Autistische Störungsbilder – Diagnostik und Therapie in ... · BAG- SPZ Qualitätszirkel Autistische Störungsbilder – Diagnostik und Therapie in der Sozialpädiatrie 10/2010
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BAG- SPZ Qualitätszirkel Autistische Störungsbilder – Diagnostik und Therapie in der Sozialpädiatrie 10/2010
Qualitätszirkel
Autistische Störungsbilder – Diagnostik und Therapie in der Sozialpädiatrie BAG- SPZ Autorinnen: Dipl. Med. Angelika Aisch, QZ Leitung Kinderzentrum St. Martin, Regensburg
Dr. med. Dietlind Klaus SPZ Reifenstein – Kinderzentrum im Eichsfeld
Ingeborg Kölitz-Koch, SPZ Ludwigsburg
Dipl. Päd., Dipl. Psych., PT/KJPPT
Dr. phil. Ursula Kremens-Korsch, SPZ der Kliniken der Stadt Köln
Dipl. Psych., PP
Beratender Mitautor
Dr. med. Helmut Hollmann Kinderneurologisches Zentrum Bonn
Korrespondenzadresse: Dipl. Med. Angelika Regensburger Kinderzentrum St. Martin Träger: Kath. Jugendfürsorge der Diözese Regensburg e.V Wieshuberstr. 4 93059 Regensburg Tel.: (0941) 46502-26 Fax: (0941) 46502-40 und 50 [email protected]
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• Ungewöhnlich häufiges Wiederholen der selben Beschäftigungen • Unbehagen und Widerstand gegenüber Veränderungen der alltäglichen Umgebung • Bestehen auf gleichförmigen Wiederholungen gewohnter Aktivitäten
Auf dem Kontinuum der ASS können einzelne dieser Auffälligkeiten beim Kind gar nicht
beobachtbar sein oder milde bis extrem ausgeprägt erscheinen, andererseits das Kind in seiner
Entwicklung je nach Phänomenologie und Ausprägungsgrad stark beeinträchtigen.
2.1. Frühkindlicher Autismus ( F84.0) Diese Form der ASS ist angeboren und manifestiert sich vor dem vollendeten 3. Lebensjahr.
Der Frühkindliche Autismus zeigt folgende Symptome in der klinischen Praxis:
Erste Auffälligkeiten: bereits in den ersten Lebensmonaten
Sozialverhalten: Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik entsprechen nicht den
Erfordernissen der sozialen Interaktion. Beziehungen zu Gleichaltrigen können nicht
aufgenommen werden. Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit. Mangel an geteilter
emotionaler Aufmerksamkeit und Anteilnahme
Sprachentwicklung: anfangs und evtl. auf Dauer keine kommunikative Funktion, bei der Hälfte
der Kinder fehlt die Sprachentwicklung, beobachtbar ist manchmal eine Sprachrückentwicklung,
Echolalie und Sprachstereotypien, Vertauschen von Pronomina.
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Das Störungsbild ist durch exzessive Aktivität, Stereotypien, Selbstschädigung und
mittelgradige bis schwere Intelligenzminderung gekennzeichnet.
Es mag in manchen Fällen schwierig sein, differentialdiagnostisch festzulegen, ob es sich um
eine schwere geistige Behinderung mit Stereotypien handelt, oder um eine autistische Störung
mit geistiger Behinderung. Ausschlaggebend für die Diagnose ist die Intensität und Reziprozität
des beobachtbaren Kontakts der Betroffenen zu Eltern oder gut bekannten Bezugspersonen,
z.B. im Kindergarten. Sozialrechtlich ist zu beachten, dass bei der Diagnose Autismus
zusätzliche Unterstützungsangebote genutzt werden können (siehe 8.2.5.1f).
3. Syndrome und Stoffwechselstörungen mit autistischen Zügen
Vom klinischen Bild der ASS abzugrenzen sind in etwa 10% (Poustka et al. 2004)
Stoffwechselerkrankungen und Syndrome, die auf der Verhaltensebene auch autistische Züge
aufweisen, deren Ursachen aber bereits bekannt sind. Genetisch bedingte Erkrankungen oder
Stoffwechselstörungen können mit einem autistischen Störungsbild assoziiert sein und sollten je
nach Klinik ausgeschlossen werden. Daher sollten Chromosomenanalyse und je nach Klinik
molekulargenetische und Stoffwechseldiagnostik erfolgen.
3.1. Rett-Syndrom (F84.2) Das Rett-Syndrom gründet auf Mutationen im MECP2-Gen. Es wurde zunächst nur bei
Mädchen diagnostiziert; in den letzten Jahren wird auch bei Jungen mit der Symptomatik des
Rett-Syndroms beschrieben. Eine endgültige Klärung der schon fortgeschrittenen Forschung
diesbezüglich steht noch aus. Typisch für das Rett-Syndrom ist, dass nach einer i. d. R.
normalen Entwicklung im Säuglingsalter Sprach- und Kommunikationsstörungen, neurologische
Koordinationsstörungen und charakteristische stereotype Handbewegungen auftreten. Folgende
Symptome sind typisch:
• Verlust der erworbenen zielgerichteten Handbewegungen zwischen 5. und 30.
Lebensmonat • stereotype Handbewegungen vor dem Körper (Handwaschbewegungen) und Störungen
beim Gang und den Rumpfbewegungen (Rumpfataxie) • allgemeine Verlangsamung und Störung der expressiven und rezeptiven Sprache • meist gleichzeitig Auftreten von Kommunikationsstörung mit beeinträchtigter sozialer
Interaktion
• häufig perzentilenflüchtiger Kopfumfang. Im weiteren Verlauf tritt neben einer globalen Entwicklungsstörung oft eine therapieschwierige
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3.2. 3.2. Andere desintegrative Störungen des Kindesalters (F84.3) Dieses Störungsbild ist durch eine zunächst normale Entwicklung gekennzeichnet. Im Verlauf
kommt es zu einem bleibenden Verlust erworbener Fertigkeiten der Sprache, der gegenseitigen
sozialen Interaktion und Kommunikation sowie zu stereotypen Verhaltensmustern. Diese auch
Dementia infantilis oder Heller-Syndrom genannte Erkrankung ist eine nosologisch schlecht
definierte Störung und sollte vor allem differentialdiagnostisch konsequent vom Rett-Syndrom
und anderen genetischen und/oder Stoffwechselstörungen abgegrenzt werden.
Bei der Diagnosestellung sind folgende Symptome zu beachten:
• Verlust erworbener Fertigkeiten nach normaler Entwicklung in den ersten 2
Lebensjahren wie expressive und rezeptive Sprache, Spielen, Darm- und
Blasenkontrolle, motorische und soziale Fertigkeiten • Qualitativ auffälliges soziales Verhalten in der gegenseitigen sozialen Interaktion und
Kommunikation, wie beim Autismus definiert Auftreten stereotyper Verhaltensmuster und
Interessensverlust an der Umwelt.
Es müssen nicht alle Gebiete betroffen sein, wesentlich ist der Abbau erworbener Fertigkeiten.
4. Epidemiologie
Remschmidt 2006 beschreibt, dass in neuen epidemiologischen Untersuchungen ein deutlicher
Anstieg der Prävalenz autistischer Störungen insgesamt zu verzeichnen ist. Dies hängt mit der
erhöhten Aufmerksamkeit in den letzten Jahrzehnten zusammen, die diesen Störungen
gewidmet wurde, v.a. aber mit den unterschiedlichen Studien-Designs und den verwendeten
Definitionskriterien. Während die Prävalenz für den Frühkindlichen Autismus relativ konstant in
den Studien angegeben wird, ist die Datenlage für den atypischen Autismus und das Asperger-
Syndrom deutlich ungünstiger und variiert stark. Insbesondere für die Ausprägungsform der
„Anderen Tiefgreifenden Entwicklungsstörung“ (F84.8) fehlen gut operationalisierte Kriterien,
sodass die genannte Prävalenz für diese „autismus-ähnlichen Störungen“ (autistic-like
disorders) häufig höher angegeben wird als für die abgegrenzten Unterformen.
So ist auch die nachfolgende Übersicht zu verstehen (Fombonne 2005, online presentation
“Epidemiology of Autism and Pervasive Developmental Disorders“):
• Frühkindlicher Autismus 16,8 / 10 000 • Asperger Syndrom 8,4 / 10 000 • Andere TES (PDD-NOS) 36,1 / 10 000 • ASS insgesamt 62,6 / 10.000
Fombonne führt aus, dass bei vergleichbaren Kriterien und standardisierten
Untersuchungssettings im Abstand von mehreren Jahren konstante Ergebnisse erzielt werden,
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im Alltag zu beobachten oder Videodokumentationen von zu Hause, Kindergarten oder Schule
in die Diagnostik mit einzubeziehen.
Durch Auswertung spezieller Fragebögen können eine differenzierte Anamnese und die
eigenen Beobachtungen ergänzt werden.
Hilfreiche Screeningverfahren beim Verdacht einer ASS für Eltern und Erzieher sind:
• der Fragebogen zur sozialen Kommunikation (FSK) • die Childhood Autism Rating Scale (CARS) in der Übersetzung von Steinhausen beim
Verdacht auf frühkindlichen Autismus • die Checkliste zur Erfassung früher Symptome beim Autismus (CESA) • der Childhood Asperger Syndrome Test (CAST) bei Verdacht auf das Asperger-
Syndroms und • die Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS)
Hilfreich als Verhaltensbeobachtungs-Verfahren sind:
• die Checkliste für Autismus (M-CHAT) und • das Beobachtungsverfahren für frühkindlichen Autismus (BSFA)
Die Einschätzung der grob- und feinmotorischen Fähigkeiten der Patienten ist oft nur durch
Beobachtung der Spontanmotorik in der Untersuchungssituation möglich, da die Patienten
häufig Aufforderungen nicht befolgen, selten nachahmen oder motorisch sehr unruhig sind.
Zum Ausschluss von Sinnesbeeinträchtigungen sind Hör- und Sehprüfung erforderlich. Auch
hier müssen bei sehr jungem Alter der Patienten oder Compliance-Problemen ggf. objektive
Untersuchungsverfahren (z. B. BERA, Evozierte Potentiale) bzw. entsprechende fachärztliche
Mitbeurteilungen herangezogen werden.
Wegen der hohen Inzidenz von abnormen EEG-Befunden, aber auch der häufigen Komorbidität
mit Epilepsie bei Frühkindlichem Autismus sowie zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung ist
die EEG-Ableitung angezeigt.
Genetisch bedingte Erkrankungen oder Stoffwechselstörungen können mit einem autistischen
Störungsbild assoziiert sein und müssen je nach Klinik ausgeschlossen werden. Zum
Ausschluss von Hirnfehlbildungen/Strukturanomalien ist je nach Klinik eine kraniale
Kernspintomographie zu erwägen.
Voraussetzung für die Zuordnung im Spektrum der Autismus-Störungen wie auch die
differenzialdiagnostische Abgrenzung ist eine hinreichende Erfahrung mit ASS.
7.2. Entwicklungs- und Intelligenzdiagnostik
Bei der entwicklungspsychologischen Untersuchung dieser Patienten gibt es keine Verfahren
der 1. Wahl, da durch die Kernsymptomatik in der Regel die Kooperationsfähigkeit und damit
standardisierte Durchführbarkeit eingeschränkt ist. Da einige Autismusformen meist mit einer
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Intelligenzminderung vergesellschaftet sind, ist die Einschätzung der kognitiven Fähigkeiten
soweit möglich obligat, um hinsichtlich Therapie und Prognose planen zu können.
Hilfreich können folgende Testverfahren sein:
• Entwicklungstests wie Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik (MFED) Entwicklungstest ET 6-6, Bayley Scales II / III, Wiener Entwicklungstest (WET)
• Intelligenztests wie Snijders-Oomen nonverbaler Intelligenztest (SON-R 2 1/2-7),
Hannover-Wechsler-Intelligenzfest für das Vorschulalter - III (HAWIVA-III), bzw. neu
WIPSI , Kaufman Assessment Battery for Children (K-ABC), Hamburg-Wechsler-
Intelligenztest für Kinder IV (HAWIK-IV), Grundintelligenztest Skala 2 (CFT 20 R) u.a. • gleichzeitige Einschätzung der motorischen Entwicklung z.B. mittels MABC 2 o.Ä.
Die Wahl des Testinstruments richtet sich nach dem Ausprägungsgrad der ASS, der
Kommunikationsfähigkeit des Kindes und der individuellen Compliance des Patienten. Häufig ist
eine verlängerte Phase des Kennenlernens und/oder Wiederholungen der Tests notwendig. Zu
beachten sind die u.U. deutlichen Veränderungen in der Ausprägung des Begabungsprofils in
Abhängigkeit von der jeweiligen Form der ASS.
7.3. Spezialisierte Diagnostik
Mit Hilfe der Diagnostischen Beobachtungsskala für Autistische Störungen (ADOS) können aus
der direkten Verhaltensbeobachtung in einer strukturierten Untersuchung mit standardisierten
Aufgaben und Aktivitäten Daten zur Erfassung von Kommunikation, sozialer Interaktion und
Spielverhalten bei Kindern mit Verdacht auf eine ASS erhoben werden. Im Einzelnen werden
die Bereiche Kommunikation, Wechselseitige soziale Interaktion, Phantasiespiel und Kreativität
sowie Stereotype Verhaltensweisen und Eingeschränkte Interessen beurteilt.
Das Diagnostische Interview für Autismus-Revidiert ( ADI-R) ist ein strukturiertes Interview, das
mit Bezugspersonen durchgeführt wird. Gesammelt werden detaillierte Beschreibungen der
Verhaltensweisen, die für die Differentialdiagnose einer ASS erforderlich sind. Zusätzlich
werden noch Details über die Entwicklung in den ersten Jahren und über andere
Verhaltensweisen, die häufig mit ASS vergesellschaftet sind, erfragt.
Beide Verfahren ergänzen sich und sollten immer zusammen durchgeführt werden. Es sind
materiell und personell aufwändige und standardisierte Untersuchungen der
Autismusdiagnostik, die allerdings sehr zeitintensiv sind. Die Auskünfte aus dem Interview
müssen stets mit dem klinischen Eindruck und den eigenen Beobachtungen des Untersuchers
abgeglichen werden. Das ADOS differenziert nicht optimal bei jungen Kindern mit globaler
Entwicklungsstörung sowie bei älteren Kindern mit Asperger-Syndrom.
Der „Gold-Standard“ bei der Diagnostik von ASS umfasst also :
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In der frühkindlichen Interventionsphase liegt der Schwerpunkt der Behandlung in der Förderung
der Kommunikation mit der Außenwelt durch Intensivierung des Blickkontaktes und Anbahnung
von Sprache mittels Gesten oder Bildkartensystemen.
Wesentlich zu diesem Zeitpunkt in der Behandlung ist auch die Unterbrechung von
Stereotypien und absonderlichen Vorlieben.
Mit steigendem Alter kommt zusätzlich die Beratung von extrafamiliären institutionellen
Bezugspersonen hinzu, die im Idealfall unmittelbar in das Konzept der Behandlungsmaßnahme
im Sinne der Verhaltensmodifikation einbezogen sind. Häufig ist es schwierig, einen geeigneten
Kindergartenplatz zu finden. Insbesondere im Schulalter fehlen oft geeignete Förderplätze, das
deutsche Schulsystem ist auf Kinder mit ASS noch nicht hinreichend eingerichtet. Die
Beschulung in den Förderschulen für emotionale und geistige Entwicklung ist nicht immer
hilfreich, als Kompromiss erscheint manchmal der Besuch einer Förderschule für körperliche
und motorische Entwicklung günstiger. Wesentlich für einen erfolgreichen Schulbesuch ist die
Information und Kenntnis der betreuenden Lehrer über die Spezifika der
Verhaltensauffälligkeiten des Schülers mit ASS sowie die enge Anbindung der Lehrer an den
Behandlungsplan, die Durchführbarkeit und Durchführung der Maßnahmen der
Verhaltensmodifikation auch im Schulalltag.
8.1. Therapieziele
Therapieziele und -formen, die zeitliche Reihenfolge sowie die Intensität werden vom Arzt
gemeinsam mit dem Diagnostikteam, den Therapeuten und den Eltern festgelegt. Wesentliche
Faktoren dabei sind
• die Abstimmung über evtl. extern geplante Maßnahmen wie z.B. stationärer oder
teilstationärer Aufenthalt bei besonders gravierenden Problemstellungen • die Begleitung extern laufender Therapien und Interventionen und • die Aufnahme von Kontakten zu kooperierenden Stellen
Grundvoraussetzungen, um die anstehenden Therapien erfolgreich durchführen zu können, sind
u.a. ein klar strukturiertes Vorgehen, möglichst keine unerwartete Veränderung, sowie das
Herstellen und Verlängern von Aufmerksamkeit durch Blickkontakt und gemeinsamer
Blickbezug und Aufbau von Imitationsverhalten z.B. Imitieren von Gesten, Lauten, Mimik,
Wörtern.
Wichtig ist die regelmäßige Kontrolle der durchgeführten Maßnahmen, die Einschätzung der
Erfolge und Fortschreibung des Behandlungsplanes. Dafür sollten regelmäßige Treffen oder
Helferkonferenzen, mindestens halbjährlich und bei Bedarf häufiger, stattfinden. Das SPZ mit
seinem interdisziplinären Team gewährleistet dabei in besonderer Weise die Kontinuität zum
Kind mit ASS und seiner Familie sowie die Vertrautheit mit dem Behandlungsgebiet und das
Eingehen auf die wechselnden Behandlungsbedürftigkeiten im Entwicklungsverlauf des Kindes
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und seiner Familie. Im Verlauf immer wieder neu festzulegende Therapieziele ergeben sich, wie
oben beschrieben, aus den Kernsymptomen und den komorbiden Symptomen:
Verbesserung der gegenseitigen sozialen Interaktion:
• nonverbales Verhalten (u. a. Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung, Gestik) aufbauen
und/oder verstärken und zur Regulation sozialer Interaktionen zu verwenden • Beziehungen zu Gleichaltrigen aufnehmen (d.h. je nach Entwicklungsstand u. a. Aufbau
von Phantasie- und anderen Spielen, Interessensbereiche variieren, neue entwickeln • Reaktionsmöglichkeiten auf die Annäherungsversuche anderer Kinder erarbeiten, eigene
Gefühle wahrnehmen, erkennen und äußern (z.B. durch den Gesichtsausdruck) • sozial-emotionales Verhalten aufbauen, u. a. Lernen, Emotionen der anderen
wahrzunehmen, zu erkennen und adäquat darauf einzugehen und in verschiedenen
sozialen Kontexten verschiedene Verhaltensmöglichkeiten zur Verfügung zu haben • Freude, eigene Interessen oder Tätigkeiten mit anderen zu teilen, z.B. Anwesende
anlachen, anderen etwas zeigen, bringen oder erklären Verbesserung der verbalen und nonverbalen Kommunikation:
• Aufbau und Verstärkung von Mimik, Gestik, gesprochener Sprache • sprachlichen Austausch beginnen und aufrecht erhalten • Abbau von stereotyper, repetitiver Verwendung der Sprache zugunsten einer
verbesserten, adäquateren Kommunikation • Aufbau sozialer Imitations- und verschiedener So-tun-als-ob-Spiele, imitieren von
Handlungen, Spielen, sozialen Spielen Abbau und/oder Variation und Erweiterung von begrenzten, repetitiven und stereotypen
Verhaltensmustern, Interessen und Aktivitäten:
• Reduktion selbststimulierender Verhaltensweisen, Zwänge und Rituale • Orientierung einer vorherrschenden Beschäftigung mit Teilobjekten oder des nicht
funktionalen Gebrauchs des Spielmaterials in Richtung auf funktionales Spielen • Verbesserung der oftmals beeinträchtigten Motorik mit herabgesetztem Muskeltonus,
verminderter Kraft und gestörter Bewegungskoordination (dyspraktische Komponente) Verbesserung von Wahrnehmungs- und Verarbeitungsleistungen:
• Verringerung von Hyper- oder Hyposensibilität • Umgang mit sensorischen Missempfindungen im Alltag erreichen u.a.
Spezifische Behandlung von möglichen Komorbiditäten / Begleitsymptomen:
• z. B. ADHS, Depression, Zwänge, Ängste, Auto- und/oder Fremdaggressionen,
motorische Störungen entsprechend den jeweiligen Therapieempfehlungen oder
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Die Therapieziele dienen dem übergeordneten Bestreben, das Kind mit ASS in die Gesellschaft
bestmöglich zu integrieren, so dass das Kind größtmögliche Selbstständigkeit und Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben erreicht.
Dazu gehört auch die Integration:
• im Freizeitbereich (u. a. Freundschaften anbahnen / Teilnahme an Gruppen) • in den Kindergarten • in die Schule und • in das Berufsleben.
8.2. Spezialisierte Angebote im SPZ
Die Therapieziele können mit Hilfe verschiedener Therapieverfahren / Interventionen erreicht
werden. Der Therapeut muss die Besonderheiten von Kindern mit ASS kennen und im
therapeutischen Setting berücksichtigen. So haben sich in allen Therapieformen
lerntheoretische bzw. darauf basierende verhaltenstherapeutische Vorgehensweisen bewährt,
die auch empirisch gut abgesichert sind.
Die Kosten der im Folgenden genannten und von den SPZ empfohlenen und koordinierten
Therapien werden bei medizinisch-therapeutischen Behandlungen durch Ärzte, Diplom-
Psychologen und Heilmittelerbringer durch die Krankenkassen und bei nicht medizinisch-
therapeutischen Behandlungen durch Heil- oder Sozialpädagogen i. d. R. im Rahmen der
Frühförderungsverordnung oder Teilhabe am Leben/ Eingliederungshilfe (siehe Punkt 8.2.5.)
durch die Sozialhilfeträger (befristet) übernommen.
8.2.1. Psychotherapeutische Behandlung und Beratung
Besonders wichtig ist bei der ASS die Elternarbeit. Am Beginn steht die ausführliche und
phasenweise immer wieder notwendige Aufklärung und Begleitung der Eltern über die
Diagnose, deren Auswirkungen sowie alle Informationen über mögliche Interventionen.
Die Eltern benötigen besondere Unterstützung und Ermutigung, da autistische Kinder es ihnen aufgrund mangelnder Responsivität besonders schwer machen, ein kontinuierliches
Beziehungsangebot aufrecht zu erhalten. Vermeintliche Ablehnung verletzt und kann
Schuldgefühle bei den Eltern auslösen. Gelingt es, die Beziehungsfähigkeit des Kindes zu
verbessern, ist die Prognose für eine positive Entwicklung günstiger. Immer wieder ergibt sich
die Notwendigkeit, die gesamtfamiliären Belange oder die einzelner Familienmitglieder (Eltern,
Geschwister) zu berücksichtigen. Je nach Ressourcen der Familie besteht der Bedarf an einem
Interaktionstraining, zur Förderung der Beziehung zwischen Kind und Bezugspersonen. Hierbei
können Elterntrainings als ergänzendes Element zur individuellen Beratung eingesetzt werden.
So ermöglicht z.B. das Stepping Stones Elterngruppentraining eine effiziente Anleitung von
Eltern behinderter Kinder in positiven Erziehungs- sowie ressourcenorientierte Förder- und
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Gewarnt werden müssen die Eltern vor der sogenannten „Festhaltetherapie“, die inzwischen
obsolet und ethisch nicht vertretbar ist.
Auch gegen die „Gestützte Kommunikation“ gibt es ähnliche Einwände.
9. Ergänzende Maßnahmen und Hilfen
Die umfassende Beratung zu Hilfen im Alltag, Sozial- und Behindertenrecht,
Nachteilsausgleichen sowie die Koordination der Maßnahmen und Vermittelung von Selbsthilfe
ist fester Bestandteil und ein äußerst wichtiger Behandlungsbaustein im SPZ. In Abstimmung
mit Arzt und Therapeuten erfolgen regelmäßige Beratungsgespräche und
Informationsaustausch, möglichst mit dem Sozialarbeiter des SPZ.
Menschen mit ASS sind je nach Ausprägungsform in unterschiedlichem Ausmaß unter
sozialrechtlichen Gesichtspunkten von Behinderung betroffen und haben Anspruch auf
Leistungen der Pflegeversicherung. Die sozialrechtliche Zuordnung ist in der derzeitigen Praxis
der Kostenträger problematisch. Der wissenschaftliche Beirat des Bundesverbandes „autismus
Deutschland e. V.“ empfiehlt die klare Zuordnung zu diesem Personenkreis (Bundesverbandes
„autismus Deutschland e. V.“, 2008). Im Folgenden sind die wesentlichen sozial- und
schulrechtlichen Rahmenbedingungen sowie Adressen überregionaler Selbsthilfe genannt.
9.1. Sozialrechtliche Rahmenbedingungen • Pflegegeld: SGB V § 37 • Persönliches Budget: SGB IX §17 • Familienentlastende Dienste (FED): SGB IX § 55, SGB XI § 37, SGB XII § 54 • Behindertenausweis: SGB IX § 69 und Schwerbehindertenausweisverordnung • Teilhabe am Leben: SGB IX §§ 26-43
• Eingliederungshilfen: SGB XII §§ 53-57, (SGB VIII § 35a) • Frühförderung: SGB IX §30
Zu Einzelheiten wird auf die Ausführungen im QZ-Papier „Frühgeborenen-Nachsorge“
verwiesen.
9..2. Schulrechtliche Rahmenbedingungen
• Schulrechtliche Informationen: Empfehlungen zu Erziehung und Unterricht von Kindern
und Jugendlichen mit autistischem Verhalten www.kmk.org/doc/beschl/autis.pdf. • Mobile Sonderpädagogische Dienste für Autismus Schulbegleiter/Integrationshelfer (
länderabhängige Zuständigkeiten)
9. 3. Autismus-Therapie-Zentren und Selbsthilfegruppen
Seit einigen Jahren haben sich bundesweit Autismus-Therapie-Zentren entwickelt, die
spezifische Angebote in der Diagnostik und Behandlung von Menschen mit Autismus-Spektrum-
Feineis-Matthews, S., Schmötzer, G.: Autistische Störungen, Leitfaden Kinder – und
Jugendpsychotherapie, S. 142-143, Hogrefe 2004 • FBB-TES (DISYPS-II): Beurteilungsbogen für Eltern, Lehrer und Erzieher,
(Fremdbeurteilungsbogen-Tiefgreifende Entwicklungsstörung des Diagnostik-System für
psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters), Döpfner, M. & Lehmkuhl, G. 2006 • FSK: Fragebogen zur sozialen Kommunikation, Bölte, S., Poustka, F. et al. 2000 • KCFA: Komorbiditätencheckliste frühkindlicher Autismus in: Poustka, F., Bölte, S.,
Feineis-Matthews, S., Schmötzer, G.: Autistische Störungen, Leitfaden Kinder – und
Jugendpsychotherapie, S. 150, Hogrefe 2004 • MBAS: Marburger Beurteilungsskala für Asperger-Syndrom, Kamp-Becker und
Remschmidt 2005 • EAS-M: Skala zur Erfassung von Autismusspektrumsstörungen bei Minderbegabten,
Kraijer, D. & Melchers, P., Swets Verlag • SRS: Deutsche Fassung der Social Responsiveness Scale von John N. Constantino.
Hrsg. Bölte, S. & Prouska, F., Huber 2008
Spezialisierte Diagnostik • ADOS: Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Störungen, Deutsche
Fassung der Autism Diagnostic Observation Schedule; Rühl, D. et al., Huber
Verlag Bern 2004
• ADI-R: Diagnostisches Interview für Autismus-Revidiert, Deutsche Fassung des
Autism Diagnostic Interview von Michael Rutter, Ann Le Couter und Catherine
Lord; Hrsg. S. Bölte, D.Rühl, G.Schmötzer und F.Prouska, Huber Verlag Bern
2006
ANHANG 2 Literatur- und Quellenverzeichnis Attwood, Tony: The Complete Guide to Asperger`s Syndrome, Jessica Kingsley Publisher,
London, 2007
Autismus Deutschland e.V. - Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus:
Tagungsbericht der 11. Bundestagung: Autismus im Wandel – Übergänge sind
Herausforderung, 2006
Bernard-Opitz, Vera: Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), Kohlhammer Verlag
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Royers, H.: ADHD and Autism. Kongressbericht vom 2. Internationales MEDICE-Symposium:
ADHS – Co-existente Störungen in verschiedenen Lebensphasen, ADHS-Report, 9.JG .Juli
2008
Sarimski, Klaus: Psychische Störungen bei behinderten Kindern und Jugendlichen, Hogrefe
Verlag Göttingen 2005
Steyaert, J., De La Marche, W.: What`s new in autism ? Eur J Pediatr (2008) 167:1091-110 Whittingham, K., Sofronoff, K., & Sheffield, J. (2006). Stepping Stones Triple P: A pilot study to
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Whittingam, K., Sofronoff, K., Sheffield, J., & Sanders, M. R (2009a). Stepping Stones Triple P:
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