umzug/Kreistanz mit Tora-Rolle : הקפה)19) SIMCHATTORA20) GRAFITTOINKÖLN„ICHGLOJBINDERSUNN“SchriftanderWandeinesKellersinKöln,wosichJudenwährenddesKriegsverstecktgehaltenhaben.21) JOSELRAKOWER,DIETORAMEHRLIEBENALSGOTTJosselRackowersGeschichte:“IneinerderRuinendesWarschauerGhettosistzwischenHaufenverkohlterSteineundmenschlichemGebeindasfolgendeTestamentgefundenworden,ineinerkleinenFlascheverstecktundverborgen,geschriebenindenletztenStundendesWarschauerGhettosvoneinemJudennamensJosselRackower:Warschau,den28.April1943...“6
6ZviKolitz,JoselRakowersWendungzuGott,Berlino.J.,S.9
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1 Tora
a. ירה werfen, einen Pfeil schießen, zeigen, mit dem Finger den Weg weisen
DashebräischeWort„Torah“kommtinderhebräischenBibelzumerstenMalvorinEx16,4,alsonachderBefreiungausÄgyptenundnachdemLobgesangdesMose„Aschirahl’Adonai“(Ex15,1b)undnachdemMurrenderGemeinde(Ex16,2).EsgehörtalsoindenExodus,denBefreiungszusammenhang.EsisteinBegriffausderFreiheitsgeschich-teIsraels.EinVorausentwurfderkommendenFreiheit,aufdiesiezugehen.
DasWort„Gesetz“kommtinderdeutschenBibel(Zürcher)7zumerstenMalvorimDeuteronomium(Dt6,1;Dt7,11undDt27,26)undstehthiersofortineinemgesetzli-chenundbedrohlichenZusammenhang.WennmannurdiesendeutschenBibeltextkennt,dannhatdasWort„Gesetz“dadurch,dassdieganzeExodus-undBefreiungsfreu-dehiernichtmitklingt,einenganzanderenKlangals„Tora“.
ReinsprachlichhatdasWort„Torah“einestarkeinnereDynamik.IndemWort„Torah“steckendieKonsonantendesVerbs„jrh“,wassovielbedeutetwie„werfen“,„einenPfeilschießen“,„zeigen“,„mitdemFingerdenWegweisen“.DiesemhebräischenVerbent-sprichtdaslateinischeVerb„proicere“,vondemunserFremdwort„Projekt“abgeleitetist.Demnachistdie„Torah“sovielwiedas„Projekt“GottesfürSeinVolkIsrael,mitihmfürdieganzeMenschheitundfürdieganzeSchöpfung.UnddiesesProjekteröffnetunterunseinenständigenbelebendenundlebendigenLernprozess.Daherwird„Torah“imJudentumhäufigauchmit„Lehre“übersetzt.DarumistdieSynagoge,inderdieTorahregelmäßiggelesenwird,injüdischerTraditionauchdas„Lehrhaus“,indeutscherNachbarschaftauch„dieJudenschule“.Undweildassoeinsehrlebendiger,kommunika-tiverLernprozessist,derdortstattfindet,pflegtendiedeutschenchristlichenNachbarn,diedenLernprozessineiner„Judenschule“nurvonaußenhören,aberwedermitma-chennochverstehenwollten,verächtlichzusagen:„HiergehtesjazuwieineinerJuden-schule“,alsolautundscheinbarungeordnet.
WennwiralsoToraalsEinweisungindieFreiheitdesExodusvolkesverstehen,verste-henwirJHWH,denGottIsraelsundJesuChristi,alsdengroßenBefreier.8„Beiihmzusein,istnichteineHaltung,eineStimmung,sonderneinGehen,einAufstehenausdemnie-dergesunkenenStandederNaturoderderSitte,umimFortgangderTageundderTatentätigbeiIhm,demBefreier,zubleiben.DarumhatIsraeldasGanzedesPentateuchsals‚Weisung’empfangenundGotteseigeneStimmedarinvernommen.GanzneuundganzfremdisteinesolcheFassungder(wieersagt)‚Moral’demmodernenMenschen.UnddochistseineFeindschaftgegenGottsicheraufdemBodensolcherMoralerwachsen.“9
UnddaesbeimLebenmitderToraumeinständigbelebendesundlebendigesLernengeht,kannessichnieumeineabschließendeFormulierung,niemalsumeinenendgülti-genGesetzes-oderMoralkodexhandeln.DieToraalsLebensprojektdesjüdischenVol-kesistwieeinlebendigerFluss:derFlussistimmerderselbe,aberdasWasserdesFlus-7DieZürcherBibelübersetztinEx16,4„Weisung“,währenddieLutherbibelauchhierschonvon„Gesetz“spricht.8BTAbothVI,2:„Fernerheißtes:EswarendieTafelneinWerkGottesunddieSchrifteineGottesschrift,eingegraben(haruth=חרות)aufdieTafeln,undmanlesenichtharuth(חרות)(eingegraben),sondernheruth(Freiheit),denneinFreieristnurder,dersichmitdem TalmudTora(mitdemStudierenderTora)befasst.“9C.H.Miskotte,WenndieGötterschweigen,München1964,S.234.Vgl.zurSacheauchF.Crüsemann,DieTora,Mün-chen1992
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sesistniemalsdasselbe,sondernimmerfrischundneu.10Undestreibtimmerweiter,bleibtniemals,„wieesimmerwar“.Das„GüldeneABC“(Luther)derToraistderPsalm119,derlängstePsalminderhebräi-schenBibel.Erist„komponiert“nachdemhebräischenAlphabet,wahrscheinlich,umsodasAuswendiglernenzuerleichtern.EristeineinzigesLobliedaufdieTora.UmseinenTora-Geschmackzuerahnen,mussmanihnaufDeutschallerdingsinderÜbersetzungvonBuberundRosenzweiglesen:Psalm119inBuber-Rosenzweig-Übersetzunglesen,dieBegriffe„Befreiung“,„befreien“u.
ä.markieren,mitderLuther-Übersetzungvergleichenunddiskutieren.Dennhiererkenntman,dassimhebräischenTextdesPsalmseinzentralesTora-Wortimmerwiederauftaucht:„Befreiung“,bzw.„befreien“,währenddiesesWortinderLu-therübersetzungdesPsalmsnichteineinzigesMalvorkommt.DasWort„Befreiung“,bzw.„befreien“erscheintimPsalm119insgesamtneunmal,dazuimgleichenSinnezweiMaldasWort„belebemich“(chajeni),daswirausdemSegenamAnfangdesSuk-kot-Festes(schehechejanu)bereitskennen,undzweiMalWörterausderSklavenbefrei-ungsgeschichte:„entschnüremich“(hebr.hazleni)und„lösemichaus“(hebr.g’aleni).11
(FürunsChristenistdabeidasWort„Befreiung“,„befreien“besondersinteressant.SeinehebräischenRadikalesind„j–s–h“:Jeschuah=Jesus.DerNameJesu,desBefreiers,durchziehtsodenganzenPsalm119undderFreiheitsimpulsderTorabestimmtnachPsalm119denNamenJesu!)
b. MündlicheTora
DerBabylonischeTalmudfordertjedenJudenauf,„dieTorawiederundwiederzustudie-ren,denninihristallesenthalten“.12UnddazuergänztRabbiElijahVilna-Gaon(1720-1797),jederJudemüsseaberebensosäkulareBücherlesenundstudieren,denn„ToraundWissenschaftgehörenzusammen“.UndwenndieJudenwegenihrertiefenHingabeandasBuchderTora„dasVolkdesBuches“genanntwerden,dannbeziehtsichdasnichtalleinaufdas„BuchderBücher“,dieBibel,sondernauchaufalleanderenBücher,diedenunstillbarenWissendurstlöschenkönnen,derihnendurchdasständigeTora-Studiumeingeimpftist.UnddieserWissensdurstbetrifftnatürlichauchsäkularesWis-senundwissenschaftlicheFragen.DennTora-StudiumbestehtauseinembeständigenLesen,NachfragenundDiskutieren.DerBuchstabealleinistnichts,dasBuchalleinsagtvielzuwenig:DasGespräch,dieDiskussion,dieheutige,auchdiezeitgenössischkontro-verseAuseinandersetzungüberdasGeleseneerstfördertdenSinnderTorazutage.
Soerklärtessich,dassderTalmudfeststellt:EsgibteineschriftlicheundesgibteinemündlicheTora,eine„torasche-bikhthav“undeine„torasche-b’alpeh“.UndbeideTeilederToragibtesvonAnfangan.DennaufdemBergSinaiwurdedieTorademVolkIsraelzunächstnichtinschriftlicherFormübergeben,sondernsiewurdeseitdenTagendesMosemündlichüberliefertvonWeisenundFrommen.UnddiesemündlicheTorawurdeimZugederÜberlieferungvonGenerationzuGenerationimmerwiederverändert,er-gänzt,präzisiertundindenverschiedenenFormenalsErzählung(Haggadah)oderals
10DerreformatorischeRuf„semperreformanda“wäre,sogesehen,eineangemesseneAntwortaufdieTora11Verse41,81,94,117,123,146,153,154,155,156,166,17412Ben-Bag-Bagsagte:Wühleinihr(sc.derTora)undwühleinihr,dennallesistinihr;schaueinsieundwerdealtundverbrauchtinihr,undweichenichtvonihr,dennesgibtnichtsBesseresalssie.“(BTAvothV,25)
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Weisung(Halachah)vermittelt.SoistTora-StudiumeinandauernderProzess,indessenVerlaufdieschriftlicheToraimmerwiederaucheinenneuenSinnbekommtdurchdiemündlicheTora.
c. SchriftlicheTora
TorabezeichnetimjüdischenAlltagoftzunächstnurdieFünfBücherMose,denPenta-teuch,imalltäglichenSprachgebrauchabermanchmalauchdenganzen„TANACH“.13DieschriftlicheToraistdorthinterlegt.UndjedesTora-Lernenbeziehtsichdirektoderindi-rekt,imengerenoderweiterenSinn,auchaufdieseschriftlicheÜberlieferung.–AberdaesmitderschriftlichenunddermündlichenTorazweierleiFormenderÜberliefe-runggab,musstesehrbaldderStreitdarüberentstehen,welchederbeidenFormendenndieverbindlicheresei.U.a.darausentbranntederStreitzwischendenPharisäernunddenSadduzäern.Josephus,derjüdischeHistorikerdes1.Jahrhunderts,beschreibtdieDifferenzso:DiePharisäerhabenVorschriftenundRegelnentwickelt,wiesieesvonihrenVäternerfahrenhatten;vieledieserpharisäischenLehrenfindensichnichtindergeschriebenenTora,demPentateuch.DieSadduzäerverwerfendiesepharisäischenLehren,weilsienichtausdergeschriebenenTorabegründetsind.Siebehaupten,mandürfekeineLehreausdermündlichenTraditionderVäterableiten.14
AufdemHintergrunddiesesStreitszwischenPharisäernundSadduzäernüberdieGel-tungdermündlichenundderschriftlichenToraerklärtsichsehrleicht,warumJesussehroftaufderSeitederPharisäerwarundgegendieSaddüzäerStellungbezog.EinSadduzäerhätteniemalssagenkönnenwieJesus:„Ihrhabtgehört,dasszudenAltenge-sagtist...Ichabersageeuch...“(Mt5,21,u.ö.)JesushattehierdieFreiheitunddieStreit-kulturderPharisäer,dieerschließlichunsallenansHerzlegte,Matth.23,3:„Allesnun,wassieeuchsagen,dastutundhaltet!“.AberJesushatteauchdieToratreuederSaddu-zäer,Matth.5,18:„Dennichsageeuchwahrlich:BisdassHimmelundErdevergehen,wirdnichtvergehenderkleinsteBuchstabenocheinTüpfelchenvomGesetz(Tora!!!),bisdassallesgeschehe“.JesusverbindetalsodieTreuezurschriftlichenToramitderFreiheitderDiskussionundmitderLebendigkeitdermündlichenTora.
d. TraditionAuchdiemündlicheTora,dievonGenerationzuGenerationundvonMundzuMundmehroderwenigerwichtigeVeränderungenerfahrenmuss,brauchtschließlicheineschriftlicheForm,aufdiemansichbeziehenkann.DasProblemwurdeimmerbedrän-gender,alsderTempelunddamitdasjüdischeGravitationszentrumzerstörtwar(70n.Chr.).Allesdrohtezuzerfallen.DarumbegannmaninderzweitenHälftedeserstenJahrhunderts,diemündlicheTorazuverschriftlichen.DieserProzessdauerteetwa150Jahre.EntscheidendenEinflussindiesemProzesshattederberühmteRabbiJehudahaNasi(derFürst).Erstum220lagdieseschriftlicheFassungdermündlichenToravor.Mannanntesie„Mischnah“(wörtlich:Verdoppelung).DieMischnahistunterteiltin6Ordnungen,derenÜberschriftenalleinschonzeigen,wiesehrsiemitdemalltäglichenLebenderJudenimLandIsraelbefasstist:
1.Sedarim(Samen-Landwirtschaft)2.Moed(Jahreszeit–Feiertage,Feste)3.Naschim(Frauen–Ehe,Scheidung,Gelübde)
13TANACH=Tora,Nebiim,Chatuvim=dassog.AlteTestament:Tora,Propheten,Schriften14FlaviusJosephus,JüdischeAltertümer,XIII,10:6
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4.Nezikin(Schädigungen–Zivil-undStrafrecht)5.Kodaschim(Heiliges–rituellesSchlachten,Opfer,geweihteDinge)6.Tohorot(Reines–rituelleReinheit).
DieseMischnahwurdeschonindererstenGenerationnachJehudahaNasiergänztunderweitertmitverschiedenemMaterial(Tosefta:Hinzfügung).DieDiskussionengingenaberweiterineinemüberGenerationensichhinziehendenLernprozessmitderMisch-nah.DieserLernprozesswurdeschließlichunterdemaramäischenNamenGemara(gamar=lernen)mitderMischnahverbunden;ausdieserVerbindungvonMischnahundGemaraistderzwölfbändigeTalmudentstanden(Talmud,vonlamad=lernen).DerTalmud15umfasstalsoJahrhundertelangeDiskussionenüberdieschriftlicheunddiemündlicheTora.UndheuteisteinernsthaftesTora-StudiumohneTalmud-Lektüregarnichtdenkbar.DasmöglichstbreiteStudiumderTraditionsorgtdafür,dassdieDiskus-sionensichnichtinsWillkürlicheundChaotischeverflüchtigen.DieäußerstvielfältigeunddenAußenstehendenleichtverwirrendeBreitederjüdischenTraditiondesTora-LernensistimmereinKompassfürdiezuweilenausuferndeDiskussioninder„Juden-schule“.
e. MündlicheToraistwichtigeralsschriftlicheTora
DerJerusalemerTalmud(jPea2,4,17a)erklärt,diemündlicheToraseidieGrundlagedesBundeszwischenGottundSeinemVolkIsraelunddarumwichtigeralsdieschriftli-cheTora.Undim3.Jh.gibtessogareinerabbinischePolemikgegenjedeArtvonschrift-licherÜberlieferung,dieteilweisebishinzumVerbotdesAufschreibensging:WerToraaufschreibt,istwieeiner,derihreBuchstabenverbrennt.
WoherkommendieseBetonungdesMündlichenunddieseRelativierungdesSchriftli-chen?–Einigeerklärenesso:UnterrömischerHerrschaftfürchtetendieJudennachderZerstörungdesTempelsundinderZerstreuungumdenFortbestandihrerTradition.HättemandieToraschriftlichendgültigfixiert,hätten„Heiden“sieabschreibenundübersetzenundverfälschenkönnen.DiemündlicheTorawarabergegenüberdenFein-dendesJudentums„fälschungssicher“.
DazukommtinspäterenZeiten,dassdieChristenmitdemvonihnensogenanntenAltenTestamentdieschriftlicheTora,denPentateuch,unterihreHeiligeSchriftvereinnahmthatten.DadurchwurdediemündlicheTora,derTalmud,zumeigentlichenUnterschei-dungsmerkmalderJuden.
UnddabeigebietetdieBetonungdesMündlichenauch,dassmanvielauswendig(eng-lisch„byheart“!!!)lernenmuss.DasgarantierteinevielintensivereAufnahmederTradi-tionalseinmöglicherweisenurmechanischesundoberflächlichesLesen.UndschließlichistdieBeschäftigungmitdermündlichenToraimmerzugleichderEin-trittineinendurchdieGenerationenundüberdieJahrhunderteandauerndenDiskussi-onsprozess.DieToraverlangtdasGespräch,dasausFrageundGegenfragebesteht.Die-sesHinundHerimUmkreisendervonderToraunddemeigenenLebenaufgeworfenenFragennenntman„Klären“:„dasmussmanklären“.UndumdieTorazuklären,mussmanständigneueFragenfindenundständigneueAntwortenimGesprächerproben.
15DerTalmudistinzweiverschiedenenVersionenüberliefert,alsBabylonischerTalmudundalsJerusalemerTalmud,zit.alsjT.DerammeistenzitierteTalmudistderBabylonischeTalmud,zitiertalsbT.
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AnderGeltungdesMündlichengegenüberdemSchriftlichenunterscheidensichdiePharisäervondenSadduzäern.DieSadduzäerbehauptennämlich,jederJudemüssesichausschließlichnachdenschriftlichversiegeltenGebotenrichten,währenddiePharisäerdagegendenTraditionsflussdermündlichenToravielhöherachtenundimZweifelsfallauchüberdieschriftlicherhaltenenTextestellen.
EinschwacherWiderscheindieserBetonungdesMündlichen,wennmanTora„klären“will,istdieRollederPredigtimprotestantischenGottesdienst.EinreligiösesRitualohnelebendigemündlichePredigtwäreinunsererTraditionkeinwirklicherGottesdienst,bestenfallsnureineAndachtodereineFeier.
„DieSchriftmussPredigtwerden!...undausderSchriftvondamalswirdVerkündigungfürheute.DieBibelistalsonotwendigesÜbel!Notwendigistsie,weilsonstderGeistdesMenschensichalsheiligausgibt,ohnealsUngeistüberführtwerdenzukönnen.‚VonÜbel’wirddieSchrift,wennsiealspapierenerPapstinHeiligkeiterstarrt,stattalslebendigesWortinderKircheöffentlichzuwerden.DasEvangeliumistzwarvergilbtenSeitenanvertraut,docheswillmitfrischenWortenfroheBotschaftwerden.“162. JesusunddieTora
a. Joh1,1-18:LogosundTora
GanzimLernmodusderToraerklärtunsauchderEvangelistJohannesgleichamAnfangseinesEvangeliumsdieEinzigartigkeitJesu.JesusistderExegetGottes,derGottesausle-ger,derLehrer.Joh1,18:εκεινοςεξηγησατο(ekeinosexägäsato),„jenerwarderExeget(Gottes)“;oderimhebräischenText:אשר הודיעו (ascher hodio), „der IHN (Gott) gelehrt und erklärt hat“.
Und Johannes greift im ersten Satz seines Evangeliums offenbar ganz bewusst auf den ersten Satz der Tora zurück: „Am Anfang“. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde durch Sein Wort: „Und Gott sprach ...“. Gottes Wort ist Gottes unmittelbar wirkende Gegenwart, es hat Schöpferkraft. Und am Anfang der Neuschöpfung heißt es wieder „Am Anfang war das Wort“, und dann „und das Wort war bei Gott und gottgleich (Wengst) war das Wort.“ „In ihm war Leben und Licht“. Johannes spricht in griechischer Sprache vom Logos und denkt in heb-räischer Tradition an die Tora. Denn so wie Johannes hier vom Logos als „Licht und Leben“ spricht, so spricht jüdische Tradition immer wieder von der Tora: „’Wie das Öl Leben für die Welt ist, so sind auch die Worte der Tora Leben für die Welt. Wie das Öl Licht für die Welt ist, so sind auch die Worte der Tora Licht für die Welt.’ ... Sowohl das Wort, das in der Tora besteht, als auch das, mit dem Jesus identifiziert wird, gibt Orientierung für einen Weg, auf dem Leben erfahren und verheißen wird.“17 – Johannes stellt uns also Jesus in bewusster Pa-rallele mit der Tora dar.
Und so kommt er in Vers 17 ganz ausdrücklich zu der parallelen Formulierung: „Denn die Tora wurde durch Mose gegeben, die Gnade und Treue kam durch Jesus Christus“ (Joh
16H.Obermann,Luther,Berlin1981,S.184.–Vgl.LuthersAuslegungzuPsalm18inWA5,53717Wengst,DasJohannesevangeliumI,S.50
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1,17). Viele Christen verstehen diesen Satz bis heute als eine Antithese, so als wollte Johan-nes sagen: Mit Mose kam das Gesetz für die Juden. Mit Jesus kam Gott selbst für uns Chris-ten.18 Klaus Wengst interpretiert aber ganz synthetisch: Jesus und Tora sind ganz parallel ge-setzt. Hier und da ist Gott der Geber der Tora und des Logos, der Gnade und der Treue, dort durch Mose, hier durch Christus. So stehen bei Johannes weder Mose und Christus, noch Tora und Logos antithetisch gegenüber, sondern in einem „synthetisch-klimaktischen Parallelis-mus: Beschrieben wird ein in beiden Gliedern heilvolles Nacheinander.“19 Jesus ist der Lo-gos, die Tora in Person.
Diese Verse des Johannesevangeliums sollen offensichtlich als Prolog zum ganzen Evangeli-um gelesen werden. Sie sind damit eine Art Leseanweisung und Verstehenshilfe für das Evangelium von Jesus Christus. Das jüdische Verständnis der Tora wird so zu einem Schlüs-sel für das christliche Verständnis Jesu Christi. Und so wird die Freude (und die Mitfreude) an der Tora (Simchat Tora) zur eigentlich selbstverständlichen Begleiterscheinung der christli-chen Freude am Evangelium, denn „es ist eine Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt, für die Juden zuerst und auch für die Griechen“ (Röm 1, 16). Und diese Erwartung eines christlichen „Simchat Tora“ wird nun deutlich verstärkt, wenn wir auch in den anderen Evan-gelien beobachten, wie selbstverständlich Jesus dort in jüdischem Gewand als ein Tora-treuer Jude vorgestellt wird.
b. Der Zwölfjährige im Tempel (Lk 2, 41ff) und der Tora-Lehrer (Mt 23, 1-3a)
DerjüdischeHistorikerJosephKlausnerbemerktzurGeschichtevomZwölfjährigenimTempel:„Lukas’Bericht,demzufolgeJesusalsZwölfjährigermitseinenElternnachJerusa-lemgegangenseiunddortineinerderTempelhallenmitdenPharisäerndiskutierthabe,dieobseinerKlugheiterstauntgewesenseien,findetsichankeineranderenStellederEvangelien“20.DarausschließtKlausner,dassdieswohleinelegendenhafteAusschmü-ckungausderFederdesLukasgewesenseinmüsse.
AberKlausnersÜberlegungführtjaumsomehrzuderFrage:WarumlagdemEvange-listenLukassovieldaran,dieseGeschichtesozuerzählen,selbstwennsiemöglicher-weisesogarnichtverbürgtwäre?DieAntwortkannjanurlauten:Lukaswollteaus-drücklichhervorheben,dassJesusschonvonKindheitandurchunddurchjüdischge-prägtundtoratreuwar.ErgehörtmittenunterdiejüdischenToralehrer;eristeinervonihnen;undseineToragelehrtheitzeichnetihnunterallengroßenLehrernschonvonfrühesterJugendanaus.–WennwiralsoJesussoverstehenwollen,wieihnLukashiervorstellt,dannmüssenwirihnganzundgarausseinemjüdischenHintergrundundaufdemBodenderToraundihrerrabbinischenTraditionverstehen.WasderJohannespro-logfürdasJohannesevangeliumist,dasistdieseGeschichtefürdasLukasevangelium:dashashtag,daszumweiterenbiblischenVerständnisJesuChristiführenwill.
ImMatthäusevangeliumhabenwirvieleTexte,dieunsaufdiegleicheSpurbringenwol-len.WarJesusinLukas2derlernendeTora-Schüler,soisterinMt23,1fderwegwei-sendeTora-Lehrer.DasganzeKapitel23istvollerPolemikgegenüberganzverschiede-nenAdressaten,derenHandelnnichtmitihremRedenübereinstimmt:UnddaJesussichzeitLebensauchunterPharisäern,Sadduzäern,SchriftgelehrtenundRabbinernbewegt18H.Weder,MeinhermeneutischesAnliegenimGegensatzzuKlausBergersHermeneutikdesNeuenTestaments,Ev.Th4/1992,S.319ff19H.Thyen,Johannesevangelium203,hierzit.nachWengst,aaO,S.72,Anm.7220JosephKlausner,JesusvonNazareth,Jerusalem19523,S.323f
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hat,istesnatürlichkeinWunder,dassersichgerademitihnenimmerwiederauchpo-lemischauseinandersetzt.PolemikundgeistigeNähesindkeineGegensätze,auchwennoberflächlicheLeserdasimmerwiedersomissverstehen.AusdiesemGrundüberlesenoderverdrehenvieleChristenseitGenerationendievielensehrpositivenHinweise,mitdenenJesusauchseineNähe,seineHochachtungundseineLiebe,besonderszuPharisä-ernzumAusdruckbringt.AusdieserBlindheitheraushabenGenerationenvonChristeneinfachnichtwahrgenommen,dassJesusinMatth.23,3unsallenausdrücklichbefiehlt:„AufdenStuhldesMosehabensichdieSchriftgelehrtenundPharisäergesetzt.Wasimmersieeuchsagen,dastutundhaltet!“WennChristendiesenSatzüberhauptzurKenntnisgenommenhaben,dannhabensiemeistensverstanden,diePharisäerundSchriftgelehr-tenhättensichdieAutoritätdesMose(zuUnrecht)angemaßt;siehättensichdenStuhldesMosesozusagen„unterdenNagelgerissen“.TatsächlichbedeutetdasSich-setzenaberinrabbinischerTraditionnichtsanderesals,dasLese-,Lehr-undLernpultzube-setzenundsodasStudiumderToraunddamitdieAuseinandersetzungumdieTorazubeginnen.UndindieserHaltungdesTora-GelehrtensagtJesusausdrücklich:Pharisäi-scheTora-Auslegungsolltihrbefolgen!UnddasheißtinunseremZusammenhangdochauch:JüdischeTora-Freudesolltihrteilen!
c. Bergpredigtauf„dem“Berg:Matthäus5,17LesenwirzuerstMatth.4,8:„WiederumnahmihnderTeufelmitaufeinensehrhohenBergundzeigteihmalleKönigreichederWeltundihrePracht“.–DieserBergistoffen-sichtlichnureinAusdruckfürirgendeinenAussichtspunkt,vondemausman„diegan-zeWelt“überblickenkann,sozusageneintechnischerAusdruck.HieristalsodieRedevonirgendeinemBerg.
WennwirdagegensehraufmerksamdieEröffnungder„Bergpredigt“(Matth.5,1)imgriechischenUrtextlesen,danndrängtsichdochdieFrageauf:Wassollesbedeuten,dasshiernicht–wieebennoch–vonirgendeinemBerg,sondernsehrpräzisevon„dem“Berggesprochenwird.DemaufmerksamenLeserCarlFriedrichvonWeizsäckerverdankenwirdieseFrage.21DieAntwortisteindeutig:„der“BergistinjüdischerLesartselbstverständlichnureiner,nämlichderBergSinai,derBergGottes(vgl.Ex19,3„καιΜουσηςανεβηειςτοοροςτουΘεου“),derBergderTora,derOrtder„ZehnGebote“.Exodus19,3:„UndderHERRriefihmvondemBerg(מן ההר) herzu...“DerjüdischeReligi-onsgelehrteLapidestimmtvonWeizsäckerhiersofortzuundunterfüttertdieBeobach-tungnochmitfolgendenErläuterungen:UntenstehtdieundifferenzierteVolksmenge,ausdersichJesuslöst.Ersteigtauf„den“Berg.Undnunfolgt:„undalsersichgesetzthatte,tratendieJüngerzuihm.“NachdenRegelndergroßenTora-SchulenerteiltderRabbiseineTora-LehrenimmerimSitzen.UnddieTora-Lehrewirdnunzuerstden12Jüngernzuteil;dieseZwölfrepräsentierendie12StämmeIsraels,alsodasganzeVolkIsrael.
„UndertatseinenMundaufundlehrtesie“:EinHerzstückdeschristlichgelesenenNeuenTestaments,dieBergpredigt,istalsoganzausdrücklichandieUrsprungsgeschichtederToraaufdemBergSinaiangelehnt.DieBergpredigtistJesuAuslegungderTorafürIsra-elund„dievielenMenschen“.
21PinchasLapide,CarlFriedrichvonWeizsäcker,DieSeligpreisungen.EinGlaubensgespräch,Stuttgart/München,19802,S.19
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AberkannmandieSeligpreisungendennwirklichalsTora,als„Gesetzeslehre“,wiewirfälschlicherweiseimmerwiedersagen,verstehen?Wasbedeutetesdann,wennJesusseineTora-LehremitdiesenneunGlückwünschen(Seligpreisungen)beginnt?WoherdiesersobesondersfröhlicheundglückverheißendeToninJesuTora-Lehre?–JesusfolgtdamitganzundgardemjüdischenVerständnisdersog.ZehnGebote,diejaimHeb-räischengarnicht„Gebote“heißen,sondernschlicht„ZehnWorte“(asserethadibrot).DieseZehnWortewollenallevondemerstenundgrundlegendenWortherverstandenwerden:„IchbinAdonai,deinBefreier,derichdichausÄgypten,ausderSklavereiheraus-geholthabe“.AllefolgendenZehnWortesinddanichtsanderesalsFolgerungen,dieausdieserbefreiendenSelbstvorstellungGotteskommen:DuwirstkeineanderenGötterhaben(wollen),DuwirstdirkeineBilderschnitzen(wollen),Duwirstsienichtanbeten(wollen)undihnennichtdienen(wollen),DuwirstmeinenNamennichtmissbrauchen(wollen),DuwirstVaterundMutterehren,DuwirstdenSabbattagheiligen,Duwirstnichttöten(wollen),Duwirstnichtehebrechen(wollen),Duwirstnichtstehlen(wol-len),DuwirstnichtfalschZeugnisgeben(wollen),DuwirstnichtHausoderHof,HabeoderHaubedeinesNächstenhaben(wollen).–NachjüdischemVerständnishabendieZehnWortealsoeinendurchunddurchbefreiendenundbeglückendenKlang.Unddie-serKlangbestimmtauchJesuBergpredigt,dieermitdiesensobeglückendenSeligprei-sungeneröffnet.DasistreineTora-Lehre,Berg-Lehre,dieinkeinerWeisevonderBerg-Sinai-LehredesMoseabweicht,diesievielmehrauslegtundanwendet.Vondaherhät-tenwirallenGrund,unsmitdenJudenmitzufreueninderSimchat-Tora-Feier.
d. JesustrugZizit(Mk5,27/Matth.9,20)
AllevierEvangelistenbetonenimmerwiederdiejüdischeVerankerungJesuinseinemTora-Verständnis,inseinenLebensvollzügen,sogarinseinerAlltagskleidung.MarkuserzähltunsdieGeschichtevonder„blutflüssigenFrau“.UnddaheißtesbeiMarkus„sieberührteseinenMantel“.–Warum„denMantel“?OffensichtlichhandeltessichumdenGebetsmanteloderGebetsschal,denJesuswiejederfrommeJudetrug.DenneinigeAb-schreiberhabenhierschonindenerstenJahrhundertenstattManteloderKleid(Luther)geschrieben:„undsieberührteseineZizit“(griechisch:κρασπεδον=kraspedon,hebrä-isch:ציצית =Zizit). In der selben Geschichte spricht Matthäus von vorne herein von den Zizit, was Luther mit „Saum seines Kleides“ übersetzt. Damit werden die 8 fünf mal geknoteten Fäden bezeichnet, die an allen vier Ecken des Gebetsschals befestigt sind, die jeden Juden alltäglich erinnern sollen an die ganze Tora, an das ganze Projekt Gottes mit Israel und für die ganze Welt. Und es heißt, das Tragen der Zizit ist so gut wie die Vergegenwärtigung der gan-zen Tora.
Wenn Jesus also die Zizit im Alltag trägt, wie die Geschichte von der kranken Frau bei Mat-thäus und Markus zeigt, dann wird er damit noch einmal als in jeder Weise toratreuer Jude gezeigt. Darin stimmen alle Evangelisten überein.
e. Matthäus 23 „Alles tut...“ und „Weh euch...“
Jesus konzentriert seine ganze Aufmerksamkeit derart auf die Tora als dem Praxisprojekt Got-tes für Israel und die Menschheit, dass er immer wieder den Praxistest anwendet: wie steht es mit der alltäglichen Tora-Praxis bei euch? Und da fällt immer wieder diese beschämende Dis-krepanz zwischen Theorie und Praxis ins Auge: „ Alles, was sie tun, tun sie nur, um von den Leuten gesehen zu werden; denn sie machen ihre Gebetsriemen breit und ihre Quasten (Zizit)
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lang. ... Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer! Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Ihr selbst nämlich geht nicht hinein, und die hineingehen möchten, die lasst ihr nicht hinein“ (Mt 23, 13). Das ganze Kapitel 23 des Mt-Ev ist erfüllt von den Weherufen ge-genüber denen, die in ihrem Alltagsleben nicht ihren Sonntagsreden entsprechen. Jesus nennt sie Heuchler.
In unserer christlichen Wahrnehmung ist davon vor allem übrig geblieben, dass die Pharisäer und die Schriftgelehrten Heuchler seien. Und bei uns hat sich das Wort „du Pharisäer“ gera-dezu als sprichwörtliches Schimpfwort eingebürgert. Damit haben wir Jesu innerjüdische Selbstkritik zu einer antijüdischen Floskel verfälscht und zugleich die implizite Praxiskritik, die selbstverständlich uns ebenso treffen müsste, von uns abgelenkt. Wir haben Jesu Auffor-derung „Was immer sie euch sagen, das tut und haltet!“ (Mt 23, 3a) geflissentlich überhört und damit zugleich die Kritik Jesu an der Differenz zwischen Wort und Tat auf die Juden ver-schoben. Hier liegt eine Quelle für den christlichen Antijudaismus, den wir bis heute nicht überwunden haben. 3. Tora,nichtNomos,nichtLex,nichtGesetza. DasgesetzlicheMissverständnis
LutherhatinseinerVorredeaufdasAlteTestamenteinenTonangeschlagen,derseitherleiderimLuthertumsehreinseitigbestimmendgewordenist.BeiLutherheißtes1534:„Sowissenun,dassdiesesBucheinGesetzbuchist,dasdalehret,wasmantunundlassensollunddanebenanzeigetExempelundGeschichten,wiesolcheGesetzegehaltenundüber-tretensindgleichwiedasNeueTestamenteinEvangeliumsoderGnadenbuchistundleh-ret,woherman’snehmensoll,dassdasGesetzerfülletwerde“.22DienächstenSätze,inde-nenLutherdannparallelauchüberGesetzundGebotimNTspricht,wurdenüberdie-semAnfangmeistnichtmehrzurKenntnisgenommen.SobeginntdieverfälschendeVerkürzunginunsererTradition,inderwirdassog.ATals„Gesetz“undalsoalsmehroderwenigerunfreundlichenZuchtmeisterbegreifen,dasNTdemgegenüberaberalsEvangelium,alsdie„FroheBotschaft“verstehen.SoentstehtderGegensatz„Gesetz“,dasistdasAlteTestament,und„Evangelium“,dasistdasNeueTestament.ParallelgiltderGegensatz„Judentum“,dasistdieveralteteundüberholteGesetzesreligion,gegenüberdem„Christentum“alsderneuen,modernen,menschenfreundlicherenReligion.Lutherhatsichu.a.auchdurchdieverkürztwahrgenommeneinnerjüdischePolemikdesPaulusdazuverleitenlassen,immerwiederderartplakativvonGesetzkontraEvan-geliumzusprechen,obwohleresbesserwussteundz.B.ineinerPredigtüberEx15,23ffam5.Juni1525erklärthat:„DamachtdasGesetzkeinschlechtesGewissen,sondernFreude,weilderMenschschoneinanderergewordenist.“23UndmitdieserErkenntnis„lex...facit...gaudium“(dasGesetzmachtFreude,Gaudi)hätteLutherallenGrundgehabt,sichmitdenJudenmitzufreuenanSimchatTora.AberdasgesetzlicheMissverständnisderToraundseinetheologischeHerabsetzungdergesamtenjüdischenTraditionhatdasverhindert.
22BibliadasistdiegantzeHeiligeSchriftDeudsch.Mart.Luth.Wittenberg,MDXXXIIII.23„Lexnonfacitmalamconscientiam,sedgaudium(Hervorhebungmm),quiaiamaliushomofactus“,WA16,285,10f
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b. DieZehnWorte,nichtGebote(Ex20,1-17)InlutherischerTraditionaufgewachseneChristenlernendiesog.ZehnGeboteausLu-thersKleinemKatechismuskennen.DamitbekommtderDekalognichtnurformaleineganzandereZählung,sondernaucheineinhaltlicheAkzentverschiebung.DieSynagogezähltdenerstenSatzalsdasersteundgrundlegendederZehnWorte:I. „ICHbindeinGott,derichdichführteausdemLandÄgypten,ausdemHausder Dienstbarkeit“(Buber/Rosenzweig).–UnddieserersteSatzistjazweifelloskein Gebot,sonderneineeinladendeSelbstvorstellungdessen,demIsraelseineFrei- heitverdankt.II. DaszweiteWortsprichtvonallenanderenGöttern,ihrenBildernundStatuen,
ihrenImagesundAnsprüchen,diefürIsraeleinfachnichtinFragekommen.III. DasdritteWortbekräftigtdieHeiligkeitdesunaussprechbarenNamensGottes.IV. DasvierteWorthandeltvomSabbatundvonseinensozialenFolgen.V. DasfünfteWortnimmtdieElternundinnerfamiliäreSozialfragenindenBlick.VI. DassechsteWortbeginntmitderBehandlungschwerstergesellschaftlicherVer-
gehen:Mordenicht.VII. DassiebenteWortsanktioniertEhebruch.VIII. DasachteWortverbietetDiebstahl.IX. DasneunteWortverbindetdieVerpflichtungzurWahrheitmitdemGerichtswe-
sen.X. DaszehnteWortregeltdieEigentumsverhältnisse.24IndiesersehrgrundsätzlichenBetrachtungwirddeutlich:DieZehnWorteumschreibenaufganzunterschiedlichenFeldern,wasfürverheißungsvolleVerhältnissesichergeben,wennGottesTora-ProjektindemfreienVolkIsraelumgesetztwerdenwird.Sogesehen
24N.b.imHebräischenbeginntdesZehnwortmit„ANOCHI“(Gott)undendetmitREÄCHA(deinNächster)
Linke Tafel Rechte Tafel 1 אנכי יהוה 6 לא תרצח 2 לא יהיה לך 7 לא תנאף 3 לא תשא 8 לא תגנב 4 זכור 9 לא תענה
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sinddieZehnWortetatsächlichdasZehn-Punkte-ProgrammderTora,dassichunmit-telbarausderBefreiungsgeschichtedesExodusergibt.GanzandersLuthersKatechismus25.ErbeginntalserstesmitdenZehnGeboten:„DasersteHauptstück:DiezehnGebote“.SchondamitwirdderZusammenhangvonBefrei-ungsgeschichteundToravölligzerstört.UndLuthersprichtausschließlichvon„Gebo-ten“,wodasJudentumvonden„ZehnWorten“(Asserethadibrot)spricht.Dasistumsobemerkenswerter,alsdasGriechischeunddasLateinischedenhebräischenBegriffge-nauwiedergebenundnurvom„Dekalog“(ZehnWorte)sprechen.SchondamithatLu-therdiezehnTora-ThesenzueinemGesetzeswerkumgedeutet.Aberermusste,umseinZielzuerreichennochweitereVeränderungenamBibeltextvornehmen.InseinerZählunglautetdaserste„Gebot“„DusollstnichtandereGötterha-bennebenmir“,währendderersteSatzvonGottineinefettgedruckteÜberschriftver-schobenwird.AuspolitischenGründenhaterdasBilderverbot,dasjanachjüdischerZählungdirektzudenfremdenGötterngehört,ersatzlosgestrichen.Damitfehlteihmdaszehnte„Gebot“.UndsomussteerkünstlichausdemzehntenWortzweiWortema-chenunddasBegehrendesNachbarhausesvomBegehrendesNachbarweibestrennen,umwiederaufdieZehnzahlzukommen.–DieseziemlichwillkürlichenOperationenzeigenaber,wiesehrLutherdarangelegenwar,denDekalogalseinenGesetzestextzuverstehen,densichjederMensch„anseinenzehnFingernabzählen“kann,derebendurchwegaus„Geboten“besteht.UnddaLutherHebräischkonnte,mussteihmklarsein,dassmandieZehnWortevomhebräischenBibeltextherebensogutinfuturischerFassungwieingesetzlicherFassunghätteübersetzenkönnen:„Ihrwerdet“,bzw.„Ihrwerdetnicht“,stattdeslutherischen„Ihrsollt“,bzw.„Ihrsolltnicht“.c. DieToraistguteBotschaftSowiederDekalog,derbeitäglicherLesungimTempelalsdasHerzstückderToraver-standenwordenist26,bestimmtistvondemerstenWortderBefreiung,soistdieganzeTorabestimmtvonderVorgeschichtedesExodusunddurchdieSituationamSinai,inderMosedieToraausGottesHandundMundempfing.DieTorawurdeimmerals„guteNachricht“,griechischals„Eu-Angellion“,alsEvangeliumverstanden.Undesbleibtei-nemjüdischenPartnervölligschleierhaft,wiedieChristendaraufverfallenkonnten,ToraundEvangeliumineinenGegensatzzubringen.27WasimmeranForderungen,anErwartungen,anPflichten,angesetzlichenFestlegungeninderTorazufindenist,lässtsichausjüdischerSichtdochnurverstehenalsdieselbstverständlicheFolgederBefrei-ungstatimExodus.EsgibtüberhauptkeineeinzigeWeisunginderTora,dienichtausdiesemZusammenhangerklärtwürde.
25Vgl.Ex20,1-17mitEG,855(S.1312)26BTBer12a:ZudentäglichzurezitierendenSegenssprüchenimJerusalemerTempelgehörteauchdieRezitationdesDekalogs.ManhatdiesetäglicheRezitationdesDekalogsunterdenSegenssprüchen(!!!)nuraufgegeben,weil„dieKetzer“denDekalogsomissbrauchthaben.Vgl.P.Birnbaum,ed.,EncyclopediaofJewishConcepts,NewYork1979,p.492f27AlsaufausdrücklichenWunschdesVolkesdieganzeToralautvorgelesenwurdeundalsdasVolkdaraufhin„wein-te,alssiedieWortedesGesetzeshörten“(Neh8,9),wiesNehemiasieeindringlichan,gutzuessenundSüßeszutrin-kenundnichtbekümmertzusein,denn“dieFreudeamHerrnisteureStärke“(Neh8,10)!
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MitderÜbersetzungderTorainsGriechischeschleichtsicheineverhängnisvolleVerän-derungein.28DasGriechischebietetdasWort„nomos“alsÜbersetzungfür„tora“an.DarausergibtsichabereinvölliganderesVerständnis:Dergriechische„nomos“ent-springteinerkosmischenOrdnung,nichtabereinerhistorischenErfahrung.DieTorawirdzurkosmischenNorm,dermansichnurunterwerfenoderanpassenkann.Indie-semgesetzlichenVerständnisvonToraistaberüberhauptkeinSpielraummehrfüreinemündlicheToraundfürGotteslebendigesProjektmitIsraelundderMenschheit.NachbiblischemundjüdischemVerständnisistaberdieTorageradenichtkosmischbegründeter„nomos“undebensowenig„lex“imSinneeineslegalenSystems.Sieistvielmehrdieständigweiterzulernende,zudiskutierende,zupredigendeGuteBot-schaft,mitderGottseinimExodusbegonnenesProjektfürIsraelunddieganzeSchöp-fungvorantreibt.d. DasEvangeliumistTorafürdieHeiden„DasEvangeliumistErfüllungsbotschaft(Mk.1,14f)....WodasEvangeliumproklamiertwird,dadringtdasReichGottesindieWeitederVölkerweltundindiegesamteSchöpfungein“.29Nunsollenauchdie„Heiden“,dieVölkeraußerhalbIsraels,anderFreudevonderundüberdieTorateilhaben.DasistdieFroheBotschaft:GottesProjektvomSinai,dieTora,zieltauchaufunsNichtjuden,willauchunsbefreienundverpflichten.UndwirChristenausderHeidenweltkönnenunsnichtohneunderstrechtnichtgegendieJudenindiesesProjekteinreihen,sondernnurmitundanderSeitederJuden.UndinsofernistdieTorafürunszugleicheinSolidarisierungsprojektmitdemVolkIsrael.WirwerdenbefreitausallenanderenreligiösenBindungen,aberwirwerdendamitgleichzeitigdurchunsereTaufeunddiedamitgegebeneBindungandenJudenJesusChristushin-eingestelltineineunauflöslicheVerbindungmitdemVolkIsrael.VerratandenJudenistperseTrennungvonJesusChristus,VerleugnungdereigenenTaufeundAusdruckunse-rerFeindschaftgegenGott.InsoferngehenalleHeiden,diedasEvangeliumhörenundfürsichwahrhabenwollen,einesozialeVerbindlichkeitzwischenJudenundChristenein,dienurumdenPreisdesVerratsanunddesAbfallsvonJesusChristusaufgelöstwerdenkann.DasEvangeliumistTorafürdieHeidenundstelltunsandieSeiteIsraelsamFußedesBergesSinaiunddesBergsderSeligpreisungen.
e. UnsereTora-TreueistgelebteSolidaritätzwischenChristenundJudenUnserchristlicherGlaube istgekennzeichnetdurchdieDankbarkeit,dieLiebeunddieBindunganJesusChristus,denJudenausNazareth.VonIHMherhatunserGlaubeseinebefreiendeundsozialeKraftundseineunbedingteVerbindlichkeit.InderdunkelstenPhaseunsererKirchengeschichtehatdieevangelischeKirchediesenZusammenhangnichtnurpraktischsondernauchtheoretischschlichtweggeleugnet.Unddarumwareskonsequent,alsdieDEKim„DrittenReich“inEisenachdassog.Ent-judungsinstituteingerichtethat.DieAufgabediesesInstitutsunterderLeitungdesev.
28H.H.Eßer,Art.„Gesetz“/νομος,in:TheologischesBegriffslexikonzumNeuenTestament,hg.L.Coenenu.a.,1993,S.521ff29H.J.Kraus,ReichGottes:ReichderFreiheit,Neukirchen,1975,S.253
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TheologieprofessorsWalterGrundmann(1906-1976)30wares,dasEvangeliumvonal-lenSpurendesJudentumszureinigenundden„Ariernachweis“fürJesuszuerbringen,indemmanseineangenommeneHerkunftaus„demGaliläaderHeiden“(הגליל haGalil,eineAbkürzungvongalilha-gojim„BezirkderHeiden“,Jes8,23),alsovonnichtjüdi-scherAbstammung,entsprechendausdeutete.ChristlicheJudenfeindschaftlässtsichnurrechtfertigen,wennmanzuvorJesus„entjudet“,dasEvangeliumvonderToratrenntunddasNeueTestamentalsGegensatzgegendasAlteTestamentmissinterpretiert.Nurein„entjudeter“JesusChristus,alsoeinabstraktesGespenst,erlaubtunseinchristlichesLeben,dasssichvondemVolkderToradistanziert.4. LutherzwischenGesetzundEvangeliuma. DassJesusChristuseingeborenerJudesei(1523,WA11,314ff)
Lutherhattezwischen1513und1521immerintensiverundmitimmerwachsenderFreudeundNeugierdevomJudentumgelernt.ErhatteFreunde,dieausdemJudentumkamen.ErberiefJudenalsHebräisch-LehrerandieWittenbergerUniversitätundanandereevangelischeOrte.Erkonnte„vieleherundanfangsauchbedeutendbesserHebrä-ischalsGriechisch“.31UmgekehrthattenJudeninganzEuropamitimmerwachsenderFreudeundNeugierdevonLuthergehört.SieerhofftensichvonihmeinbesseresVer-ständnisundeinentspannteresVerhältniszwischendenReligionen.DakamimJahr1523dasGerüchtauf,Lutherseidermaßen„judenfreundlich“32,dasserdarüberwe-sentlichechristlicheGlaubenssätzeaufzugebenbereitwäre.ErzherzogFerdinandz.B.warfLuthervor,erbehaupte,Christussei„AbrahamsSame“undleugnedamitdieJung-frauengeburt.33UmdiesengefährlichenGerüchtenentgegenzutreten,schreibter1523diesenText,„DassJesusChristuseingeborenerJudesei“.
AneinenjüdischenFreund,denehemaligenRabbiJakobGipher,getauftalsBernhardusIudaeusrenatusinGeppingen,schickterdiesenTextundschreibtdazueinenBrief,indemerverschiedeneGeschichtenvonchristlichemJudenhassanspricht,umdannfort-zufahren:
„AlsUrsachesolcherInfamieseheichwenigerdenStarrsinnunddieNichtsnützigkeitderJudenanalsdiehöchstgeschmackloseRohheitunddieeselhafteIgnoranz,danndashöchstlasterhafteundschamloseLebenderPäpste,Priester,MöncheundStudenten,diewederdurchdieLehrenochdurchchristlicheSittenauchnureinenFunkenvonLichtoderWärmedenJudenerweisen,sondernvölligimGegenteiljener(derJuden)HerzenundGewissenabstoßendurchdieDunkelheitenundIrrtümerihrerTraditionenunddurchBeispieleschlechtesterSitten.“34
30WalterGrundmannhatauchnachdemKriegamselbenOrtinErfurtalsProfessorfürNeuesTestamentGeneratio-nenvonPfarrerinnenundPfarreninderDDRgeprägt;erhatoffenbarkeinenGrundzurtätigenAbkehrvonseinerfrüherenJudenfeindschaftundzurUmkehrineinebußfertigeTheologiegesehen.31J.Boendermaker,MartinLuther–ein‚semi-iudaeus’?DerEinflussdesAltenTestamentsunddesjüdischenGlau-bensaufLutherundseinTheologie,in:H.Kremers,HG,MartinLutherunddieJuden,Neukirchen,1985,45ff,hierS.4832W.Bienert,MartinLutherunddieJuden,S.6033WA11,30734Bienert,S.72
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ImSommer1523istLutheralsoganznahbeiseinenjüdischenZeitgenossen.Zwarer-hofftunderwarteter,dassdieJudennundaswahreEvangeliumhörenundwomöglichauchannehmenkönnen.AbereristmanchmaldurchausinderLage,sichauchinjüdi-scheHerzenhineinzuversetzen.Damalswäreesdurchausvorstellbargewesen,dassLutherSimchat-ToraaufseineWeisehättemitfeiernkönnen.
(Text:WA11,307ff)
b. LuthersHochachtungfürdieJudenLuthersdamalsdeutliche,offeneundfreundlicheHaltungzudenJudenistvermutlichnichtaufdenEinflussdesdamalsunterIntellektuellen,wiez.B.ErasmusvonRotterdamundJohannesReuchlin,wachsendenHumanismuszurückzuführen.VielmehrgibtesstarkebiblischeGründe,dieihndamalsvorallembestimmen.
LutherserstebiblischeVorlesung,unmittelbarnachderErlangungderDoktorwürde,behandeltdiealttestamentlichenPsalmen35,diefürihnzeitlebensbesonderszentraleBedeutunghaben36.NachdreiJahrenisterdamitdurch.AberschondreiJahrespäterarbeiteterwiederandenPsalmen.WiederziehtsichdieseArbeitüberdreiJahrehin.37
1515/16hältLutherseineRömerbriefvorlesung,Dawirdihmnocheinmaldeutlich,wiesehrPaulusdiebesondereRollederJudeninGottesHeilsgeschichtebetont.IsraelsEr-wählungbleibtbestehen,wasimmersietun:„WennGottseinVolkverstoßenhätte,dannhätteernochmehrdenApostelPaulusverstoßen,dermitallenKräftengegenGottge-kämpfthat.JetztaberhatGott,umzuzeigen,dasserseinVolknichtverstoßenhat,sogardenangenommen,derhoffnungsloswar(Paulus).Damithatererwiesen,wiefestseineVorherbestimmungundErwählungist,dasssieselbstdurchsolcheHoffnungslosigkeitennichtverhindertwerdenkann.“38–UndimBlickaufRömer15,13fsagter:„IndemallenlöstderAposteldenStreitderJudenund(Heiden-)Völkerauf,damitsienichtgegeneinan-deruneinswerden,sondernsichgegenseitigannehmen,wieChristussieangenommenhat....DaherhabenbeideGrundzumLobeGottes,nichtaberzumStreitmiteinander.“39DiebleibendenVorzügeIsraelsformulierter1523inseinerSchrift„DassJesusChristuseingeborenerJudesei“so:„Undwennwirunsgleichhochrühmen,sosindwirdennochHeiden,dieJudenabervomGeblütChristi.WirsindSchwägerundFremdlinge,siesindBlutsfreunde,VetternundBrü-derdesHerrn...sogehörendieJudenChristusnäherzudennwir,wieauchS.PaulusRöm9sagt.Auchhat’sGottwohlmitderTatbewiesen,dennsolcheEhrehaternieeinemVolkgetanalsdenJuden.DennesistkeinPatriarch,keinApostel,keinProphetausdenHeiden,dazuauchgarwenigrechterChristenausdenHeidenerhoben.UndobgleichdasEvangeli-umallerWeltkundgetanist,sohaterdochkeinemVolkdieHeiligeSchrift...befohlendenndenJuden...“40
35„...solchfeinlieblichBuch,sodazumaltiefinFinsternisverborgenlag“,WA5,1.„EsgibtkeinBuchinderBibel,dasmehrFleißvonmirerforderthätte“,WA5,22f36DictatasuperPsalterium,1513-1516,WA337OperationesinPsalmos,1591-1521,WA538WA56,428f,hierzit.nachBienert,S.3439WA56,140,hierzit.nachBienert,3540ChristianeMüller,MartinLutherunddieJuden,FrRuNF1/1997,S.20
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c. LuthersHochachtungfürdiehebräischeSpracheLutherhatdiePsalmenzweiMalinjeweilsdreijährigerArbeitausgelegt.UndamEndeisterauchmitdieserArbeitnichtzufrieden,denn„diehebraischeGrammaticaistnichtganzdrinne.“41Ihmwirdimmerklarer,dassmanalsBibelauslegerbesserHebräischkönnenmuss.Ohnesolche(direkteoderindirekte)SprachkenntniswirdmanderBibelnichtwirklichgerecht.DerältereLutheristmitsichundseinenHebräisch-Kenntnissenunzufriedenundsagt:„IchhabemehrEbräischgelernt,wennichimLeseneinenOrtundSpruchgegendenande-rengehaltenhabe,dennwennichsnurgegenderGrammaticagerichtethabe.Wennichjüngerwäre,sowollteichdieseSprachelernen,dennohnesiekannmandieh.Schriftnimmermehrrechtverstehen.DenndasNeueTestament,obswohlgriechischgeschriebenist,istdochvollvonEbraismusundebräischerArtzureden.Darumhabensierechtgesagt:DieEbräertrinkenausderBornquelle;diegriechenaberausdenWässerlin,dieausderQuellefließen;dieLateineraberausdenPfützen.“42
UndalleindieTatsache,dassGottdenJuden,alsdemVolkdesBuchs,dieBibelanver-traut,dasserihreSprache,diesieganznatürlichbeherrschen,alsSprachederHeiligenSchriftbenutzt,begründetinseinenAugeneinebesondereAufmerksamkeitfürdasHebräische.UnddieseHochachtungLuthersfürdiehebräischeSpracheistvielleichtnochwichtigeralsseineeklektischeHochachtungfürdieJuden:
„LutheristeinigenJudenpersönlichbegegnet,abersiehabenihnkaumbeeinflusst.WohlaberhatersehrvielvomjüdischenUmgangmitderhebräischenSpracheübernommen,mitderervornehmlichinderAuseinandersetzungmitderjüdischenExegeseinBerührunggekommenist....(Grundsätzlichwar)das,waservomJudentumüberdasStudiumdesAl-tenTestamentsundderApokryphengelerntundübernommenhat,vonentscheidenderBedeutunggeradefürdieHauptgedankenseinerTheologie“.43
Solässtsichz.B.das,wasLutherunterdemzentralenreformatorischenBegriffder„Rechtfertigung“undder„GerechtigkeitGottes“versteht,inseinerganzenbiblischenBedeutungersterfassen,wennmandenhebräischenBegriffder„Zedakah“stattdesla-teinischen„Iustitia“oderdesdeutschen„Gerechtigkeit“unterlegt.Rechtfertigungimhebräisch-biblisch-lutherischenSinnbezeichnetnämlichkeinestatischeEigenschaft,keinenCharakter,derdemMenschenzugeteiltwird,sonderndieständigeArbeitGottes,mitdererunszurechtzubringenversucht.„DasWortGottesGerechtigkeit,sprachD.Mar-tinus,istvorZeiteninmeinemHerzeneinDonnerschlaggewest....(damalsdachteich)Ge-rechtigkeitwäredergrimmigeZornGottes,damiterdieSündestrafet....Aberdarnach....wardichfroh,dennichlerneteundsahe,dassGottesGerechtigkeitistseineBarmherzig-keit,durchwelcheerunsgerechtachtetundhält.Alsowardichgetröstet.“44„Mankannalsosagen:LuthersTheologiekannnichtbisinihrewirklicheTiefeergründetwerden,wennmandieseentscheidendeBedeutungdesAlten,ErstenTestamentsundder‚hebräi-schen’GedankenweltfürseineTheologieundfürseinenGlaubennichtgeltenlässt.Esist–wennauchungerecht–indieserHinsichtschonsehrbezeichnend,dassmandenJudenda-malsoftauchnochdieSchuldanderReformationgab!“45
41WA5,242WATR,BD.1,S.52543J.Boendermaker,aaO,S.5744TR4007(September1538)Clemen8,213f,hierzit.n.H.Obermann,Luther,Berlin1981,S.16245ebd.
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d. LuthersverächtlicheSchmähschriftengegendieJuden
„EswareineschlechteZeitfürdieJudeninEuropa.SiewarenbereitsausEngland,Frank-reich,SpanienundPortugalvertrieben...DieJudenwaren‚Kammerknechte’desKaisers,unterdessenSchutzsiestanden,teuererkauftdurcheineVielzahlvonSteuern...Anderer-seitsfordertendieZünftedieVertreibungderJudenzurWucherbekämpfung...Tiefsitzen-derJudenhassgehtmitSynagogenverbrennungen(über350Synagogenbis1510)undPogromeneinher.NichtnurdieInquisition,sondernauchdie,diedemGeisteslebenneueImpulsevermitteln,schürendenJudenhass.Sosiehtz.B.ErasmushinterallemAufruhrseinerZeitdieJudenamWerk.“46LuthersantijüdischeundzuweilengeradezumörderischePolemikengegendieJudenlagenganzimTrendderZeitundwarendamalswenigererstaunlichalsseinejuden-freundlichenEinlassungen.SeinegrobeGrausamkeit,mitdererzuletztgegenJudenhetzt,entsprichtdengrobenPoltereien,dieerschonalsjungerMannauchgegenganzandereAdressenvonsichgegebenhat.1520z.B.wütetergegendierömischenAutori-täten:„WennwirDiebemitdemGalgen,RäubermitdemSchwert,HäretikermitdemFeu-erstrafen,warumwehrenwirunsnichtmitallenWaffenumsomehrgegendieseDraht-zieherdesVerderbens,dieseKardinäle,diesePäpste,diesenganzenDreckhaufendesrömi-schenSodom,dieunablässigdieKircheGotteszerstörenundwaschenunsereHändeinih-remBlut...?“47FünfJahrespätersiehter,wiederAufstandderBauerndasLandverwüs-tet,unddarumschreibterseinPamphlet„WiderdieräuberischenundmörderischenRot-tenderBauern“.DarinrufterdieFürstenzugewaltsamerUnterdrückungderBauernauf:„SolchwunderlicheZeitensindjetzt,dasseinFürstdenHimmelmitBlutvergießenver-dienenkann,besserdennanderemitBeten....DrumbliebenHerren,losethie,rettethie,helffthie.ErbarmeteuchderarmenLeute,Steche,schlahe,würgehie,werdakann,bleyb-studrübertod,woldyr,seliglichern...todkanstunymeruberkomen...“48IndiesemverschärftenTonlutherischerPolemikantwortetLutherimJahr1543aufei-nejüdischeSchrift,dienichterhaltenistundderenAutorwirnamentlichnichtkennen,miteinemPamphlet,dasmanohneweiteresalsPogromhetzebezeichnenkann.DienichterhaltenejüdischeSchriftwareineAntwortaufLuthersSchrift„WiderdieSab-bather“(1538),inderLutherdieJudenderProselytenmachereibezichtigte.Derjüdi-scheAutorwaroffensichtlichzumGegenangriffübergegangenundhatteseinerseitsnundieChristenaufgefordert,sichnun–offenbarwargemeintinkonsequenterFortsetzungderreformatorischenImpulse–zumJudentumzubekehren.DascheintLuthereinewirklicheGefahrfürdiegeradeerstimEntstehenbegriffeneevangelischeLandeskirchezusehenunddarumversuchter,mitallenMitteln,seineKirchevorjüdischerVerein-nahmungzuretten,indemerdieJudenpauschalundbrutalangreift. ImgleichenJahrfolgtseineunflätigeSchrift„SchemhaMphoras“,indererdiejüdischeEhrfurchtvordemGottesnamenalsschärfstenWiderspruchgegendaschristlicheBe-kenntniszumdreieinigenGotterklärt.IndemerdenjüdischenGottesnamenindenDreckziehtundihnmitExkrementendesJudasIschariotundmitder„Judensau“anderWittenbergerStadtkircheinVerbindungbringt,meinterseineLeserimmunzumachen
46ChristianeMüller,MartinLutherunddieJuden,in:FrRuNF1/1997,S.1447WA6,347,hierzit.n.H.Obermann,S.30548WA18,361/Clemen3,73f
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gegendieVerlockungen,sichdemJudentumzuwendenzuwollen.
e. LuthersTischredevom16.Juli1539(TR4707)WederLutherselbst,nochdieSpäterensindwirklichfertiggewordenmitdenWider-sprüchen,dieersichselbstundunsallenaufgibt.IndieserHinsichthabenzweiJudenfürmichdiebestenHinweisezumUmgangmitLuthergegeben.DasisteinmalHeinrichHeine,derinseinerSchrift„ZurGeschichtederReligionundPhilosophieinDeutsch-land“(1834)schreibt:„RuhmdemLuther!EwigerRuhmdemteurenMann,demwirdieRettungunsereredelstenGüterverdankenundvondessenWohltatenwirnochheuteleben!Esziemtunswenig,überdieBeschränktheitseinerAnsichtenzuklagen....Esziemtunsnochweniger,überseineFehlereinherbesUrteilzufällen;dieseFehlerhabenunsmehrgenutztalsdieTugendenvontausendanderen.DieFeinheitdesErasmusunddieMildedesMelanchthon,hättenunsnimmersoweitgebrachtwiemanchmaldiegöttlicheBrutalitätdesBruderMartin.“49UnddasistzumanderenderRabbinerAlbertH.Friedlander,indessenAufsatz„MartinLutherundwirJuden“esamEndeheißt:„UnddadachteichandieSchrift„DassJesusChristuseingeborenerJudesei“undandenfestenBodenderHebräischenBibel,aufwelchemdieChristenheitbesteht.BruderMartinvonEisleben,duhastdiesenBodenfürdasChristentumgerettet,auchwennichmitdirkämpfenmuss,ummeineneigenenPlatzzubehalten.WirsindbeideKinderAbrahams...Wirhabengemeinsamgelitten,auchinjüngsterZeit.WirhabengemeinsameHoffnungenfürdieEndzeit.AberumeinsmussichdichbittenimMomentdesAbschieds...:VerschließdieFolterkammer!Lasssieniewiederöffnen!UndlehredeineNachkommen,dassesZeitengibt,wodieMitmenschlichkeitdieDogmenbesiegenmuss.DennwirsindMenschenund
49H.Heine,SämtlicheWerkeBandIX,hg.v.H.Kaufmann,München1964,S.187
Die„Judensau“anderStadtkirchezuWittenberg(l).Da-runterdieMahntafel„aufbrechenderUntergrund“(r)
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dürfenunsnichtGottesStrafgerichtaneignen.WirsindMenschenundkönneneinanderlieben.UndmögeGottunsschützenundzusammenführen,jetztundfüralleZeit.“50
AberLutherhatauchselbsteinegroßartigeSpurzumbesserenVerständnisseinerselbstgelegt.ErhatjazeitLebensimmerwiedernachgedachtüberseinenLebenslauf.UnderhatzeitLebensimmerwiederbeimBibellesengehorchtaufGottesheuteaktuelleStimme.UnddaistihmimSommer1539nocheinmaldasGewittervonStotternheimundseinSchwurzumEintrittinsKlosterunddamitzurWeichenstellungfürdieRefor-mationeingefallen.IneinerseinerTischredenerzählterrückblickenddieseGeschichteundsagtdazu:Damalsriefich„‚Hilffdu,S.Anna,ichwilleinmonchwerden’.AberdamalshatGottmeinenSchwuraufHebräischverstanden:Anna,dasheißtunterderGnade,nichtunterdemGesetz“.HierhatderalteLutheroffenbardasHebräischealsSprachederGnadeundderBefreiungunddenjüdischenNamenAnnaalseinenImpulsfürdiere-formatorischeBefreiungsgeschichteverstanden.–Daszeigt,dassLutherauchnoch16JahrenachseinemsoproduktivenGedankenüberdiejüdisch-christlicheNähe,nichtabgeschlossenhatte,mitsichselbstnicht,mitGottnichtundmitdenJudennicht.DieseOffenheitmüssenwirunstrotzallemauchimBlickaufLuthersfinsterstePolemikenimmererhalten.5. Tora-Freude–Tora-Treue–Tora-Trosta. DoppelteTora-Freude
DasBuchderPsalmenbeginntmitdemuneingeschränktenGlückwunschfürjedenMen-schen,derLusthatanderToradesHerrn(Psalm1).DabeibelegendiesaftigenBildervom„BaumandenWasserbächen“,wiesehrIsraelmitderToradieThemenLebens-freude,LebensglückundLebenskraftverbindet.DerPsalm119,dasGüldeneABC,for-muliertausführlichundüberschwänglichdieFreudeIsraelsandemGeschenkderTora:„AmWegdeinerZeugnisseentzückeichmichwieüberallemBehagen.DeineAnordnungenwillichbesinnen,anblickendeineBahnen,michandeinenGesetzenerquicken....IchhabemeineFreudeundmeineLustandeinenGeboten,ichliebesie...WieliebeichdeineWei-sung!AlldenTagistsiemeinSinnen...“(Ps11914f...47...97,Übers.Buber/Rosenzweig).UndderPsalterschließtmitdenjubelndenHallelujah-Psalmen(Pss.146-150)alsIsraelsAntwortaufGottesWort:„ErsendetseinWortundbringtalleszumSchmelzen“(Ps147,18).IsraelsFreudeüberdieToraistgrenzenlos.UndsiebeginntschonvorderGeburt.ImTalmudheißtes:„SchonjedesKindimMutter-leiberfährtdieganzeTora.AberbeiderGeburtkommteinEngelundstreichtihmüberdenMund,sodasserallesGelerntewiedervergisst“(BTNiddah30b).DasspätereLer-nenderToraistdemnacheinWiederholendessen,wasichschonvorhereinmalgewussthatte.DieTorabestimmtdieErziehung:„MeinSohn,vergissmeineToranicht!“(Prv,3,1).SiesollzurHerzenssachefürjedenEinzelnenwerden:„IchwillmeineTorainihrHerzgebenundinihrenSinnschreiben“(Jer31,33).SiesolldieVerantwortlicheninihrempo-litischenHandelnbestimmen:„NichtweichediesesBuchderToraausdeinemMund,murmledarintagesundnachts,damitdu’swahrest,zutunnachallem,wasdaringe-schriebenist.“(Jos1,8–nachBuber).
50in:H.-Kremers,Hg.,DieJudenundMartinLuther,Neukirchen1985,S.297
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AberdieToraistnichtnurIsraelsFreude.Eswirderzählt,dassauchGottselbstimmerwiedergespanntzuhört,wieseineKinderüberdieToradiskutieren.UndGottselbsthatbesondereFreudeandenz.T.heftigenundkontroversenDiskussionenüberdieToraunterdenRabbinern.ImBTheißtes:NacheinerheftigenundbesonderskontroversenDiskussionimLehrhaushabeRabbiNathanseinenKollegenRabbiElijahugefragt,„wasderHeilige,gebenedeitseier,indieserStundetat.Diesererwiderte:Erfreutesichundsprach:meineKinderhabenmichbesiegt,meineKinderhabenmichbesiegt.“51AlsoauchGottselberhatFreudeanderToraundanihrerAuslegung.DieFreudeanderTorazeigtsichbeidenMenscheninihremEifer,mitdemsiedarüberdiskutierenunddanachzuhandelnversuchen;dieFreudeanderTorazeigtsichbeiGottandemHumor,mitdemERdenMenschenfreieHandlässtimproduktivenStreitüberdieUmsetzungderToraimtäglichenLeben.b. DoppelteTora–Treue„DieGeschichtediesesVolkes...istdieGeschichteeinergroßenTreue,dieseGeschichteei-nerTreuegegenGottunddamitgegensichselbstunddamitgegendieWelt...SieisteineGeschichtederTreueauchgegendasalteLand.“52TreuezurToraistkeineinnerliche,keineGesinnungsfrage,sonderneineFragedergelebtenPraxis.TreueistkeinWortausdemBereichderSeelenkunde,TreueisteinalltagstauglicherPraxisbegriff.Manfühltsichnichttreu,sondernmanhandelttreu,tora-getreu,inTreuevorGottunddenMen-schen.UndweilessoeinpraxishaltigerBegriffist,kannesnichtwundern,dassdasWortinbiblischenundtalmudischenTextensehroftauftauchtindirektemZusammenhangmitderLandverheißungundderHoffnungaufErfüllungallertorahaltigenProjekteGot-tes:HeimkehrinsgelobteLand,Gerechtigkeit,Frieden.DashebräischeWort,daswirgewöhnlichmit„Treue“übersetzen,heißt„emuna“.„Emu-na“istgleichzeitigdasWort,daswirauchmit„Glaube“übersetzen.Esverweistunsalsoauf„TreuundGlauben“,aufverlässliches,zuverlässigesundsolidesHandeln.Tora-TreueistalsonichtsandersalsGlaubenspraxis.UndpraktischbewährterGlaubeistnichtsanderesalsTora-Treue.DasgiltineigenerWeiseauchfürunsChristensowieesfürJudengilt.WirkönnenunsalsglaubendeChristennichtvonderTora-Praxisemanzi-pieren.UndGottselberisttreu,hältfestanseinemVolkIsraelundanderTorafürIsraelunddieganzeSchöpfung.„Sosollstdununwissen,dassderHerr,deinGott,alleinGottist,dertreueGott(huha’elohimha’elhanä’äman),derdenBundunddieBarmherzigkeitbisinstausendsteGliedhält...“(Dt7,9).UnddieSterbeworteJesu(Lukas23,46)ausPsalm31,6lauten:„IndeineHändebefehleichmeinenGeist;duhastmicherrettet,Herr,dutreuerGott(elämät).“Undim2.Thess.3,3heißtesganzeinfach:„AberderHerristtreu(nä’äman).“ImTora-BundhatsichGottmitseinemVolkIsraelunddarüberhinausmitallenMen-schenaufTreuundGlaubenverbunden.UnddiesenBundbestätigenwirinjedemGot-tesdienstundinjedemstillenoderlautenGebet,dasimmerendetmitdemWort„Amen“,dasheißt„ERisttreu“;unddarausfolgt,auchwirwollentreusein.
51Babamezia59b52LeoBaeck,DiesesVolkI,S.153;hierzit.n.F.-W.Marquardtin:W.Strolz(Hg.),JüdischeHoffnungskraftundchrist-licherGlaube,Freiburg1971,S.120
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c. Tora-Trost
IchkenneeinenMenschen,derimmerwiederverzweifeltfragt:WasfüreinenSinnsolldennmeinganzesLeben(noch)haben?Underfindetaufdiesesoallgemeinundto-tal(itär)gestellteFrageeinfachkeineAntwort.UnddieseallgemeineSinnfrageistfastwieeinMarkenzeichenderabendländischenPhilosophiegeworden.AllehabenseitPla-toundAristotelesimmerwiedernachdemSinndesLebens,desganzenWeltgetriebesgefragt.UndalleVersuche,dieseallgemeineSinnfragezubeantworten,sindletztenEn-desgescheitert.Sieendentrostlos.
DieTorastelltunskeineabstrakteSinnfrage53.Siebefasstunsvielmehrmit613prakti-schenAngeboten,diesichalleauchmitsehrkonkretenLebensvollzügenbefassen.Da-runtersoeinfacheGebotewiedas54.„Gebot“:„UnddusollstandeinemFest(sc.dasLaubhüttenfest)fröhlichsein“(Dt16,14);oderdas72.„Gebot“,dassderjenige,dernichtgenugbesitzt,umeingroßesOpferzubringen,einkleinesOpferbringensoll(Lev5,7ff);oderauchdas109.„Gebot“,dassalleUnreinigkeitendurchWasserwiederreinwerden(Lev15,16).DieToratrenntdenSinnnichtvonderSinnlichkeit,denGeistnichtvonderMaterie,denLeibnichtvonderSeele.SieistimmerauchaufdiealltäglichePra-xisaus,selbstda,woesumdasAllerhöchste,dasAllertiefsteunddasAllerwichtigste,selbstda,woesumGottgeht.Undweilsiesopraktischist,lässtsiekeinenMenschenmitletztenFragenallein.VordenletztenFragengibtsieunsimmernochvorletzteDingeauf,diesinnlicherfahrbar,undpraktischhandhabbarsind.
UndankeinerStelleverlangtdieTora,dassalleimmeralle613(oderauchnur10)Ge-boteerfüllenmüssen.SieistebenkeinGesetzderMederundPerser,demsichalleUn-tergebenenunbedingtinallemzufügenhätten.DieToraistjadengeradeebenBefreitengegebenworden.ToraistnurfürfreieMenschen.DashatPaulusauchunsinschristlicheStammbuchgeschrieben:„ZurFreiheithatunsChristusbefreit!Sostehetnunfestundlas-seteuchnichtwiederumindasknechtischeJochfangen!“(Gal5,1).EinjüdischerGelehrterwurdeinderTalmud-Tora-SchuleinHamburggefragt,wiedenneinMenschalldievielenGebotederTorahaltenkönne.UndErnstSimon54antwortete:„Probier’malaus,waszudirpasst!“
FürfreieMenschenwirddieTorazumTrost,überdenmansichgarnichtgenugfreuenkann.EswirdhöchsteZeit,dasswiruns–geradeindiesemReformationsjubiläumsjahr–endlichauchmitdenJudenmitfreuenanSimchatTora.
53Vgl. F.-W. Marquardt, Evangelische Freude an der Tora, Prophezey-Schriften Nr. 1, Tübingen 1997 54ErnstSimon,israelischerReligionsphilosoph,gest.1988