Temporalität der Gegenwartskunst Gegenwartskunst: Phänomene und Beschreibungen »Die zeitgenössische Kunst hat, eben weil sie zeitgenössisch sein will, die Zeit abge- schafft, indem sie sie zur Gegenwart komprimiert, und sie muss überall zugleich sein. So setzt sich die Maschine in Bewegung: Es entsteht ein Bedürfnis nach Repro- duktion, der Künstler reagiert darauf mit dem eigenen Bedürfnis, der Reproduktion etwas vorzuenthalten, die Reproduktion vervollkommnet sich, damit nichts sich ihr zu entziehen vermag. ( ...) Und dieser Wettlauf, der über den gegenwärtigen Augenblick hinwegrast, erhält zurecht den Namen ,zeitgenössisch,.,/ So der argen- tinische Schriftsteller Cesar Aira, der sich wie viele Schriftsteller vor ihm mit Malerei und bildender Kunst beschäftigt - auch auf der Suche nach Ideen, Anre- gungen und Methoden für das eigene künstlerische Schaffen. Die Begegnung mit dem Werk Marcel Duchamps und der retrospektiv darauf bezogenen Gegenwarts- kunst, die er mit dem Erwerb von Duchamps Marchand du sel auf das Jahr 1967 datiert, gelten ihm seitdem als unvergleichliche, unerschöpfliche Quelle produktiver Phantasmagorien für sein schriftstellerisches Werk. Er berichtet von einer infizieren- den »kalten Faszination«, die von dieser Begegnung ausging, und ihm ein Schreiben jenseits »allwissender Schwätzerei« ermöglicht habe. Die implizite Aufrderung etwas Anderes zu tun, setzte er in der Form von Fußnoten - wie er formuliert- als stimmige und systematische Gebrauchsanweisungen für von ihm erfundene »ima- ginäre Apparate« in eine funktionierende literarische Wirklichkeit um. Eine nach gut fünigjähriger Latenzzeit lgenreiche konzeptuelle Innovation der bildenden 39 Bohn, Cornelia, Temporalität der Gegenwartskunst, in: dies., Autonomien in Zusammenhängen. Formenkombinatorik und die Verzeitlichung des Bildlichen, NCCR eikones, Paderborn: Fink 2017, S. 39-81.
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Temporalität der Gegenwartskunst
Gegenwartskunst: Phänomene und
Beschreibungen
»Die zeitgenössische Kunst hat, eben weil sie zeitgenössisch sein will, die Zeit abge
schafft, indem sie sie zur Gegenwart komprimiert, und sie muss überall zugleich
sein. So setzt sich die Maschine in Bewegung: Es entsteht ein Bedürfnis nach Repro
duktion, der Künstler reagiert darauf mit dem eigenen Bedürfnis, der Reproduktion
etwas vorzuenthalten, die Reproduktion vervollkommnet sich, damit nichts sich
ihr zu entziehen vermag. ( ... ) Und dieser Wettlauf, der über den gegenwärtigen
Augenblick hinwegrast, erhält zurecht den Namen ,zeitgenössisch,.,/ So der argen
tinische Schriftsteller Cesar Aira, der sich wie viele Schriftsteller vor ihm mit
Malerei und bildender Kunst beschäftigt - auch auf der Suche nach Ideen, Anre
gungen und Methoden für das eigene künstlerische Schaffen. Die Begegnung mit
dem Werk Marcel Duchamps und der retrospektiv darauf bezogenen Gegenwarts
kunst, die er mit dem Erwerb von Duchamps Marchand du sel auf das Jahr 1967
datiert, gelten ihm seitdem als unvergleichliche, unerschöpfliche Quelle produktiver
Phantasmagorien für sein schriftstellerisches Werk. Er berichtet von einer infizieren
den »kalten Faszination«, die von dieser Begegnung ausging, und ihm ein Schreiben
jenseits »allwissender Schwätzerei« ermöglicht habe. Die implizite Aufforderung
etwas Anderes zu tun, setzte er in der Form von Fußnoten - wie er formuliert- als
stimmige und systematische Gebrauchsanweisungen für von ihm erfundene »ima
ginäre Apparate« in eine funktionierende literarische Wirklichkeit um. Eine nach
gut fünfzigjähriger Latenzzeit folgenreiche konzeptuelle Innovation der bildenden
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Bohn, Cornelia, Temporalität der Gegenwartskunst, in: dies., Autonomien in Zusammenhängen. Formenkombinatorik und die Verzeitlichung des Bildlichen, NCCR eikones, Paderborn: Fink 2017, S. 39-81.
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1a Thomas Demand, Copyshop, 1999.
Kunst wird offenbar zum Impulsgeber für eine künstlerische Form in der Textkunst und steht in einem Resonanzverhältnis zu dieser.
Zugleich betätigt sich Aira als essayistischer Analytiker der Gegenwartskunst. Auch dafür gibt es Vorbilder und Modelle, man denke an Diderots Salonberichte, an Baudelaires, Gautiers oder Schlegels kunstkritische Schriften. Aira kommt zu dem Schluss, dass das Kunstwerk den Wettlauf mit seiner Reproduktion oder Dokumentation gewinnen wird. Siegen wird das Kunstwerk, indem es sich selbst transformiert. Da die Abstände zwischen Werk, Dokumentation und Reproduktion immer geringer werden, kommen sie sich so nah, dass sie irgendwann ununterscheidbar werden. Denn die Dokumentation selbst »wird Kunstwerk oder, genauer gesagt, sie wird Kunst ohne Werk.« 2 Bereits Duchamp habe dieses Problem sehr klar formuliert, so berichtet John Cage. Er hatte dessen Lösung aber noch Künstler und Betrachter, nicht dem Kunstwerk, zugedacht: »Mehr oder weniger sagt er, man müsse sich anstrengen, die Unmöglichkeit des Erinnerns zu erreichen, selbst wenn die Erfahrung von einem Objekt zu dessen Double führt.« In der gegenwärtigen Kultur, in der alles standardisiert und wiederholt würde, bestehe der einzige Ausweg darin, »den Raum zwischen Objekt und Duplikat zu vergessen.«' Die Brisanz des Problems erschließt sich erst vor dem Hintergrund des Wiederholungsverbots, das sich die moderne Kunst selbst auferlegt hat. Das gilt nicht für die Musik, die sich als klassische Zeitkunst ganz explizit mit der Behandlung von Wiederholungen, die immer auch Variationen sind, und mit Rekombinationen als Kompositionsprinzip beschäftigt.4 Wiederholung sei in der bildenden Kunst eine Falle, hatte Duchamp immer wieder betont und seine künstlerische Tätigkeit strikt daran orientiert. Vor allem aber attackierte er die »retinal art« wie er künstlerische Formen nennt, die sich auf retinale Aktivitäten beziehen, und sich daher nur für die sichtbare Seite eines Gemäldes interessieren. Deren Entwicklungsmöglichkeiten
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1b Thomas Demand, Büro, 1995.
seien durch den Wiederholungszwang erschöpft, der sich aus der Beschränkung künstlerischer Formbildung durch die Reduktion auf rein visuelle Sinneseindrücke
ergäbe.5
Erweitert man die Frage der Relation und Neu-Relationierung von Werk, Dokumentation, Reproduktion, Wiederholung um das Format des Modells und um das sich dahinter verbergende Grundproblem der Darstellung, das die Kunst seit der Moderne zu ihrem Thema gemacht hat, sind Thomas Demands Arbeiten eine ausgezeichnete Veranschaulichung dieses Zusammenhangs. In der für die moderne autonome Kunst konstitutiven Spannung zwischen Akt, Verfahren, Medium der Darstellung und Dargestelltem realisieren Demands Arbeiten ein künstlerisches Bildprinzip, das zugleich ein Was und ein Wie thematisiert.
Die Fotografie Copyshop (1999) behandelt das Problem uno actu als denotativen, dargestellten Bildinhalt und als Verfahren der Bildgenese selbst, die somit zu einem nicht zu vernachlässigenden Teil des Kunstwerks wird [Abb. la,b J. Demands mehrstufiges Herstellungsverfahren geht von einer fotografischen Vorlage aus und er baut diese als lebensgroßes Papiermodell nach. Die Papierskulptur wird wiederum fotografiert und danach zerstört, ausgestellt wird eine großformatige Fotografie. Nicht um die originalgetreue Nachbildung geht es in diesem bildnerischen Verfahren - das hieße an der Differenz Original/Kopie festhalten, sondern gerade um die mit jeder medialen Übersetzung einhergehende Veränderung, so eine der virtuell möglichen Lesarten.6 Zugleich geht es darum, dass künstlerische Darstellungen sich immer schon auf Darstellungen, Bilder sich immer schon auf Bilder und Modelle von Bildern beziehen und dass es sich bei einem Kunstwerk um einen unabschließbaren Prozess jener medialen Übersetzung handelt, der bei Demand jedoch immer noch in einem ausstellbaren fini zum - vorläufigen - Abschluss gebracht und in die Bildform integriert wird.
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2a-c Francis Alys, When Faith Moves Mountains, 2002.
Neuere und parallel existierende künstlerische Formen der Gegenwartskunst sprengen jedoch gerade diese Beschränkung. Der Vorschlag Airas besteht nun - und das ist das Privileg des Schriftstellers - in einem um die literarische Dimension erweiterten Dokumentations- und Reproduktionsverfahren, das unabhängig von der Existenz eines Objekts die Realität eines Kunstwerks festzuhalten vermag. Dies ist im Sinne eines »multidimensionalen Kontinuums« des Kunstwerks zu verstehen, das Entstehung, Konzeption, Herstellung, Drehbuch, Dokumentation, Wiedergebrauch einschließt, bei dem es unerheblich wird, ob es als Objekt existiert oder nicht.7 Auch das Ungeschaffene wäre in diese von der fiktionalen Literatur inspirierten und begleiteten Dokumentation einzubeziehen, darin sieht Aira eine Aufgabe der Literatur.
Da der ureigene künstlerische Auftrag ja spätestens seit der Moderne im Schaffen neuer künstlerischer Formen und Werte besteht, widerspricht dieser der Idee eines fertigen abgeschlossenen »Werks«. Denn sobald es als abgeschlossen gilt, ist es nicht mehr neu, sondern existiert als hergestelltes Artefakt im Modus der vergangenen Gegenwart, als musealisiertes Artefakt im Modus der Vergangenheit. Anders als in Ecos Konzept des bedeutungsoffenen Kunstwerks, das sich erst in der Interpretation ergibt und ausdrücklich offen ist für »eine virtuell unendliche Reihe möglicher Lesarten« 8 soll hier nicht im Sinn einer Rezeptionsästhetik argumentiert werden. Führt man die Überlegungen Airas weiter, so wäre in Analogie zu der damals neuen Aufgabe der romantischen Kunstkritik an eine Kombination von bildender Kunst und Fiktion zu denken. Den frühen romantischen Kunstkritikern ging es darum, sich explizit als Dichter an der IIervorbringung des »Schönen« der Werke der bildenden Kunst zu beteiligen. Theophile Gautier nennt diese Methode eine »transposition artistique«. Sie bestand darin, dem Gemälde einen Text zur Seite zu stellen, dessen Ziel es war, das Bild im Sinne des Malers zu analysieren und dieses Verständnis mit den Mitteln der Dichtkunst zu artikulieren: »Etudier une ceuvre, la comprendre, l'exprimer avec !es moyens de notre art, voila quelle a ete toujours notre but. Nous aimons a mettre a cöte d'un tableau une page ou Je theme du peintre est repris par !' ecrivain.« 9 Es soll hier jedoch auch nicht im Sinne eines Deutungsdefizits des sich nicht mehr selbst deutenden Kunstwerks argumentiert werden. Gehlen sah den entscheidenden Schritt zur zunehmenden
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Kommentarbedürftigkeit von Bildern in der Kunst des Kubismus. Hier habe sich erstmals die hohe Bildrationalität eines Bildes nicht mehr durch sein »Sosein« erschließen lassen, sondern, so Gehlen, dessen »Sinn zog sich in den Prozeß seines Entstehens zurück.«' 0 Die abstrakte Malerei hat nach dieser These, die sich durchaus als Modifikation der romantischen Kunstkritik lesen lässt - immer eine Deutung zum Pendant, die durch Rückgriff auf die Position des Künstlers durch den Künstler selbst sowie durch Kritik oder auf Kunstinterpretation bezogene Wissenschaft
geliefert wird und neben dem Bild steht. Gegenwartskunst kombiniert hingegen textkünstlerische und bild
künstlerische Elemente in den Werken selbst; auch um den Preis, dass die bildende Kunst ihre Sichtbarkeit zur Disposition stellt. So verwendet Francis Alys Fabeln als Inspiration für Kunstvideos, When Faith Moves Mountains (2002 [Abb. 2a-c]), er arbeitet mit Allegorien und Gerüchten, The Rumor (1997), um in die Imagination urbaner Kontexte zu intervenieren, ohne ein physikalisches Material hinzuzufügen oder physikalische Spuren zu hinterlassen. Alys bezeichnet seine eigene künstlerische Methode als einen kontinuierlichen Tanz zwischen Worten und Bildern: nicht die poetische Dimension der Fabeln und Narrative sei ausschlaggebend, sondern das »switching«, ein in die Werkgenese eingebauter medialer Übersetzungsvorgang, der in einem Zugleich von Durchdringung und Nicht-Behinderung textkünstlerische und bildkünstlerische Elemente kombiniert und in der Form von Kunstvideos
dokumentiert.11
Bestätigt wird nun die konkrete Realität eines solchen für die Gegenwartskunst typischen Werks, so noch einmal Aira »durch das Werk selbst sowie seine die Konzipierung des Werks umfassende Zeit ... , wobei unter dieser Zeit der historische Verlauf verstanden sei, in dem jeder Punkt einzigartig und unwiederholbar und daher nicht reproduzierbar ist.« 12 Führt man auch diese Anregung weiter, so ist die Realität und Einzigartigkeit eines Kunstwerks nicht mehr durch den Künstler und dessen Signatur beglaubigt, sondern einzig durch die Irreversibilität der Zeit, in der es entstanden ist und in der es, wie derivativ und ephemer auch immer, fortgesetzt existiert. In der Kunstauffassung der Tradition hatte man von der Authentizität des Werks gesprochen, die ihm durch geniale Schöpfer verliehen wurde - eine in der Geniesemantik verankerte Auffassung, die im zwanzigsten
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Jahrhundert in der Selbstbeschreibung der Kunst gezielt in Frage gestellt und obsolet wurde. Der souverän handelnde Künstler als demiurgische Schöpfergestalt galt nicht mehr als Instanz künstlerischer Kreativität und Authentifizierung. Bereits Simmel hatte von Kunstwerken als kulturellen Objektivationen gesprochen, die als spezifisch wirksame Einheiten »keine Produzenten haben, nicht aus einer entsprechenden Einheit eines seelischen Produzenten hervorgegangen« sind, vielmehr einer ihnen innewohnenden Formungsintention folgten. 13 Surrealistische und dadaistische Konzepte sprachen von der Widerfahrnis künstlerischer Akte in Auseinandersetzung mit Materialien, Traumwelten, Halluzinationen, vorhandenen Formen und noch nicht künstlerischen Formen, (halb) automatisierten Fertigungsverfahren, sowie die in verschiedenen Theorien festgehaltene Einsicht des offenen, unabgeschlossenen Werks. Duchamp hatte den Künstler als Medium und den kreativen Akt als eine Relation zwischen dem arithmetischen Maß des persönlichen »KunstKoeffizienten« des Künstlers, wie er formuliert, der sich aus dem intendiert nicht Dargestellten, und dem unintendiert Dargestellten errechne, und dem Betrachten
sowie den sozial etablierten Werten der Nachwelt beschrieben.14
Paradigmatische Formen der Gegenwartskunst wären dann durch schlichte Verwirklichung in der jeweiligen Gegenwart charakterisiert, die sich nicht mehr, wie man es den historischen Avantgarden zuschreibt, als Vorbote einer künftigen Zeit begreifen. Der Futurist etwa will den status quo hinter sich lassen, stürmt seiner Zeit voraus, feiert den Neubeginn.15 Weder Manifeste noch herbeizuführende Brüche oder die Begründung eines Neubeginns gehören jedoch zum semantischen Repertoire der Gegenwartskunst. Die Fokussierung auf die jeweilige Gegenwart lässt sich mühelos mit sozialtheoretischen Erkenntnissen parallel lesen, die von einer radikalen Gegenwartsbezogenheit operativer Theorieformen ausgehen. Operative oder prozessuale Sozialtheorien teilen in unterschiedlichen Theoriesprachen die Einsicht, dass alle sozialen Operationen - selbstverständlich auch künstlerische - zeitbindende Ereignisse sind, die jedoch ausschließlich in der Gegenwart stattfinden können.16 Künstlerische Formen der Gegenwartskunst realisieren dies, indem sie sich selbst als Projekte, Positionen, Kunstarbeit oder Kunstereignisse bezeichnen, um die Neubestimmung zwischen Herstellung, Aufführung, Ausstellung, Dokumentation, Betrachtung und Realisierung in der Zeit in der Kunstform selbst zu markieren, und indem sie sich nicht mehr notwendig als sichtbare, dauerhafte »Objekte« präsentieren. Damit stellt sich auch die Frage erneut, worin Kunstwerke und künstlerische Operationen eigentlich bestehen [Abb. 3].
Kunst = Nicht-Kunst Bereits bei den historischen Avantgarden galt als Kunstwerk, was
den Begriff der Kunst im Sinne der gerade geltenden Kunstauffassung in Frage stellte. Durch Transgression wurden neue Kunstverständnisse auf den Weg gebracht, sei es atonale Musik, abstrakte Malerei, Kunstereignisse als neue Formen der Aufführung mit ihren zahlreichen Varianten und Post-Varianten. Das permanente Überschreiten von Grenzen gehört zu den Prinzipien der klassischen Avantgarden der modernen Kunst, darauf komme ich zurück. Duchamps Werk galt für viele als
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In der Kunst ergeben die Teile kein Ganzes, deshalb ist ein Kunstwerk weniger als ein Ding. Wie bei einem perfekten Verbrechen oder einem Alptraum ist es überhaupt nicht klar, wie sich die Elemente zusammenfügen. Und dennoch tun sie es, durch Komposition, manchmal auch durch Zufall, so dass es scheint, als wäre das Kunstwerk ein Ding. Aber wir wissen es besser, denn nie fühlt es sich solide oder zweckmässig genug an, um das Gewicht eines wirklichen Dings zu tragen. Das heisst nicht, dass Kunst nicht wirklich existierte oder nur eine Illusion wäre. Ein Kunstwerk kann man berühren und anfassen (obwohl das für gewöhnlich nicht gern gesehen wird). Es lässt sich einoder ausschalten. Zerbrechen. Kaufen und verkaufen. Es kann sich anfühlen wie irgendein anderes Ding. Doch beim Erleben eines Kunstwerks fühlt es sich immer so an, als gebe es im Kern dessen, was es ist, ein schwerwiegendes Missverständnis, als sei es im Hinblick auf eine falsche Verwendung geschaffen worden oder mit den falschen Werkzeugen oder unter falschen Annahmen darüber, was es heisst, voll und ganz in der Welt zu sein.
3 Paul Chan, Was Kunst ist und wo sie hingehört, 2014, S. 82.
Türöffner für die gegenwärtigen Transformationen, für andere war es ein Ärgernis. Robert Smithson, als Wegbereiter der Land Art und Erfinder der Non sites, wirft etwa Duchamp eine mechanische Kunstauffassung vor und kritisiert mit der für widerstreitende Generationenparadigmen typisch pejorativen Konnotation genau das, was andere Zeitgenossen als erneuernde Impulse erlebten.17 Davon inspirierte oder parallel entwickelte, neue künstlerische Formen waren in der Musik zunächst die Einführung von Geräuschen, dann der Austausch von Klang und Stille und somit des Zufalls als Kompositionsprinzip: Silences - wie Cage formuliert- »als die Gesamtheit unbeabsichtigter Klänge. Klang und Stille auszutauschen bedeutete, vom Zufall abzuhängen.« 18 Cages graphische Notationen modifizieren die visuellen Elemente der Musiknotation, die nun explizit als nicht zu vernachlässigender Teil des Musikereignisses wahrgenommen werden und der Aufführung größeren Spielraum einräumen, aber als graphische Collagen selbst Kunst sind. Ohnehin hat die Musikkunst, da sie als Kontinuum von Komposition, Notation, Aufführung, Rezeption, Wiederaufführung, Dokumentation, Reproduktion nie der Objektfiktion
erlegen war, vorbereitet, was gegenwärtig erneut zu einem der Reflexionsthemen der bildenden Kunst avanciert.19 Gehrhard Richters Fotomalerei lässt sich in der bildenden Kunst exemplarisch in jene Linie der »halbautomatischen« Verfertigung von Kunstwerken, die auf bereits vorhandenen Formen aufbauen, als Einführung der Nicht-Kunst in die Kunst einordnen. In explizit innerkünstlerischer Dissidenz verwendet Richter ausschließlich nicht-künstlerische Fotografien als Vorlagen für seine Fotomalerei: » [ ... ] keine Kunstphotos, sondern solche von Laien oder Durchschnittsreportern. Die Raffinessen und Tricks von Kunstphotographen sind schnell durchschaubar und langweilen dann.« 20 Seine Werke bleiben aber immer noch der bildlichen Form verhaftet, die Nicht-Kunst als Bild- oder Kompositionselement besteht in den etablierten künstlerischen Formen fort.
Neuere Entwicklungen in der bildenden Kunst durchbrechen nun gerade diese Einschränkungen und produzieren Kunstwerke, die - wie Luhmann formuliert - »sich alle Mühe geben nicht als solche zu erscheinen.« Anders als kunsttheoretische Positionen, die dies als Entgrenzung oder, auf der Grundlage
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4a Robert Smithson, Spiral Jetty, 1970, 4b Robert Smithsons Spiral Jetty in Google Earth, Juli 2006, Mai 2010, Juni 2009, September 2011.
eines normativen Autonomiebegriffs, als Autonomieverlust interpretieren, geht Luhmann von einem operativen Autonomiebegriff aus. Er sieht in diesen Phänomenen den Zustand »perfekter Autonomie, und das heißt, dass [Kunst, CB] auch die Negation von Kunst nur selbst vollziehen kann. Dann spitzt sich alles auf die Frage zu: ob sie das auch kann und zwar: als Kunst kann.« 21 Die paradoxe Form Kunst= Nicht-Kunst wäre dann eine der möglichen Formen, mit der Gegenwartskunst beschreibbar wird. Und nur die Kunst kann zeigen, ob sie auf dieser Grundlage neue künstlerische Formen hervorbringen kann. Man könnte freilich einwenden, dass jede innerkünstlerische Transformation mit dieser Unterscheidung Kunst= Nicht-Kunst startet und sich dann erweist, ob sich auf dieser Grundlage innovative künstlerische Formen herausbilden, die für eine gewisse Zeit als verbindliche künstlerische Werte anerkannt sind, um erneut durch Formen der Nicht-Kunst in der Kunst irritiert zu werden, nicht ohne Spuren in der Kette künstlerischer Werte zu hinterlassen, auf die sich jeweils gegenwärtige Kunst in abgrenzender oder erneuernder Geste beziehen kann. Gerade die vehemente Ablehnung innovativer künstlerischer Formen durch Zeitgenossen, die retrospektiv ebenfalls als Neuerer gewirkt haben - so das Beispiel Smithson/Duchamp - sind Bestätigungen ihrer Bedeutsamkeit. Das Beispiel zeigt auch, dass keineswegs nur eine Form der Einführung von Nicht-Kunst, nämlich die erwähnte Nobilitierung des Zufälligen, des Vorgefundenen, der Referenz auf nicht-künstlerische Formen und deren Transformation in künstlerische Formen in der Kunst den Weg für die Gegenwartskunst bereitet hat. Auch Smithsons Non sites und Earthworks, die als Hauptwerke der installativen Kunst angesehen werden, sind einflussreiche Formulierungen negativer Ideale. Sie bestehen darin, dass neue künstlerische Formen zwar Motor und Maßstab der Kunst sind, die aber gezielt nur außerhalb der Kunst - im Sinne etablierter Kunstorte - realisiert werden können. Museen und Kunstausstellungen erweisen sich hier als »kulturelle Gefängnisse«, als »metaphysische Schrottplätze« oder »Orte der Leere«, die durch Vorstadtbrachen, Wüsten, Off-spaces ersetzt, mindestens aber in ihrer Konzeption transformiert wurden.22 Mit der dem Werk immanenten Selbstauflösung ist ein weiteres, radikales negatives Ideal der Gegenwartskunst formuliert. Es ist Teil der Konzeption, dass die Spiral Jetty in dem Great Salt Lake in Utah (1970) nach einer gewissen Zeit überflutet, nicht mehr sichtbar und möglicherweise auch nicht mehr auffindbar ist [2.4 a,b,c]. Kunst sei hier »nicht mehr als
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4c Robert Smithson, Skizze zu Spiral Jetty.
ein ,Objekt< (zu) betrachten«, betont auch Smithson. Die Arbeit erschließe sich zudem nur in der »fluktuierenden Resonanz«, die ihre produktive Kraft im Zugleich des »visuellen und auditorischen Maßstabs« entfalte.23
Wenn die Bestimmung dessen, »was als Kunst zählt, dem Kunstsystem selbst überlassen« 24 ist, so geht mit innerkünstlerischen Transformationen immer auch eine Veränderung der gültigen Kunstauffassung einher. Mit operativer Autonomie ist auch gemeint, dass die Limitierungen der Bestimmungen dessen, was als Kunst zulässig ist und was nicht, Gegenstand der Selbstbeschreibungen des Kunstsystems ist, die nicht nur diachron, sondern auch synchron durchaus im Plural auftreten. Selbstbeschreibung ist in der Gegenwartskunst Teil der produktiven künstlerischen Operation geworden, da Kunst ihre eigenen Theorien hervorbringt. Die Kurzform »beyond aesthetics« formuliert diese Einsicht in philosophischen Kunsttheorien als Verlustgeschichte. Mit jener Befreiung von der philosophischen Entmündigung der Kunst, so Danto, setze aber gerade die Gegenwartskunst ein. Diese sei seit den 1970er Jahren nicht mehr nur von Zeitgenossen hergestellte Kunst der Moderne, sondern als Kunstposition mit einem eigenen Profil unübersehbar, das im Kontrast zur Kunstposition des Modernismus nicht mehr durch Stile zu identifizieren sei und gerade rechtzeitig dem Stilparoxysmus der sechziger Jahre ein Ende bereitet habe.25 Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive lässt sich diese Befreiung als weiteres Element der operativen Autonomie des Kunstsystems analysieren. Philosophische Ästhetik als privilegierte Selbstbeschreibungsinstanz der Kunst ist in deren Ausdifferenzierungsprozess ohnehin eine kurze vorübergehende historische Singularität, da die von der Kunst selbst erbrachten Autonomisierungsleistungen immer mit der Herstellung kunstimmanenten Wissens
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in Form von Künstlertraktaten, Musiktraktaten oder literarischen Selbstreflexionen der Kunst und der Künste verknüpft waren.26 Ob das Kunstsystem, dessen Operationen im Unterschied zu denen der Wirtschaft, äußerst theorieaffin, hochreflektiert und artikuliert sind, für seine Selbstbeschreibungen Anleihen bei den Wissenschaften macht, kann unter gegenwärtigen Bedingungen nur die Kunst entscheiden und nicht die Wissenschaft.2 7 Gegenwartskunst kennt jedoch auch im Kunstsystem keine privilegierte Instanz mehr für ihre Selbstbeschreibung - jede ist eine von vielen möglichen. Airas Essay ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür sowie vielfältige Anleihen bei Kybernetik (Rudolf Arnheim, Hans Haacke, Sam Lewitt), Netzwerktheorie (Thomas Saraceno) und anderen wissenschaftlichen Modellen für künstlerische Operationen, Selbstbeobachtungen, Selbstreflexionen und Selbstplatzierung
als Kunst in der Gesellschaft. Um welche Phänomene geht es bei der zeitgenössischen Kunst, die
seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Anlass geben, künstlerische Formen und Kunstauffassung neu zu verhandeln? Bislang diente die Vielfalt und Unübersichtlichkeit der Phänomene eher als Provokationsmatrix für Kunsttheorien und nicht als Vorgabe kohärenter Analysen.28 Es ist jedoch in der Literatur gut belegt, dass sich seit dieser Zeit neue Formen künstlerischen Schaffens ausbreiten, die sich empirisch vor allem durch ihre Phänomenvielfalt auszeichnen und dadurch, dass sie nicht unter Stilkategorien, Genres oder Schulrichtungen zu subsumieren sind, sondern gerade durch die Multiplizität koexistierender Darstellungsformen beschreibbar werden: Installationen, Performances, Konzeptkunst, Land-Art, Relational Art, Appropriation Art, Kunstvideos, Kunstdokumentationen, Klanginstallationen, Zeitskulpturen, orts- und kontextspezifische Interventionen, akustische Choreografien, partizipative Aufführungs- und Ausstellungsformen, PostInternet Art, die nebeneinander existieren und sich nicht mehr in eine Abfolge bringen lassen. Vor allem aber - und das ist neu - realisiert sich diese Gleichzeitigkeit multipler Darstellungsformen in einzelnen Werken: Kunstereignisse können durchaus Klang, Visualisierung, Architektonisches, Zeichnerisches, Malerei, gerechnete sowie textkünstlerische Elemente in unterschiedlichster Weise in einem Werk kombinieren. Dort, wo rasche Festlegungen oder Reduktionen angeboten werden, sei es in kritischer oder analytischer Absicht, finden sich schnell Gegenargumente. Dass Gegenwartskunst post-konzeptionelle Kunst sei (Osborne), ist auf den zweiten Blick genauso unplausibel wie die gegenteilige Behauptung, Gegenwartskunst sei ausschließlich von konzeptionellen Innovationen angetrieben (Galenson).29 Auch hier ist nicht angestrebt ein vielfältiges und dynamisches Geschehen durch theoretische Kohärenz zu vereindeutigen, noch ist die Modellierung eines kompletten
Tableaus der Phänomene beabsichtigt. Es soll im Folgenden vielmehr davon ausgegangen werden, dass
Gegenwartskunst Gegenwartsgesellschaft vollzieht. Wie macht sie das als Kunst? Genauer: Wie werden die in der Literatur und den Selbstbeobachtungen des Kunstsystems gut belegten Phänomene der Gegenwartskunst als erneuernde künstlerische Formen beobachtbar und beschreibbar, wenn man Erkenntnisse und sich daraus ergebende analytische Prämissen prozessualer Sozialtheorien zugrunde legt?
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Ereignisbasierte Theorieformen, künstlerische Transgression und ökologische Synchronisation Zu den Prämissen ereignisbasierter Theorieformen gehört es, dass
sich soziale Prozesse in der Zeit entfalten, dass sie stets in der Gegenwart von Moment zu Moment operieren und darin keine Dauer haben, vielmehr befinden sich alle in der sozialen Welt vorkommenden Elemente in einem Prozess permanenter Selbsterneuerung. Wie Abbott formuliert: Alles in der sozialen Welt befindet sich im kontinuierlichen Prozess, sich selbst (und andere Dinge) von Moment zu Moment herzustellen, zu erneuern und aufzulösen.3° Das gilt auch für künstlerische Formen. Kunstereignisse und künstlerische Formen, in dem skizzierten, um Konzeption, Herstellung, Aufführung, Dokumentation, Betrachtung, Bewertung und erneuernder Wiederverwendung erweiterten Sinne, werden hier als Orte der künstlerischen Innovation betrachtet.31 Deren institutionelle oder dispositionelle Rahmungen können explizit als Teil der innovativen künstlerischen Form fungieren oder sie gehören zu den anderen »Dingen«, die selbstverständlich nicht unverändert bleiben.32
Entscheidend für diese Theorieform ist es, dass sie vom Primat der Zeitlichkeit ausgeht, das heißt, dass sie ihre Elemente als Ereignisse temporalisiert, daher ereignisbasierte Theorien.33 Ereignisse, die im Entstehen schon wieder verschwinden, können nur an einer bestimmten Zeitstelle, nämlich in der jeweiligen Gegenwart auftauchen. Sie können sich als Ereignisse aber nur durch die Relation zu anderen Ereignissen, die sie nicht sind, konstituieren, denn es gibt soziale Ereignisse nicht vorgängig außerhalb des Sozialen. Luhmann löst dieses Problem der Kontinuität und des Selbstkontaktes sozialer Systeme trotz zerfallsanfälliger Elemente im Anschluss an Busserls Theorie des inneren Zeitbewusstseins mit der Theorieform der Selbstreferenz und Fremdreferenz, transponiert diese jedoch ins Soziale und erweitert sie um die Einsicht, dass »Selbste«, die als Ereignisse, Prozesse und Systeme - die Reihe wäre aber fortsetzbar - jetzt im Plural auftauchen, sich
immer auf sich selbst und auf anderes beziehen und allererst in diesem Referenzgeschehen erzeugt werden.34 Uno actu erzeugen die verschiedenen Formen der Selbstreferenzen (basale Selbstreferenz, prozessuale Reflexivität, Reflexion auf Kunst als Kunst) ihre je konkreten Gegenwarten, in denen sie operieren. Sie tun das, im Falle der basalen Selbstreferenz, indem das im Verschwinden begriffene Ereignis zum Relatum für die Relation mit dem folgenden Ereignis wird und dieser Akt eine neue Aktualität, also Gegenwart konstituiert. Reflexive oder prozessbasierte Formen der Selbstreferenz können Zeitstellen überspringen, sie wählen aus potentiell möglichen Relata und konstituieren ebenfalls auf diese Weise jeweilige Gegenwarten, die keinem festen Zeitquantum entsprechen. Voraussetzung dafür ist ein reflexiver Begriff der Gegenwart, der Busserls Unterscheidung von Protention und Retention, beziehungsweise Erinnerung und Erwartung modifizierend, bei Luhmann als gegenwärtige Zukunft und gegenwärtige Vergangenheit bezeichnet wird.35
Künstlerische Operationen und Beobachtungen haben es typisch mit jenen Zeitstellen überspringenden Formen der Selbstbezüglichkeit zu tun, sie können zeitversetzt operieren und unerwartete Verbindungen herstellen. Mögliche Relata und Referenzen können in der Kunst selbst gesucht werden in Gestalt bereits
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vorhandener oder antizipierter fiktiver künstlerischer Formen. Selbstreferenz und Fremdreferenz wird kunstintern unterschieden, mit Husserls Terminologie ist Kunst immer Noesis, kann jedoch auch Noema sein.36 Das setzt die Zeitdifferenz und eine gewisse rekursive Organisation von Andersheit in der Zeit voraus. Fremdreferentielle Bezugnahmen können sich daher auf Kunst selbst - aber an einer anderen Zeitstelle - oder auf Themen und Gegenstände beziehen, die bislang nicht als Kunst galten, um daraus mit Mitteln der Kunst Kunst zu machen sowie auf innergesellschaftliche Umwelten des Kunstsystems; diese möchte ich in Anlehnung an Abbotts Konzept der »linked ecologies« als ökologische Synchronisation bezeichnen.37
Duchamps Rea<lyma<les, Cages Silences, industrielle Fertigungsweisen des Minimalismus, gewöhnliche Massenartikel des Alltagslebens der Pop Art, sozialwissenschaftliche Erhebungsmethoden und thermodynamische Rückkopplungsmodelle in Hans Haackes Realzeitkunst, ingenieurwissenschaftliche selbsttragende Netzwerkmodelle bei Tomas Saraceno, performierte Interaktionen bei Tina Sehgal sind Beispiele dafür. Transgressive künstlerische Bewegungen variieren in beiden Richtungen, sie verändern innerkünstlerische Formensprachen und sie erschließen neue Gegenstände, neue Wissensfelder, neue gesellschaftliche Konstellationen und Problemlagen. Mit jenen fremdreferentiellen oder ökologischen Transgressionen sichern sie die Synchronizität mit der gesellschaftlichen Umwelt der Kunst, dies jedoch stets mit künstlerischen Mitteln, so auch die Gegenwartskunst.
Es lassen sich aber Schwerpunkte in transgressiven Konzepten ausmachen. Alois Hahn hat die transgressiven Formen der klassischen Avantgarden nach Hypertrophien der Selbstreferenz und Hypertrophien der Fremdreferenz unterschieden.38 Für erstere steht die der l'art pour l'art Position und einer formalistischen Kunstauffassung verpflichtete moderne referenzlose Lyrik und Literatur, für letztere exemplarisch das Avantgarde-Konzept des italienischen Futurismus. Es zielt zwar ebenfalls auf inner künstlerische Dissidenz, zugleich aber auf radikale Überschreitung in Richtung Politik, Ökonomie, Wissenschaft und Militär. Dies führte zur literarischen Einmischung in die Kriegspropaganda oder zu Aufrufen, Museen, Bibliotheken, Akademien aller Art zu zerstören. Es wäre aber ein grü,ndliches Missverständnis solcher Transgressionen, die in der Gegenwartskunst in erneuerten Formen existieren, etwa als »Performances« (exemplarisch: Christof Schlingensief, Bitte liebt Österreich, 2000), unterstellte man ihnen eine reale Entgrenzung von Kunst, Politik, Intimität, Recht oder neuerlich »Leben« - wie dies in der Literatur geschieht. Denn die Transgression als solche wird als künstlerisches Ereignis aufgeführt und ist damit im Sinne der Freiheit der Kunst auch vor juristischen Sanktionen geschützt.39 Künstlerische Aufführungen sind genau dadurch charakterisiert, dass sie jede nicht-fiktionale Realität politischer, ökonomischer, intimer oder emotionaler Art auf die Bühne und zu anderen künstlerischen Darstellungen bringen können, aber eben als aufgeführte, dargestellte Realitäten.40 Sie sind deshalb nicht politisch, rechtlich, emotional, intim, sondern mit künstlerischen Mitteln und der künstlerischem Handeln und Erleben eigenen Distanz, in der Realität der Kunst dargestellte Realitäten. Pointen der Performances oder »Situationen« der Gegenwartskunst bestehen auch darin - dieses sind die selbstreferentiellen,
Temporalität der Gegenwartskunst
künstlerische Darstellungsformen selbst erneuernden Momente der Transgression-, dass die Demarkationslinien zwischen Aufführung und Zuschauern häufig erst nachträglich deutlich oder bewusst in der Schwebe gehalten werden. Die Zuschauer sind Teil des Aufführungsereignisses, bisweilen auch der Künstler selbst. Seghals »Situationen« enthalten ein Skript von Handlungsanweisungen, die sich in numerisch strikt begrenzten Wiederaufführungen mit je neuen Akteuren in der jeweils gegenwärtigen Situation als Begegnung ereignen und keinerlei physische Spuren hinterlassen. Die innerkünstlerische Dissidenz umfasst zugleich eine Institutionenkritik gegen die Monumentalisierung künstlerischer Werke im Kunstsystem. Zu der Aufführung eines initiierten Encounters - im Sinne Goffmans - vor den Türen des Palais de Tokyo gehörten als Fortsetzung der Bühne zwei komplett leer geräumte, von Zwischenwänden befreite Etagen des Palais de Tokyo (Tino Sehgal, Carte blanche a Tina Sehgal, Palais de Tokyo, 2016). Die Dokumentation oder Nicht-Dokumentation zeitbasierter Arbeiten gehören zum Skript der Werke selbst. Performances und »Situationen« sind somit ephemere, radikal verzeitlichte Kunstformen, die nur zum Teil dokumentiert werden; zunehmend kombinieren sie Klang, tanzkünstlerische, choreographische, installative, dramaturgische und bildkünstlerische Elemente (exemplarisch: Anne Imhof, Angst, 2016).41
Die Zeitdimension, die das Sinngeschehen durch die Unterscheidung vorher/nachher schematisiert, erlebbar und beobachtbar macht, beruht nun auf der Aktualität als Gegenwart, die sie in die Differenz von Vergangenheit und Zukunft platziert. Zeit ist somit nicht schon als Prozess vorhanden, der sich in der Abfolge Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft vollzieht. Dieser Vorstellung wird hier explizit widersprochen.42 Vielmehr wird Zeit in ereignis- und gegenwartsbasierten Theorien als Übergang von einer Gegenwart zur nächsten Gegenwart konzipiert, von denen aus sich dann jeweilige Vergangenheiten und mögliche Zukünfte am Horizont der Gegenwart - eine Formulierung Husserls, die sich bei Luhmann durchaus wiederfindet - erschließen. Nicht nur Ereignisse auch Strukturen, Prozesse und andere soziale Entitäten - darin liegt das Provokante und die epistemische Innovation - sind in dieser Theorieform nicht stabil und beständig, sondern strikt temporalisiert als »jeweils gegenwärtig« konzipiert, Strukturen »durchgreifen die Zeit nur im Zeithorizont der Gegenwart, die gegenwärtige Zukunft mit der gegenwärtigen Vergangenheit integrierend.«43
Auch Abbott stellt in seinen zeittheoretischen Überlegungen die Frage, wie verschiedene Gegenwarten eigentlich miteinander verknüpft sind, ob man von einer gedehnten Gegenwart ausgehen könne oder ob man sich soziale Prozesse eher als Sequenzen unverbundener Momente vorstellen müsse. Sein Entwurf einer prozessualen Soziologie geht schließlich davon aus, dass sich Zeitlichkeit nur relational konstituieren und bestimmen lässt und dies in einer Welt von Interaktionen.44 Die komplizierten Theorielagen können hier nicht einmal skizzenhaft vorgestellt werden, ihre analytischen Potentiale können nicht annähernd ausgeschöpft werden. Festgehalten werden soll jedoch eine weitere Konsequenz dieser Theorieprogramme. Durch die iterative Abfolge von Ereignissen und Ereignissequenzen kann ein Prozess ständiger Selbsterneuerung als Grundmodus des
Ereignisbasierte Theorieformen, künstlerische Transgression und
ökologische Synchronisation 51
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Sozialen und somit auch der Gegenwartsgesellschaft identifiziert werden; ein Befund, den Gegenwartskunst offenbar explizit zu ihrem Thema macht. Dynamische Stabilisierungen sozialer Entitäten, Formbildungen, prozessuale Sequenzen sowie der Komplexitätsaufbau von Möglichkeitshorizonten sind als Zwischenresultate kontinuierlicher Herstellung und Auflösung im Modus der Zeit, die als operative Zeit konzipiert wird, das zu Erklärende. Abbott erwähnt Individuen, kulturelle Strukturen, Konfliktmuster und andere soziale Entitäten. In der Systemtheorie tragen nun rekursiv organisierte Abfolgen von Ereignissen und Beobachtungen, die selbst gegenwartsbasierte Operationen sind, zum Aufbau von dissipativen Strukturen, Formen und Medien bei. Abbotts Ansatz handelt von Iterationen sequentieller Abfolgen von Ereignissen, die jeweils nächste Ereignisse und prozessuale Abläufe formieren. Sein Dreischritt »making, remaking, unmaking« ist, wie ich vermute, nicht Hegel'sch gemeint45, sondern verweist auf die Produktivität des Zerfalls und die Auflösung der Ergebnisse von Schaffensprozessen als Ergebnis von Schaffensprozessen, die in rekursiver Bewegung wiederum zu Referenten und Relata daran anschließender gegenwärtiger Schaffensprozesse werden. Dies alles im Zeitmodus
jeweiliger Gegenwarten. Noch einmal Luhmann:
» [ ... ] Zeit (ist) nicht nur thematisch, sondern viel tiefer greifend auch operativ in die Selbstbeschreibung der Gesellschaft und ihrer Welt eingebaut. Man kann dann eigentlich nicht mehr daran festhalten, daß Identitäten, seien es Objekte, seien es Subjekte, der
Zeit vorgegeben sind. Vielmehr werden sie mitten in der Zeit und je gegenwärtig konstruiert und reproduziert, um für eine gewisse Zeit Zeitbindungen zu erzeugen, die zwischen den extrem verschiedenen Zeithorizonten Vergangenheit (Gedächtnis) und Zukunft (Oszillation in allen beobachtungsrelevanten Unterscheidungen)
vermitteln. «46
Was nun bedeutet das für eine Analytik künstlerischer Ereignisse
und künstlerischer Formen der Gegenwartskunst? Kunstwerke und Kunstereignisse in allen erwähnten, sie umfassenden Dimensionen, wie Konzipieren, Herstellen, Erleben, Betrachten, Dokumentieren, Wiederaufführen sind dann auch nur als Verlauf von Ereignissequenzen möglich. Wenn Identitäten der Zeit nicht mehr vorgegeben sind, so trifft das auch für Kunstwerke und künstlerische Ereignisse zu. Damit sie als Relata im zeitversetzt operierenden, prozessualen Referenzgeschehen im Modus der gegenwärtigen Vergangenheit fungieren können, bedarf es der zeitbindenden Artefaktbildung.47 Denn ereignis- und gegenwartsbasiertes Prozessieren bedeutet auch, dass - traditionell formuliert - Objekte und Subjekte den jeweiligen Gegenwarten der Kunstereignisse nicht vorausgehen, sondern in ihnen gleich
ursprünglich hervortreten. Gegenwartskunst realisiert und thematisiert ihre eigene Operativi
tät und Ereignisbasiertheit auf unterschiedliche Weisen. Am prägnantesten realisiert sie diese mit der den Werken eingeschriebenen Selbstauflösung. Die Selbstauflösung
Temporalität der Gegenwartskunst
5 Finnbogi Petursson, Earth Series, 2009-2013, hier Earth, 2010 auf der ArsElectronica, Linz, Österreich.
als dem Schaffensprozess immanente Auflösung eines Schaffensprozesses im Sinne von Abbotts »unmake« entzieht dem Kunsterleben damit den mitlaufenden Wahrnehmungsmodus, der Kopräsenz voraussetzt, nicht aber den Modus der immanenten Bildlichkeit, der als Sinn- und Darstellungsmodus im Unterschied zum Wahrnehmungsmodus artefaktgebunden zeitversetzt operieren kann.48 Wenn sich Kunstwerke also nicht mehr als »Objekte« präsentieren, da sie aufgelöst, verborgen, ephemer, der Sichtbarkeit entzogen, aber weiterhin als Kunstwerke existent sind, wie einige der erwähnten Beispiele gezeigt haben, so wird das Kunsterleben zwar im Modus der jeweiligen Gegenwart, aber dennoch asynchron strukturiert. Das Kunstwerk ist dann nicht »Objekt« - was es eigentlich nie war, sondern es beglaubigt seine Einzigartigartigkeit, die es ja in der Tradition mit dem modernen Individuum teilt, durch seine ereignishafte Aktualisierung in der Zeit. Seine Singularität besteht nun nicht mehr darin, wie es noch bei dem späten Simmel betont wird, dass es sich um ein auf ein Allgemeines bezogenes Besonderes handelt, sondern in seiner Unwiederholbarkeit.49
Auch Klanginstallationen arbeiten typisch mit Formenkombinatoriken, die es ermöglichen, dass sich die Installationen durch selbst erzeugte Ereignisse in beständiger Selbstveränderung befinden. Klang und Visualität treten in choreographierten Abfolgen in eine Resonanzbeziehung ein, die beständig neue Formen generiert, weder Klang noch Bild werden im latenten Modus des Mediums belassen (exemplarisch: Finnbogi Petursson, Earth, 2009-2013) [Abb. 5]. Ausgestellte bzw. installierte Klanginstallationen zeigen keine stehenden Bilder, sie sind
Ereignisbasierte Theorieformen, künstlerische Transgression und ökologische Synchronisation
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immer in Bewegung, Rhythmik und dabei entstehende Muster ändern sich ständig. Zu keiner Zeit ist dieselbe Situation gegeben, die ständige Selbstveränderung ist das Interessante dieser Form. Klanginstallationen entziehen sich wegen ihrer Veränderung in der Zeit der abschließenden Wahrnehmung, indem sie ihre beständige Selbstveränderung in der Zeit und ihre eigene zeitliche Unabschließbarkeit inszenieren. 50
In der fremdreferentiellen Dimension, die ich als ökologische Synchronisation mit der Umwelt des Kunstsystems bezeichnen möchte, orientiert sich Gegenwartskunst an den epistemologischen Standards der Wissenschaften und realisiert Gegenwartskunst in einem Resonanzverhältnis mit dieser. Exemplarisch können die Realzeitprojekte Haackes angeführt werden, der in der Gegenwartskunst auch als früher Protagonist einer institutionenkritischen Kunstposition gilt.51
Diese doppelte gesellschaftliche Synchronisierung ist jedoch nicht in Manifeste oder durch die Verpflichtung auf andere als künstlerische Weltverhältnisse aus der Kunst ausgelagert, sondern sie fällt in das künstlerische Schaffen und das Kunstereignis selbst. Wie Haacke formuliert: »Statische Objekte herzustellen ist für mich unbefriedigend, weil statische Objekte in wesentlichem Gegensatz zum tatsächlichen Prozeßcharakter der uns erfahrbaren Welt stehen. [ ... ] In zunehmendem Maße trennte ich mich von illusionistischen Mitteln und verließ mich mehr und mehr auf die Operationsweisen physikalischer, biologischer und gesellschaftlicher Systeme selber.«52 Der ökologischen Synchronisation mit der wissenschaftlichen Beobachtung von Realität entspricht eine transgressive künstlerische Formfindung (Exemplarisch: Hans Haacke, Kondensationswürfel, 1963-1965; Chickens Hatching,
1969), die Echtzeitabläufe in die Kunstwerke der bildenden Kunst einführen [Abb. 6a,b J.
In absichtsvoller Selektivität werden im Folgenden zwei Besonderheiten der Gegenwartskunst erörtert, die eng miteinander verknüpft sind. Es soll zunächst das Verhältnis der bildenden Kunst, der eine herausragende Stellung in der Gegenwartskunst zukommt, zu Zeit betrachtet werden. Von sozialtheoretischem Interesse ist nicht die multiplikatorische Vervielfältigung der mit der Gegenwartskunst entstandenen künstlerischen Formen. Von Bedeutung sind vielmehr die spezifischen Formenkombinatoriken, die in den erwähnten Kunstwerken bereits hervorgehoben wurden. In der spezifischen Kombinatorik künstlerischer Formen, so die Annahme, liegt offenbar die katalytische Kraft 53 der Kunstposition der Gegenwartskunst. Über die formenkombinatorik erschließt sich dann auch das neue Verhältnis der bildenden Kunst, die traditionell als Raumkunst beobachtet wurde, zu Zeit. Gegenwartskunst ist jedoch in ihrem Vollzug und ihrer Selbstbeschreibung nicht nur im Sinne ihrer Zeitgenossenschaft Zeitkunst, sondern auch immer im Sinne des dargestellten operativen Zeitbegriffs als künstlerische Form Zeitkunst. Damit autonomisiert sich Gegenwartskunst auch gegenüber einer Verpflichtung auf anthropologische Vorgaben der Sinne und der Wahrnehmungsmedien für die kunstimmanente Formfindung, wie sie den traditionellen Kunstgattungen noch zugrunde lag. Denn der Multiplizität künstlerischer Formen korrespondiert nichts außerhalb des Kunstsystems, sie sind nicht in der Welt schon vorhanden.
Temporalität der Gegenwartskunst
6a Hans Haacke, Kondensationswürfel, 1963, 6b Hans Haacke, Chickens Hatching, 1969.
Zeitenthobenheit, Neuheit, Formenkombinatorik Kunst und Zeitlichkeit sind in mehrfacher Hinsicht verknüpft.
Künstlerisches Handeln und Erleben finden in der Zeit statt, ihr operativer Modus ist die jeweilige Gegenwart. Zugleich ist Kunst in einer spezifisch historisch-gesellschaftlichen Zeit situiert. Modeme Kunst ist - im Unterschied zur ikonischen Kunst 54
- in der Zeit gemachte und wie man seit dem 19. Jahrhundert auch in den Wissenschaften weiß, im Modus der Zeit wahrgenommene Kunst. Indem dies geschieht, schafft ein jedes Werk für sich eine Eigenzeit, seitdem und solange sich Kunst in der Gestalt von Werken in dem erörterten um Konzeption, Dokumentation, Wiederaufführung, Betrachtung, Selbstauflösung einschließlich des Ungeschaffenen erweiterten Sinne objektiviert. Die Zeit lässt sich nicht anhalten, aber sie kann modalisiert werden, sie hat kein Ende, aber was sie zeigt, lässt sich immer wieder anders unterscheiden [Abb. 7a-c]. Moderne Kunst und die Künste haben je singuläre Momente, gesellschaftlich-historische Zeit sowie die Zeit als Zeit in all ihren Dimensionen, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, vergangene Gegenwart und gegenwärtige Zukunft immer schon zum Thema gemacht. Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass sich, in den hier exemplarisch betrachteten Positionen der Gegenwartskunst, Kunstwerke und Kunstereignisse explizit als zeitbasiert und gegenwartsgenerierend im Sinne der erörterten operativen Zeit realisieren. Diese Zeitauffassung, so hatten wir gesehen, konzipiert Zeit nicht als Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, sondern als Übergang von einer Gegenwart zur nächsten Gegenwart und gerade in der künstlerischen Verwirklichung dieser Konzeption von Zeit besteht eine Charakterisierung zeitgenössischer Kunst als Gegenwartskunst. Durch ihre zeittheoretisch fundierte und mit künstlerischen Mitteln verwirklichte Fokussierung auf die Herstellung von und die schlichte Verwirklichung in der Gegenwart unterscheidet sie sich von den klassischen Avantgarden, die sich für das künftige Werden der Zeit und als Wegbereiter einer neuen Zukunft begriffen.55 Von jenem analytischen Zeitverständnis, wie es auch ereignisbasierten Sozialtheorien zugrunde liegt, mit denen sich Gegenwartskunst in einem Verhältnis ökologischer Synchronisation befindet, unterscheidet sich die Zeitsemantik einer jeden Epoche, die deren jeweiliges Handeln und Erleben orientiert. Davon ist noch einmal die gemessene Zeit als periodisierte, chronologische oder Uhrzeit zu unterscheiden, auch diese ist Thema der Gegenwartskunst. Der Konzeptkünstler Joseph
Zeitenthobenheit, Neuheit, Formenkombinatorik 55
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7a Videostill aus Elfriede Jelinek, Olga Neuwirth, Die Schöpfung, 2010.
·,---r"r-r··r·i··T"r-~r·r" r··•--r·,·1·-1···, T
00:00:15.000 00:00:20.000
00:00:10.000 00:00:15.000 00:00:20.000 ., 00:00:25.000 Musik (Beginn mit Fanfare
Wind/Rauschen/sphärische Klänge
schwarzer Bildschirm Explosion (Urknall? Feuer?
Eingeblendete
Sprechtext 1 sc71öfi
7b Ausschnitt aus eigener Videoanalyse von Jelinek, Neuwirth, Die Schöpfung, 2010 mit der Software ELAN.
Temporalität der Gegenwartskunst
G LICHT WERDE (0:53-1 :29)
AG Im Anfang war das Wort Und=
K =die scheibe rollt mit der zeit nein, nicht mit ihr gemeinsam vielleicht IN der zeit durchs jetzt es entsteht ein hintereinander der zeit das nicht gemacht werden kann weil die zeit sowieso abläuft ob sie will oder nicht ob man will oder nicht eins nach dem andern eins hinter dem andern alles was geschieht rollt aus der zukunft ins vergangene da kommen meter an zeit daher torkeln an einem vorbei und verschwinden und sind vergangenheit es geht mit der zeit nein, nicht mit=der=zeit sondern MIT der zeit ins nicht umkehrbare nichts bringt die zeit zu irgendwas, das sie nicht will (---)
G NACHT (2:19-2:24)
AG Oder doch (prima la music dopo la parola)?
7c Ausschnitt aus eigenem Transkript von Jelinek, Neuwirth, Die Schöpfung, 2010.
·r T ·i- T ·r·r-r·r
00:00:35 000 ·T·rr-r·r·r·1
00:00:40.000 r· r···r--r··r·r·r-r
00:00:45.000 T·r·r-1-·r-r·rT'TT··,··r·T r r-r-•T'I
fade Wechsel zu "kosmischen Lichtern" schwarzer Bildschirm /Hintergrund
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1 Gottes! Gottes Arm verl
1 im anfang(-) schuf gj die erde war
Zeitenthobenheit, Neuheit, Formenkombinatorik 57
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8 Joseph Kosuth, Clock (One and Five), English/Latin Verison, 1965.
Kosuth, Clock (One and Five) (1965), hat sich mit fünf verschiedenen Darstellungen der als Uhrzeit gemessenen Zeit beschäftigt [Abb. 8). Indem er in Clock einer tickenden Uhr eine Fotografie dieser Uhr sowie drei lexikalische Einträge als mediale Übersetzungen des scheinbar gleichen »Objektes« gegenüberstellt, ergründet er mit ästhetischen Mitteln die Zeit als immer schon in der Darstellung konzipierte Zeit.56
Während wir das analytische Zeitverständnis der operativen Zeit
als Analytik auch über andere epochale Zeitauffassungen legen, rekonstruieren die gut dokumentierten Forschungen zu Zeitsemantiken die historisch verschiedenen Auffassungen der Zeit.57 Mit der Veränderung der Zeitsemantik verändert sich auch das jeweilige Verhältnis zur historischen Zeit. Offenbar hat sich Kunst früh und in Parallelität mit den Wissenschaften ein besonderes Verhältnis zur Neuheit und im Unterschied zu den Wissenschaften seit dem historistischen 19. Jahrhundert ein besonderes Verhältnis zur historischen Zeit vorbehalten. Das wird an den Veränderungen des Konzepts der Moderne, der damit einhergehenden Auffassungen des Schönen einschließlich dessen Relativierung und schließlich Obsolet-Werden als ästhetisches Kriterium des Kunstschaffens deutlich. An die Stelle von Stilkriterien und den Differenzwerten schön/ hässlich als Orientierungs- und Beurteilungsmatrix des Kunstschaffens sind in der Gegenwartskunst Forrnenkombinatoriken als generativer Modus künstlerischen Schaffens getreten. Beschreibt man die katalytische Kraft morphogenetischer Veränderungen als Prinzip der Formgenese der Gegenwartskunst so vollzieht sie sich nicht in gezielter Absetzbewegung oder im wertenden Vergleich mit früheren Stilen oder künstlerischen Formen. Sie tritt hinzu und koexistiert, indem aber uno acta traditionelle Unterscheidungen von Zeitkunst und Raumkunst sowie disziplinäre oder genrespezifische Zuordnungen als Orientierungswerte kollabieren. Blicken wir einmal zurück.
Zu den klassischen Bestimmungen von Kunstwerken gehörte es gerade nicht, dass sie als Elemente im Zeitlauf von jeweiligen Gegenwarten fungieren.
Temporalität der Gegenwartskunst
Vielmehr sei ein Kunstwerk erst dann Kunstwerk, wenn es den Kontingenzen der historischen Zeit enthoben sei; seine »Selbstständigkeit« bestimme sich ganz wesentlich durch seine Augenblick und historischen Zeitpunkt überdauernde Qualität, also dadurch, dass es ein Höchstmaß an ahistorischer Zeit in sich versammle. Die Klassik hatte dieses Versprechen sogar mit einer zeitunabhängigen Vorbildlichkeit kombiniert und das ästhetische Maß zugleich an einer über den individuellen Fall hinausgehenden Idealiät orientiert.58 Die den Moment überdauernde Existenz des Kunstwerks und dessen künstlerische Qualität, die in der Tradition ganz wesentlich durch die Schönheit, im Sinne der wohlgeordneten, komponierten Form gegeben war und gegenüber der Hässlichkeit privilegiert wurde, ermöglichten erst dessen wiederholte Betrachtung. Der Künstler könne, so hatte Lessing 1766 formuliert, von der »immer veränderlichen Natur« sowie von Erscheinungen, die »plötzlich ausbrechen und plötzlich verschwinden, dass sie das, was sie sind, nur einen Augenblick sein können« nur einen einzigen Augenblick festhalten. Da aber Kunstwerke gemacht seien, um »nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet zu werden: so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes, nicht fruchtbar genug gewählet werden kann.« Jener einzige Augenblick erhalte durch die Kunst eine »unveränderliche Dauer: so muß er nichts ausdrücken, was sich nicht anders als transitorisch denken läßt.« 59 Die Größe eines Kunstwerks - gemeint sind die klassischen Raumkünste - zeige sich in Wahl und Darstellung jenes fruchtbaren Augenblicks.
Die Kunstauffassung der dauerhaften Gültigkeit und zeitenthobenen Vorbildlichkeit kollidierte jedoch mit der zunehmenden Wertschätzung des Neuen in der Kunst und der neuzeitlichen Wissenschaft sowie einer im 18. Jahrhundert einsetzenden Historisierung der Zeit. Das Gebot, neu zu sein, hatte sich offenbar »in der Kunst schneller und radikaler durchgesetzt als anderswo.«60 Trotz der Sonderstellung der Kunst unter den Sozialsystemen kommt diese an Neuheitserwartungen
Zeitenthobenheit, Neuheit, Formenkombinatorik 59
60
sich orientierende autonome Entwicklung erst mit der abgeschlossenen Ausdifferenzierung des Kunstsystems im 19. Jahrhundert zum Tragen. Baudelaire bestreitet den Begriff der absoluten Schönheit mit seinem Diktum die Schönheit sei unweigerlich eine doppelte Komposition »que le beau est toujours, inevitablement, d'une composition double«, und stellt ihm einen zeitrelativen Begriff des Schönen zur Seite, den er in jeder Epoche zu finden glaubt.61 Diese Zweiheit der Kunstauffassung korrespondiert mit seinem Begriff der Modernität, den er - auf die Kunst bezogen -aus den beiden Hälften des Flüchtigen, Kontingenten, Zufälligen und des Ewigen und Unwandelbaren komponiert: »La modernite, c'est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitie de l'art, clont l'outre moitie est l'eternel et l' immuable. Il y a eu une modernite pour chaque peintre ancien.«62 Damit ist ein Wendepunkt für das Selbstverständnis der Kunst und zugleich eine Konsequenz der Historisierung der Zeit markiert, denn für jeden Maler der Vergangenheit habe es eine Modernität gegeben und darin ist auch impliziert, dass die Epochen der Vergangenheit sich selbst Gegenwart waren. Kunst erhält eine neuen Stellenwert in der Zeitbewegung, sie ist nicht mehr als Anlehnung an vergangene Vorbildlichkeit oder Unüberbietbarkeit konzipiert. Modernität ist auch nicht mehr als Absetzbewegung gegen gewachsene Tradition und als Antwort auf die Erfahrung ihres Ungenügens konzipiert, vielmehr impliziert das Modernitätskonzept der Kunst des 19. Jahrhunderts »das absolute Postulat der Erneuerung via Negation des transitorisch Gegenwärtigen.«63
Gut einhundert Jahre später erklärt Richter, jetzt auf die Frage der Aufmerksamkeitskonjunkturen für bestimmte Kunstrichtungen bezogen, dass die Frage der Aktualität von Kunst für ihn nicht von Interesse sei: »Weil für mich Kunst aktuell bleibt; sie wird nicht irgendwann von Zeit zu Zeit erledigt. Sie hat mit der Zeit gar nichts zu tun.«64
Obgleich das Neue in der Kunst erwartet wird, werden noch im 19. Jahrhundert neue Noch-Nicht-Künste mit Nachdruck abgewehrt. Zu der »reinen Kunst der modernen Auffassung nach«, wie Baudelaire formuliert, gehöre nicht die Fotografie, die er verglichen mit der Malerei als seelenlos bezeichnet und daher deren Kunstanspruch vehement bestreitet. Die Dadaisten als Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts setzten sich hingegen mit eben solcher Vehemenz für die gleichberechtigte Anerkennung der neuen kinematografischen Kunstform ein. Mit den neuen Künsten Fotografie und Kinematografie gingen neue kategoriale Wahrnehmungs- und Beobachtungsformen einher, die Darstellungs- und Verweisungsmöglichkeiten bestehender Künste anreicherten. Auch neue Rezeptionsformen, sowie neue Publika und neue Professionsrollen im Feld der Kunst waren die Folgen.65
Das trifft auch in der Gegenwartskunst zu: So ist die Rezeption von Kunstvideos gerade nicht nach der linearen Rezeptionsweise des nunmehr klassischen Films, vielmehr als unabschließbarer Loop konzipiert, der Gegenwart an Gegenwart anschließt.
Kunstformen, die traditionelle Gattungsgrenzen überschreiten, wehrt Baudelaire ebenso entschieden als eine verhängnisvolle Folge der Dekadenz ab: »daß jede Kunst heutigen Tages eine Neigung zeigt, in die benachbarte Kunst überzugreifen, daß die Maler musikalische Stufenleitern in die Malerei einführen, die Bildhauer farbige Skulpturen liefern, die Literaten malerische Mittel in der
Temporalität der Gegenwartskunst
Literatur verwenden.«66 Auch Kant hatte im ausgehenden 18. Jahrhundert die Frage der Verbindung der schönen Künste »in einem und demselben Producte« eher skeptisch beurteilt. Er räumt diesen Werken allenfalls eine gesteigerte Künstlichkeit ein, bezweifelte aber deren Schönheit »da sich so mannigfaltige verschiedene Arten des Wohlgefallens einander durchkreuzen.«67 Die ästhetische Erfahrung des Subjekts, die er anthropologisch fundiert und durch ihre Zweckfreiheit von der begrifflich-epistemischen Erfahrung als Weltverhältnis unterscheidet, bildet hier den Maßstab.
Die mitlaufende klassische Unterscheidung von Raumkünsten und Zeitkünsten wurde im 19. Jahrhundert mehrfach durchkreuzt. Während Lessing noch formuliert hatte, es »bleibt dabei: die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters, so wie der Raum das Gebiete des Malers«, hatte Herbart den Begriff des sukzessiv Schönen gefunden.68 Jetzt galt die durch intendierte ästhetische Abwechslung erzielte Aufmerksamkeitsbindung des Zuschauers oder Zuhörers als ausgezeichnetes ästhetisches Kriterium der Kunstwerke. Sukzession als ästhetisches Prinzip fand Herbart sowohl in den Zeitkünsten, Musik und Aufführungskünste, jedoch auch in den Raumkünsten, besonders in der Architektur verwirklicht. »Der Raum mit seinen drei Dimensionen ist für die Ästhetik weit ergiebiger als die Zeit; [ ... ] Die Sukzession im Auffassen des Räumlichen läßt sich leicht umkehren; nicht so beim Zeitlichen.«69 Zudem hatten Wahrnehmungstheorien des 19. Jahrhunderts, an denen sich der Impressionismus inspiriert hatte, Wahrnehmungen, also auch das Sehen, als sukzessives Schauen, als eine Operation in der Zeit identifiziert.
Erwartung und Präferenz für das Neue hatten seit dem 19. Jahrhundert eine beschleunigte Stilentwicklung zur Folge, so dass es nach der Romantik nicht mehr möglich war, einen mehrere Kunstarten umfassenden Epochenbegriff zu finden. Damit ging die Anlehnung des Kunstsystems an den Markt einher sowie der Wechsel vom Akademie-Regime zum Händler/Kritiker-Regime.70 Mit den nach 1900 auftretenden neuen Schulen Expressionismus, Futurismus, Dadaismus, Surrealismus kündigte sich ein neues Verhältnis der Stilrichtungen zueinander an. Da sie nicht mehr in eine diachrone Abfolge zu bringen waren, existierten sie als Vielfalt gleichzeitig präsenter Möglichkeiten nebeneinander, bis hin zum Stilparoxysmus der 1960er Jahre. Ähnliches gilt für die Entwicklung von Genres: Die quantifizierende Beobachtung der Kunstevolution zählt sechzig neue Genres im 20. Jahrhundert bis zu den 1980er Jahren.71 Gegenwartskunst orientiert sich weder an Stilen noch an Genres, es koexistieren vielmehr Kunstpositionen durchaus in wechselseitiger Abgrenzung zueinander. Das Auftreten neuer Formen bedeutet nun nicht mehr das Ende aller vor ihr bestehenden. Weder Epochen noch Stilrichtung oder Genres dienen als Programmvorgaben oder Orientierungsgrößen, vielmehr, so hatte Luhmann formuliert, programmieren sich die Kunstwerke selbst. Deren im Werk selbst realisierter Maßstab ist dann passende oder nicht passende Kombinatorik von Formen.72 Mit Selbstprogrammierung ist gemeint, dass das Kunstwerk im Sinne des beschriebenen Verlaufs von Ereignissequenzen seiner Aktualisierungen die Bedingungen seiner eigenen Entscheidungsmöglichkeiten konstituiert. Die Limitierung des ästhetisch Möglichen ist nicht mehr durch Regeln, Epochenstile
Zeitenthobenheit, Neuheit, Formenkombinatorik 61
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9a-b Anne lmhof, Angst III, 2016, Performance im Musee d'art contemporain de Montreal, Kanada (La Biennale de Montreal 2016), 9c Anne lmhof, Angst II, 2016, im Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart, Berlin, Deutschland.
oder Genregrenzen gegeben, sondern durch die je aktuellen Formentscheidungen eines jeden Werkes. Die erneuernde Aktualisierung geschieht in Differenz und in Relation zu dem potentiell im Medium der Kunst Möglichen, d. h. dem Insgesamt der Formentscheidungen, die im Zuge der Autonomisierung des Kunstsystems je als ästhetische Formen realisiert wurden. So kombiniert Imhofs Ausstellung-alsOper, Angst (2016), Musikkomposition, Gemälde und skulpturale Elemente, bringt damit zwar in Anlehnung an die Form der Oper Musik, Text und Bild in einer zeitlichen Erfahrung zusammen. Choreografien, räumliche Installationen, Skulpturen und aktualisierte Formen des im 18. Jahrhundert aufgekommenen Tableau vivant dienen aber gerade nicht als bloße Requisiten [Abb. 9a-c]. Alle Formen sind vielmehr autonom und operativ zugleich, da sie die in zeitlicher Abfolge auftretenden Elemente in einen strukturierten Zusammenhang bringen. Gegenwartskunst resym
metrisiert somit Bild, Klang und Text in einem Werk, indem sie diese kombiniert und damit neue künstlerische Formen hervorbringt.73 Im Werk selbst wird entschieden, ob und wie etwa Elemente der ästhetischen Klassik als bewusstes Gestaltungsprinzip, freilich ohne Epochen- und Zeitindex, in einem Werk der Gegenwartskunst Platz finden, wie beispielsweise im kinematografischen Werk Steve McQueens.74
Temporalität der Gegenwartskunst
Kunst und Wissenschaft Wie lassen sich nun Parallelen und Unterschiede der Handhabung
des Neuen in Kunst und Wissenschaft beobachten? Neue künstlerische Formen widerlegen oder ersetzen frühere nicht, Renaissance und Romantik werden nicht falsch oder obsolet durch Impressionismus, Dadaismus oder Gegenwartskunst, Gustav Mahler nicht durch Arnold Schönberg, beide nicht durch Luigi Nono oder Pierre Boulez, Jean Paul nicht durch Elfriede Jelinek. In der Wissenschaft verdrängen die meisten jüngeren Erkenntnisse die älteren oder nehmen das, was weiterhin wahr ist, in sich auf. Es gibt einen Stand der Forschung, vergangene Erkenntnisse können der Wissenschaftsgeschichte überlassen werden. Die Kunst erklärt möglicherweise die Tradition für tot, aber ihre Werke hält sie lebendig, sie fallen nicht aus der ästhetischen Betrachtung und den Verweisungshorizonten für künstlerische Ereignisse heraus. Kunst und Wissenschaft stehen in einem unterschiedlichen Verhältnis zur historischen Zeit. Daher die Bedeutung der Museen für die Kunst, mit allen ihren Derivaten und den sie erneuernden Kritiken. Die weltweit institutionalisierten Museen und Kunst-Ausstellungsformen markieren auch das unterschiedliche Verhältnis zu den Publika von Kunst und Wissenschaft: Kunst muss gezeigt werden, Wissenschaft kann im Verborgenen wirken.
Es wäre aber zu einfach davon auszugehen, Wissenschaft sei kumulativ und Kunst nicht-kumulativ, auch in den Naturwissenschaften führen nichtkumulative Ereignisse zu neuen Erkenntnissen, besonders aber in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Wissenschaft und Kunst kennen gleichzeitig amtierende widerstreitende Generationenparadigmen.75 Vielmehr erfährt das Neue in Kunst und Wissenschaft selbst eine grundlegend verschiedene Bewertung. In der modernen Kunst ist die Neuerung ein Wert um ihrer selbst willen, Neuerung selbst gilt als hervorragender Wert, während Neuerungen um ihrer selbst willen, die kein wissenschaftliches Problem mit wissenschaftlichen Verfahren lösen, in der Wissenschaft verurteilt werden. Neuheit ist in der Wissenschaft nur anerkannt, insofern sie für sich beanspruchen kann, Wahrheit zu sein. Wissen und wissenschaftliche Erkenntnisse spielen selbstverständlich auch in der Kunst eine Rolle, Kunst nimmt immer wieder explizit Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Verfahren: Haacke hat seine Museumsumfragen und genealogischen Analysen des Besitzerwechsels von Kunstwerken zur Offenlegung von Besitz- und Machtverflechtung tatsächlich mit sozialwissenschaftlichen Methoden durchgeführt. Sie beanspruchen jedoch nicht wissenschaftliche Wahrheit, erzielen aber eine deutlich größere öffentliche Aufmerksamkeit als die zahlreichen zeitgleich durchgeführten sozialwissenschaftlichen Analysen gesellschaftlicher Machtverflechtung.76 Saracenos Cloud-Cities sind in enger Kooperation mit Wissenschaftlern entstanden und experimentieren mit ingenieurwissenschaftlichen Modellen, wie z.B. Buckminster Fullers tensegrity-Strukturen, um soziale Netzwerke und Sphärenstrukturen zu veranschaulichen [Abb. 10]. Dennoch handelt es sich im Kern um künstlerische Praxis.77 Walid Raads Atlas Group arbeitet mit dokumentarischen und archivarischen Recherchetechniken der Zeitgeschichte und spielt mit der Differenz von zeithistorischer Dokumentation und Fiktion.78 Literarische Texte und Werke der bildenden Kunst
Kunst und Wissenschaft 63
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10 Tomäs Saraceno, Galaxies Forming along Filaments, like Droplets along the Strands of a Spider's Web, 2009. Installationsansicht auf 53. Biennale di Venezia, Italien.
setzen durch ihre künstlerischen Formverfahren ihr Wissen und ihren Erkenntnisanspruch aufs Spiel und halten diesen in der Schwebe, neu hingegen ist die künstlerische Form. Ebenso finden sich ästhetische Prinzipien und künstlerische Verfahren in der Durchführungsrealität wissenschaftlicher Praxis: Gesichtspunkte von Symmetrie, Einfachheit und Eleganz bei Modellbildung und Darstellung, Collagen, Assemblagen und Montagetechniken oder kategoriale Anleihen wie »lyrical sociology« bei ästhetischen Formen für die Verfertigung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Es sind Darstellungsweisen, Techniken und methodische Verfahren, aber nicht die als neu kommunizierbaren Resultate wissenschaftlicher Forschung.79 Gleichwohl sind, wie Performativitäs- und Device-Forschungen zeigen, Art und methodisch basierte Verfahren der Darstellung von dem sie generierenden Wissen nicht zu entkoppeln. Herstellung und Darstellung fallen auch hier in eins. Vielleicht hat Kunst auch hier einen Modellcharakter für andere gesellschaftliche Felder.80 Während Wissenschaft und ihre Anwendungsfelder die Performativität ihres Sinngeschehens invisibilisieren, wird diese in der Kunst offenbart. Für moderne Kunst sind literarische Texte, Bilder und künstlerische Artefakte, in denen sich Kunst selbst als in der Zeit gemachte Kunst begreift, das kommunizierbare Resultat. Die in das Kunstwerk eingeschlossene konstitutive Spannung zwischen Akt, Verfahren, Darstellung und Dargestelltem als künstlerisches Bildprinzip, das zugleich ein Was und ein Wie thematisiert, ist konstitutives Verfahren der unabschließbaren Werk- und Bildgenese. Es sind daher auch Bilder und künstlerische Artefakte, und nicht Stile, Theorien oder Programmatiken, die Paradigmen neuer künstlerischer Formen bilden.81
Temporalität der Gegenwartskunst
11a Ai Weiwei, Fairytale, 1001 Chairs, 2007, 11b Ai Weiwei, Fairytale, 2007, auf der
documenta 12.
Unabschließbarkeit, Derivate, Nicht-Ausstellung Mit der Moderne hatte sich an der Stelle der religiös interpretier
baren Ewigkeitssemantik, der in der Kunst ein Begriff des absoluten, zeitenthobenen Schönen entsprach, eine neue Zeitsemantik etabliert, die stattdessen von der unendlichen, unabschließbaren Sukzession des Endlichen ausgeht. Der Begriff der Schönheit wurde zunächst erweitert um Konzepte des (zeit-)relativen und des sukzessiv Schönen, verlor jedoch mit dem 20. Jahrhundert seine Bedeutung als privilegiertes ästhetisches Kriterium. Dennoch hatte Kunst nicht die Werke vergangener Epochen und Stile in die Archive verbannt, sondern führt sie im Möglichkeitshorizont der Kunstereignisse in den jeweiligen Gegenwarten immer mit.
Gegenwartskunst überlässt nun die unendliche Sukzession von Endlichkeiten nicht der Unabschließbarkeit der Rezeption von Kunstwerken, indem sie auf potentiell unabschließbare Lesarten oder sich wandelnde Rezeptionskontexte setzt. Vielmehr wird, so konnte gezeigt werden, unendliche Sukzession und Unabschließbarkeit zum Moment der künstlerischen Artefakte und Kunstereignisse der nunmehr sich selbst als ereignis- und zeitbasiert konzipierenden bildenden Kunst, die ihr ästhetisches Kriterium in passenden Formenkombinatoriken findet. Sie aktualisiert in historisch ausgreifender Perspektive vergangene künstlerische Formen erneuernd in den jeweiligen Gegenwarten und überführt genreübergreifende Kombinatoriken in neue künstlerische Formen. Formenkombinatoriken erweisen sich dabei als erneuernde Katalysatoren für die Verzeitlichung des Bildlichen.
Exemplarisch kann die im Kunstwerk konzipierte Unabschließbarkeit, Aira hatte von Kunst ohne Werk gesprochen, an Ai Weiweis Farytale (2007) verdeutlicht werden, das die Selbstbezeichnung Projekt trägt, um die Neubestimmung des Verhältnisses von Herstellung, Aufführung, Werk und Dokumentation zu markieren. Das Projekt bestand darin, sukzessiv 1001 Chinesen mit unterschiedlichem Alter und unterschiedlichem Hintergrund zur documenta 12 einzuladen, die während 28 Tagen eine eigene Geschichte erleben sollten [Abb. lla-c]. Die documenta war uno actu institutioneller Ort der Aufführung und Atelier der Herstellung des Werks, das sich als doppelte künstlerische Intervention in die Erfahrungswelt der eingeladenen chinesischen Bürger und in das Stadtbild Kassels und somit des Betrachters verstand. Zugleich verwendet es Anleihen der Textkunst,
Adam Ross _......, ~eaWe Lakeside School students (28l
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indem es sich als erlebtes Märchen versteht - ein Märchen, das sich erst durch den vom Kunstwerk selbst geschaffenen Erlebnisraum ereignen und erzählen kann. Die Aufführung selbst wurde nie vollendet, nicht alle vorgesehenen chinesischen Akteure -für die Ai Kleidung und Schlafräume entwarf - trafen in Kassel ein. Die Existenz des Werks setzt sich jedoch in medialen Übersetzungen fort: weltweite Wiederaufführungen, Fotografien von Einzelsequenzen als Exponate in Galerien und Museen, Buchdokumentationen, DVDs, seit 2012 in einer zweieinhalbstündigen Videodokumentation auf YouTube, die explizit als Teil des Projektes aufgefasst wird. Kombiniert werden hier Elemente von Aufführungskunst, Textkunst, Bildkunst mit einer kategorial durch die Land Art eingeführten künstlerischen Form, die uno actu außerhalb von Ateliers, Museen oder Bühnen Herstellung und Aufführung der Werke in eins fallen lässt. Zu den Effekten des auf diese Weise inszenierten künstlerischen Ereignisses gehörte es, dass die Extension des Werks nicht klar identifizierbar ist: auch andere asiatische Passanten wurden von documenta Besuchern als Teile des Kunstwerks betrachtet. Soziologisch lässt sich dies als Experiment in künstlerischer accountability interpretieren, im Sinne der ethnomethodologischen Erkennbarkeit, Berichtbarkeit und wechselseitigen Versicherung dessen, was hier der Fall ist.82
Auch Christos temporäre Verpackungskunstwerke sprengen die Grenzen musealer Kunst. Darin bestehen sachliche und zeitliche Parallelen zu Smithsons Auszug aus den Kunstinstitutionen, mit dem die Etablierung einer nicht deplatzierbaren in situ Kunst einherging, die nicht Architektur ist. Atelier und Aufführungsort wurden bei Christo in urbane oder landschaftliche Räume verlegt. Die ersten realisierten Projekte waren verpackte Museumsgebäude (Wrapped Kunst
halle Bern, 1967-1968; Wrapped Museum of Contemporary Art Chicago, 1968-1969). Es folgten eine Reihe von Verpackungen öffentlicher Gebäude, die bewusst an historisch gewachsene Artefakte anknüpften und deren architekturgeschichtliche Existenz mit Formen der bildenden Kunst fortschrieben (Pont Neuf Wrapped,
1975-85; Wrapped Reichstag, 1971-1995). Die Verhüllung des Pont Neuf setzte im Modus der Formenkombinatorik die sukzessiven Metamorphosen der ältesten erhaltenen Brücke in Paris - Ausbau massiver Rokokostrukturen, Abriss und Wiederaufbau - durch eine neue skulpturale Dimension fort und verwandelte sie für vierzehn Tage in ein begehbares Kunstwerk. Die Selbstauflösung - im Sinne von Abbotts »unmake« - bezieht sich nur auf die zeit- und ortsgebundene begehbare Verhüllungsskulptur. Bei Christos Projekten werden alle Beteiligten, die politischen Bewilligungsinstanzen, lokale Helfer, Fotograf, Künstler, Besucher unweigerlich Teil des Kunstwerks. Nach dem Abbau der Verhüllungsskulpturen oder der Interventionen in Kulturlandschaften (The Gates, Central Park, 1979-2005; The Floating
Piers, Lago Iseo, 2014-2016) existiert das Werk in derivativer Form fort, das verwendete Material wird recycelt. Die hier vorgeführte derivative künstlerische Wertschöpfung beruht freilich darauf, dass die Derivate wie Skizzen oder Fotografien ihren künstlerischen Wert gerade der im Modus der vergangenen Gegenwart aktualisierten Existenz jener zeitlich limitierten skulpturalen künstlerischen Form verdanken, auf die jene Derivate verweisen. Sie verdankt sich der Möglichkeit des
Temporalität der Gegenwartskunst
zeitversetzten Operierens des bildlichen Darstellungsmodus, der aber selbst noch einmal in verschiedenen Modi auftritt.
Genette hat in kritischer Absetzung von Goodmans Unterscheidung autografischer ( Skulpturen, Malerei) und allografischer Kunstwerke (Musik, Text und Aufführungskunst) eine minutiöse Klassifikation der Existenz- und Aktualisierungsweisen von Kunstwerken vorgelegt, die eher einem Kontinuum als einer dualistischen Ontologie entsprechen. Interessant ist sein Konzept von Immanenz, das nicht identisch aber kompatibel mit dem hier verwendeten Konzept der Immanenz ist. Auch Musik und Literatur existieren als Kunstwerke im Modus der Immanenz. Folgt man Genettes detaillierler Klassifikation der Typen von Immanenz findet man eine überfülle von Versionen und eine überzeugende Erschließung der Phänomenvielfalt von Existenzweisen künstlerischer Formen, die in Graden der Unterscheidung variieren: multipel, plural, materiell, ideell, fragmentarisch, unvollendet und viele andere. Immer geht es darum, dass nicht das Werk an sich bestimmbar, sondern nur aufeinander verweisende Aktualisierungsformen zu identifizieren seien. Den Modus der Immanenz bezeichnet er, so lässt sich reformulieren, als artefaktgebundene, dominante und primäre Existenzweise von Kunstwerken; darin besteht die Übereinstimmung. Wir waren ja von einer dreistelligen artefaktgebundenen Immanenz ausgegangen, die auf das Werk selbst verweist und nicht auf Handlungsanschlüsse aus dem Bild heraus, wie im Falle des instruktiven Modus [Abb. 12a-c]. Davon unterscheidet er den transzendenten Modus, der ohne den immanenten Modus nicht denkbar ist, also davon abgeleitet und darauf bezogen.83 Ein zerstörtes Kunstwerk kann dann, obgleich als Artefakt nicht mehr vorhanden, als Rekonstruktion - wie im Fall der Tempel von Palmyra - oder in derivativer nicht materialisierter Form, aber auf den Modus der Immanenz bezogen, aktualisiert werden. Ein konzipiertes, nicht vollendetes Kunstwerk - und das ist der hier interessierende Fall - wäre ein solches Derivat, das im erklärten Nichtvollzug auf den Modus der Immanenz bezogen bleibt. Auch der Akt der Nicht-Aufführung eines konzipierten Werkes kann daher im derivativen Modus Kunstwerk sein; so das seit 25 Jahren geplante und bereits mit erheblichen Investitionen vorangebrachte Projekt Over The River. Wie die Silences in der Musik oder das explizite Schweigen in der Textkunst handelt es sich hier um eine eminent künstlerische Mitteilung.84
Fernsynchronisation Gegenwartsgesellschaft hat einen ökologischen Synchronisations
bedarf eines jeden Subsystems oder Feldes mit seiner innergesellschaftlichen Umweltdas wurde am Fall der Gegenwartskunst vorgeführt. Dies trifft für Kunst ebenso wie für alle anderen Felder zu und setzt die wechselseitige Anerkennung der Subsysteme als autonom voraus. Immer geht es darum, den Standard der eigenen Möglichkeiten, dem juristisch Möglichen im Recht, dem epistemisch Möglichen in der Wissenschaft, dem künstlerisch Möglichen in der Kunst mit künstlerischen Mitteln in fremdreferentieller Bezugnahme mit den sachlichen Standards anderer Sinnuniversen aufs Neue zu synchronisieren.85 Zeitlichkeit besteht als Sukzession
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12a Videostill aus Francis Alys, Don't Cross the Bridge Before You Getto the River,
2008, 12b Ausstellungsmaterial zu Francis Alys, A Story of Negotiation, Museo de Arte Latinoamericano de Buenos Aires, Argentinien, 2015/2016, 12c Öffentlichkeits
material zur Operation Hermes, Frontex, 2007.
und als Gleichzeitigkeit, beide Modi des Zeitlichen werden, wie an paradigmatischen Werken gezeigt werden konnte, in der Gegenwartskunst realisiert.
Gegenwartsgesellschaft setzt sich neben dem ökologischen Synchronisationsbedarf jedoch zunehmend auch dem Synchronisationsdruck der Fernsynchronisation aus. Gegenwartskunst reagiert darauf nicht nur institutionell - es entstehen zunehmend in allen Teilen der Welt Biennalen und Kunstinstitutionen-, sondern auch durch die Formveränderung der Kunstwerke selbst. Indem Dokumentation und derivative Existenzweisen zu deren konstitutiven Bestandteilen werden, fungieren diese nicht als nachträgliche Akte eines bereits vergangenen Ereignisses, sondern eine mögliche Struktur des Kunsterlebens selbst besteht in seiner Asynchronizität. Dies eliminiert nicht die Ortsgebundenheit der Kunst, sondern multipliziert diese, so wie sich auch die Formen des Kunsterlebens multiplizieren. Man kann Nonos Tragödie des Hörens Prometeo als Post-Internet-Aufführung erleben, man kann die Nicht-Aufführung eines Kunstwerks weltweit als künstlerischen Akt erleben, wie an Christas Over the River gezeigt. Selbst die immobilen in situ Kunstwerke können in dokumentierter oder derivativer Form gleichzeitig durchaus multilokal aktualisiert werden. Im Sinne des erweiterten Konzepts der »linked ecologies«
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ist dies auch durch echtzeitbasierte Telekommunikation ermöglicht,86 gewährleistet ist es jedoch durch den dem Kunstwerk eigenen Modus der Immanenz als Darstellungsmodus, der in der aktualisierenden Betrachtung stets auf die Binnenstruktur des Kunstereignisses und dessen unabschließbares Oszillieren zwischen selbstbezüglichen und fremdbezüglichen Referenzen verweist.
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Endnoten ' Originalbeitrag.
Für Anregungen und Diskussion danke ich Paul Buckermann, Alois Hahn, Markus
Klammer, Martin Petzke, Ralph Ubl sowie vielen Eikones-Mitarbeitern, die intendiert
oder nichtintendiert zu diesen Überlegungen beigetragen haben.
Aira, 2016, Duchamp, S. l08f., dessen Überlegungen in erfreulich unortbodoxer Geste
gerade nicht an die Benjaminsche Aura-These anknüpfen, die Generationen von Kunst
kommentatoren »beschäftigt<< hat. Die Form des Essays erlaubt es dann auch, gedanken
experimentcll vorzugehen und nicht der begrifflichen Kohärenz den Vorrang zu geben.
So kann et"wa Dokumentation und Reproduktion synonym verwendet werden; die er
klärte Absicht ist es, sie gerade nicht als technische Verfahren zu verstehen: »i'vfan müsste
von >erweiterter Reproduktion< sprechen, erweitert allerdings nicht auf der Linie der
rein technischen Vervollkommnung, sondern erweitert in allen Richtungen oder besser
gesagt in allen, selbst heterogenen Dimensionen. Und das würde die Literatur sein, zu
mindest das, was ich darunter verstehe bzw. was ich seit 1967 darunter verstehe«, ebd.,
S.103f.
Aira, 2016, Duchamp, S. 102.
Cage, 1976, Vögel, S. 88f.. John Cage stellt seine eigenen Kompositionen ebenfalls in
eine Relation mit Duchamp und anderen V\Terken der bildenden Kunst, die zu berühmten
Ko-Produktionen geführt haben: »Tatsächlich habe ich mit den Malern Rauschenberg,
Jasper Johns und später Duchamp gearbeitet.« Ebd., S. 56. 1968 entstand die kollabora
tive Performance Reunion von John Cage und Marcel Duchamp et al., siehe Lowell,
2008-2009 [1999], Reunion.
4 Siehe zum Beispiel Feldman, 1986, Musik-Konzepte: in der musikalischen Form ist die
\Viederholung immer auch eine Variation oder Rekombination.
»Retinal art« meint jene künstlerische Formgebung von Courbet, Impressionismus, Fau
vismus u. a. bis zu einem letzten Wiederbelebungsversuch durch die Op-Art. Siehe dazu:
Marcel Duchamp Interview BBC 1968 und passim. Durchbrochen wurde dieser Reduk
tionismus auf die visuelle \Vahrnehmung explizit u. a. vom Dadaismus, den Futuristen,
mit Duchamps \Verken, darauf aufbauend in der Gegenwartskunst, aber auch von der
Pop-Art, die sich nicht mehr durch blofle Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit als Kunst
identifizieren lässt.
Demand, Obrist, 2009, Nationalgalerie, S. 20. Auch Sugimotos Horizontbilder beziehen
sich auf immer schon dargestellte Horizonthaftigkeit, auch andere seiner Fotografien
arbeiten mit Modellen der dargestellten Realität, siehe dazu auch Fried, 2014 [2008],
Thomas Demand. Eine gesellschaftstheoretisch informierte Analyse der Arbeiten De
mands findet sich bei Müller, 2013, Bildkommunikation. Mediale Übersetzung verwende
ich im Sinne Hcnnions, 2003, Mediation; Hennion, 2007, La passion; Hennion, 2012, Touer,
der davon ausgeht, dass jede mediale Übersetzung mit einem »traitement« und daher
einer Ver~mderung verbunden ist.
Siehe Aira, 2016, Duchamp, S. 104.
1>[ ... ], deren jede das \Verk gemäß einer persönlichen Perspektive, Geschmacksrichtung,
Ausführung neu belebt.« Eco, 1977 [1962], Kunstwerk, S. 57. Eco hat auch darauf hinge
wiesen, dass die Moderne mit dem offenen Kunstwerk ein Gestaltungsprinzip von Kunst
überhaupt hervorgehoben habe.
Gautier, 1857, L'artistc, S. 4. Für die deutsche Romantik siehe Benjamin, 2008 [1920],
Romantik.
10 »Im Bild allein war sein Sinn, die Legitimisierung seines Soseins, nicht mehr auffindbar,
dieser Sinn zog sich in den Prozeß seines Entstehens zurück, in die Erfahrungen, Reflexionen
und Theorien· des Künstlers. Von hier aus ging es in gerader Linie zur Abstraktion weiter
[ ... ]. Die aus dem Bilde nicht mehr eindeutig ablesbare Bedeutung etablierte sich neben
dem Bild als Kommentar, als Kunstliteratur und - auch als Kunstgerede«, Gehlen, 1986
[1972], Zeit-Bilder, S. 53f., Hervorh. CB.
11 Alys, Faesler, 2011, Francis Alys, S. 66: » [ .. ] my resorting to fahles is not related to po
etry, it's more about switching from words to images, and, \Vhen it comes down to it, to
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my conflict with images. Images sometirnes betray you; they expose you.« Ein anderes
Beispiel wäre Fairytalevon Ai VVeiwei (2007), darauf komme ich zurück.
12 Aira, 2016, Duchamp, S. 104.
13 Simmel, 1987 [1910], Tragödie, S.138f., »Die Elemente haben sich zusammen getan wie
nach einer ihnen selbst, als objektiven Wirklichkeiten, innewohnenden Logik und For
mungsintcntion, mit denen ihre Schöpfer sie nicht geladen haben.« Siehe auch Bourdieu,
2011 [1980], Schöpfer, S.168f., der besonders die Erforschung der Konsekrationsarbeit,
die der crayance, also dem Glauben an den VVert der Kunst zugrunde liegt, zum methodi
schen Prinzip erhebt und betont, »dass das )Subjekti der künstlerischen Produktion nicht
der Künstler sei, sondern die Gesamtheit der Akteure, die mit der Kunst verbunden sind.«
14 Duchamp, 1975 [1957], Creativc act, S. 140: "All in all, the creative act is not performed
by the artist alone; the spectator brings the work in contact with the external world by
deciphering and interpreting its inner qualifications and thus adds his contribution to
the creative act. This becomes even more obvious when osterity gives its final verdict
and sometimes rehabilitates forgotten artists.« V\Tie für Duchamp war auch für .Max
Ernst der Maler eher Medium denn souverän Handelnder, er sprach von einer \Nider
fahrnis, seine Collagen und Frottagen seien halluzinatorischen Erfahrungen entsprungen,
Zuständen, die jede Möglichkeit des Handelns und der Reflexion ausschlieflen. Siehe Ubl,
2013, Max Ernst, S. 196.
15 Am prägnantesten das Manifest der Futuristen, Marinetti, 1909, Futurisme.
16 Zeit wird in diesen Theorieformen als Gegenstandsbegriff und als theoretischer Grund
begriff verwendet. Dazu zähle ich Luhmann, Abbott, Bourdieu. Ich konzentriere mich
in der weiteren Analyse auf Abbott und Luhmann, deren Bezugsautoren wiederum
Husserl, Mead, Whitehead (Luhmann), bzw. Mead und Whitehead (Abbott) sind. Nicht
die evident unterschiedlichen Theoriearchitekturen sollen hier interessieren: Gesell
schaftstheorie auf der Grundlage von Systemen mit temporalisierten Letztelementen, bzw.
theoretisches Instrumentarium für soziale Prozessanalysen, sondern die Parallelität