72 FREITAG, 29. MAI 2020 BAU & ARCHITEKTUR BAYERISCHE STAATSZEITUNG NR. 22 KOOPERATION Kein Ding ohne ING In Zusammenarbeit mit der Bayerischen Ingenieurekammer- Bau stellt die Bayerische Staats- zeitung auf einer Sonderseite in regelmäßigen Abständen span- nende Projekte von Mitgliedern der Ingenieurekammer-Bau vor. PROJEKTBETEILIGTE Ludwig Erhard Zentrum Architekt: Reinhard Bauer Archi- tekten, München Tragwerksplaner: TRAGRAUM Ingenieure PartmbB, Nürnberg Haustechnik: Ottitsch GmbH & Co. KG, München Beton- und Stahlbetonbau so- wie Fassade: GS SCHENK GmbH, Fürth Sichtbetons in der gesamten Ober- fläche überzeugen. Um hier das optimale Ergebnis zu erzielen, wurden Musterele- mente mit verschiedenen Scha- lungsmaterialitäten von Holz über Stahl bis hin zu Glasfaserkunst- stoffen erprobt, schlussendlich er- folgte die Herstellung auf einer Stahlschalung. Für eine einheitli- che Oberflächengüte und Farbig- keit der Ortbetonwände, wurde der Sichtbeton im selben Fertigteil- werk wie die Deckenelemente her- gestellt und mit Fahrmischern auf die Baustelle transportiert. Um die Transportzeiten zu minimieren, er- folgten die Betonagen der Sichtbe- tonwände vor dem Berufsverkehr nur in den frühen Morgenstunden. Bei den Innenwandkonstruktio- nen wurden exakt definierte Scha- lungsansichten umgesetzt, auf die die Arbeits- und Betonierfugen in ihrer Anordnung reagieren. Sicht- bar bleibende Arbeitsfugen wur- den vermieden. Dieses Vorgehen erfolgte in enger Abstimmung mit dem Rohbauunternehmen. Der Sichtbeton der Außenfassa- de wurde zur optischen Anpassung des Gebäudes an die umgebende Sandsteinbebauung mit regionalen Zuschlagsstoffen eingefärbt und zusätzlich steinmetzartig bearbei- tet, wodurch die Materialwirkung und Farbigkeit noch erhöht wurde. Dieses sogenannte Stocken, Scharrieren und Spitzen wurde in einem erhöhten Vorhaltemaß der Betonüberdeckung tragwerkspla- nerisch erfasst. Sichtbetonfassaden Die großformatigen Fassadenflä- chen wurden so in ihrer optischen Wirkung zusätzlich zu den Versät- zen der Kuben gebrochen. Die vor- gesetzte Sichtbetonfassade ist fu- genlos errichtet. Sie trägt nur sich selbst und ist nicht primär am Last- abtrag des Gebäudes beteiligt, dort jedoch über Edelstahleinbauteile thermisch entkoppelt und zwän- gungsarm angeschlossen. Die Be- tonage der Ortbetonfassade erfolg- te gegen eine Kerndämmung aus Foamglas, im Wesentlichen mit einhäuptigen Wandschalungen. Bei dem Neubau des Ludwig Er- hard Zentrums war der architekto- nische Entwurf sowohl funktional wie gestalterisch nur durch eine in- tensive interdisziplinäre Zusam- menarbeit mit vielen Teildiszipli- nen des konstruktiven Ingenieur- baus – Tragwerksentwicklung, Tiefbau, Spannbetonbau, Fertig- teilbau, Sichtbetonbau, Scha- lungsplanung, Baustellenlogistik und der Haustechnikplanung um- setzbar. Durch das Gründungskonzept mit der gezielten Steuerung der Lastpfade bis in den Baugrund konnte ein durch die U-Bahnbau- werke baulich kaum nutzbares Baufeld hochwertig entwickelt werden. Die Bündelung des Fach- wissens aus zahlreichen Teilberei- chen des konstruktiven Ingenieur- baus in der Tragwerksplanung und die Umsetzung der Tragwerkskon- zepte in ein anspruchsvolles räum- liches FE-Modell zum Nachweis der Lastpfade und Umlagerungen unter Berücksichtigung der Bau- zustände waren die wesentliche Grundlage zur Formfindung, Ver- tiefung und Realisierung des Wett- bewerbsentwurfs des Architekten. > OLIVER SCHWENKE, ALEXANDER HENTSCHEL Schwenke und Hentschel sind ge- schäftsführende Partner bei TRAG- RAUM Ingenieure PartmbB. rung des Gebäudes auf dem Bau- feld und des Unterkellerungslay- outs schon in der Vorplanung hin- sichtlich der Verträglichkeiten mit der U-Bahn beurteilen zu können, wurde ein parametrisiertes Ge- samtsystem als FE-Modell direkt an eine Halbraumberechnung des Bodens gekoppelt. Dafür wurden die steifen Baugrundbereiche über dem Sandsteinstempel, die Tun- nelbereiche als auch der nichtüber- baubare Kalottenbereich model- liert. Überbauung der U-Bahn Die Kalotte selbst benötigte aus infrastrukturellen Anforderungen der Verkehrsbetriebe Fürth eine echte Entkopplung – rechnerisch und baulich. Auch diese musste im Modell abgebildet werden, da in diesem Bereich das massive, lastabtragende Fluchttreppenhaus angeordnet ist. Planmäßig konnte dies über Rückhängungen von vertikalen Bauteilen über Wand- schotte in Verbindung mit Zen- trierungen in den Deckenschei- ben erreicht werden. Baulich wurde die Trennung über Set- zungsplatten realisiert, die nach einem Ausspülvorgang einen ech- ten Hohlraum und damit die ge- forderte Entkopplung erzeugten. Im Planungsablauf war zusätzlich eine getrennte Prüfung des Stand- sicherheitsnachweises des Ge- bäudes von seiner Gründung über der U-Bahn aus formalen Gründen notwendig. Dieser Pro- zess konnte mittels Lastüberga- ben auf Geländeniveau erfolg- reich koordiniert werden. Gestaltprägend sind die vielfälti- gen Sichtbetonflächen im Innen- und Außenbereich. Für den Innen- bereich sind in erster Linie die be- schriebenen Kappendecken zu nennen, die in Verbindung mit den Wandflächen ein wesentliches Ge- staltungsmittel der Innenräume darstellen. Hierfür wurden im Fer- tigteilwerk mit hoher Präzision die Halbfertigteile mit den konkaven Deckenuntersichten hergestellt, die sowohl durch ihre hohe Pass- genauigkeit im Fugenbild als auch durch die einheitliche Qualität des Gründungskonzeption als steifer Fixpunkt. In Verbindung mit den zulässi- gen Überbauungslasten der U-Bahn waren die in Bereichen mit geringer Überdeckung liegenden Betonkubaturen der Kalotte maß- gebend für die Tragwerksfindung. Dabei erwiesen die sich aus der Ge- staltung ergebenden geschossho- hen und teilweise offenen Kuben auch für die Aktivierung der räum- lichen Tragwirkung und der geziel- ten Steuerung des Lastabtrags mit der Verteilung im Baugrund als das Mittel der Wahl. Um Auswirkungen von Grund- rissüberlegungen, genauer Situie- Gewichten war wesentliches Ent- wurfskriterium der Elementierung. Die für die Ausformulierung des Gesamtgebäudes inklusive der Gründung maßgebenden Randbe- dingungen war der bestehende U-Bahnhof mit seinen schräg das Grundstück querenden Tunnel- röhren und dem in den Neubau zu integrierenden Bahnhofszugang. Der zu etwa 50 Prozent im Baufeld liegende Bahnhof wurde seinerzeit in offener Bauweise, die beiden Tunnelröhren bergmännisch er- richtet. Der zwischen den beiden Röhren verbliebene, gewachsene und in geringer Tiefe anstehende Sandsteinblock diente bei der Zusammenwirken aller Planungs- beteiligten der Wettbewerbsent- wurf mit hohem gestalterischem Anspruch umgesetzt werden. Das fertige Gebäude arbeitet städtebaulich mit versetzt zueinan- der, gestapelten Kuben und posi- tioniert sich gegenüber dem be- nachbarten dominanten Rathaus durch einen eigenen, kräftigen Ge- bäudecharakter. Es reagiert damit gleichermaßen städtebaulich auf das denkmalgeschützte Umfeld und nimmt Farbigkeit und Mate- rialität der umgebenden Fassaden auf. Der Bestimmung entspre- chend waren Räumlichkeiten für die vielfältigen Nutzungen für Dauerausstellung, Sonderausstel- lung, Seminare und sonstige Ver- anstaltungen zu realisieren. Im Erdgeschoss sind neben ei- nem großzügigen Foyer mit Be- reich für Museumspädagogik die Garderoben angeordnet, das 1. und 2. Obergeschoss bieten Aus- stellungsflächen und das 3. Ober- geschoss wird als Multifunktions- bereich für Veranstaltungen ge- nutzt. Im 4. Obergeschoss, welches als eingerücktes Staffelgeschoss umgesetzt ist, befinden sich die Technikzentralen. Aufgrund der geometrischen Randbedingungen des U-Bahn- Bauwerks erhielt der Neubau le- diglich eine Teilunterkellerung. Der Neubau selbst ist als monoli- thischer, fugenloser Stahlbeton- bau umgesetzt, dessen Vertikallast- abtrag lediglich über die beiden Außenwandachsen und eine durchgehende Innenwand erfolgt. Hieraus ergaben sich die stützen- freien Geschossebenen mit De- ckenspannweiten von 10,90 Me- tern. Die Deckenebenen bestehen aus additiv aneinandergereihten Halbfertigteilen mit einem Ortbe- tonverguss. Dabei war die kappen- deckenartige Untersicht in höchs- ter Sichtbetonanforderung und In- tegration der Effektbeleuchtung wesentliches gestalterisches Ele- ment. Um die hier geforderte mini- mierte Konstruktionshöhe von 58 Zentimetern bei einer Schlankheit von l/19 zu erreichen, wurden die Elemente mit Monolitzen ohne Verbund vorgespannt. Die Andie- nung der Baustelle mit maximal möglichen Transportlängen und D er Neubau des Ludwig Er- hard Zentrums in Fürth ent- stand im Umfeld unterschiedlichs- ter, anspruchsvoller Randbedin- gungen. Dass hier ein Gebäude von hoher Strahlkraft entstanden ist, welches nicht nur inhaltlich weit über die Region hinaus Be- kanntheit erreicht, ist auch der in- tensiven Zusammenarbeit in ei- nem interdisziplinären Team zu verdanken, das neue Qualitäts- maßstäbe für den Hochbau setzte. Der in Fürth geborene Ludwig Erhard war erster Wirtschaftsmi- nister und zweiter Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Vor allem seine Wirtschaftspolitik beeinflusste die Ausrichtung der noch jungen Republik nachhaltig. Er führte nicht nur die D-Mark ein und hob die Preisbindung der Nachkriegszeit auf, sondern ver- folgte vor allem eine Politik, die „Wohlstand für Alle“ proklamierte und war damit maßgeblich an den Wirtschaftswunderjahren der 1950er-Jahre beteiligt. An seinem Geburtsort in der Fürther Innenstadt, gegenüber seines Geburtshauses, entstand das Ludwig Erhard Zentrum, ein in Deutschland einmaliges Doku- mentations-, Ausstellungs-, For- schungs- und Begegnungszen- trum für Ludwig Erhard und die Soziale Marktwirtschaft. Ein Zentrum, das den Anspruch hat, „diesen bedeutsamen histori- schen Ort dauerhaft zu erhalten und für die Öffentlichkeit und Wissenschaft zu erschließen“ (Zi- tat Ludwig Erhard Stiftung). Das Zentrum beinhaltet neben dem Museumsneubau mit Integration und Umnutzung der angrenzen- den historischen Stallung auch das historische Geburtshaus. Es war kein einfach zu bebauen- des Grundstück in der Fürther In- nenstadt, das mit anspruchsvollen Randbedingungen aufwartete: Ne- ben dem beengten Baufeld mit stark begrenzten Zufahrts- und Andienungsmöglichkeiten in ei- nem denkmalgeschützten Umfeld galt es, in der Konzeption und Um- setzung des Tragwerks den im Bau- feld liegenden U-Bahnhof „Fürth- Rathaus“ mit querenden Tunnel- röhren und einer bis zu 1,50 Meter unter Gelände reichenden Zu- gangskalotte zu berücksichtigen. Dabei spielte bereits im Realisie- rungswettbewerb die Einbindung des bestehenden Aufzugs zum Bahnhof in den Neubau eine we- sentliche Rolle. Grundrissflexibilität Aber gerade diese Randbedin- gungen waren es, aus denen sich kreative Tragwerkslösungen ent- wickelten. Die bereits im Wettbe- werb herausgearbeitete Grundriss- flexibilität durch Stützenfreiheit in den Ausstellungsräumen in Ver- bindung mit höchsten Sichtbeton- anforderungen und einem hohen Installationsgrad der Haustechnik sind Qualitäten, die das Gebäude in seiner Gänze zum Ingenieurbau- werk machen. Gebäudekubatur, Tragwerk, Fassade sowie raumbil- dender Ausbau konnten nicht ent- koppelt, sondern mussten als Ein- heit betrachtet und dementspre- chend interdisziplinär beplant werden. So konnte nur durch das Das neue Ludwig Erhard Zentrum in Fürth Ein Balanceakt auf Sandstein Der Neubau mit der Sichtbetonfassade von Westen aus gesehen. FOTO: OLIVER HEINL EIN Treppenhaus mit Sichtbetonoptik und die räumliche Visualisierung der U-Bahn-Überbauung. FOTOS: OLIVER HEINL/ TRAGRAUM INGENIEURE PARTMBB