BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/5352 21. Wahlperiode 26.07.16 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Bernd Baumann, Dr. Alexander Wolf und Dirk Nockemann (AfD) vom 20.07.16 und Antwort des Senats Betr.: Systematischer Sozialtourismus und Sozialbetrug In den letzten Monaten wurde in den Medien vermehrt darüber berichtet, dass osteuropäische EU-Bürger systematisch durch unlautere Machenschaf- ten, die teils bereits den Anfangsverdacht einer Strafbarkeit wegen Betruges aufkommen lassen, Sozialleistung beziehen würden. Bekannt wurden in diesem Zusammenhang Fälle wie die aus der Nähe des niederbayrischen Landshuts, in denen rumänische EU-Bürger zunächst bei Firmen zu Minilöhnen in Höhe von unter 200 Euro monatlich, die die Arbeitsagentur auf Hartz-IV-Niveau „aufstockte“, beschäftigt wurden und denen nach Ablauf der Probezeit von sechs Monaten gekündigt wurde. 1 Sie hatten dadurch ganz legal einen Anspruch auf Grundsicherung erworben. Zudem sollen rumänische EU-Bürger, die (wieder) in Rumänien wohnen, fin- gierte Meldeadressen in Landshut angegeben haben, um Sozialleistungen zu beziehen. Besonders ins Blickfeld der Öffentlichkeit rückten aber auch Fälle aus Bre- men und Bremerhaven, in denen die zwei Vereine „Agentur für Beschäfti- gung und Integration e.V.“ und „Gesellschaft für Familie und Gender Mainstreaming e.V.“, deren Geschäftsführer und Vereinsvorsitzender Selim Öztürk (Vater des bremischen SPD-Bürgerschaftsabgeordneten Patrick Cem Öztürk) ist, in mutmaßlich betrügerische Machenschaften verwickelt sein sol- len. 2 Die Vereine haben Zuwanderern aus Griechenland und Bulgarien Arbeitsverträge zum einen nach dem oben angeführten System (Minijob/ Minilohn und Aufstockung, dann Kündigung und Sozialleistungen), zum anderen aber in rund 1.000 Fällen auch lediglich fingierte Arbeitsverträge, die nur auf dem Papier bestanden haben, ausgestellt. Die Zuwanderer mussten einen Teil des dadurch erlangten Geldes an die Vereine zahlen. Obwohl für das Jobcenter bereits seit April 2014 der starke Zuzug von Menschen aus dem türkischsprachigen Teil Bulgariens und Griechenlands ebenso augen- scheinlich war wie die Tatsache, dass Mitarbeiter der Vereine die Zuwande- rer vielfach bei Ämtergängen begleiteten und dolmetschten, wurden erst im August 2015 seitens des Jobcenters Maßnahmen ergriffen. Der Schaden in diesen Fällen beträgt laut Expertenmeinung 60 bis 90 Millionen Euro. 1 Dazu umfassend: www.welt.de, vom 04. Mai 2016, Nutzen Rumänen systematisch den Sozi- alstaat aus?; www.br.de, 26.04.2016, „Arbeitsagentur sieht keine Versäumnisse“ und 03. Mai 2016, „Wie EU-Bürger deutsche Sozialkassen plündern“. 2 Dazu umfassend: „JUNGE FREIHEIT“, Nummer 27/16, 01. Juli 2016; www.kreiszeitung.de vom 21. April 2016, „Patrick Öztürk schweigt“.
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BÜRGERSCHAFT
DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/535221. Wahlperiode 26.07.16
Schriftliche Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Bernd Baumann, Dr. Alexander Wolf und Dirk Nockemann (AfD) vom 20.07.16
und Antwort des Senats
Betr.: Systematischer Sozialtourismus und Sozialbetrug
In den letzten Monaten wurde in den Medien vermehrt darüber berichtet, dass osteuropäische EU-Bürger systematisch durch unlautere Machenschaf-ten, die teils bereits den Anfangsverdacht einer Strafbarkeit wegen Betruges aufkommen lassen, Sozialleistung beziehen würden.
Bekannt wurden in diesem Zusammenhang Fälle wie die aus der Nähe des niederbayrischen Landshuts, in denen rumänische EU-Bürger zunächst bei Firmen zu Minilöhnen in Höhe von unter 200 Euro monatlich, die die Arbeitsagentur auf Hartz-IV-Niveau „aufstockte“, beschäftigt wurden und denen nach Ablauf der Probezeit von sechs Monaten gekündigt wurde.1 Sie hatten dadurch ganz legal einen Anspruch auf Grundsicherung erworben. Zudem sollen rumänische EU-Bürger, die (wieder) in Rumänien wohnen, fin-gierte Meldeadressen in Landshut angegeben haben, um Sozialleistungen zu beziehen.
Besonders ins Blickfeld der Öffentlichkeit rückten aber auch Fälle aus Bre-men und Bremerhaven, in denen die zwei Vereine „Agentur für Beschäfti-gung und Integration e.V.“ und „Gesellschaft für Familie und Gender Mainstreaming e.V.“, deren Geschäftsführer und Vereinsvorsitzender Selim Öztürk (Vater des bremischen SPD-Bürgerschaftsabgeordneten Patrick Cem Öztürk) ist, in mutmaßlich betrügerische Machenschaften verwickelt sein sol-len.2 Die Vereine haben Zuwanderern aus Griechenland und Bulgarien Arbeitsverträge zum einen nach dem oben angeführten System (Minijob/ Minilohn und Aufstockung, dann Kündigung und Sozialleistungen), zum anderen aber in rund 1.000 Fällen auch lediglich fingierte Arbeitsverträge, die nur auf dem Papier bestanden haben, ausgestellt. Die Zuwanderer mussten einen Teil des dadurch erlangten Geldes an die Vereine zahlen. Obwohl für das Jobcenter bereits seit April 2014 der starke Zuzug von Menschen aus dem türkischsprachigen Teil Bulgariens und Griechenlands ebenso augen-scheinlich war wie die Tatsache, dass Mitarbeiter der Vereine die Zuwande-rer vielfach bei Ämtergängen begleiteten und dolmetschten, wurden erst im August 2015 seitens des Jobcenters Maßnahmen ergriffen. Der Schaden in diesen Fällen beträgt laut Expertenmeinung 60 bis 90 Millionen Euro.
1 Dazu umfassend: www.welt.de, vom 04. Mai 2016, Nutzen Rumänen systematisch den Sozi-
alstaat aus?; www.br.de, 26.04.2016, „Arbeitsagentur sieht keine Versäumnisse“ und 03. Mai 2016, „Wie EU-Bürger deutsche Sozialkassen plündern“.
2 Dazu umfassend: „JUNGE FREIHEIT“, Nummer 27/16, 01. Juli 2016; www.kreiszeitung.de vom 21. April 2016, „Patrick Öztürk schweigt“.
Drucksache 21/5352 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode
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Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat:
Der Senat beantwortet die Fragen teilweise auf Grundlage von Auskünften von Job-center team.arbeit.hamburg (Jobcenter) und der Agentur für Arbeit Hamburg (Agentur) wie folgt.
1.
a. Wie viele EU-Ausländer bezogen/beziehen in Hamburg seit dem Jahr 2010 Leistungen nach dem SGB II ergänzend zu ihrem Ein-kommen, weil ihr anrechenbares Einkommen nicht ausreicht, um die nach SGB II relevanten Bedarfe zu decken und auch kein ausrei-chendes einzusetzendes Vermögen feststellbar ist (sogenannte erwerbsfähige Leistungsberechtigte beziehungsweise „Aufstocker“)? Bitte aufschlüsseln nach Jahr und Herkunft!
b. Wie viele von ihnen waren/sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt? Bitte aufschlüsseln nach Jahr und Nationalität!
Siehe Anlagen 1 bis 3.
2. Wie viele EU-Ausländer bezogen/beziehen in Hamburg seit dem Jahr 2010 sonstige Leistungen nach den SGB II? Bitte aufschlüsseln nach Jahr und Nationalität!
Siehe Anlage 4.
3. Wie viele EU-Ausländer bezogen/beziehen in Hamburg seit dem Jahr 2010 sonstige Leistungen nach den SGB XII? Bitte aufschlüsseln nach Jahr und Nationalität!
Siehe Anlage 5. Auswertungen zu Leistungsempfängerinnen und -empfängern nach dem SGB XII gibt es erst ab dem Jahr 2014.
4. Wie viele EU-Ausländer erhielten/erhalten in Hamburg seit dem Jahr 2010 Sozialleistungen wegen Kündigung eines lediglich sechs Monate andauernden Arbeitsverhältnisses? Bitte aufschlüsseln nach Jahr und Herkunft!
Den zuständigen Behörden liegen keine Auswertungen im Sinne der Fragestellung vor.
5. Welche Organisationen, Vereine, Initiativen oder Einzelpersonen unter-stützen in Hamburg Zuwanderer bei Behördengängen?
Institutionen und Einzelpersonen, die Zuwandererinnen und Zuwanderer bei Behör-dengängen unterstützen, werden von den Behörden und Ämtern nicht systematisch erfasst. Eine vollständige Übersicht liegt daher nicht vor. Bürgerinnen und Bürger, darunter auch Menschen mit Migrationshintergrund, werden zum Beispiel von freiwillig engagierten Hamburgerinnen und Hamburgern sowie von verschiedenen Beratungs-stellen der Hamburger Wohlfahrtspflege bei Behördengängen begleitet; vergleiche
Ratsuchende Unionsbürgerinnen und -Bürger werden von folgenden Einrichtungen unterstützt:
Plata – Anlaufstelle für wohnungslose EU-Bürger (Träger: hoffnungsorte hamburg – Verein Stadtmission Hamburg)
Sansa – Aufsuchende Arbeit für EU-Zugewanderte (Träger: hoffnungsorte ham-burg – Verein Stadtmission Hamburg)
Social Bridge – Sozialberatung für EU-Zugewanderte (Träger: Diakonisches Werk Hamburg)
Straßensozialarbeit in der Hamburger City (Träger: Diakonisches Werk Hamburg)
Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/5352
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Für Menschen, die im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus anderen EU-Mitgliedstaaten und insbesondere aus den ost- und südosteuropäischen Mitgliedstaa-ten nach Hamburg kommen, stehen in Hamburg zwei Anlaufstellen zur Verfügung, die im Rahmen des Operationellen Programms der Freien und Hansestadt Hamburg für die Umsetzung des Europäischen Sozialfonds in der Förderperiode 2014 – 2020 gefördert werden. Eine Aufgabe dieser Anlaufstellen besteht auch in der Unterstüt-zung bei Behördengängen im Rahmen ihres jeweiligen Projektauftrags. Konkret han-delt es sich um:
6. Ist dem Senat bekannt, dass bestimmte Organisationen, Vereine, Initiati-ven oder Einzelpersonen diese Hilfeleistungen besonders gehäuft vor-nehmen?
Wenn ja, welche sind dies?
Entsprechende Erkenntnisse liegen nicht vor. Im Übrigen handelt es sich bei Beglei-tungen, zum Beispiel zu Behörden, ausdrücklich um Teilaufgaben der in der Antwort zu 5. aufgeführten Projekte.
7. Sind die Mitarbeiter der Behörden in Hamburg geschult beziehungswei-se dahin gehend sensibilisiert, Sachverhalte, die denen in der Einleitung geschilderten ähneln, zu erkennen? Wie erfolgen derartige Schulungen beziehungsweise Sensibilisierungen?
Soweit Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Behörden in Hamburg von dieser Thema-tik betroffen sind, werden sie in Dienstbesprechungen entsprechend sensibilisiert. Im Übrigen arbeiten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemäß den jeweiligen gesetzli-chen Grundlagen. Besteht der begründete Verdacht auf Leistungsmissbrauch, wird diesem Verdacht in jedem Fall nachgegangen.
8. Ist dem Senat bekannt, ob in Hamburg ein sogenannter Arbeiterstrich, also ein lokaler Punktmarkt in der Stadt an einem Straßenabschnitt, an dem arbeitswillige Menschen, überwiegend Männer und häufig aus Ost-europa sowie ohne gültige Meldepapiere, zu meist sehr früher Tageszeit darauf warten, von einem potenziellen Arbeitgeber für die Dauer eines Tages oder weniger Tage gegen Entgelt beschäftigt zu werden, exis-tiert?
Wenn ja, an welchen Orten befindet sich ein solcher? Was unternimmt der Senat dagegen?
Den zuständigen Behörden ist bekannt, dass es insbesondere am Stübenplatz in Hamburg-Wilhelmsburg einen sogenannten Tagelöhnertreff gibt, der überwiegend von bulgarischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern frequentiert wird. Es liegen keine Erkenntnisse vor, dass diese Menschen ausnahmslos oder überwiegend keine gülti-gen Meldepapiere haben. Der „Tagelöhnertreff“ war seit dem Jahr 2011 Gegenstand verschiedener „Runder Tische“, unter anderem beim Bezirksamt Hamburg-Mitte und bei der Servicestelle Arbeitnehmerfreizügigkeit. Er wird seit Längerem vom Zoll (Fi-nanzkontrolle Schwarzarbeit) und von der Polizei beobachtet. Zudem sind mehrere Beratungseinrichtungen regelmäßig vor Ort, um die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer auf ihre Rechte und Pflichten hinzuweisen. Zu diesen Beratungseinrichtungen gehören unter anderem das aus dem Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen in Deutschland (EHAP) geförderte Projekt „step.in – bera-tung.mobil“ sowie die Servicestelle Arbeitnehmerfreizügigkeit (siehe Antwort zu 5.). Als eine Anlaufstelle dient die Arbeitsloseninitiative Wilhelmsburg im „Deichhaus“ am
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Vogelhüttendeich. Daneben bietet die Servicestelle Arbeitnehmerfreizügigkeit regel-mäßig Beratungen im Jobcenter Wilhelmsburg an. Unter der Schirmherrschaft des bulgarischen Honorargeneralkonsuls und mit Unterstützung des Bezirksamtes Ham-burg-Mitte und der zuständigen Behörde wurden von der Servicestelle Arbeitnehmer-freizügigkeit in den Jahren 2014 und 2016 gemeinsam mit zahlreichen weiteren Trä-gern vor Ort spezielle Informationstage für bulgarische Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern organisiert.
In Fällen mit Verdacht auf Sozialleistungsbetrug besteht im Übrigen eine vertrauens-volle Zusammenarbeit der genannten Akteure und Einrichtungen mit der Polizei, dem Zoll (Finanzkontrolle Schwarzarbeit) und dem Jobcenter.