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„Lesebuch als Explosionsstoff“ – Eine Rückerinnerung zum Beispiel an Robert Minders literaturwissenschaftlichen Ansatz: Das Lesebuch hat in der europäischen Gesellschaft des ganzen 19. Jahrhunderts und noch zum Teil des 20. Jahrhunderts eine grundlegende Funktion erfüllt: Es hat eine Brücke geschlagen zwi- schen Publikum, Literaturhistorik und Autoren; unters Volk gebracht – zumindest unter die (sog.) „bessergestellten“ Schichten –, was die einen geschrieben und die anderen der Konservierung für wert befunden und pädagogisch herauspräpariert hatten. Wo anders, wenn nicht hier, sind Millionen von Lesern im aufnahmefrischen Alter unter Exa- menszwang dazu genötigt worden, Literatur gemeinsam in offiziell verordneten Dosen zu ver- schlucken und zu verdauen? Und da die Routine in der Pädagogik sich noch zäher am Leben er- hält als sonst wo, haben die stereotypen Modelle als literarische Topoi besonderer Art durch Ge- nerationen in die Breite gewirkt. Lesebücher sind zu Bestsellern und zu einem Instrument der Massenbeherrschung geworden, über die nicht ohne Grund ein dichter Schleier des Schweigens ge- breitet blieb. Maßstäbe waren hier gesetzt, Normen aufgestellt, eine Hierarchie der Klassik errichtet – und damit auch Zäune nach allen Seiten. „Inwiefern handelt Wallenstein unter Schicksalszwang oder nach freiem Ermessen?“ „Wie überwindet Goethes Iphigenie den seelischen Konflikt zwischen Pflicht zur Wahrheit und Forderung der Humanität?“ „Wie hat Lessing im Laokoon die Ge- setze der bildenden Künste und der Literatur voneinander unterscheiden gelehrt, wie verhält er sich in der Hamburgischen Dramaturgie zum Problem der drei Einheiten?“ Die Aufsatzthemen wa- ren alles andere als ein Vergnügen und das Gegenteil von ästhetischer Bildung: Bleilast der Scho- lastik. [Aber] worüber man einst gestöhnt und geflucht, ist beim Älterwerden humoristisch quittiert oder gar leicht verklärt worden. Ein wenn auch noch so oberflächlicher Respekt vor den „Großen“ der Literatur war das Resultat des gemeinschaftlichen Drills. (Robert Minder, Die Entdeckung deutscher Mentalität, Leipzig, 1992, 156 ff., ursprüng- lich: SZ 1967) Dem ist eigentlich nicht viel hinzuzufügen, außer dem Hinweis vielleicht, dass diese Ein- schätzung zwar mit meiner Erinnerung an die eigene Schulzeit und auch noch den Beginn meiner Tätigkeit als Lehrer übereinstimmt, aber leider nicht von mir stammt, sondern von dem wohl bedeutendsten französischen Germanisten des 20. Jahrhunderts, Robert Min- der, der aus dem Elsass stammte, im ernstzunehmenden Sinn bilingual erzogen wurde und sich schon nach dem 1. Weltkrieg um eine Verständigung zwischen französischen und deutschen Intellektuellen und Schriftstellern bemühte – eine Tätigkeit, die er durch
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Auf der Suche nach dem verlorenen Wort

Feb 08, 2023

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„Lesebuch als Explosionsstoff“ – Eine Rückerinnerung

zum Beispiel an Robert Minders literaturwissenschaftlichen Ansatz:

Das Lesebuch hat in der europäischen Gesellschaft des ganzen 19. Jahrhunderts und noch zum Teil des 20. Jahrhunderts eine grundlegende Funktion erfüllt: Es hat eine Brücke geschlagen zwi-schen Publikum, Literaturhistorik und Autoren; unters Volk gebracht – zumindest unter die (sog.) „bessergestellten“ Schichten –, was die einen geschrieben und die anderen der Konservierung für wert befunden und pädagogisch herauspräpariert hatten.

Wo anders, wenn nicht hier, sind Millionen von Lesern im aufnahmefrischen Alter unter Exa-menszwang dazu genötigt worden, Literatur gemeinsam in offiziell verordneten Dosen zu ver-schlucken und zu verdauen? Und da die Routine in der Pädagogik sich noch zäher am Leben er-hält als sonst wo, haben die stereotypen Modelle als literarische Topoi besonderer Art durch Ge-nerationen in die Breite gewirkt. Lesebücher sind zu Bestsellern und zu einem Instrument der Massenbeherrschung geworden, über die nicht ohne Grund ein dichter Schleier des Schweigens ge-breitet blieb.

Maßstäbe waren hier gesetzt, Normen aufgestellt, eine Hierarchie der Klassik errichtet – und damit auch Zäune nach allen Seiten. „Inwiefern handelt Wallenstein unter Schicksalszwang oder nach freiem Ermessen?“ „Wie überwindet Goethes Iphigenie den seelischen Konflikt zwischen Pflicht zur Wahrheit und Forderung der Humanität?“ „Wie hat Lessing im Laokoon die Ge-setze der bildenden Künste und der Literatur voneinander unterscheiden gelehrt, wie verhält er sich in der Hamburgischen Dramaturgie zum Problem der drei Einheiten?“ Die Aufsatzthemen wa-ren alles andere als ein Vergnügen und das Gegenteil von ästhetischer Bildung: Bleilast der Scho-lastik.

[Aber] worüber man einst gestöhnt und geflucht, ist beim Älterwerden humoristisch quittiert oder gar leicht verklärt worden. Ein wenn auch noch so oberflächlicher Respekt vor den „Großen“ der Literatur war das Resultat des gemeinschaftlichen Drills.

(Robert Minder, Die Entdeckung deutscher Mentalität, Leipzig, 1992, 156 ff., ursprüng-lich: SZ 1967)

Dem ist eigentlich nicht viel hinzuzufügen, außer dem Hinweis vielleicht, dass diese Ein-schätzung zwar mit meiner Erinnerung an die eigene Schulzeit und auch noch den Beginn meiner Tätigkeit als Lehrer übereinstimmt, aber leider nicht von mir stammt, sondern von dem wohl bedeutendsten französischen Germanisten des 20. Jahrhunderts, Robert Min-der, der aus dem Elsass stammte, im ernstzunehmenden Sinn bilingual erzogen wurde und sich schon nach dem 1. Weltkrieg um eine Verständigung zwischen französischen und deutschen Intellektuellen und Schriftstellern bemühte – eine Tätigkeit, die er durch

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seine wissenschaftliche Arbeit nach 1945 fortsetzte. Am bekanntesten wurde wahrschein-lich seine frühe, aber bibliographisch schwer zu ermittelnde Auseinandersetzung mit Mar-tin Heidegger. Minder bettet seine Polemik gegen den bis heute erhalten geblieben philo-sophischen Überrest aus dem Nationalsozialismus in eine Würdigung des alemannischen Dichters Johann Peter Hebel ein, um dann die leere Abgründigkeit der „Sprache von Meßkirch“ aufzudecken.

Ähnlich hintersinnig geht Minder im Aufsatz das Lesebuch als Explosionsstoff vor, wenn er den Leser dazu verführt, sich am Ende der eben zitierten Stelle in leicht wohligem Grau-sen an die längst vergangene eigene Schulzeit zurückzuerinnern. Denn er kommt unmit-telbar anschließend auf seinen Onkel, einen „total hartgesonnenen und amusischen Ge-schäftsmann“ zu sprechen, der nicht nur Jahrzehnte nach seiner Schulzeit noch Lenaus Postillon

Lieblich war die Maiennacht, Silberwölklein flogen, Ob der holden Frühlingspracht Freudig hingezogen.

auswendig wusste, sondern auch

„mit Genuss und Kennermiene in Lenau schwelgte, Lenau kommentierte: wie das gemacht sei, wie wunderbar der Rhythmus die federnde Bewegung der Pferde wiedergebe! Große Dichtung, kein unverständliches Zeug; die Verse gingen ihm jedesmal durch den Sinn, wenn er morgens zu Pferd nach seinem Sägewerk reite.“

Damit kein Zweifel an solch harscher Kritik gegenüber dem immer wieder und wohl auch immer noch vertretenen Dogma aufkommt, literarische Gehalte und ihre poetischen Formen stünden in enger wechselseitiger Beziehung, setzt Minder in harter Fügung dieser Anekdote die Erinnerung eines jüngeren Freundes entgegen, dem sein Vater das gleiche Gedicht unkommentiert vorgetragen hatte, ehe er 1942 wieder an die russische Front auf-brechen musste. Wenig später erläuterten sich – so Minder – die Verse Lenaus durch die Nachricht vom Tod des Vaters selbst: das Gedicht endet mit einem musikalischen Gruß an den toten Kameraden des Kutschers:

Und des Hornes heller Ton Klang vom Berge wieder, Ob der tote Postillion Stimmt´ in seine Lieder.-

Weiter ging´s durch Feld und Hag Mit verhängtem Zügel; Lang mir noch im Ohre lag Jener Klang vom Hügel.

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Mittels zweier, sich oppositionell gegenüberstehenden, für sich allein fast harmlos anmu-tenden Episoden sprengt Minder mit Leichtigkeit den metaphysischen, also sinnlich nicht fassbaren Zusammenhang von sprachlicher Form und poetischen Inhalt. Zugleich wer-den ernsthafte Zweifel an der Gültigkeit jener Erklärungsmuster geschürt, die das literari-sche Kunstwerk in sich selbst ruhen oder aus sich selbst sprechen lassen wollen. Das An-genehme an Robert Minders Vorgehensweise ist dabei, dass er in strenger Sachlichkeit alle ideologische Auseinandersetzung um die sogenannten textimmanenten Verfahren meidet, die nach 1945 entwickelt wurden, um durch die Ausklammerung psychologischer, sozio-logischer, vor allem aber politischer Interessen an den Texten und ihre Autoren auszu-klammern. Fragestellungen, die sich zugleich auf die Interpreten selbst erstrecken hätten müssen – und gerade die Generation der vor allem deutschen Literaten und Literaturwis-senschaftler zu erfassen gehabt hätten, die auf verhängnisvolle Weise in die deutsche Ge-schichte zwischen 1933 und 1945 involviert waren, um nachher oft ohne oder nur nach kurzer Karenzzeit wieder in ihre ursprünglichen Positionen einzurücken.

Freilich hatten diesbezüglich nicht nur viele Literaturwissenschaftler und Philosophen solche Kontaminationsprobleme. So wurde 1945 die gesamte medizinische Fakultät der Universität Heidelberg geschlossen, um dann mit einer feierlichen Rede des Philosophen Karl Jaspers wieder eröffnet zu werden, aus der nicht nur hervorgeht, dass den Geistes-wissenschaftlern eine längere Pause verordnet worden war, sondern in der auch vor davor gewarnt wurde, es könnten an den Universitäten „mannigfaltige Reste fragwürdiger Ge-wohnheiten des Denkens und Wertens erhalten“ bleiben. Dem ist wohl so, auch wenn bedeutende Träger dieser Denklinie (Carl Schmitt/Martin Heidegger) nicht in ihre ange-stammten universitären Positionen zurückgekehrt sind. Die Rückkehr zu verschieden schattierten „Resten fragwürdiger Positionen“ erfolgte nämlich nicht ausschließlich über die Fortsetzung akademischer Laufbahnen, sondern auch über eine sorgfältige Pflege des faschistischen Gedankenguts in bedeutenden Verlagen (Klett-Cotta für Jünger / Suhr-kamp für Schmitt/ Klostermann für Heidegger) oder über die Gründung eigener Verlags- und Vertriebssysteme wie der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt durch den Historiker Ernst Anrich und den nicht weniger vorbelasteten Germanisten Gerhard Fricke, die beide wegen ihrer Lehrtätigkeit an der Reichsuniversität Straßburg unter Be-rufsverbot standen, denen es aber gelungen war, mit Wilhelm Weischedel einen unbe-scholtenen Philosophen mit ins Boot zu holen, hinter dem die WBG bis heute einen Teil ihrer Verlagsgeschichte verbirgt. Dieser Umstand ist deshalb zu erwähnen, weil die Koha-bitation von nationalsozialistisch verbrannten und konservativen Leuten nicht nur das politische Leben die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland über die 1950er Jahre hinaus im Allgemeinen bestimmte, sondern ihre Geistesgeschichte ganz entscheidend prägte. Nicht nur wegen Anrich, der 1966 auf einem Karlsruher NPD-Parteitag die „Dik-tatur für eine gute Verfassungsform“ hielt, Ernst Jünger oder Carl Schmitt, den auch zu-nächst unverdächtig erscheinende Philosophen wie Jacob Taubes wegen seiner „Radikali-tät“ bewunderten, ist der Literaturunterricht als besondere Form geisteswissenschaftli-cher Tradition bis heute nicht frei von solchen Spuren oder genauer: Sie treten in der zu ideologischer Ambivalenz neigenden Postmoderne wieder deutlicher hervor als in der

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historischen Mitte zwischen dem Zusammenbruch des ehemaligen deutschen Reiches und heute, also in grober Zeitrechnung: in den 1960er und 70er Jahren des letzten Jahr-hunderts.

Um dabei aber vorab einen in diesem Zusammenhang entstandenen Mythos zu entschlei-ern: Die wesentliche Auseinandersetzung mit dem finsteren Kapitel der deutschen Litera-turgeschichte, das in mancher Hinsicht bis heute nachwirkt, wurde keinesfalls von der sog. 68er Generation geführt, sondern einmal von den wenigen integren Altersgenossen Robert Minders, die – meist exiliert – die Jahre 1933 bis 1945 überlebten, um dann wieder auf ihre alten Arbeitsplätze zurückzukehren, zum anderen aber von Akademikern, die sich, um 1930 geboren, nicht erst auf eine manchmal ödipal eingefärbte Weise mit ihrer Vätergeneration auseinandersetzten. Allerdings waren viele dieser Wissenschaftler von der unmittelbarer Anschauung der geschichtlichen Ereignisse derart traumatisiert, dass sie bei ihrer Arbeit nicht immer über das notwendige, sprachlich hinreichend deutliche werdende Handwerkszeug verfügten. Dieses stand erst mit den grundlegenden Arbeiten der Mit-scherlichs u. a. bereit, was erklärt, warum die kritischen literaturwissenschaftlichen Arbei-ten vor 1960 keinen oder kaum einen wirklichen Fortschritt gegenüber der Zeit vor 1933 enthalten, während sich später die Arbeiten zur Aufarbeitung der geisteswissenschaftli-chen Vergangenheit quantitativ und der Qualität nach explosionsartig entwickelten – oh-ne allerdings immer nachhaltig zu wirken.

Der Zustand ist sichtbar: Während es in den manchmal für wild gehaltenen Zeiten nach 1970 möglich war, nicht nur die Bewegung des DADA im Unterricht zu behandeln oder Texte der Experimentellen / Konkreten Poesie selbst als Prüfungsstoff beim Abitur vor-zulegen, ist derlei wieder (übrigens gemeinsam mit alternativen mathematischen Metho-den) in den Magazine der Museen oder Bibliotheken verschwunden und kommt nur, wie bei den Waiblinger Literaturtagen 2014 zu sehen ist, als Ausstellungsgegenstand, aber et-was seltsam zwischen Bildender Kunst und Literatur schillernd zum Vorschein. Es ist ganz sicher kein Zufall, dass etwa Max Bense kunstgeschichtlich deutlich besser gepflegt wird als seiner literaturgeschichtlichen Bedeutung nach. Offensichtlich kann der sog. Geist nur ganz schwer rein formal, in seiner rationaler Begrenztheit gedacht werden, auch wenn sich die dabei wieder hervorscheinende, geheimnisvolle Aura des Bedeutungsvollen regelmäßig als Einfallstor für finster Vorgestriges erweist. Es ist eben auch kein Zufall, dass nach wie vor der sog. Chandos-Brief Hugo von Hofmannsthals als Paradigma sprachkritischer Zustände dient, demgegenüber jene Zweifel wieder in den Hintergrund gerückt worden sind, die unter Literaten kursierten, als die Kenntnisnahme der Shoa nicht weiter verschoben oder verdrängt werden konnte.

Wenn in der heutigen Situation ein solcher historischer Rückgriff erfolgt, geschieht das nicht aus nostalgischen Gründen oder um das Gesetz der Trägheit auf ein der Physik fernliegendes Gebiet zu übertragen, sondern um die mögliche Einsicht dahingehend vor-zubereiten, dass auch Menschen, die ernsthaft Geisteswissenschaften betreiben, in Situa-tionen geraten können, die von ihnen nicht oder nur mit großen Schwierigkeiten zu bear-

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beiten sind. Denn sie haben keine wissenschaftlichen Paradigmen zur Bewältigung ihrer Probleme zur Verfügung. Solche Lösungsmöglichkeiten kommen häufig erst später und auch dann erst unter glücklichen Umständen auf sie, was zu dem misslichen Umstand führt, dass die Beschäftigung mit den Lesestoffen unter scharfer Abschirmung der je ge-genwärtigen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Situation stattfindet – sei es nun im Forschungs- und Lehrbetrieb der Universitäten, sei es im Unterrichtsgeschehen an den Schulen, an denen aber noch effizienter das Tagesgeschehen zugunsten der traits éternels, dem ewigen Betriebe von Weltgeist und -geschehen verdrängt wird.

Um zu begreifen, warum eine solche, schwer zu begreifende Dialektik zwischen emanzi-patorischen Phasen und solchen ängstlicher Enge an den Schulen noch besser funktio-niert als an den Hochschulen, muss kein Studium von Goethes Faust absolviert werden, in dem sich solche diastolischen Zustände der fruchtbaren Ausdehnung und systolischer unfruchtbarer Ängstlichkeit gegenseitig bedingen, sondern es müssen nur die Machtver-hältnisse betrachtet werden, unter denen auch literarische Bildungs- und Erziehungsarbeit geleistet wird; oder schärfer: Die Schulen als staatliche Einrichtungen zur Vermittlung von literarischer Bildung und Erziehung funktionieren nur aufgrund der dort eingesetzten Zwangsmittel im ursächlich widersprüchlichen Zusammenhang mit dem hehren Geistes und den holden Musen, die ihren Inhalt bestimmen.

Wenn sie, die Schulen, denn überhaupt Geist und Poesie zum Inhalt haben und die Mu-sen nicht als pädagogische Schoßhündchen gezähmt, zum schulischen Gebrauch domes-tiziert, also für erzieherische Zwecke missbraucht, oder in der Sprache von Mozarts Herrn Osmin „erst geköpft und dann gehangen“ werden. Dabei ist der hier vorgetragene Verdacht des Missbrauchs der dichterischen Sprache für Unterrichtszwecke keinesfalls originell. Er stammt sowenig von mir wie der Begriff des Unterrichtsvollzugsbeamten als Kennzeichnung der Schulpädagogen, sondern ist einem Aufsatz des Tübinger Germanis-ten und zeitweiligen bad.-württ. Kultusministers Gerhard Storz aus dem Jahr 1948 ent-lehnt, der eindringlich davor warnt, sprachliche Kunstwerke so zu zergliedern, dass sie als grammatische Paradigmata oder zur Bildung stilsicherer sprachlicher Kompetenz genutzt werden können. Der Romanist Ernst Robert Curtius geht noch weiter, wenn er sagt, dass die Schule den Tod der (im Sinne Minders: großen) Literatur bedeutet, während Theodor W. Adorno diesbezüglich von der Verarbeitung der literarischen Stoffe zu Müll redet.

Solche Anwürfe, die aber beispielsweise Adorno später selbst wieder relativiert hat, könn-ten dann historisch abgelegt werden, wenn nicht zu beobachten wäre, dass beispielsweise Erzählungen Heinrich von Kleists heute wieder unter spracherzieherischem Aspekt, mit exklusiv stilbildender Zielsetzung an baden-württembergischen Gymnasien (deren Nen-nung Sie mir bitte ersparen möchten) eingesetzt würden und die Warnung von Kollegen, diese oder jene Kleistsche Erzählung sei für minderjährige Schüler aus inhaltlichen Grün-den, z. B. wegen ihrer Grausamkeit nicht geeignet, mit dem Hinweis beiseite geschoben würden, es gehe überhaupt nicht um die Inhalte, diese seien eben nicht Unterrichtsgegen-

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stand, sondern der Stil der Kleistschen Sprache diene per Sprachanalyse der Erweiterung der sprachlichen Kompetenz von Schülern.

Ausgerechnet Heinrich von Kleist. Dessen erzählerische Sprache schon zu seinen Lebzei-ten außerhalb jeder hochsprachlichen Norm lag und dessen erzählte Inhalte auch damals nicht nur der erzählten Oberfläche, sondern auch den politischen Gehalten nach Alp-träume zu verursachen in der Lage waren. Man denke nur an die Waagschalen des aus-gleichenden Rechts im Michael Kohlhaas: Erst (den Vater) geköpft und dann (die Kinder) zu Rittern geschlagen. Dagegen war Metternichs realpolitische Reaktion das reine Katzen-streicheln.

Die im stilkundlichen Kontext erhalten bleibende Lust am verstümmelten menschlichen Körper und seiner bildnerischen oder literarischen Zurschaustellung, die an der Oberflä-che des politischen Bewusstseins berechtigte moralische Empörung hervorruft, ist wegen einer verhängnisvollen Übereinstimmung von literarisch-gewohnheitsmäßiger Tradition und zeitgeschichtlicher Aktualität, besonders aber wegen der für den Betrachter unbestrit-ten eintretenden Folgen etwas genauer zu betrachten. Zudem verbindet die extrem barba-rische Gewohnheit Mitmenschen zu töten nicht nur (islamische) Gotteskrieger, die neu-erdings ins Blickfeld gerückt sind, mit der literarischen Tradition einer angeblich hoch zivilisierten europäischen Kultur, in der solche Bilder ganz selbstverständlich weiterge-reicht werden.

Ob ein solches abscheuliches Geschehen akzeptiert oder abgelehnt wird und in welchen Medien es abgebildet werden darf, hängt im Übrigen weitgehend davon ab, in welchem Verhältnis die Täter und Opfer solcher Torturen zu unserem eigenen Kulturkreis und den dort angesagten politischen Verhältnissen stehen. Dies darf aber den Blick darauf nicht verstellen, dass sich der Widerspruch zwischen Lust am traditionell untersagten Anblick und einer tief sitzenden Angst davor, selbst einer solchen Traktur unterzogen zu werden, einen aufgeklärten, kritischen Diskurs darüber unmöglich macht, welche Quellen die Lust am Verbotenen speisen und welche gesellschaftlichen Folgen die Übertretung von Tabus in bildnerischen oder literarischen Darstellungen zeitigt. Lustvolle Angstzustände sind schon deshalb weder besprechbar noch zu rationalisieren, weil sie unbewusst entstehen und unbewusst bleiben müssen. Sie können den psychischen Verbotszonen nicht entris-sen werden, selbst wenn sich manche an den Anblick gewöhnt haben sollten.

Um nachvollziehen zu können, was dem lesenden/anschauenden Subjekt geschieht, wenn es der Betrachtung von verstümmelnden Bestrafungen ausgesetzt wird, ist es ganz nütz-lich, den von der französischen Philosophin Hélène Cixous vorgeschlagenen Weg zu be-schreiten, der von vorgeblichen Nebensächlichkeiten auf den Kern künstlerischer Mittei-lungen schließt. Eine solche Nebensächlichkeit stellt in Kleists Kohlhaas der Umstand dar, nach dem die historische Vorlage berichtet, Hans Kohlhase sei am 22. Mai 1540 in Berlin durch Rädern zu Tode gekommen, während der Protagonist bei Kleist zu einem unbe-stimmten Datum durch das Beil des Scharfrichters stirbt. An vielen Stellen wird behaup-tet, der letztere Tod sei ehrenvoller, „ritterlicher“ als der zuerst genannte. Eine solche Er-

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klärung berücksichtigt aber nicht den Zeitpunkt und das zeitgeschichtliche Umfeld, in dem Kleists Erzählung entstanden ist, wozu ganz unbestreitbar die mit der französischen Revolution verbundene Erfindung der Guillotine gehört. Obwohl dieses Gerät nach dem Willen ihres Erfinders der Humanisierung des Strafvollzugs dienen sollte, wurde es sehr schnell zu einem reinen Instrument der rationalisierten Tötung. Die dadurch mögliche massenhafte tödliche Verstümmelung von Menschen diente aber nicht nur dem revoluti-onären Terror, sondern rief das anatomische Interesse von Künstlern wie des Malers Théodore Géricault hervor, der zahlreiche Studien zu diesem Thema anfertigte. Zugleich entbrannte eine eine heftige Debatte unter Medizinern, Naturwissenschaftlern und Philo-sophen, ob denn ein auf schnelle Weise zu Tode gebrachter Delinquent nur einen toten Rumpf hinterlasse, während der Kopf auch bei geringer Durchblutung weiter zu Empfin-dungen in der Lage sei.

Durch das Fallbeil geriet nicht nur die Annahme des Descartes ins Wanken, nach der die physische Existenz des Menschen und sein Bewusstsein untrennbar zusammengehörten, das sich auf grausige Weise in die Vorstellung von einem körperlosen Bewusstsein wan-delte, sondern auch das Motiv von untoten menschlichen Wesen erhielt neuen Auftrieb. Der Stoff breitete sich vor allem im Bereich einfacher Lesestoffe schnell aus, war aber eigentlich weniger sensationell, weil er lediglich eine moderne Fortsetzung der Geschich-ten von Galgenmännlein darstellte, die aber eine noch deftigere Version vom Leben nach dem Tod feilboten. In aufgeklärten Kreisen führte die Debatte, die bis hin zu Michel Foucaults poststrukturalistischen Studien zum Thema „Überwachen und Strafen“ eine gewisse Rolle behält, dazu, dass die Abschaffung der Todesstrafe gefordert wird, während in konservativen Kreisen, denen Kleist auch in dieser Frage zuzurechnen ist, auf einer „langen und qualvollen Prozedur“ beim Vollzug der Todesstrafe beharrten.

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In Preußen hielt sich die besonders grausame Hinrichtungsmethode durch das (Hand-) Beil, mit dem Menschen, wie das in beschönigender Abstraktion heißt, vom Leben zum Tod gebracht wurden, bis ins 20. Jahrhundert. Dafür kann natürlich Kleists Erzählung nicht verantwortlich gemacht werden; zweifellos appelliert diese aber ähnlich wie das Erd-beben in Chili auf eine sehr wirksame Weise an offenbar schwer beherrschbare niedere Ins-tinkte, die durch das ambivalente Zusammentreffen von Angst und Lust ausgelöst wer-den.

Im Literaturunterricht gibt es diesbezüglich eigentlich kein Entrinnen. Denn Kleists Kohl-haas ist nicht der einzige der französisches Revolution zeitnahe, aber immer prominent gebliebene Stoff, der die Problemlage enthält, die aus dem trüben Bereich der Triviallite-ratur in den der großen aufgestiegen ist, ohne dabei seine problematische Wirkung zu ver-lieren. Die dabei auftretende psychische Schädigung wird nach allgemein verbreiteter Überzeugung in einer gestörten Selbstwahrnehmung der Betrachter solcher Szenen gese-hen – unabhängig davon, mit welcher Absicht sie durch welches Medium verbreitet wer-den.

An Schillers Maria Stuart (1800) wurde schon in der Mittelstufe des Gymnasiums die auf diese Weise unvergesslich bleibende dramatische Form der Mauerschau vorgestellt, die nach üblicher Lesart dem Zuschauer den grausigen Anblick ersparen soll und zugleich den damals noch mangelhaften bühnentechnischen Möglichkeiten entsprach, eine Illusion des Geschehens zu vermitteln. Also schildert der Graf Leicester im 10. Auftritt des letzten Aktes die Vorbereitungen zur Enthauptung Marias, die in einem „dumpfen Getöse von Stimmen“ endet, „das lange forthallt“ – eben so als habe hier eine Naturgewalt mit Blitz und Donner zugeschlagen und dabei die Delinquentin tödlich getroffen. Tatsächlich ist aber bereits vorab die Trennung von körperlicher und geistig-seelischer Existenz vollzo-gen worden, wenn es zu Beginn der Szene heißt, sie gehe „verklärten Geistes“ dem Scha-fott zu.

Schon in dieser dramatischen Darstellung finden sich die Befürchtungen des deutschen Anatomen Samuel von Sömmering wieder, nach denen eine schnelle Tötung Prozesse der Ungleichzeitigkeit zwischen Körper und Geist/Seele auslöse, was nur durch eine rituell vorbereitete, zugerichtete Prozedur zu verhindern sei, in der sich der Geist auf seine Trennung vom Körper vorbereiten kann. Denn die qualvolle Dauer der traditionellen Hinrichtungsart – so Sömmering weiter – enthalte die notwendige Bewährungsprobe der hora mortis, der entgegengesehenen Stunde des Todes, wodurch mit dem Eintreten des Todes auch seine Qualen beendet waren. Diese Sinnstiftung geht nach konservativer Überzeugung durch den technischen Fortschritt verloren, ohne dass dabei die barbarische Handlung selbst in Zweifel gezogen würde. Der Vorgang selbst erfährt durch die Verar-beitung in der Hochliteratur eine Nobilitierung des Grauens, das ursprünglich auf sog. einfache Lesestoffe begrenzt geblieben ist, da nunmehr bei seiner Wahrnehmung eine dramentheoretisch erwünschte moralische / erzieherische Wirkung erzielt wird, die der trivialen Literatur nicht zugestanden wird.

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Ohne entscheiden zu wollen, welche Figur nun wessen Wiedergänger in Goethes Faust-tragödie (einem Stoff, der für die literarische Bildung immer noch unerlässlich zu sein scheint): Konzentrierter werden Lust und Last des Unheimlichen nirgends zusammenge-führt als in der Walpurgisnacht des ersten Teils, wo es heißt:

Welch eine Wonne! welch ein Leiden! Ich kann von diesem Blick nicht scheiden. Wie sonderbar muß diesen schönen Hals Ein einzig rotes Schnürchen schmücken, Nicht breiter als ein Messerrücken!

Zugleich wird auch hier deutlich, dass die beim Hexensabbat geschaute Person der Vor-stellung nach bereits geköpft ist, während sie ihrer körperlichen Erscheinung nach erst einige Zeit später zu Tode kommt. Auch wenn hier der metaphysische Vorgang dem tat-sächlichen vorauseilt, bleibt Margarete dem Drama über das Ende des ersten Teils hinaus erhalten; sie taucht in Bergschluchten, Wald, Feld, Einöde des Faust II wieder auf als UNA PO-

ENITENTIUM /„DIE EINE BÜSSERIN SONST GRETCHEN genannt“

Während allgemein angenommen wird, dass die Zeugen von derart dargestellter, ent-hemmter Gewalttätigkeit, die in der Amputation von Extremitäten oder des Kopfes mün-det, unter einer Entgrenzung der Wahrnehmung, ihrer Entdifferenzierung und halluzi-nierten Gefahren leiden, kommen in der einschlägigen Lektüre die Opfer eines solcher-maßen ungleichzeitigen Todes nicht nur Untote, sondern auch schwer beherrschbare Haustiere und sexuell aggressive Kinder zum Vorschein. Wenn der Kunsthistoriker Ste-fan Germer in erster Linie die Darstellung einfacher Lesestoffe (“französischer Schauer-romane“) als Folge des modernisierten Strafvollzugs erkennt, wird das der Beobachtung nicht gerecht, nach der sich das blutige Spektakel sehr früh in der sog. großen Literatur ausbreitet und dem Literaturunterricht auf diese Weise bis heute erhalten geblieben ist. Germer erkennt die Quellen der Bedrohungspotentiale zwar richtig, übersieht aber zu-gleich mit dem Vorkommen in der Hochliteratur, dass er Sachverhalte benennt, die im schulischen Literaturunterricht auftauchen, dort jedoch diskret, psychologisch ausge-drückt: unbewusst, häufig selbst auf unbesprochene Weise transportiert werden, weshalb sie hier ungehemmt ihre Wirkung entfalten oder auf eine unvorhergesehene Weise (z. B. durch das Machtgefüge zwischen Lehrern und Schülern) bereits vorhandene Ängste ver-stärken können. Es wäre also danach zu suchen, in welcher Gestalt Margarete nicht nur in Goethes Faust II, sondern vor allem in den romantischen Bearbeitungen des Stoffs später wieder erscheint, ggf. um sich mit ihrem Verführer so zu versöhnen wie das in Hector Berlioz‘ Oper Fausts Verdammnis (1846) geschieht.

Aus den Niederungen der einfachen Lesestoffe oder Opernlibretti steigen die angespro-chenen Motive insgesamt in den illustren Kreis der für die Abiturprüfungen ausgewählten Stoffe auf und müssen zumindest wegen ihrer Konzentration dort für problematisch gel-ten. So:

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- Franz Kafka, Der Process, wegen der von Kindern ausgehenden sexuellen Verlockungen. Aus dem Ruder laufenden Haustiere kommen eher in seiner Erzählung Der Landarzt vor, wo sie auf eine umständliche Weise, deren Darstellung diesen Rahmen jedoch übersteigen würde, mit den Pferden aus Kleists Michael Kohlhaas korrespondieren. In Die Verwandlung, die lange Abiturstoff war, fließen die beiden Motive zusammen, wenn der ins Tier ver-wandelte Sohn inzestuös an seine kleine Schwester gebunden wird. Neben Kafka haben auch Joyce, Proust und Schnitzler den Rückzug Freuds aus der Verführungstheorie ge-kannt; sie weisen deshalb Kindern die aggressive Rolle zu, wenn der pädophile Konflikt-fall eintritt.

- Theodor Fontane, Effi Briest, wo nicht nur allerhand Untotes herumspukt, das schließ-lich für die Fertilität einer Kindfrau verantwortlich gemacht wird. Denn Effis Ehemann Geerd v. Innstetten, der ganz offensichtlich schon der Mutter die Kur gemacht hat, ver-meidet die pädophile Situation, die zugleich einen Inzest beinhaltet, indem er die fragliche Nacht beim Fürsten Bismarck zubringt, anstatt endlich die von der aktuellen Schwieger-mutter/früheren Geliebten gestifteten Zwangsehe mit einer Minderjährigen zu vollziehen. Mit eherner Konsequenz führen denn solche Verirrungen bei Fontane zu weiteren atavis-tischen Katastrophen wie einem Ehrenmord am Liebhaber der dann erwachsen geworde-nen jungen Frau und deren eigenem Tod nach ihrer Trennung von Mann und Tochter und der unübersehbar regressiven Rückkehr ins elterliche Haus, was den Vergang dieses eher ätherischen Wesens entschieden beschleunigt, das der Kindsrolle nie entrinnen kann.

- Max Frisch, Homo Faber, wo manche Toten zwar tot bleiben, der Protagonist aber selbst zu Beginn auf Zuruf die Unterwelt betritt und wieder verlässt, um ganz entschieden wie-der in die eigene Vergangenheit einzutauchen. Zwar bekommt Faber nicht wie der mytho-logische Orpheus seine Frau zurück, die Rückkehr aus dem Totenreich stattet Faber je-doch mit dem Privileg aus, neben anderen Frauen auch die eigene Tochter zu lieben, ohne dafür mehr bestraft zu werden als durch Aufklärung über die tatsächlichen Gegebenhei-ten. Dabei ist die Ähnlichkeit der Tochter mit ihrer Mutter überhaupt nicht zu übersehen, woran sich selbst naive Leser nur schlecht vorbeimogeln können. An Stelle des übergriffi-gen Vaters stirbt dann allerdings die nichts ahnende Tochter den Liebestod. Im Gegen-satz zur Tragödie in Goethes Großwerk tritt hier jedoch ein faktisch gedoppelter und deshalb wenig plausibler Tod ein, der eher ins C. G. Jungsche Kinder- und Frauenbild passt, als es den tatsächlich notwendigen Zuordnungen von sexuell erfahrenen Verfüh-rern und ihren juvenilen Opfern entspricht.

Auch wenn bei einer solchen Darstellung einer mehrfachen Todesursache schon wieder der Herr Osmin zu hören sein sollte [„erst geköpft und dann gehangen …“] ist das Grundmuster der vielleicht etwas willkürlich hervorgehobenen literarischen Themen noch ein anderes, da von Goethes sprichwörtlich dummer Grete über Fontanes Kindfrau bis zu Frischs vaterverliebter Sabeth die junge Frau zugleich die dumme ist – nicht weil sie Opfer mehr oder minder komplizierter männlicher Verführungsstrategien wird. Vielmehr können sie – wie man so sagt – ihrem tödlichen Schicksal nicht entrinnen, weil sie

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- entweder in von ihren Verführern angestiftete Verbrechen verwickelt werden, die sie zu Opfern der Strafjustiz machen (Goethe), was die eher privaten Affären programmatisch in den Bereich der Justiz überweist, die sich heute noch dort in die Intimsphäre von er-wachsenen Menschen einmischt, wo sie nun wirklich nichts zu suchen hat, wie selbst die Ethikkommission der deutschen Bundesregierung erkannt hat,

- als Frauen noch nicht einmal zur Aufzucht von Töchtern taugen (Fontane), was wegen der offensichtlich zugleich sozialdarwinistischen und misogynen Tendenzen solcher Frau-enbilder keiner weiteren Vertiefung bedarf

- oder Männer so entfremdet wahrnehmen, dass sie zwar mit ihnen schlafen, aber den Anblick ihres nackten Körpers nicht ertragen können (Frisch).

Wenn die genannten Texte in historischer Abfolge betrachtet werden, tritt verschärfend hinzu, dass mit dem Fortschreiten der literarischen Entwicklung die Empfindungen kör-perlicher Zuwendung regressiv ausgespart bleiben. Während Goethes Margarete noch weiß, was sie bei der Liebe körperlich verlangen darf und tatsächlich auch empfindet, muss Effi Briest bereits auf ein halluziniertes Ersatzobjekt, einen anschwellenden „Däum-ling“ ausweichen, der ihr aber wenigstens so hinreichend körperliche Lust bereitet, dass sie schließlich (unrealistischer Weise) eine Tochter bekommt. Bei Frisch hingegen reicht schließlich der Anblick eines nackten Mannes schon hin, um eine Frau zu Tode zu er-schrecken, obwohl sie wochenlang mit ihm geschlafen hat.

Unversehens tritt also auf erotischem Gebiet der Mechanismus ein, den die Philosophen nur beim zügigen Vollzug des Todesstrafe befürchtet haben: Das Bewusstsein wird im Lauf der Motivgeschichte vom Körper getrennt und tritt ihm schließlich auf tödliche Weise entfremdet gegenüber.

Die Rezeptionslage ist aber mittlerweile umfassend ambivalent geworden, weil einerseits die traumatisierenden Bilder von den an ihren Leibern verstümmelten Menschen kunst-oder literaturgeschichtlich tradiert werden, andererseits aber ein reichlich hysterischer Alarmismus herrscht, der zur Abwehr tatsächlicher oder vermeintlicher Gefahren die nämlichen Bilder von verstümmelten Menschen nutzt. Die sind aus dem Bereich der ei-genen Hochkultur zwar vertraut, können aber ohne psychisch oder kognitiv hinreichende Verarbeitung jederzeit wieder genutzt werden, um wegen der in ihnen lauernden narzissti-schen Verletzungspotentiale immer wieder neuen Alarm auszulösen.

Darauf reagiert eine ohnehin überwiegend ebenso narzisstisch gestimmte wie gestörte Generation – ich denke zunächst mit gutem Grund – durch einen weitgehenden Rückzug aus der Beschäftigung mit der verordneten, im dargestellten Sinn übergewichtigen Schul-lektüre ebenso wie sie sich wenigstens nach außen hin gleichgültig gegenüber den auf die-se Weise übermittelten Horrornachrichten zeigt.

Die derart kontaminierten literarischen Stoffe besitzen für heute junge Leser darüber hin-aus den unbestreitbaren Nachteil, bereits der Eltern- und weitgehend auch schon Großel-

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terngeneration vertraut zu sein. Der Lektüre kommt also bezüglich der notwendigen Ab-grenzungsbedürfnisse zwischen den Generationen längst keine Bedeutung mehr zu, weil der dreiste schulpädagogische Versuch, auf diese Weise sozialpsychologische Einpas-sungsprozesse zu erzwingen, gar nicht übersehen werden kann.

Das trifft selbst dann zu, wenn die zum Unterrichten herangezogene Literatur jüngeren Datums sein sollte, wie das etwa bei Peter Stamms jüngst in Gebrauch genommen Roman Agnes der Fall ist. Denn es reicht einfach nicht hin, wenn die Wiederauflage eines sattsam verbrauchten und deshalb von mir tatsächlich bösartig verkürzt dargestellten Stoffes nur hinsichtlich des Schreibgeräts modernisiert wurde. Der Austausch von Reiseschreibma-schine gegen einen PC unter weitgehender Beibehaltung der Seelenlage eines Protagonis-ten ist zu wenig, um Schüler faszinieren zu können. Den offensichtlichen Zusammenhang zwischen Max Frischs Homo Faber und Peter Stamms Agnes haben allerdings selbst die Beamten der Kultusverwaltung durchschaut, wenn sie beim letzten Abitur den Prüflingen „eine vergleichenden Betrachtung (der) Bedeutung“ abverlangen, „die Sabeth für Faber und Agnes für den Ich-Erzähler hat“ – gerade so als sei die Zeit zwischen 1957 und 1998 ohne gesellschaftliche oder kulturelle Brüche stehen geblieben, die einen unmittelbaren Vergleich der angesprochenen Beziehungen unmöglich machen, wenn er nicht zu beliebi-gem, bloß einer älteren Generation gefälligem Geschwätz verflachen soll.

Um einen vielleicht riskanten Bogen zu schlagen: Max Frischs Roman liegt zeitlich und der Thematik nach weiter vom heutigen Datum weg als Ernst Jüngers In Stahlgewittern von meiner Schulzeit und: die letzten 60 Jahre beinhalten bedeutendere kulturelle Diskontinui-täten als sie für die ersten 45 Jahren des letzten Jahrhunderts festgestellt werden können. Von daher stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang der revolutionäre Anspruch Sartres an die schöngeistige Literatur noch aufrecht erhalten werden kann, weil selbst humanistischer Aktionismus einer Zielsetzung bedarf – wenigstens als möglicher Alterna-tive zum schon Bestehenden oder etwas bescheidener: wenigstens zu schon bestehender Literatur.

Sofern aber kein solches Ziel gesehen werden kann, bestünde der revolutionäre Akt im Umgang mit der Literatur darin, gegen die eigene, oft dem Subjekt selbst unheimlich ge-wordene Lust an der Antiquiertheit des Menschen dadurch anzukämpfen, dass sie nicht nur im jeweilig feindselig begegneten Fremden erkannt wird, sondern je im empfindenden eigenen Subjekt selbst.

Aus verschiedenen geschichtlichen Entwicklungen kann mit einiger Sicherheit abgeleitet werden, dass der Verlust von humanistischen Zielen mit dem primärer ethischer Dimen-sionen einhergeht, zu denen in diesem Zusammenhang zumindest Mitleid und Einfüh-lungsvermögen gezählt seien. Diese Sphäre wird ganz offensichtlich durch eine sadistisch ausgeprägte Zurschaustellung von Mordopfern in Schrift und Bild verletzt. Das ermög-licht eine – ich behaupte: vielfach erwünschte – Verschiebung der Wertvorstellungen in den Bereich sekundärer Tugendhaftigkeit, wofern diese nicht notwendig wird, um wenigs-tens einen schmalen gemeinsamen moralischen Vorrat zu retten.

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Also wieder: Ordnung, Fleiß, Gehorsam und Disziplin als Voraussetzung eines geebne-ten, besser vielleicht: eingeebneten Spracherwerbs, dessen Ziel darin besteht, dem Lern-system zurückzumelden, dass das Individuum bereit ist, die vom System aufgestellten und eingeübten Regeln einzuhalten und anzuwenden. Den Vorrang eines in diesem Sinn dis-ziplinierenden Unterrichts vor einem inhaltlich vermittelnden stellte m. E. zuletzt (23. Sept. 2014) das ZDF in einer Dokumentation dar. Die Sendung war von ihren Autoren zwar dazu gedacht, den Ruf des gymnasialen Unterrichts zu rehabilitieren, aber schon in der Eingangssequenz schien die sich selbst darstellende Kollegin eigentlich zu schlecht gelaunt zu sein, um mehr zu leisten, als Ordnung in einem Unterrichtsraum herzustellen, in dem noch nicht einmal ein Thema angesagt war. Wenn die SZ vom 7. September 2014 ohne kritischen Bezug auf eine solche Darstellung berichtet, aktuell sei ein Drittel als Schulpädagogen ausgebrannt, muss sich die Verwunderung darüber denn auch deutlich in Grenzen halten: Der Verlust von Empathie erweist sich offensichtlich als Einfallstor für epidemisches Selbstmitleid und die Rückkehr zu überkommener sekundärer Tugendhaf-tigkeit zugleich.

Während der mündliche Sprachgebrauch vor allem in den süddeutschen Bundesländern in den letzten Jahrzehnten weitgehend liberalisiert wurde, man kann inzwischen insgesamt alles außer Hochdeutsch, müssen die Versuche, die syntaktischen Bedingungen des Spracherwerbs auf vernünftige Weise pragmatisch zu begrenzen, als gescheitert gelten. Überdies ist der Umgang mit den Regeln der Rechtschreibung durch die mangelhafte Durchsetzung der jüngsten RS-Reform auch innerhalb des Schulbetriebs zu einem erheb-lichen Hindernis des schriftlichen Spracherwerbs geworden. Dass beispielsweise auf den Aufgabenblättern von zentral angesetzten Prüfungen wie dem Abitur zugleich alte und reformierte Rechtschreibung erscheint, ist kaum nachzuvollziehen. Es trägt jedenfalls nichts zur Lese- und Schreibsicherheit bei – die damit verbundene Bemerkung „Die Rechtschreibung und Zeichensetzung der Aufgabentexte entsprechen jeweils der Text-vorlage“ ist reiner juristischer Zynismus und kann das Dilemma nicht lösen, falls das überhaupt beabsichtigt sein sollte.

Gleichzeitig, aber im Widerspruch hierzu, breitet sich die Vorstellung wieder aus, eine korrekte Orthographie sei die Basis einer soliden Aufsatzerziehung und -Beurteilung. Auch wenn in Baden-Württemberg nicht ganz so rigoros verfahren wird wie in jenen Bundesländern, wo selbst noch im Abituraufsatz keine gute oder sehr gute Note erreicht werden kann, wenn die Rechtschreibung nur mangelhaft beherrscht wird: Zunehmend findet wieder eine durch reinen Fleiß zu erwerbende Sprachdisziplin Beachtung, die nur wenig auf die in den Schülern angelegten analytischen oder kreativen Fähigkeiten schlie-ßen lässt und der ein enger gewordener Rahmen für die entsprechenden Übungen entge-gensteht.

Unter der Maßgabe, dass eine einheitlich gestaltete Morphologie den Zugang zur Literatur als der Welt des geschriebenen Worts erleichtert, während diffus erscheinende Wortbilder

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ihn erschweren, seien ohne Anspruch auf Vollständigkeit folgende Problemfelder ge-nannt:

1. Nationalstaatliche orthographische Differenzen: Es ist nicht gelungen eine einheitliche Rechtschreibung für den deutschsprachigen Raum insgesamt zu vereinbaren.

2. Der konservative Widerstand gegen alle Sprachveränderungen: Einzelne Verlage, auch Zeitungen haben sich der Rechtschreibreform immer noch nicht angeschlossen, was nicht nur ökonomische Ursachen hat, sondern auch ideologische.

3. Das etymologische Dilemma

- innerhalb deutschstämmiger Worte

- bei Fremd- und Lehnwörtern.

4. Das Problem der komplexen sprachlichen Gebilde

- bei der Wortbildung

und daraus abgeleitet:

- bei der sprachlichen Differenzierung von Haupt- und Nebensatz-Strukturen

- hinsichtlich des sprachlichen Umfangs von Botschaften insgesamt.

Während die ersten beiden Problemfelder oft nur marginale Differenzen erzeugen, die zur Verunsicherung beim Spracherwerb führen, stellt der willkürliche Umgang mit der Her-kunft der Wörter einen ernsten Eingriff ins Sprachvermögen dar, weil er nicht nur ver-langt, dass identische Laute unterschiedlich geschrieben werden, sondern auch die glei-chen Laute dann zu unterschiedlichen Wortbildern führen, wenn sie dieselbe Herkunft haben. So ist nicht nachzuvollziehen, warum die Photographen sich inzwischen mit zwei „F“ schreiben, während es bei den Physikern und Philosophen beim aus dem Griechi-schen stammenden „PH“ geblieben ist, die Methode und das Theater, aber auch der kai-serliche Thron nach wie vor mit „TH“ zu schreiben sind, während kein Physiker die Katode mehr so schreibt. – Wobei gegen die eine oder andere Schreibweise je nichts ein-zuwenden ist, wenn sie denn nur konsequent eingehalten würde und nicht beispielsweise in zusammengesetzten Worten sich das Alte mit dem Neuen krude mischte. Das er-schwert nicht nur den Schrifterwerb, sondern auch die Einsicht in den Umstand, dass die deutsche Sprache keinesfalls erst neuerdings mit englischen Worten und Ausdrucksweisen durchsetzt ist. Vielmehr wurde das Deutsche, das ursprünglich eher keine Kultursprache war, ihrer Geschichte nach schon immer durch Entlehnungen aus fremden Sprachen an-gereichert. So stellt die Rechtschreibreform einen, wenn auch nur partiellen und unvoll-kommenen Schritt weg von der Erkenntnis Herders dar, der am Ende des 18. Jahrhun-derts noch eindrücklich darauf verwies, in welchem Umfang die deutsche Kultur von „Wirtskulturen“ (wie er das nannte; namentlich griechischen, römischen und jüdischen Ursprungs) abhängig sei, was sich im 19. Jahrhundert – zunächst ohne Auswirkung auf

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die Sprachgestalt – ins Gegenteil verkehrt hat, aber nicht zuletzt ein stabiles Fundament für jenen kulturellen Antisemitismus dargestellte der schließlich in einen ethnisch-biologistischen umgeschlagen ist.

Solche Tendenzen haben neuerdings wieder Konjunktur, denn in konservativen Kreisen wird schon wieder auf einigermaßen abwegige Weise debattiert, das wesentliche Problem in Migrationsfragen liege im mangelhaften Vermögen von Menschen fremder Herkunft, sich kulturell, des Kanakischen wegen: auch sprachlich zu integrieren, gerade so, als seien das nicht auch soziale Problemlagen und bestehe Integration nicht auch auf der eigenen Bereitschaft, permissive kulturelle Zustände überhaupt zuzulassen.

Eigentlich könnte der Zugriff auf inhaltliche Aspekte des Spracherziehungsunterrichts ausgespart bleiben, weil das entsprechende Material und die darauf bezogene Kritik etwas antiquiert erscheinen. Das hat damit zu tun, dass in den sog. Sprachbüchern der 1970er Jahre noch Beispielsätze aus dem wilhelminischen Kaiserreich stammten und (in grober Vereinfachung) eine besondere Vorliebe für die treuen Hunde von Baronen widerspiegel-ten, die in ländliche Idyllen eingebettet waren und jenen überkommenen familiären Ideal-bildern entsprachen, die von treusorgenden Eltern und fleißigen Kindern bestimmt wur-den, die auch ihre Lehrer uneingeschränkt verehrten.

Nun zeigt aber der Zufall der Veröffentlichung einer gewerkschaftlichen Bildungszeit-schrift vom Oktober 2014, dass die Tradition immer noch lebendig ist, nach der die landwirtschaftlichen Lebens- und Produktionsbedingungen als inhaltlicher Gegenstand von Sprachübungen erhalten geblieben sind, wobei ein Genrebildchen erscheint, das nicht erst heute so nicht mehr stimmt, sondern darüber hinaus wegen der Übertragung anthro-pologischer Bedingungen aufs elende Tierleben so nie zugetroffen hat – es gibt hinrei-chend Gründe dafür, auch im Sprachunterricht die Gattung der Äsopschen Fabel nicht fortzusetzen:

Der kranke Hahn

Auf dem Bauernhof wurde der Hahn krank. Die Hühner machten sich große Sorgen. Sie dach-ten, dass der Hahn sterben würde. Die Hühner waren davon überzeugt: Wenn der Hahn tot ist, geht am nächsten Tag die Sonne nicht mehr auf. So dachten die Hühner. Als am nächsten Tag die Sonne aufging und die Hühner erfreut sahen, dass der Hahn noch lebte, legten sie erleichtert ihre Eier. So verging die Zeit. Eines Morgens sahen die Hühner, dass der Hahn tot auf der Er-de lag. Sie warteten und sahen schließlich, dass die Sonne trotzdem aufging. Erleichtert legten sie wieder ihre Eier.

(Erziehung und Wissenschaft, Oktober 2014)

Es kann dahingestellt bleiben, ob ein solcher Text geeignet ist, die sprachlichen Fertigkei-ten von Kindern zu festigen oder zu fördern, wie sich das die Autoren der Übungseinheit versprechen. Die damit einhergehende Darstellung eines landwirtschaftlichen Nutztieres löst sich aber auf in eine unangemessene Zuweisung menschlicher Merkmale, die aus der

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Tradition der Fabel stammt, und die Anbindung der Funktion eines industriell genutzten Tieres an die Unabweisbarkeit des kosmischen Geschehens. Das absehbare Ende des Hü-ters der Misthaufen (Rühmkorf) und die ursprünglich darauf bezogene Trauerarbeit wird dadurch relativiert, dass die produktive Nutzung in Form weiblicher Fertilität in der An-bindung ans kosmische Geschehen erhalten bleibt. Das stellt natürlich insgesamt einen groben Unfug dar, der vor allem in seiner Zuordnung von Sonnenaufgang und Eierlegen nicht stimmt. Denn selbst unter relativ tierfreundlichen Bedingungen geht heutzutage mitten in der Nacht das Licht im Hühnerstall an, um die Tiere zum Eierlegen im Mehr-schichtverfahren zu zwingen. Das Beispiel ist aber geeignet zu zeigen, auf welche Weise rückständig romantisierende Vorstellungen über einen Bereich ausgebreitet werden kön-nen, in dem tatsächlich ziemlich schreckliche landwirtschaftliche Zustände herrschen, deren idealisierte Wahrnehmung aber durch eine Übung zum Spracherwerb erzwungen wird.

Die analogen Übertragungen vorgetäuschter Idyllen vom Land- aufs Familienleben oder den Schulalltag mit seinen fleißigen Kindern, fürsorglichen Eltern, gerechten Lehrern usw. die über das letzte Drittel des 20. Jahrhundert in der einschlägigen Spracherziehung vorkamen, sind zwar so nicht mehr zu finden, werden aber regelmäßig zu Beginn der neuen Schuljahre in den Mainstreammedien verbreitet. 2014 geisterte das Ergebnis einer Umfrage durch die pädagogische Provinz, Lehrer seien (pauschal) unangefochtene Res-pektspersonen und die süßen Kleinen verbrächten mehr Zeit beim häuslichen Spiel mit ihren Eltern als mit Gameboy und Fernsehen zusammen.

Gegenüber solch grob desinformierenden, aber tröstlich wirkenden Wunschbildern, die regelmäßig mit jenen vom „Horrorberuf Lehrer“ (SZ) ausgetauscht werden, erscheinen die Eingriffe der RS-Reform hinsichtlich der Herleitung von Begriffen aus dem originären Kulturbereich, aber auch der eigenen Sprachtradition geradenach lustig. Wenn früher ein eher übler Traum vorüber war, hatte man einen Alptraum mit P, während dieser jetzt mit B zu schreiben ist. Einer solchen Veränderung steht zwar das deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm eindeutig entgegen, das unter „Alb“ nur das Mittelgebirge zwischen Aalen und Sigmaringen kennt, es nähert aber die Traumlast jenem mythologischen Zwerg Alberich an, dem wir in Richard Wagners Vorspiel zur Götterdämmerung nach Wikipedia „beim ebenso eifrigen wie vergeblichen Werben um die Rheintöchter begegnen“, was aber auch noch keinen hinreichend traumatisierenden Eindruck hinterlassen muss, um diesbezüglich eine orthographische Änderung [amtssprachlich mit TH und F] vorzuneh-men.

Es mag zu vernachlässigen sein, wenn aus der RS nicht mehr hervorgeht, ob beispielswei-se das schreibende Subjekt im Prozess einer Zusammensetzung mit dabei ist oder gerade mal etwas anderes zusammensetzt, was sich in alter RS orthographisch je niedergeschla-gen hat. Weniger tolerabel erscheint aber beispielsweise die Zerlegung von Zahlwörtern, wenn diese mehr als drei Stellen enthalten, wie das seit jener unseligen Agenda 2010 in den Sprachgebrauch gekommen ist, die eben neben ihren sozialpolitischen Desaster auch

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ein linguistisches enthält. Denn natürlich ist es einfacher „zwanzigzehn“ zu sagen und zu schreiben als „zweitausend und zehn“, es ist aber überhaupt nicht zu übersehen, dass da-mit der Verlust eines Gefühls für den Zahlenwert als absolute Größe einhergeht.

Wer schon den Tausender sprachlich unterschlägt, darf sich nicht darüber beschweren, dass sich niemand mehr vorstellen mag, wie hoch das auf der Welt angesammelte Privat-vermögen in Höhe von 118 Billionen (in welcher Währungseinheit auch immer) tatsäch-lich ist, das sich nicht nur auf lediglich 50 (von wie vielen eigentlich?) Nationen verteilt, sondern dessen Anstieg um 10 Prozent innerhalb eines Jahres sich im wesentlichen auf die wechselnde Bewertung vorhandener Vermögen in Form von Wertpapieren als öko-nomischen Luftblasen beschränkt.

Solche Vorgänge sind freilich nicht nur der Orthographie nach schwer nachzuvollziehen.

Formal und inhaltlich weit problematischer erscheint noch, wenn aus sprachökonomi-schen Gründen Datumsangaben auf Teile von ihnen aus der Bezeichnung verschwunden sind, wie das beispielsweise beim unseligen Datum vom 11. September 2001 üblich ge-worden ist, weil der gemeinte Bezug eindeutig erscheint, tatsächlich aber durch die Ver-kürzung mögliche historische Bezüge zum Verschwinden gebracht werden. Bemerkens-wert bleibt in diesem Zusammenhang, dass dabei analoge Sachverhalte sehr unterschied-lich behandelt werden: Was für nine-eleven nicht gilt, wurde bei eleven-nine als sog. Tag der Deutschen Einheit durchaus beachtet, der wegen der geschichtlich vorgegebenen Umstände in den Oktober verlegt wurde, obwohl dieser Tag faktisch eine eher nachrangi-ge Bedeutung trägt.

Mit derlei Hinweisen soll keinesfalls eine neue Verschwörungstheorie in die Welt gesetzt werden, es sei lediglich darauf verwiesen, dass vollständige sprachliche Botschaften anders funktionieren als ihre linguistischen Derivate, anderseits aber die bei der Verkürzung ent-stehenden kognitiven Lücken den Raum freimachen für ein sehr altes Spiel mit den sprachlichen Zeichen, die immer dann eine magische Aura erhalten, wenn ihre Bedeutung nicht auf ihren rational oder emotional nachvollziehbaren Gehalt begrenzt bleibt.

Damit sei allerdings die Beschäftigung mit dem Kleingedruckten beendet und es kann auf einem kleinen Umweg wieder zum Kern des Themas und die eingangs zitierte Beobach-tung Robert Minders zurückgekommen werden, die sich mit der subjektiven Beliebigkeit der dogmatischen Erklärung von Texten auseinandersetzte. Denn es ist offensichtlich, dass diesem Dogmatismus jene autoritäre Gewaltsamkeit innewohnt, die jede emanzipa-torische Wirkung literarischer Bildung verhindert und selbst eine wohlwollend gemeinte literarische Erziehung häufig abstoßend erscheinen lässt.

Nicht nur die erzählende Literatur, sondern auch die literaturwissenschaftliche Tradition kennt die unheimliche Magie der geheimnisvollen Zahlen und die Macht der ihnen ange-näherten sprachlichen Formen. So wurde 2001 umfangreich darüber spekuliert, ob die Attentäter nicht mittels einer – allerdings abenteuerlichen – Zahlenoperation über die ma-gische Zahl 23 den sog. Weisen von Zion zuzuordnen seien, dem wohl bekanntesten Sy-

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nonym für eine unterstellte jüdische Verschwörung von globalem Ausmaß. Gemäß eines nun wirklich ungenießbaren Machwerks, mit dem wahrscheinlich viele Religions- und Ethiklehrer immer noch konfrontiert sind, zeichnen diese Weisen von Zion nicht nur für eine ganze Reihe von blutigen Attentaten in der Weltgeschichte verantwortlich, sondern versuchen seit Jahrzehnten nach der Weltherrschaft zu greifen.

Ähnliche an Zahlverhältnisse gebundenen Ängste bestimmen, wenn auch regelmäßig in ironisch gebrochener Form die Erzählungen des Romantikers ETA Hoffmann, in denen nicht nur höchst lebendige Geschwisterfrauen im Seelenleben der Helden eine Rolle spie-len, die von diesen mit (untoten?) nur weibliche Attribute tragenden Maschinen verwech-selt werden, sondern deren unübersehbaren physiologischen Ebenmaße nachgebildete Zahlenverhältnisse darstellen, die sich in bestimmten Datumsangaben oder Uhrzeiten wiederfinden lassen. Die Analogie zwischen meist trügerischer weiblicher Schönheit und ästhetisch bereinigter zeitlicher Zuordnung ist unübersehbar und zielt bei Hoffmann auf die zunehmende Technisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die auch auf den repro-duktiven ästhetischen Bereich überzugreifen drohte. So erscheint in der berühmten Er-zählung Der Sandmann der finstere Advokat Coppelius regelmäßig um 9 Uhr abends oder stürzt sich der Protagonist um die als zeitliche Symmetrie gedachte Mittagsstunde zu To-de, um sich einer Verlobten zu entziehen, die zugleich seine Halbschwester ist. Bei Hoff-mann greifen äußere, mechanische und phantasierte psychische Mechanismen so unerbitt-lich einander, dass sie schließlich für einen Teil der Partie, den Mann, tödlich enden, wäh-rend der andere, die zurückbleibende Frau, der trügerischen Idylle in Form der (damit parodierten) Mechanik eines bürgerlichen Familienlebens erhalten bleiben.

Den psychologischen Aspekt der Erzählung hat bekanntlich S. Freud grundsätzlich in Das Unheimliche untersucht und in sein problematisches Modell vom Ödipuskomplex einge-passt, was aber nicht bei allen Literaturwissenschaftlern auf Gegenliebe gestoßen ist. Wenn der Wiener Literaturprofessor Michael Rohrwasser (Coppelius, Cagliostro, Napoleon, 1991) bei der Polemik gegen die psychoanalytische Erklärung des Sandmann durch Sig-mund Freud auf die siebte Vigilie des Goldenen Topfes zurückgreift, um die Datumssym-metrie als ausschlaggebendes Moment einer romantischen Erzählweise zu belegen und dabei die Tag- und Nachtgleiche im Herbst zum Vorschein kommt, hat das (wegen der Ferne zur thematisierten Erzählung) mit dem Sandmann Hoffmanns selbst wenig zu tun. Denn Rohrwasser trifft per 23. September als Datum der herbstlichen Tag- und Nacht-gleiche überhaupt keine Textstelle aus der ursprünglichen und strittig besprochenen Er-zählung. Er erwischt aber mit diesem Tag – wenig zufällig – das Todesdatum seines litera-turwissenschaftlichen Kontrahenten Freud, dem er mittels einer unbewussten Mystifikati-on des „symmetrischen“ Datums einen erneuten, wenn auch nur symbolischen Todesstoß versetzt, der mehr über seine wirklichen Forschungsmotive verrät als ihm lieb sein kann. Rohrwasser pfählt Freud posthum dadurch, dass er dessen Todesdatum zum entschei-denden wählt, das er nur en passant bespricht, eben so, wie das Cixous für die analytische Betrachtung generell für entscheidend hält. Dabei wird die Interpretation selbst zum ma-gischen Prozess.

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Zu mystischen Konstrukten verwandelte Zahlen und geometrische Figuren leisten bei den manchmal absurd wirkenden Konstruktionen zwischen politischer und Literaturtheo-rie einen doppelten Dienst. Denn sie tragen dazu bei, dass die von der Form her begriffe-ne Literatur

- (erstens) als einen zwar den Worten nach wahrnehmbaren, dem Gehalt nach aber (mit den Mitteln der aufgeklärten Vernunft) nicht zu durchdringenden sprachlichen Zustand darstellt und konservieren damit

- (zweitens) die Existenz eines „literarischen und philosophischen Geists“ neben der er-fahrbaren lebenswirklichen Welt her. Das stärkt die Überzeugung, dieser besondere Geist habe nichts mit Geschichte und Politik zu tun, sei im Großen und Ganzen ein reiner Geist, damit auch ein gesellschaftlich aseptischer, weil er und die Welt sich auf keine Wei-se gegenseitig kontaminierten.

Damit wird nicht nur deutlich, warum neben materialistischen Ansätzen zur Literaturer-klärung die psychologische Analyse immer wieder im Fokus der konservativen Kritik steht – selbst dort, wo sich die gesellschaftlich oder psychologische Analyse den bereits von allem Anstößigen bereinigten literarischen Stoffen widmet.

Die Entstehung und die gewollte Distanz dieses Geistes zur wirklichen Welt hat mit der Geschichte des deutschen Lesebuchs und der dort gepflegten Tradition von sprachlichem Kulturgut zu tun, die in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückführt. Sie begünstigt nicht nur so fragwürdige Methoden wie die in sich selbst ruhende textimmanente Interpretati-on, sondern leistet selbst dort noch philosophische Ciceronendienste, wo die einschlägi-gen Sachverhalte literarisch wie historisch längst geklärt sind. So muss schließlich (im Frühjahr 2014) der Herausgeber von Heideggers Schwarzen Heften zugestehen, dass die-se einschlägig antisemitische Inhalte in sich tragen, er versucht aber den Naziphilosophen dadurch zu retten, dass er flugs einen seinsgeschichtlichen Antisemitismus erfindet, der ein rein philosophischer Sei, der keinen Einfluss auf die historischen Abläufe gehabt und auch keinem Juden etwas zu Leide getan habe.

Selbstverständlich gab es schon wesentlich früher Schulbücher als das an der großen Lite-ratur ausgerichtete Lesebuch, von dem Robert Minder spricht. Dieses Lesebuch ist in den 1840er Jahren entstanden, repräsentiert teilweise bis heute den damaligen Stand der Dinge und ist nicht zuletzt ein Ergebnis des Rückzugs der gescheiterten Revolution von 1848, durch welches Ereignis der größte Teil des gehobenen Bürgertums sich aus der aktuellen Politik zurückzog, um sich den bedeutenden Ereignissen der Vergangenheit zuwenden. Für die Inhalte der Lesebücher bedeutete das, dass von Anfang an einzelne Autoren her-vorgehoben wurden, während andere unbeachtet blieben, weil eine kleine Kohorte von Literaturwissenschaftlern über ihre Bedeutung entschieden hatte. Zugleich bestand dahin-gehend Einigkeit, dass nur zeitlich entfernt liegende Literatur überhaupt zur Aufnahme in die Lesebücher finden durften und ihnen jene Ordnung nach sog. Epochen durch Her-mann Hettner zugrunde lag, die die deutschsprachige Literatur um die Weimarer Klassik

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als ihren unbestreitbaren Höhepunkt gruppierte. Eine solche Anordnung war aber erst möglich, nachdem Herder dort in den Hintergrund gerückt und Jean Paul in die fränki-sche Provinz verbannt worden war, wo er bis zu seiner Entdeckung durch Georg Lukacs und eben Robert Minder eher den Halberstädter Anakreonten zugerechnet wurde als dem Zentrum der Hochliteratur rund um den Weimarer Frauenplan.

Zumindest die Neigung zu un-egaler Behandlung von Literaten, der Vorliebe für die zeit-liche Distanz zum Stoff und das nimmer müde werdende Bedürfnis, Bedeutendes von Unbedeutendem zu scheiden, ist dem Literaturunterricht bis heute erhalten geblieben, ohne dass für die entsprechenden Operationen immer überzeugende Begründungen vor-gelegt werden. Zugleich hält aber schon in den 1840er Jahren die bald sog. Germanistik jenen nationalistischen Einschlag, der zwar der Intensität nach schwankt, aber als ostinate Begleitmusik stets erhalten bleibt – auch wenn das manchmal auf einem (dann auch schon einmal länger zurückliegenden) Missgriff von Herausgebern basiert.

Als Beispiel

Der Begriff des Deutschen diente ursprünglich so wenig der nationalen Bestimmung wie die Farben der revolutionären Beflaggung von 1848, deren Reihenfolge (heute schwarz/rot/gold) aber auch erst auf den Kopf gestellt werden musste, um zum Symbol einer fiktiven Zusammengehörigkeit zu werden, die schließlich weniger dem freien Willen der Bürger zu danken war, als der militärischen Druck Preußens. Wenn Robert Schumann neben den Nachtgesängen Hölderlins auch dessen Gesang des Deutschen vertont, stellt er bei-des Mal die vorgegebenen Titel auf den Kopf. Die sog. Nachtgesänge Hölderlins werden bei Schumann zu Gesängen der Frühe, während der Gesang des Deutschen in einen Gesang der Deut-schen mutiert. Harmlos gelesen geht diese kleine Verschiebung auf die noch zu Lebzeiten Hölderlins entstandene Neuauflage seiner Gedichten durch Gustav und Christoph Schwab zurück. Die Veränderung enthält aber dann durch die damit einhergehende Per-sonalisierung eine bedeutende inhaltliche Veränderung, wenn „das Deutsche“ als ur-sprünglich soziolinguistischer Sprachverhalt gelesen wird, der die Ablehnung

- des Lateinischen als Sprache des katholischen Klerus und

- der im 18. Jahrhundert beim Adel in Mode gekommenen französischen und (etwas spä-ter auch englischen) Sprache beinhaltete.

Der Dichter meinte also noch keine konstitutive nationale Bestimmung der Deutschen, denen er ausweislich der entsprechenden Passage aus dem 2. Buch des Hyperion eher kri-tisch gegenüberstand. Das aufkommende Nationalbewusstsein geht eher auf Fichte zu-rück, dessen Reden an die deutsche Nation aber zu einem Zeitpunkt entstanden sind, zu dem Hölderlin als „verspäteter Jakobiner“ (Lukacs) bereits aus dem Verkehr gezogen worden war. Das aus dieser Quelle stammende bürgerliche und zugleich antiklerikale Verständnis des Deutschen findet sich allerdings und erstaunlicherweise noch in Friedrich Nietzsches Polemik gegen Wagners Parsifal, wo es heißt „Ist das noch deutsch? ... was ihr hört ist Rom, – Roms Glaube ohne Worte!“ Dies ist philologisch insofern bemerkenswert, als

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Nietzsche bei der Lektüre des Gesangs des Deutschen die gleiche fehlerhafte Ausgabe der Werke Hölderlins genutzt hat wie Schumann und dennoch ihren ursprünglich Sinn zu erfassen vermochte.

Selbstverständlich geht das poetische Wort nicht nur auf solch grobe Weise verloren und wird gegebenenfalls nie wieder gefunden, sondern auch dann, wenn es beispielsweise über die Büchmannsche Sammlung der Geflügelten Worte in den allgemeine Gebrauch gelangt und dabei sich abschleift oder zusammen mit seiner ursprünglichen sprachlichen Gestalt den Sinn einbüßt. Es mag ja noch ganz witzig klingen, wenn Hans Magnus Enzensberger formuliert: „Was aber bleibet, stiftet das Fernsehen“, aber er hat 1970 eben beim Parodie-ren in einem ansonsten sehr lesenswerten Essay genauso Pech gehabt wie Wolfgang Koeppen, der in seinem Roman Das Treibhaus von 1953, schreibt: „Die Fahnen klirren im Wind“ – statt insgesamt: „Die Mauern stehen Sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen“, um dann rezeptionskritisch anzufügen: „O Hölderlin, was klirrt denn so? Die scheppernde Phrase, die hohlen Knochen der Toten.“

Offenbar entstehen solche Passagen nicht zuletzt unter dem literaturtheoretischen Zwang, nach dem Texte, die einmal zu den guten und hohen gezählt werden wollen, eine Mindestmenge von alter, bereits kanonisierter Literatur zu enthalten haben, gewisserma-ßen als poetisches Erbgut zur Wahrung einer literarischen Tradition, die nicht nur von Wissenschaft und Schule zu pflegenden ist, sondern innerhalb des Literaturbetriebs selbst. Am schamlosesten hat nach meiner Beobachtung Thomas Mann auf dem Gebiet der Wiederverwertung in Vergessenheit geratener Texte zugeschlagen, um wenigstens der Selbsteinschätzung nach in die Nähe des Dichterolymps zu rücken. Die heute wg. seiner pädophilen Tendenzen in anderen Verdacht geratene Erzählung Der Tod in Venedig enthält ganze Passagen Hölderlinscher Jugenddichtung, mit deren Veröffentlichung 1911 noch niemand gerechnet hat.

Aber vielleicht spielt auch das heute kaum mehr eine Rolle, wenn um der Ausmalung der dekadenten Stimmung willen, die am Vorabend des ersten Weltkrieges geherrscht haben soll, die Veröffentlichung von Manns Novelle ins Jahr 1913 verlegt wird, wie das in Flori-an Illies‘ Bestseller über das nämliche Jahr nachzulesen ist. Wer sich aber tatsächlich dafür interessiert, auf welche Weise Literatur sich selbst ernährt, sollte den eben erwähnten Roman Das Treibhaus von Wolfgang Koeppen neben Heinrich Steinfests Wo die Löwen weinen von 2011 legen, um beides zu lesen. Der Vergleich ergibt dann, dass sich zwar die Felder verändern, aus denen sich sehr themenähnliche Romane bedienen, nicht aber die Technik der literarischen Übernahme selbst, was aber keinen Einfluss auf den jeweiligen literarischen Wert der Literatur hat, weil der Anspruch auf Originalität vor allem die deut-sche Literatur schon immer überfordert hat. Allerdings fällt der Nachweis einer solchen Behauptung schwer, seit in Weimar unglückseliger Weise ausgerechnet die Teile der Ama-lienbibliothek abgebrannt sind, die jene Bücher enthielten, aus denen neben Jean Paul und Herder auch Schiller und Goethe sich dort bedient haben. In jener Nacht des 2. Septem-

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ber 2004 ist die potentielle Arbeit für ganze Generationen von Literaturwissenschaftlern vernichtet worden.

So geht gelegentlich nicht nur das Wort selbst, sondern auch seine Herkunft ggf. durch reine Fahrlässigkeit verloren.

Das aus den Mitte des 19. Jahrhunderts stammende literarische Lesebuch diente von sei-ner Begründung her nicht nur der Einführung in eine solche, weitgehend um sich selbst drehende literarische Welt, sondern hatte die Aufgabe, mit den literarischen zugleich sprachliche Maßstäbe zu setzen. Damit sollte die des Lesens kundige Jugend von den minderwertigen Lesestoffen, dem sog. Schund ferngehalten werden, der sich durch die zunehmende Mechanisierung des Buchdrucks offenbar rasant ausbreitete. Daran ist ne-ben den bereits erwähnten Motivwanderungen zwischen den unterschiedlichen literari-schen Sphären nicht nur die Frontstellung gegenüber dem zum Massenmedium geworde-nen Kulturgut interessant. Denn dessen Bewertung oblag keinesfalls externen Gutachtern, sondern eben den Agenten der hohen, besseren, weil wertvollen usw. Literatur – eine Si-tuation, die sich bei der Ausbreitung des Fernsehens auf eine sehr merkwürdige Weise wiederholen sollte. Es könnte wahrscheinlich vernachlässigt werden, dass schon damals politisch unverdächtige Texte auch in anderer Hinsicht milder beurteilt wurden als Litera-tur, die der Anstiftung zur Aufruhr oder der Gesellschaftskritik verdächtig wurde. Das gilt vor allem und teilweise auf groteske Weise hinsichtlich des Pornographieverdachts, der Verleitung zur Unzucht, selbst wenn die entsprechenden Werke ihrer Entstehung nach der Aufklärung einer emotional notorisch vernachlässigten Jugend zugedacht waren. Man denke nur an Wedekinds Frühlings Erwachen oder Wolfs Zyankali.

Wenig amüsant ist auch der Umstand, nach dem solche pädagogisch fürsorglich rezensie-rende Literatur nicht nur das Wilhelminische Reich, sondern auch die Weimarer Republik und das Reich Hitlers überlebt hat. Die letzten Auflage einer dieser literaturpädagogischen Schriften (Rudolf Hildebrand, Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule und von deutscher Erziehung und Bildung überhaupt, 1. Aufl. 1867, zuletzt: Bad Heilbrunn, 1950), die vor allem an den Pädagogischen Instituten gelesen werden musste, stammt aus den 1950er Jahren. Ihr Anliegen war es, der sog. Lesesucht entgegenzutreten, wobei der schärfste Vorschlag darauf hinauslief, eine angenommene tägliche Lesezeit von 2 bis 3 Stunden (die sich na-türlich nur dem Schund widmen konnten) zu unterbinden und sie durch eine gleich be-messene wöchentliche Lesezeit von Hochliteratur zu ersetzen. Die Argumentation für einen solchen restriktiven Umgang mit der Lektüre war tief gestaffelt, sie reichte (bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus!) von der charakterlichen Schädigung vor allem jun-ger Menschen durch die einfachen Lesestoffe bis hin zur Annahme, durch übermäßiges Lesen würden die Augen verdorben und andere Suchtabhängigkeiten angebahnt.

Zeitnah entstand neben der Unterscheidung von wertvoller und schädlicher Lektüre – namentlich durch die bekannte Jugendpsychologin Charlotte Bühler – ein literarisch-psychologisches Entwicklungsmodell, das bestimmte Stoffe und Figuren entsprechenden Altersstufen zuordnete. Die Vorstellungen Bühlers gelten im Großen und Ganzen bis

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heute, wie aus den Inhaltsverzeichnissen selbst neuerer Lesebücher hervorgeht. Gegen sie ist selbstverständlich nichts einzuwenden, auch dann nicht, wenn sie auf die Inhalte von Fernsehprogrammen übertragen werden. Der Ansatz hat nur einen kleinen Haken: Er berücksichtigt nicht, dass die von Bühler herangezogenen Texte aus Märchen, Sagen und Heldengeschichten über weite Teile bereits für die entsprechenden Leserkreis aufbereitete Stoffe darstellen, wofern sie nicht eben für sie erfunden wurden, wie das für viele der Grimmschen Märchen nachgewiesen werden konnte. Ganz eindeutig hat sich in diesem Sinn Gustav Schwab um die Schönsten Sagen des klassischen Altertums verdient gemacht, de-ren problematischen Inhalte er tilgte, damit der bereinigte Rest der explizit so genannten Erbauung junger Frauen zugeführt werden konnte. Diese pädagogisierende Kastration des literarischen Erbes führte auch dazu, dass fremdsprachige Literatur solange zurecht-übersetzt und geschnitten wurde, dass sie als Jugendliteratur oder eben auch Schulstoff gelten konnte. Man denke nur an Cervantes‘ Don Quixote. Bis heute wird dennoch von literaturwissenschaftlich dilettierenden Pädagogen davon geredet, die entsprechende Lite-ratur müsse dahingehend (so wörtlich) diszipliniert werden, dass sie für Kinder und Ju-gendliche geeignet erscheint.

Damit ist es allerdings nicht genug, denn die dem Literaturbetrieb innewohnenden Zenso-ren wirken auch dort, wo Texte überhaupt nicht zum Schutz der Jugend gereinigt werden müssen und scheuen selbst dann nicht vor einem Zugriff zurück, wo es um allgemein anerkannt bedeutende Literatur von Weltrang geht. Falls irgendjemand Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ in der Übersetzung durch Eva Rechel-Mertens aus den frühen, der Prüderie verpflichteten 1950er Jahren nicht oder nur unvollständig verstanden haben sollte, muss es weder an dem zweifellos komplexen Roman noch am Leser selbst gelegen haben. Denn seit der Bearbeitung durch den Schweizer Romanisten Lucius Keller und seinen Kommentaren ist bekannt, dass Rechel-Mertens den Text Prou-sts dadurch in ihren moralischen Vorstellungsrahmen eingepasst hat, das sie manche Passagen überhaupt nicht oder nur in stark veränderter Form ins Deutsche übertragen hat – hier allerdings nicht im Sinn von übereifrigem Jugendschutz, sondern dem Sinn für An-stand folgend, wie dies einer Dame aus besserem Hause zukam.

Der besorgniserregende Fall zensierender Übertragung erregte allerdings vor seiner Ent-deckung durch Keller für mehr Aufregung als nachher, da eine frühe deutsche Fassung Rudolf Schottländers zwar von den Szene-Literaten der 1920er Jahre gelobt, von den schon damals sehr konservativen Romanisten aber so verrissen wurde, dass es zu nicht mehr als der Veröffentlichung des ersten Bandes kam. Schottlaender hatte den offenbar unverzeihlichen Fehler begangen, die für pornographisch einschätzbaren Textstellen der Recherche ebenso wortgetreu zu übertragen wie die derben Ausdrucksweisen der Prota-gonisten, was zwar der Textlage entsprach, nicht aber dem Bild, das beispielsweise Ernst Robert Curtius von französischen Adligen und deren feinen Ehefrauen in sich trug.

Die Bereinigung von Texten für den pädagogischen Gebrauch bis hin zu „Light“-Versio-nen gängiger Dramen und Erzählungen stellt also allenfalls eine Vorhut im Kampf um

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Textlagen dar, die – sei es der sittlichen Verträglichkeit wegen, sei es einer besseren Ver-ständlichkeit halber – verbogen und verstümmelt werden. Max Brod hat wie ein Lehrer mit dem Rotstift in Kafkas Texten bis zu deren Unkenntlichkeit herumkorrigiert, Arthur Schnitzlers Erzählungen liegen bis heute trotz intensiver wissenschaftlicher Eingaben immer noch in keiner fehlerfreien Fassung vor, was fast beliebig fortzusetzen wäre, aber selbstverständlich kein Schulwesen dazu berechtigt, solche misshandelten oder zum schu-lischen Gebrauch in Zwangsjacken gesteckten Texte behandeln oder abprüfen zu lassen.

Obwohl diesbezüglich der ärgste Fall wohl in der Pflicht für die Kollegen bestand, Kafkas fragmentarisch hinterlassenen Roman Der Process zu behandeln, bei dem weder der Titel noch die Reihenfolge der Kapitel gesichert ist, was dieses nach Ansicht Kafkas „unvoll-endete, unvollendbare und unpublizierbare“ Werk ganz ernsthaft der Traktur im Klassen-zimmer entzieht, soll dieses eher schlimme Kapitel der Abiturgeschichte gemieden und die Aufmerksamkeit auf jene Pflichteinheit der vergangenen Jahre gelenkt werden, die sich wenigstens philologisch redlich ums Thema bemüht hat.

Die Rede ist von Lyrik: Heimatverlust und Exil.

Dieses Kursthema Deutsch (Berlin 2004/2012) ging das Risiko ein, die sehr beachtenswerte, allerdings auf die Jahre 1933-45 konzentrierte Gedichtsammlung des Kölner Germanisten Wolfgang Emmerich, Lyrik des Exils, aufzugreifen, ihre Textbasis zu verbreitern und an die Bedingungen des gymnasialen Oberstufenunterrichts anzupassen, indem nicht nur Hilfen zur formalen Behandlung poetischer Texte, sondern auch Interpretationsansätze geboten wurden.

Damit kommen allerdings schon die ersten Risiken eines solchen Unterfangens einher, die im Besonderen darin bestehen, dass die singuläre Vertreibungsgeschichte der Jahre 1933-45, die die Gedichtsammlung Emmerichs abbildet, verflacht und damit relativiert wird. Denn zweifellos ist richtig, dass zu allen Zeiten schon Menschen ihre Heimat verloren haben, was je ihren poetischen Niederschlag gefunden hat. Diese Situationen entziehen sich aber der Vergleichbarkeit mit der systematischen Verfolgung und Vernichtung von Menschen während des Hitlerfaschismus. Die historische Einmaligkeit des Hitlerfaschis-mus kann aber auch nicht angemessen begriffen werden, wenn sie in der subjektivisti-schen Reduktion des lyrischen Gedichts vorgestellt wird. Darüber hinaus ist festzustellen, dass gegenüber dem literarischen Gegenstand des Gedichts die fachdidaktische Literatur insgesamt sehr zurückhaltend geworden ist. Sie ist offensichtlich zur Erkenntnis gekom-men ist, die lyrische Subjektivität eigne sich nicht besonders gut für Unterrichtsprozesse, die objektiven Prozessen besonders dann unterliegen, wenn sie Prüfungszwecken dienen. Eine solche Behutsamkeit ist natürlich vor allem dann angezeigt, wenn die Bedingungen eines Zentralabiturs im Raum stehen, das beansprucht, durch vor Vorgabe von objektiven Kriterien im Umgang mit Literatur besonders gerecht gegenüber Schülerleistungen zu sein, dabei aber den Charakter der Interaktion zwischen der Textsorte Lyrik und ihren Rezipienten völlig außer Acht lassen muss.

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Zudem beharrt die Unterrichtseinheit Heimatverlust und Exil auf der seit Georg Lukacs problematisierten Wahrnehmung von literarischen Epochen und der Gruppierung von Texten um sog. große Dichter, denen mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird als anderen. Hier sind das namentlich Bertolt Brecht und Heinrich Heine, jenem Pariser Luxusexilan-ten, bei dessen politischer Lyrik immer – wenn auch oft unwillkürlich – der Ton seiner Liebesgedichte mitgehört wird, nicht nur weil sie viel weiter verbreitet sind als jene, son-dern auch der Vertonungen Robert Schumanns wegen, mit denen eine wohl so einmalig kongeniale Leistung erbracht wurde, der sich niemand objektivierend entziehen kann.

Solche unumgänglichen Defizite sind nur ganz schlecht dadurch auszugleichen, dass das Heil bei der unterrichtlichen Behandlung in der Flucht zu den poetischen Formen gesucht wird, die Robert Minder bereits hinreichend charakterisiert und kritisiert hat. Auf diesem, allerdings eher engen Feld können zwar unstrittig Versmaße und -Formen, auch: Stilfigu-ren für richtig oder falsch erkannt werden, der Zusammenhang zu den poetischen Mittei-lungen bleibt aber (bis auf wenige glückliche Ausnahmen) eher zufällig, wenn er nicht überhaupt vom Thema der erzwungenen Aufgabe der Heimat ablenkt.

Überdies kann nicht jeder Auslandsaufenthalt als Exil bezeichnet werden, auch wenn mit jeder Ausreise immer ein wenig die angestammte Heimat verloren geht. Kein Mensch würde beispielsweise Simone de Beauvoir als französische Exilliteratin bezeichnen, ob-wohl sie schon gute und auch politische Gründe dafür gehabt hat, das Paris der Manda-rins zeitweilig zu verlassen, um sich in den USA aufzuhalten. Wenn sich eine deutsch-jüdische Dichterin (R. Ausländer) hingegen sehr ähnlich verhält, gerät das in der Unter-richtseinheit zu einem der Besprechung werten und historisch sortierten Heimatverlust, weil sie nach dieser Lesart in besonderem Maß unter dem tatsächlich schon vor 1933 in Deutschland und Österreich grassierenden Antisemitismus zu leiden hatte. Unglücklicher Weise stammen dann auch nicht alle Texte dieser Poetin aus der Zeit der deutschen Ju-denverfolgung.

Will sagen: So furchtbar das Schicksal all derer gewesen ist, die je und besonders vor der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft fliehen mussten: Die einzelnen Leidenswege können unmöglich pauschalisiert dargestellt werden – gerade nicht am Beispiel der kano-nisiert großen und deshalb im kollektiven Gedächtnis gebliebenen Schriftsteller, von de-nen aber in den vorliegenden Unterrichtsmaterialen auch nicht immer vollständig berich-tet wird.

Unter besonders unbarmherzigen Biographien hatten jene Autoren des 20. Jahrhunderts zu leiden, die aus politischen und ethnischen Gründen zugleich vertrieben und dann nach 1945 nicht wieder in ihre europäische Heimat (oder wenigstens ein Land ihrer Wahl) zu-rückkehren konnten, weil sie ihre Herkunft nicht ablegen konnten und ihre Überzeugun-gen nicht verleugnen wollten. Das gilt partiell schon für Bertolt Brecht, dessen Versuch sich als Geburtsdeutscher in Österreich niederzulassen scheiterte und zugleich dem da-mals prominenten Komponisten und Leiter der Salzburger Festspiele, Gottfried von Ei-nem, den Arbeitsplatz kostete, weil er angeblich einem Kommunisten Unterschlupf bie-

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ten wollte. Tatsächlich planten von Einem und Brecht den Jedermann Hugo von Hof-mannsthals zeitgemäß durch einen Salzburger Totentanz zu ersetzen, was nicht ganz zu un-recht als Angriff auf eine damals schon eingefahrene Theaterpraxis begriffen wurde, die bis heute als unwiderstehlicher Publikumsmagnet zu gelten hat.

Mehr noch trifft das auf Stefan Heym zu, der nach seiner Rückkehr aus dem Exil buch-stäblich quer durch Europa gejagt wurde, um schließlich in der DDR zu stranden. Was hier wörtlich zu nehmen ist. Denn Heym war der DDR-Führung trotz seiner kommunis-tischen Gesinnung so unwillkommen, dass sie ihn in einem Gästehaus der SED-Führung am brandenburgischen Scharmützel See aussetzten, von wo aus er sich ziemlich mühselig wieder in den deutschsprachigen Literaturbetrieb einklinken musste, ohne je das Miss-trauen seiner neuen Gastgeber überwinden zu können. Dem Ergebnis nach vergeblich, denn Heyms Bücher – vor allem seine aufschlussreiche Autobiographie – waren ebenso schon zu seinem 100. Geburtstag vom inzwischen gesamtdeutschen Büchermarkt ver-schwunden, wie die Rede, die er als Alterspräsident des Deutschen Bundestages 1994 ge-halten hat, entgegen allen parlamentarischen Gepflogenheiten nie als Bundestagsdrucksa-che erschienen ist.

Falls hier ein – meiner Einschätzung nach aber notwendiger – Tabubruch erlaubt ist: Schlimmer noch als Heym erging es dem Mähren stammenden deutsch-jüdischen Schrift-steller und Komponisten Louis Fürnberg, den die Nationalsozialisten nach dem Ein-marsch 1939 als Kommunisten (der er war) verhafteten und extrem brutal misshandelten, bis seine Frau ihn aus den mörderischen Krallen der Gestapo freikaufen konnte. Schließ-lich gelang dem Ehepaar die Flucht nach Kleinasien, wo es von britischen Truppen auf-gegriffen und nach Palästina deportiert wurde. Dort geriet Fürnberg erneut in Lebensge-fahr, weil er sich der zionistischen Bewegung nicht anschließen mochte, dafür aber mit palästinensischen Gruppen zusammenarbeitete, um schließlich wieder nach Prag zurück-zukehren, wo inzwischen zwar eine kommunistische Regierung etabliert war, Fürnberg aber wegen seiner Deutschsprachigkeit in Misskredit kam. In unmittelbare Lebensgefahr geriet er aber erst wieder im Rahmen der Slánský-Affäre, die nach sowjetischen Vorbild vor allem partei- und staatsnahe Juden verfolgte. Auch hier entging Fürnberg eher zufällig dem Tod, konnte sich jedoch nach Weimar retten, wo er schließlich stellvertretender Di-rektor der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten wurde. Dort holte ihn jedoch end-gültig sein schlimmes Schicksal ein, weil sein unmittelbarer Vorgesetzter der schon vor dem Dritten Reich bekannte Antisemit Hans Wahl wurde. Wahl hatte eine glänzende kul-turpolitische Karriere während des Nationalsozialismus nach 1945 nahtlos fortsetzen können und ließ (dem Vernehmen seiner Nachfahren nach) den Juden Fürnbergs gnaden-los spüren, welche Gesinnung tatsächlich in sich trug. Nach 3-jähriger Tätigkeit im letzten Exil starb Fürnberg nur 48-jährig an den Folgen mehrerer Herzinfarkte. Es muss ehrli-cher Weise offenbleiben, ob sein Tod durch diese Umstände oder dadurch verursacht wurde, dass ihn wenige Jahre zuvor seine tschechischen Genossen verraten haben.

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Der Text, wegen dessen Fürnberg bis heute in Verruf steht, Die Partei hat immer recht, ent-stand während der Zeit der stalinistischen Verfolgung in der frühen 50er Jahren und sollte der Selbstvergewisserung des Dichters dienen, als er auf Grund seiner deutsch-jüdischen Abstammung aus dem Zentralkomitee der tschechoslowakischen KP ausgeschlossen und auf einen niederen Posten der Berliner Vertretung Prags abgeschoben wurde. Die von Fürnberg selbst zum Text selbst komponierte Musik, die erhalten ist, unterstreicht die der Entstehungsgeschichte entsprechende elegische Stimmung, sie hat überhaupt nichts mit jenem Marsch zu tun, der jedem in die Ohren gerät, wenn er auch nur den Namen des Dichters hört. Fürnberg kam nie in den Sinn, der SED eine Hymne zu schreiben, die – aus dem historischen Kontext gerissen – leicht als stalinistische Verirrung dekodiert wer-den kann. Wenn ich das richtig sehe, stammt die Musik von Paul Dessau, taucht aber in dessen Werkverzeichnis nicht auf und die greifbaren lexikalischen Einträge begnügen sich mit dem Hinweis: „(Dessau) schrieb Gebrauchsmusik für die Propaganda der DDR.“

Ganz offensichtlich wurde hier ein musikalischer Klassiker aus dem Umfeld von Bertolt Brecht mittels einer musikgeschichtlichen Retusche salviert, worin aber die Pointe dieser etwas umständlichen Darstellung nicht liegen soll. Vielmehr möchte ich darauf hinweisen, dass in der ansonsten vom Schulbuch reichlich genutzten Quelle von 1985, Emmerichs Lyrik des Exils, die Lyrik Heyms und Fürnbergs unter hinreichender Berücksichtigung der entsprechenden Biographien noch ganz unbefangen dargestellt werden kann, während sie rund 10 Jahre später, also nach Ende des Kalten Kriegs, trotz der bemerkenswerten Exil-situation der beiden Dichter überhaupt nicht mehr vorkommt.

Daran muss zwangsläufig die Frage geknüpft werden, warum ausgerechnet bei einem his-torisch und offensichtlich auch politisch brisanten Thema den unterrichtenden Kollegen nicht solche tatsächlich bemerkenswerte Textsammlungen zur Verfügung gestellt werden wie die von Emmerich, sondern versucht wird, den inhaltlichen Gang der Abiturvorberei-tung an eine ziemlich kurze Leine zu nehmen.

Insofern erscheint es geradezu verständlich, wenn einzelne Kollegen sich diesen offen-sichtlichen Steuerungsmechanismen zu entziehen versuchen, indem sie das Thema von vorne schief angehen, in der Lehrersprache also: verfehlen. Das m. E. schönste Beispiel von dieser Art Fahnenflucht findet sich im Internet, wenn der Name der Unterrichtsein-heit Heimatverlust und Exil aufgerufen wird. Es erscheint dort ein sog. Portfolio unter dem Etikett des Studienseminars Heilbronn. Der entsprechende, ziemlich selbstbewusst auf-tretende Kollege hatte sich offenbar vorgenommen hat, die Schüler dadurch geistig dem Vorhaben der Exillyrik näherzubringen, dass er (wahrscheinlich wegen Heine) den Schü-lern zwei Texte vorgelegt hat, die sie binnen (abgezählten) sieben Minuten der Nachtseite der Romantik zuführen sollten. Man hört das Unheil förmlich kommen, denn der eine Text war Eichendorffs Mondnacht, wo ein innerer Zusammenhang zur Unterrichtseinheit nur schwer zu erkennen ist, während der andere von ETA Hoffmann stammt und den Titel Der Sandmann trägt.

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Nun gibt es zwar allerlei Literatur über die geheimen politischen Botschaften Hoffmanns und aus der Erzählung vom Sandmann ist bekannt, dass dort ein reichlich verquerer Ver-such unternommen wird, ein Poem über den Advokaten Coppelius und seinen Wieder-gänger Coppola zu erzeugen, der Text selbst ist aber eher unzugänglich, weil Hoffmann es mit einer Inhaltsangabe eines der Erzählung nach ganz furchtbaren Poems gut sein lässt, von dem selbst die Geliebte des Protagonisten behauptet, dass es völlig ungenießbar ist.

Schließlich kommt der Verfasser des zu zerzausenden Unterrichtsprojekts dann aber doch bei einer ziemlich prominenten Exildichterin an. Er ist erstaunt über die Anzahl der Tref-fer, die der Aufruf von Nelly Sachs bei Wikipedia erzielt hat, übersieht dabei aber das wohl peinlichste Datum, das diese poetisch sehr sympathische Dichterin betrifft. Denn Nelly Sachs gehört ebenfalls zu jenen ins Exil gezwungenen Menschen, denen über den Tod hinaus keine Ruhe gegönnt wurde. Über ihrem Grab im heutigen Staat Israel verläuft inzwischen eine Autobahn, der Gedenkstein wurde ins verbleibende freie Gelände wegge-schoben.

Der am besten gepfählte Emigrant bleibt aber nach wie vor der österreichische Kabaret-tist Georg Kreisler, dem nach seinem Tod vor zwei Jahren unisono so offensichtlich anti-semitische Vorurteile nachgerufen wurden, dass ich mich veranlasst sah, daraus wieder eine eigenständige Erörterung (Jüdische Zeitung, 2/2012) herzustellen. Der Gipfel der Geschmacklosigkeiten zwischen SZ und NZZ bestand im Versuch der Wochenzeitung Freitag, aus Kreisler einen wiedergekehrten Ewigen Juden zusammenzubasteln, weil er angeblich überdurchschnittlich häufig reiste und verheiratet war.

Bezüglich der im Netz veröffentlichten Unterrichtsbemühung, die sich abschließend in einer etwas peinlichen Form von Selbstevaluation die eigene Fehlerlosigkeit bescheinigt, ist neben der deutlich erkennbaren Flucht vor dem verordneten Inhalt bemerkenswert, dass es einem Lehrer gelingt, die Abhandlung über fiktive Inhalte selbst wieder im fiktiven literarischen Bereich anzusiedeln. Falls ein solcher Unterrichtsversuch faktisch gelungen sein sollte, was von mir aber nicht nachvollzogen werden kann, wäre da jemand die Quadratur des Kreises im literaturwissenschaftlichen Bereich gelungen, wo aber seit jeher historische Fakten eher großzügig behandelt wurden. Man denke dabei nur an die legen-där gewordene erste Bahnfahrt Goethes durch die Landschaft der Frankfurter Schreber-gärten, die Fritz Raddatz seinerzeit sehr eindrucksvoll im Feuilleton der Zeit geschildert hat.

In diesem Sinne gestehe ich ohne weiteres zu, das poetische Wort nie so recht gefunden zu haben, denn das Lesen ist mir bereits vor der Grundschule auf einem Plumpsklo unter der schwäbischen Alb (mit B) zugefallen und ich habe es später dann überwiegend mittels Schundliteratur geübt, und trage deshalb ein überwiegend beschönigendes Bild der bedeu-tenden europäischen Künstler in mir, das mir beispielsweise durch Ricarda Huch nahege-legt wurde. Über den von Huch dargestellten Zusammenhang zwischen dem Pech Lud-wig van Beethovens bei den Frauen und der Mitteilung, er habe das Orgelspielen zwi-

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schen den Beinen seines Großvaters stehend gelernt, denke ich heute allerdings nur noch nach, wenn die FR mir neue Mitteilungen über die Odenwaldschule zukommen lässt, aber auch da halten sich Abscheu und Verwunderung eher die Waage.

Solche Inszenierungen wie auch die des historischen Romans werden heute von anderen Medien übernommen, die geschwinder und unkomplizierter Fiktionen erzeugen als die geschriebene. Ich gehe davon aus, dass hier alle außer mir den Kinofilm über die Verfüh-rungskünste des Reformpädagogen Becker bereits gesehen haben. Über solche Zusam-menhänge wäre auch noch zu handeln, was mir aber wegen meiner filmwissenschaftlichen Unkenntnisse verwehrt bleibt. Aus diesem Grund kam ich als Lehrer auch ganz schlecht mit den filmischen Umsetzungen von erzählender Literatur zurecht, die natürlich den unbestreitbaren Vorteil besitzen, ausgewählte Aspekte einzelner Stoffe sehr einprägsam weiterzureichen. Angesichts dieser Möglichkeiten muss aber unverständlich bleiben, wa-rum die visuelle Umsetzung epischer oder dramatischer Stoffe zwar massenhaft im Un-terricht eingesetzt wird, die Lehrer hierfür aber fachwissenschaftlich kaum ausgebildet werden, weshalb sie wenigstens diesbezüglich zu reinen Filmoperatoren degenerieren. Filmwissenschaftliche Institute in Deutschland sind ausgesprochen rar und an den weni-gen Ausbildungsstätten sind kaum Studiengänge für Lehramtskandidaten vorgesehen.

Vielleicht geht das mit den verlorenen gegangenen Worten aber überhaupt ganz anders.

Denn:

Das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, das früher einmal eine extrem elitäre Veranstal-tung darstellte, sich aber in letzter Zeit immer mehr den Vermischten Nachrichten ange-nähert hat, wunderte sich jüngst über Veronica Beckham, die an dieser Stelle jedoch aus-drücklich nicht über ihren Mann definiert sei – schon um Nachsicht dafür zu erzeugen, dass meine Ausführungen sich ganz konsequent, nur Maskulina verwendend, der sprach-lichen Korrektheit entzogen haben. Beckham hat zwei deutlich autobiographisch einge-färbte Bücher geschrieben, die außerordentlich erfolgreich waren. Selbst die renommierte New York Times rückte sie ganz nach oben auf ihre Leselisten. Im Nachhinein trat Frau Beckham allerdings mit der Information an die Öffentlichkeit, sie habe selbst noch nie in ihrem Leben ein Buch gelesen, denn stets sei hierfür ihre Zeit je zu knapp bemessen ge-wesen.

So bleibt immerhin und letztlich die schöne Hoffnung erhalten, dass mit einem derartigen Quantensprung einer Frau, die gleichzeitig im Sitzen, aber in Stöckelschuhen auf einem Laufband rennend, Mode zeichnen und ihre Memoiren schreiben kann, also zwischen eingestandener kultureller Ferne und sich frei entfaltender eigener sprachlicher und bild-nerischer Kreativität das Wort wiedergefunden wird, das im traditionellen Kulturbetrieb tatsächlich auf vielfache Weise zermürbt und zerrieben wurde.

Ob dazu allerdings der allenthalben und auf alle Generationen sich ausbreitende Narziss-mus ausreicht, sei ausdrücklich offengelassen.

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Zwei Nachträge:

Im Kleinen: Wer Lückentest im Unterricht nutzt, darf sich über die in elektronische Ap-parate eingebauten Autokorrekturprogramme nicht beschweren; der objektive, materielle Fortschritt ist darin zu sehen, dass heute ziemlich billig gewordene Maschinen das erledi-gen können, was auf sinnentleerte Weise jungen Menschen zugemutet wurde und heute noch zugemutet wird. Die Entlarvung des Lückentests, der in der Fabel vom kranken Hahn zitiert wurde, kommt aber von der Entwicklung der Maschinen her, die nur teilwei-se geschriebene Worte selbständig vervollständigen können, auch wenn das Ergebnis dann nicht immer sinnfällig erscheint. Die zur Schreibübung degenerierte Fabel steht aber einem solchen Zustand in nichts nach.

Im Großen und Theoretischen: Der Literaturwissenschaftler Klausnitzer (HU Berlin) kri-tisiert im Freitag vom 3. Oktober 2014 den mangelhaften Bildungsstand des literaturwis-senschaftlichen Nachwuchses und führt dies auf den Zusammenhang von Bachelor- und Masterstudiengängen mit der Nutzung von elektronischen Medien bei der wissenschaftli-chen Arbeit zurück, weil jetzt (endgültig) ein rein funktionales Wissen originäre Bildung verdrängt habe, die dem klassischen Ideal vom Menschen entspräche. Klausnitzner plä-diert folgerichtig für eine den Lesestoffen und den historischen Zuständen nach „solide Bildung“, macht dies aber an der Frage fest, ob den Studierenden nach der Lektüre von Goethes Wilhelm Meister als vorbildlichem Bildungsroman auch noch die von Stifters Nachsommer, Kellers Der Grüne Heinrich oder Raabes Hungerpastor zuzumuten sei, ohne auch nur ansatzweise zu reflektieren, welchen Beitrag der so benannte Erziehungsroman auf die Entwicklung der Menschlichkeit im Sinne von Sartres Vorstellung einer humanitären Revolution seit dem 19.Jahrhundert konkret geleistet hat. Es mag weniger bedenklich sein, wenn dabei wieder / noch immer von Lehrenden ausgegangen wird, die „ihr Fach fundiert kennen und von ihrem Tun begeistert sind“, weil das gerade auch auf jene Päda-gogen zutrifft, die in den letzten Jahren (zurecht) unter den schlimmsten Verdacht der selbstbesoffenen Übergriffigkeit geraten sind. Der immer noch als goldenen Regel kursie-rende Satz, mit dem ein Lehrer sich einer Klasse vorstellte: „Ich bin Mathe!“ dürfte dabei noch zu den harmloseren pädagogischen Ausfällen gehören, die auf keiner Legendenbil-dung beruhen.

Weitaus problematischer erscheint die theoretische Forderung, es brauche Lehrer, die (so Klausnitzer wörtlich) „regelgeleitete Interpretationen ebenso vermitteln wie ästhetische Erfahrung“, weil hier nicht nur die metaphysischen Dogmensammlungen der hermeneuti-schen Verfahren erneut in Schwung gesetzt werden, deren Regeln ausschließlich auf auto-ritäre Weise durchgesetzt werden können, weil sie je einzeln und vor allem insgesamt auf Glaubensgrundsätzen beruhen, die rational nicht vermittelt werden können.

Das zumindest hat der ideologische Vater der Postmoderne, Paul Ricoeur, der zur Zeit eine bemerkenswerte Wiederbelebung erfährt, in seinem polemischen, gegen Sigmund Freud gerichteten Essay Die Interpretation von 1965 ganz eindrucksvoll, aber auf eine mit den begrenzten Mitteln der Vernunft nur schwer nachvollziehbare Weise offengelegt.