Magisterarbeit im Fach Kulturwissenschaft an der Universität Bremen „Orientalismus“ im Spiegel? eine kritische Diskursanalyse von Publikationen zum Thema „Islam in Deutschland“ im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ (Jahrgänge 2006-2008) vorgelegt von Annabel Trautwein Betreuende Gutachterin: Prof. Dr. Dorle Dracklé Zweitgutachterin: Dr. Cora Bender Bremen, den 03.04.2011
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„Orientalismus“ im Spiegel?...4 Pürer/Raabe 2007:166), spielt dabei eine besondere Rolle (Mast 2004:318). Da das Vermischen von Fakten und Wertungen im Fall des Spiegel üblich
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Das Ergebnis meiner Magisterarbeit bietet Antwort auf eine Frage, die mich
seit meinem Grundstudium beschäftigt: Wie lässt es sich erklären, dass ein
renommiertes Magazin wie der Spiegel in seiner Berichterstattung über Islam
offenbar Konzepte anwendet, die vielen Kulturwissenschaftlern1 längst als
überholt gelten?
Die Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Diskurs über Islam und
dem Islam-Bild des Spiegel trat in meinem Studienalltag immer wieder
zutage: Im Einführungskurs Kulturwissenschaft beschäftigte ich mich mit
Transkulturalität und postkolonialer Kritik an essentialistischen
Identitätskonzepten, während auf der Titelseite des Spiegel, der zu Hause
auf meinem Küchentisch lag, das Bild einer kopftuchtragenden Muslima mit
der Schlagzeile „Allahs rechtlose Töchter“ prangte (Nr. 47/2004). In
Hausarbeiten und Referaten meines Nebenfachs Religionswissenschaft
setzte ich mich mit den methodologischen Facetten islamischer
Rechtsauslegung und verschiedenen Konzepten von Scharia auseinander,
während der Spiegel „[d]ie stille Islamisierung“ Deutschlands ausrief und
unter dem Titel „Haben wir schon die Scharia?“ deutsche Gerichte als
Handlanger von „Islam-Fundamentalisten“ stilisierte, weil eine Frankfurter
Richterin die Klage einer Muslima mit Verweis auf einen Koranvers
abgewiesen hatte (Nr. 13/2007). Die Kritik an Samuel Huntingtons
essentialistischem Konzept eines „Clash of Civilizations“ erschien mir unter
Kommilitonen und Dozenten unbestritten – und zu Hause ärgerte ich mich
über den Spiegel, der den Karikaturenstreit unter der Überschrift „Der heilige
Hass“ auf die Titelseite brachte und darin einen „Zusammenprall der
Kulturen“ eskalieren sah (Nr. 6/2006).
In Edward W. Saids Theorie des „Orientalismus“ fand ich einen Ansatz, der
meine Frage nach dem Hintergrund dieser Diskrepanz zu beantworten
schien. Dennoch bezweifelte ich, dass ein so anerkanntes Magazin, das mit
dem Slogan „Spiegel-Leser wissen mehr“ seinen aufklärerischen Anspruch
unterstreicht, sich einer so kritikwürdigen ideologischen Tradition
anschließen würde. War mein Eindruck von der Islam-Berichterstattung des 1 Der Einfachheit halber verwende ich die männliche Form. Damit sollen Frauen nicht ausgeschlossen werden.
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Spiegel nicht längst verzerrt durch meinen Ärger über einzelne Artikel, so
dass ich immer wieder dieselben Muster bestätigt sah, Gegenpositionen aber
ausblendete? Auch wenn ich das Heft abonniert hatte und die
Berichterstattung über Islam und Muslime aufmerksam verfolgte - kritisch
überprüft hatte ich die Position des Spiegel nicht.
In meiner Magisterarbeit hole ich nun diese kritische Analyse des Islam-Bilds
im Spiegel nach. Bei der systematischen Untersuchung von Beiträgen des
Magazins tritt letztendlich ein breites Spektrum an Diskurspositionen zutage,
bei denen sich die Darstellung von Islam und Muslimen teilweise von Beitrag
zu Beitrag, teilweise auch innerhalb einzelner Artikel stark unterscheidet. In
der Gesamtwirkung dominieren jedoch Darstellungsmuster und Stereotype,
die ein orientalistisches Bild von Muslimen und Islam bekräftigen.
Dieser Befund ergibt sich aus meinen Forschungsparametern, die ich an
dieser Stelle knapp skizziere und im Verlauf meiner wissenschaftlichen Arbeit
genauer erläutere und begründe:
Meine Forschungsfrage ist in zwei Aspekte gestaffelt. Zunächst untersuche
ich: Wie stellt der Spiegel das Thema „Islam in Deutschland“ dar? Daran
schließt sich die Frage an: Wie positioniert sich das Magazin mit dieser
Darstellung zum orientalistischen Diskurs?
Das Werkzeug, mit dem ich mein Material anhand dieser Fragen
entschlüssele, ist die Methode der kritischen Diskursanalyse von Siegfried
Jäger (Jäger 2004).
Um den Materialfundus meiner Arbeit dem vorgegebenen Rahmen einer
Magisterarbeit anzupassen, nehme ich zwei Einschränkungen vor: Zum
einen grenze ich den Untersuchungszeitraum ein auf die Jahrgänge 2006,
2007 und 2008. Zum anderen fokussiere ich meine Untersuchung auf
Berichterstattung über Muslime in Deutschland.
Die Begrenzung des Untersuchungszeitraums dient in erster Linie dazu, den
Umfang des Materials auf eine handhabbare Menge zu reduzieren. Den
Fokus auf den gesellschaftlichen Kontext Deutschland wähle ich, da mich
besonders interessiert, wie das Magazin Muslime darstellt, die sich in der
Alltagswelt ihrer Leser befinden. 2 Hinzu kommt, dass dieser Fokus
2 Die Debatte um Integration von Muslimen in Deutschland, die im Herbst 2010 entbrannte, sowie die Diskussion um die Bedeutung des Islam für die deutsche Gesellschaft nach der Rede des Bundespräsidenten am Tag der Deutschen Einheit 2010 bekräftigen mich in meinem Interesse.
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außenpolitische Themen wie den Irak-Krieg ausklammert, die einerseits den
Materialumfang erheblich vergrößern würden und andererseits wegen der
Vielschichtigkeit der damit verbundenen Diskurse (militärische,
diplomatische, humanitäre usw.) die Analyse wesentlich aufwändiger
gestalten würden.
Bei meiner Analyse konzentriere ich mich demnach auf Artikel, in denen
Personen oder Personengruppen im Vordergrund stehen, deren muslimische
Identität sowie deren Leben und Handeln in Deutschland für die Geschichte
des Beitrags relevant sind. Nach diesem Kriterium schließe ich Artikel über
Menschen aus, die zwar Muslime sind, jedoch gar nicht oder nur beiläufig als
solche dargestellt werden.
Der Fokus auf Muslime dient dazu, Beiträge auszuklammern, in denen
ausschließlich nicht-muslimische Wortführer ihre Vorstellungen von Islam
ausbreiten – zwar können diese Ausführungen durchaus interessant sein,
jedoch handelt es sich hier weniger um direkte Repräsentationen des Spiegel
als um Repräsentationen Dritter, denen das Magazin lediglich Raum gibt.
Dabei ist – abgesehen davon, dass die Spiegel-Redaktion sie offenbar für
lesenswert hält – meist nicht eindeutig bestimmbar, wie sich der Spiegel zu
diesen Repräsentationen positioniert. Aus demselben Grund klammere ich
Interviews bei der Materialauswahl für die Feinanalyse aus.
Abgesehen von meinem persönlichen Interesse am Spiegel bietet sich das
Magazin aus verschiedenen Gründen für eine kritische Untersuchung seiner
Diskursposition an: Zum ersten stellt sich der Spiegel als politisches
Nachrichtenmagazin3 eine besondere gesellschaftliche Aufgabe – zu
aktuellen Geschehnissen liefert es Hintergrundinformationen, stellt
Zusammenhänge zwischen einzelnen Ereignissen her und bietet so
umfassende Analysen und Interpretationen an (Schneider/Raue 2007:291).
Damit zeichnet das Magazin ein mehr oder weniger kohärentes Bild der
gesellschaftlichen Lage, das dem Leser als Verständnis- und
Orientierungshilfe dienen soll. Laut Wolfram Schrage gilt das Blatt seit
Anfang der 60er Jahre „als Blatt der Aufklärung, als ‚Sturmgeschütz der
Demokratie’“ (Schrage 2007:165). Die Textgattung der Magazingeschichte,
die entscheidend vom Spiegel mitgestaltet wurde (Mast 2004:319, 3 http://www.spiegel-qc.de/deutsch/media/dokumente/partner/kurzportraet/spiegel_factsheet_2011.pdf (Datum des letzten Besuchs: 02.04.2011)
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Pürer/Raabe 2007:166), spielt dabei eine besondere Rolle (Mast 2004:318).
Da das Vermischen von Fakten und Wertungen im Fall des Spiegel üblich
und weitgehend anerkannt ist, erhalten auch Berichte, deren Stoßrichtung
durch die Meinung des Verfassers vorgegeben ist, den Anschein objektiver
Allgemein gilt der Spiegel als „Leitmedium“ mit sehr hohem Einfluss (Schrage
2007:163, Pürer/Raabe 2007:162). Der ehemalige Spiegel-Chefredakteur
Stefan Aust kommentierte das Ansehen seines Magazins 1997 mit dem Satz
„Das muß ja stimmen, es hat doch im Spiegel gestanden.“ (Aust 1997, zit.
nach Wolf 2006:256) und verlieh damit nach Ansicht von Claudia Maria Wolf
dem Magazin die „Aura der Unfehlbarkeit“ (ebd.). Besonders für Journalisten
gilt der Spiegel traditionell als Orientierung (Pürer/Raabe 2007:167,
Schneider/Raue 2007:201). Mit einer aktuellen Auflage von rund 975.000
verkauften Heften ist der Spiegel nach eigenen Angaben das derzeit
meistverkaufte Nachrichtenmagazin Deutschlands. 4 In den Jahrgängen
2006, 2007 und 2008, auf die ich mich in meiner Analyse beziehe, ist der
Spiegel mit einer durchschnittlichen Druckauflage von 1.289.763 Exemplaren
das auflagenstärkste Nachrichtenmagazin vor Focus und Stern. 5 Angesichts
der journalistischen Gepflogenheiten des Spiegel, die den Journalisten eine
verhältnismäßig große Deutungshoheit beimessen, des hohen Stellenwerts,
den das Magazin in der Öffentlichkeit hat, sowie seiner weiten Verbreitung ist
der Spiegel ein besonders lohnenswerter Gegenstand für die Untersuchung
einer orientalistischen Diskursposition.
Bei der Darstellung meiner Arbeit liegt ein grundsätzliches Problem in der
Verwendung von Begriffen wie „der Islam“, „der Orient“, „der Westen“ oder
„die deutsche Gesellschaft“: Als scheinbar eindeutige Bezeichnungen wirken
sie wie Labels, die die Vielschichtigkeit der damit gemeinten Phänomene
einebnen und so das Bild homogener, statischer Einheiten vermitteln. Eine
Kennzeichnung durch Anführungsstriche oder eine Paraphrasierung
erscheint mir jedoch auch zweifelhaft – zum einen möchte ich keine
Verwechslung mit Zitaten riskieren, zum anderen lässt sich schwer
bestimmen, welche Begriffe als Labels hervorgehoben werden müssten und
4 http://www.spiegel-qc.de/deutsch/media/dokumente/partner/kurzportraet/spiegel_factsheet_2011.pdf (Datum des letzten Besuchs: 30.03.2011) 5 eigene Berechnung; Quelle: http://www.ivw.eu/index.php (Datum des letzten Besuchs: 27.03.2009)
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welche nicht.6 Der Gefahr, die eine Nicht-Kennzeichnung von Labels birgt,
bin ich mir bewusst – dennoch halte ich die Begriffe für eine alltägliche
Verständigung für unvermeidlich. Die Tatsache, dass sie ihren Gegenstand
sehr unscharf und eindimensional wiedergeben, bedeutet meiner Ansicht
nach nicht, dass sie nichtssagend wären. Ich appelliere daher an meine
Leser, sich beim Lesen bewusst zu machen, dass sich hinter diesen
Begriffen verschiedene, zum Teil konkurrierende Inhalte, Entwicklungen und
Interpretationen verbergen.
Da meine Forschung durch die zeitliche Überschneidung mit meiner
journalistischen Ausbildung als Tageszeitungsvolontärin mehr Zeit in
Anspruch genommen hat als für eine Magisterarbeit üblich, sind die
untersuchten Artikel weniger aktuell als ursprünglich geplant. Damit sind
auch die Ergebnisse nicht ohne erneute Prüfung auf die heutige
Berichterstattung des Spiegel übertragbar. Auch habe ich nicht den
Anspruch, in meiner Arbeit alle Ursachen und Hintergründe des Islam-Bilds
im Spiegel offen zu legen; es bleiben zwangsläufig einige Faktoren
unberücksichtigt, die auf dieses Bild einwirken. Demnach sollen die Beiträge
über Muslime und Islam im Spiegel nicht als reine Manifestation von
Orientalismus gelesen werden. Die Orientalismus-Theorie bietet einen
Erklärungsansatz für die Position des Magazins, der jedoch andere
Erklärungsansätze nicht ausschließen soll.
Mit meiner Arbeit möchte ich – neben dem konkreten Erkenntnisziel meiner
Forschung – auf ein Phänomen aufmerksam machen, das in vielen Medien
und immer wieder zutage treten kann. Insofern soll diese Arbeit über die
konkrete Analyse des zugrunde liegenden Quellenmaterials hinaus auch
grundsätzlich für das Phänomen des Orientalismus in journalistischen
Darstellungsformen sensibilisieren und damit die Rezipienten von
Mediendiskursen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit journalistischen
Inhalten anregen.
6 Von den Begriffen „Islamismus“ oder „Islamist“ distanziere ich mich bewusst, indem ich sie durch Anführungszeichen als Kategorie anderer Autoren kennzeichne. Der Grund für meine Ablehnung dieser Begriffe liegt darin, dass sie mangels einer greifbaren Definition m. E. stark diffamierend und politisch klassifizierend wirken.
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Kapitel 2 – Die Theorie
In den folgenden Kapiteln erläutere ich die theoretische Grundlage meiner
Arbeit und gebe einen Überblick über den bisherigen Forschungsstand zum
Islambild in deutschen Nachrichtenmagazinen.
Ich stütze mich dabei auf die Orientalismus-Theorie Edward W. Saids, die er
in seinem gleichnamigen Werk (Originaltitel „Orientalism“, erstmals
erschienen 1978) ausführlich darlegt. Das Buch wurde in mehr als 30
Sprachen übersetzt und hat zu einer weltweiten Debatte geführt, die bis
heute fortwirkt und ständig aktualisiert wird (Said 2003a:xv). Mehr als 30
Jahre nach seiner Erstveröffentlichung und bei aller Kritik, die daran
geäußert wurde (Varisco 2007, Porter 2005), gilt „Orientalism“ bis heute als
ein Standardwerk postkolonialer Kulturtheorie (Varisco 2007).
Indem ich Saids Orientalismus-Konzept als theoretische Grundlage meiner
Arbeit anwende, erkenne ich seine Befunde und Schlussfolgerungen
weitgehend an. Da ich meinen Schwerpunkt auf die empirische
Diskursanalyse der Spiegel-Beiträge lege, bleibt im vorgegebenen Rahmen
meiner Arbeit kein Raum für eine fachgerechte theoretische Kritik von Saids
Thesen. Zwar halte ich eine kritische Rezeption der Orientalismus-Theorie
grundsätzlich für sinnvoll und wünschenswert, jedoch sehe ich das Konzept
nicht in dem Maße in Frage gestellt, dass es als theoretisches Fundament für
meine Arbeit disqualifiziert würde.
Im folgenden Kapitel 2.1 gebe ich einen knappen Überblick über diejenigen
Aspekte der Orientalismus-Theorie, die für meine Arbeit relevant sind. Dabei
stelle ich Merkmale und Darstellungsmuster in den Vordergrund, an denen
ich mich bei der Analyse der Spiegel-Beiträge und der Auswertung meiner
Analyseergebnisse orientiere.
Im Kapitel 2.2 erläutere ich die Bedeutung journalistischer Publikationen für
die Wirkungsmacht des orientalistischen Diskurses.
Im Kapitel 2.3 gebe ich einen Überblick über den wissenschaftlichen
Forschungsstand zum Islam-Bild in deutschen Nachrichtenmagazinen.
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Kapitel 2.1 – Was bedeutet Orientalismus?
Edward Said beschreibt Orientalismus als einen ideologischen Diskurs in
erster Linie westlicher Wort- und Schriftführer über den Orient7, der ein
ungleiches Machtverhältnis zwischen Westen und Orient konstituiert und bis
in die heutige Zeit aufrecht erhält (Said 2003a).8 Dabei werden drei zentrale
Prinzipien des Diskurses deutlich: Grundlegend für Orientalismus ist erstens
die Dichotomisierung, also die fundamentale Gegenüberstellung von Orient
einerseits und Westen andererseits – diese Dichotomie bezeichnet Said als
das zentrale Element des Orientalismus (ebd.:45).9 Dabei erfolgt, ausgehend
von einer Generalisierung sämtlicher Beobachtungen über den Orient
(ebd.:86), eine Essentialisierung, in der das „Wesen“ des Orients, aber auch
das der eigenen, westlichen Kultur, festgeschrieben wird (v.a. ebd.:104 ff.).
Die Untersuchung dieser Darstellungsmuster ist in mein
Forschungsinstrumentarium zur Analyse von Beiträgen des Spiegel über
Islam in Deutschland eingegliedert (s. Kapitel 3.1).
Said definiert vier „Dogmen“ des Orientalismus (ebd.:300 f.). Demnach
erscheint erstens der Orient als statisch, unterentwickelt, irrational und damit
dem fortschrittlichen, modernen, rationalen und aufgeklärten Westen
unterlegen (ebd.:300). Bei der Repräsentation und Rezeption des Orients
zieht der Orientalist zweitens Abstraktionen einer realitätsorientierten
Beweisführung vor (ebd.). Aus der Überzeugung, Orientalen seien aufgrund
mangelhafter Selbstreflexivität nicht in der Lage, sich selbst zu
repräsentieren, leiten Orientalisten drittens den Anspruch ab, für den Orient
zu sprechen und untermauern damit einen universellen Herrschaftsanspruch 7 Der Begriff „Orient“ muss in Hinblick auf Saids Theorie differenziert betrachtet werden: Einerseits bezeichnet er ein Territorium, dessen Grenzen jedoch nicht klar definiert sind (Said 2003a:116 f.), andererseits ist er eine „Idee“ (Said 2003a:5), ein „topos“ (ebd.:177), das mit Repräsentationen des vermeintlich Orientalischen aufgeladen und menschengemacht ist (ebd.:5). Beide Bedeutungen des Begriffs sind miteinander verbunden: die Idee umkleidet den Ort, der Ort impliziert die Idee in der westlichen Wahrnehmung. Hinzuzufügen ist, dass auch die Kategorie „westlich“ nicht eindeutig begrenzt und definiert werden kann. 8 Da ich an dieser Stelle nur eine knappe Skizze des orientalistischen Diskurses wiedergeben kann, lassen sich sehr abstrakte, allgemeine und zum Teil typisierende Darstellungen leider nicht vermeiden. Die Gefahr, dass dabei die handelnden Akteure in den Hintergrund treten, ist mir bewusst. Meine Leser bitte ich daher, den orientalistischen Diskurs nicht als Selbstläufer zu verstehen, sondern sich bewusst zu machen, dass dahinter individuelles Handeln steht. 9 Der Lesbarkeit halber gebe ich die Thesen Saids im Indikativ wieder. Die Verwendung des Konjunktivs wäre zwar korrekt, würde aber meiner Einschätzung nach das Verständnis des Textes beeinträchtigen und außerdem den Eindruck erwecken, ich wolle mich explizit von Saids Thesen distanzieren, was nicht der Fall ist.
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des Westens (Said 2003a:21). Die Darstellung des Orients als Hort der
Gefahr, die möglichst kontrolliert werden muss, hebt Said als viertes
„Dogma“ des Orientalismus hervor (ebd.:301). Bei meiner Untersuchung von
Beiträgen aus dem Spiegel orientiere ich mich an diesen Charakteristika von
Orientalimus.
Der westliche Orientalist als geschulter Experte ist demnach allein befähigt,
den Orient in seinem Wesen zu erfassen; ihm ist es vorbehalten, den Orient
und die dort lebenden Menschen zu definieren, charakterisieren,
lexikalisieren und seinem Urteil zu unterwerfen. Seine Generalisierungen
und Theorien über den Orient gelten als wissenschaftlich objektive
Wahrheiten (ebd:46). Ausgestattet mit dieser Definitionsmacht kann der
westliche Orientalist den mysteriösen (ebd.:44), in seiner Fremdheit
furchteinflößenden Orient „domestizieren“ (ebd.:78) und seiner westlichen
Rezipientenschaft nahe bringen (ebd.:60). Die Logik westlicher Dominanz
und damit der imperialistischen Macht im weitesten Sinne bestimmt auf diese
Weise den orientalistischen Diskurs. Auch dieses Merkmal des
Definitionsanspruchs ist ein Untersuchungskriterium meiner Analyse.
Said beschreibt Orientalismus als eine dreiseitig wirksame Kraft (ebd.:67). In
erster Hinsicht wirkt sie auf den Orient, weil er der Definitionsmacht und
Herrschaft des Westens unterworfen und für sein Anders-Sein moralisch
verurteilt wird. Orientalismus als Diskurs wirkt jedoch auch auf den
Orientalisten: Er ist den diskursiven Spielregeln seiner Disziplin unterworfen;
die Festlegung dessen, was gesagt werden kann und was nicht, kann er
innerhalb dieser Spielregeln nur geringfügig beeinflussen. In letzter Hinsicht
wirkt Orientalismus auf den westlichen „Konsumenten“, der darauf
angewiesen ist, sich auf die Definitionen und Erkenntnisse des Orientalisten
zu verlassen, wenn er etwas über den Orient erfahren möchte. Indem der
Orientalist lediglich das Bild seiner Rezipienten bestätigt (ebd.:65), wirkt der
Orientalismus als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung – sein
Gegenstand ist gleichzeitig sein Produkt, seine Untersuchungsergebnisse
bestätigen zwangsläufig seine Hypothesen. Selbst Abweichungen können –
mittels weiterer Essentialisierung – in das bestehende Orient-Bild integriert
werden (ebd.:102 f.). Was dabei herauskommt, ist ein Orient, wie er
sprichwörtlich „im Buche steht“ – jedoch ist in diesem Bild nicht mehr
9
erkennbar, welche Zensur oder Manipulation der Orientalist bei seiner Arbeit
vorgenommen hat (ebd.:129). Im Zuge meiner Analyse richte ich daher mein
Augenmerk auch darauf, ob Autoren Stereotype oder
Wiedererkennungseffekte einsetzen, um ihre Thesen zu untermauern.
Besondere Bedeutung misst Said dem „Islam-Orientalismus“ (ebd.:261) bei.
Diese Disziplin, die die fremde Religion als homogene, transzendentale
Instanz darstellt, betont die traditionelle Abgrenzung des christlichen
Okzidents gegen den „gefährlichen“ Islam (ebd.:260). „Der Islam“ gilt als
resistent gegen Modernisierung (ebd.:260 f.), und da sie das gesamte
orientalische Leben traditionell von den Prinzipien und Beschränkungen des
Islam durchwirkt sehen (ebd.:279), erheben die Islam-Orientalisten die
Kategorien „orientalisch“ und „abendländisch“ zu einem prinzipiellen
Gegensatz (ebd.:262 f.). Diesen Zweig des Orientalismus bezeichnet Said,
selbst in Vergleich mit anderen orientalistischen Disziplinen, als beispiellos
regressiv und ideologisch wie methodologisch rückständig (ebd.:261).
Aus Saids Hervorhebung des Islam-Orientalismus als moderner Ausprägung
orientalistischer Tradition (ebd.:260 f.) leite ich – neben meinem persönlichen
Interesse an der Repräsentation von Muslimen in Deutschland – meinen
Fokus auf Islam und Muslime bei meiner Analyse ab.
Das Fortwirken der zunehmend unsichtbaren und verinnerlichten Prinzipien
und Mechanismen des Orientalismus bis in die heutige Zeit ist für Said
ebenso aktuell wie brisant – elektronische Medien (ebd.:27) und Presse
(ebd.:108) sieht er als Multiplikatoren von modernem Orientalismus. In den
zeitgenössischen Orientalisten des 21. Jahrhunderts sieht Said die
ideologischen Zuarbeiter für die von den USA geführte Invasion in den Irak –
ein Krieg, den Said unmittelbar in die Tradition des westlichen Imperialismus
stellt (ebd.: xviii ). Noch deutlicher als in seinem Standardwerk „Orientalism“
wird Said in einem 2003 erschienenen Artikel in Le Monde diplomatique:
„Ohne das systematisch produzierte Gefühl, diese fernen Völker im Nahen
Osten seien nicht wie ‚wir’ und würden nicht ‚unsere’ Werte hochhalten – und
das genau macht den Kern des Orientalismus-Dogmas aus –, hätte es
keinen Krieg gegeben.“10
10 http://www.monde-diplomatique.de/pm/2003/09/12/a0005.text.name,askgc4jFO.n,10 (Datum des letzten Besuchs: 02.04.11)
10
Kapitel 2.2 – Wozu die Frage nach journalistischem Orientalismus?
Dass Orientalismus sich auch in journalistischen Texten manifestiert,
erwähnt Said bereits in seinem Standardwerk „Orientalism“ (Said 2003a:23).
In „Covering Islam“ (Said 1981) führt er die Rolle des Journalismus bei der
Darstellung von Islam für ein westliches Publikum detaillierter aus. Dabei
zeigt er auf, welche Wirkungsmacht Orientalismus in medialen Diskursen
entfaltet – die zentrale orientalistische These einer Dichotomie zwischen
„Orient und Okzident“ erscheint als ideologische Grundlage der damaligen
US-amerikanischen Berichterstattung über Islam (ebd.:40). Als Vertreter der
einen Seite dieser Dichotomie sieht Said westliche Journalisten in einem
kulturellen Konsens verhaftet, der Nachrichten definiert, ihren Inhalt und ihre
Darstellung bestimmt (ebd.:48 f.). Dabei behalten Journalisten zwar
grundsätzlich die Gestaltungsmacht über die Inhalte, die sie an ihre Leser
weitergeben – sie wählen aus, welche Informationen und Bilder sie publik
machen und mit welchen Mitteln sie sie darstellen (ebd.:46). Gerade in
komplexen Situationen, die das Verständnis westlicher Reporter und ihr von
Orientalismus geprägtes Islambild herausfordern, sieht Said jedoch die
Tendenz, dass Journalisten zugunsten stereotyper Bilder und Konzepte auf
eine kritische Auseinandersetzung mit dem Fremden verzichten (ebd.:xi f.).
Der kulturelle Konsens wirkt als „unsichtbare Linie“ (ebd.:49 f.), die den
Horizont von Journalisten insofern eingrenzt, als dass kritische,
faktenorientierte Recherche gar nicht notwendig erscheint (Hall
Jamieson/Waldmann 2003:1).
Neben dieser ideologischen Kongruenz lassen sich auch in der Methodik von
Journalisten und Orientalisten Parallelen feststellen: Genauso wie der
Orientalist ein „Porträt“ des Orients zusammenstellt (Said 2003a:151), indem
er bestimmte Ausschnitte aus seinen Beobachtungen als essentiell auswählt
und hervorhebt (ebd.:247), so wählt auch ein Journalist Beobachtungen und
Informationen, Szenen und Protagonisten aus, um seine Geschichte oder
Nachricht zu vermitteln. Er kann nicht einfach Realität wiedergeben, „so wie
sie ist“ (Said 1981:44). Er muss auswählen: Was ist wichtig, was ist
wesentlich – auch: welche Information ist vor dem Hintergrund eines
Jamieson/Waldmann 2003:xiii). Journalistische Texte sind demnach
mosaikähnliche Bilder der Realität, die zwar einerseits Neuigkeiten bergen,
andererseits aber auch grundsätzlich für wahr Befundenes bestätigen
(Nesbitt-Larking 2001:99). Der Journalist beachtet also herrschende
Ideologien und kulturelle Verstehensmuster bei der Auswahl der
Informationen, aus denen er seine Geschichte macht (Hall 1979).
Eine weitere Parallele zwischen Orientalismus und Journalismus liegt in der
Definitionsmacht beider Professionen begründet: Wie der Orientalist seine
westlichen Leser mit dem Orient „bekannt macht“ (Said 2003a:60), bereiten
auch Journalisten den Islam für ein westliches Medienpublikum auf (Said
1981:x f.). Hier spielt die gesellschaftliche Position der Medien eine wichtige
Rolle: Ihre Aufgabe ist es, Informationen und Debatten aus den
„Spezialdiskursen“ (Jäger 2004:15) der Politik, Wissenschaft, Kultur usw.
öffentlich zu machen und so in den Alltagsdiskurs ihrer Rezipienten zu
transportieren (Hall Jamieson/Waldmann 2003:xii). Auch der orientalistische
Diskurs wirkt sich nach Saids Definition auf mehreren Ebenen aus (Said
2003a:23). Als Kommunikatoren zwischen den verschiedenen
gesellschaftlichen Sphären scheinen die Medien also geradezu prädestiniert
dazu, auch orientalistische Diskurse und „Diskursfragmente“ (Jäger 2004:15)
zu verbreiten.
Die dreifache Wirkungsmacht der orientalistischen Tradition, die Said in
„Orientalism“ beschreibt (s. Kapitel 2.1), entfaltet sich so auch im medialen
Diskurs über Islam: Primär wirkt er sich auf Muslime aus, die durch
orientalistische Repräsentation der Deutungshoheit westlicher Journalisten
unterworfen und abgewertet werden (s. Kapitel 2.1). Zugleich werden auch
Journalisten durch den Diskurs festgelegt und eingeschränkt (Said 1981:49
f.). In dritter Hinsicht wirkt der Diskurs auf die Rezipienten von Medien, deren
Bild von Islam maßgeblich durch die journalistischen Repräsentationen, die
sich linientreu dem hegemonialen Diskurs über Islam anschließen,
beeinflusst wird (ebd.:161). Die Diskrepanz zwischen dem so konstruierten
Islambild und der gesellschaftlichen Verantwortung und Sorgfaltspflicht der
Medien führt Said explizit vor:
The success of this coverage can be attributed to the political influence of those people and
institutions producing it rather than necessarily to truth or accuracy.
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The result has been the triumph not just of a particular knowledge of Islam but rahter of a
particular interpretation which, however, has neither been unchallenged nor impervious to
the kinds of questions asked by unorthodox, inquiring minds.“ (ebd.)
Ziel meiner Arbeit ist es, genau diese kritischen Fragen an die
Berichterstattung des Spiegel heranzutragen, indem ich die beschriebenen
Auswirkungen von Orientalismus auf den journalistischen Diskurs über Islam
in meiner Analyse der ausgewählten Artikel des Magazins über Muslime in
Deutschland überprüfe.
Kapitel 2.3 – Stand der Forschung
Welche Forschungsergebnisse liegen bislang zur Darstellung des Themas
„Islam in Deutschland“ im Nachrichtenmagazin Der Spiegel vor? Zunächst ist
festzustellen, dass es keine aktuellen Studien11 gibt, die genau mein
Forschungsvorhaben widerspiegeln. Es existieren jedoch einige
Forschungen, die sich im diskursiven Umfeld meines Forschungsthemas
ansiedeln lassen. Zu nennen sind die Diskursanalyse von Alexander Görlach
zur Berichterstattung über den Karikaturen-Streit in deutschen Printmedien
(Görlach 2009), Cosima Liviana Krögers Untersuchung der Magazine
Spiegel und Fokus in Hinblick auf das Thema „Religion“ (Kröger 2008), Maria
Röders Studie zum Bild der Muslima im Spiegel (Röder 2007), Bernadette
Kneidingers Vergleich der Golfkrieg-Berichterstattung in Spiegel und Focus
(Kneidinger 2005), die Studie von Kai Hafez zum „Nahost- und Islambild in
der deutschen überregionalen Presse“ (Hafez 2002), der Beitrag von
Thomas Kliche, Suzanne Adam und Helge Jannik mit einer Diskursanalyse
zur Konstruktion von „Islam“ im Spiegel im Sammelband „Politische
Psychologie der Fremdenfeindlichkeit – Opfer – Täter – Mittäter“
(Kliche/Adam/Jannik 1999), die Analyse des Islambilds im Spiegel von Detlef
Thofern (Thofern 1998), sowie Michael Vogts Beitrag zum Islambild im
11 Ich habe mich bei der Suche nach passender Literatur nicht strikt an die Richtlinie gehalten, nach der aktuelle Literatur nicht älter als zehn Jahre sein sollte, um nicht einzelne Publikationen zu übersehen, die trotz ihrer Inaktualität interessante Hinweise liefern. Die älteste hier berücksichtigte Publikation stammt aus dem Jahr 1996.
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Spiegel in der Anthologie „Sichtbares und Unsichtbares – Facetten von
Religion in deutschen Zeitschriften“ (Vogt 1996). 12
Der wichtigste Unterschied dieser Forschungen zu meiner Untersuchung
besteht darin, dass die zur Analyse ausgewählten Spiegel- Beiträge teilweise
oder ganz aus dem Bereich der Auslandsberichterstattung stammen. Sie
klammern also die Berichterstattung über das Thema „Islam in Deutschland“
entweder komplett aus oder behandeln sie nur als Ausschnitt eines viel
umfassenderen Materialfundus. Zudem wurden bisher vorwiegend Spiegel-
Beiträge untersucht, deren Veröffentlichung mehrere Jahrzehnte zurückliegt
und die daher nicht mehr als Zeugnisse des aktuellen Islam-Diskurses im
1998; Vogt 1996). Dies ist vor allem deshalb der Fall, da die Terroranschläge
des 11. September 2001 außerhalb des jeweiligen Untersuchungszeitraums
liegen – dieses besonders starke „diskursive Ereignis“ (Jäger 2004:162 f.)
markiert einen Einschnitt sowohl in der Wahrnehmung als auch der
Darstellung des Thema Islam durch westliche Medien (Zelizer/Stuart 2002).
Zudem wurden in einigen der erwähnten Studien mehrere Printmedien
zugleich untersucht, wodurch die Besonderheiten des Spiegel nicht immer
klar in den Forschungsergebnissen erkennbar sind (Hafez 2002; Kneidinger
2005; Kröger 2008). Abgesehen von den Unterschieden zu meiner Studie,
die sich auf die Materialauswahl beziehen, variieren auch die Themen und
damit die Erkenntnisinteressen der aufgeführten Studien. Der Bezug auf die
Orientalismus-Theorie, die in meiner Untersuchung eine wichtige Rolle spielt,
kommt nur bei Hafez, Röder, Thofern und Vogt vor. Die Methode der
kritischen Diskursanalyse wenden nur Kliche, Adam und Jannik sowie
Görlach an.
Dennoch liefern die Ergebnisse dieser unterschiedlichen Studien
interessante Hinweise für meine Forschung, weshalb ich einige Befunde
wiedergeben möchte:
12 Weitere Beiträge zum Thema finden sich in der von Bärbel Röben herausgegebenen Anthologie „Verwaschen und verschwommen – fremde Frauenwelten in den Medien“ (Röben 1996), in dem Reader „’Heiliger Krieg’ gegen den Westen. Das Gewaltbild des Islam in der deutschen Presse“ von Kai Hafez (Hafez 1996) oder in dessen Aufsatz „Antisemitismus, Philosemitismus und Islamfeindlichkeit: ein Vergleich ethnisch-religiöser Medienbilder“ (Hafez 1999). Da in diesen Beiträgen jedoch kein eigenständiger wissenschaftlicher Forschungsanspruch erkennbar ist, klammere ich sie in diesem Kapitel zum aktuellen Stand der Forschung aus.
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Zum ersten fällt auf, dass alle Studien dem Spiegel eine deutliche Tendenz
zur negativen Generalisierung und Stereotypisierung attestieren, und zwar
nicht nur angesichts von Beiträgen aus vergangenen Jahrzehnten (Görlach
In den Forschungsergebnissen der oben aufgeführten Studien finden sich
demnach verschiedene Merkmale orientalistischer Darstellungsmuster
wieder (s. Kapitel 2.1). Auch wenn die unterschiedlichen
Forschungsvariablen keine direkte Antwort auf meine Forschungsfrage zu
orientalistischen Darstellungen bei der Berichterstattung über Islam in
Deutschland zulassen, zeichnet sich dennoch eine grundsätzliche
ideologische Verwurzelung des Spiegel im orientalistischen Diskurs ab.
16
Kapitel 3 – Die Analyse
In den folgenden Kapiteln stelle ich die Ergebnisse meiner Strukturanalyse,
das Dossier und meinen Interpretationsschlüssel sowie die Ergebnisse der
Feinanalyse vor. Das Kapitel 3.1 beginnt mit einer Erläuterung der Kriterien,
an denen ich das Thema „Islam in Deutschland“ festmache – nach diesen
Kriterien richtet sich die Auswahl der Spiegel-Beiträge für die
Strukturanalyse. Die Ergebnisse der Strukturanalyse untergliedere ich in die
Auflistung quantitativer Befunde wie die Zahl der untersuchten Artikel sowie
die Zahl und Häufigkeit der darin vorkommenden Themen und Unterthemen
und in einige qualitative, vorläufige Befunde, die sich aus der Anschauung
des Materials ergeben. In Kapitel 3.2 stelle ich das aus der Strukturanalyse
gewonnene Dossier von Artikeln vor, die ich für die Feinanalyse auswähle.
Zudem führe ich in dem Kapitel meinen Schlüssel mit elf
interpretationsleitenden Fragen auf und erläutere die Zielrichtung der
einzelnen Fragen in Hinblick auf mein Forschungsinteresse. In Kapitel 3.3
fasse ich die Ergebnisse der Feinanalyse zu jedem einzelnen Artikel des
Dossiers in Unterkapiteln zusammen.
Die Vielschichtigkeit und Breite des Diskurses zum Thema „Islam in
Deutschland“, der schon in der Strukturanalyse deutlich wird, zwingt mich zu
einer umfangreichen und kleinteiligen Analyse und einer Auswertung des so
entstandenen Materialkorpus’ in mehreren Schritten. Um den vorgegebenen
Umfang meiner Magisterarbeit einzuhalten, muss ich also meine Ergebnisse
stark raffen – für die „Entstehungsgeschichte“ meiner Erkenntnisse lässt die
Arbeit keinen Raum. Das Problem, das dadurch für die Leser meiner Analyse
entsteht, fassen Thomas Kliche, Suzanne Adam und Helge Jannik treffend
zusammen:
„DA [Diskursanalyse, Zusatz von A.T.] steht (...) im Dilemma zwischen Plausibilisierung und
Darstellungsökonomie. Die Ergebnisse können vorgestellt, nicht aber alle Beweise (...)
ausgebreitet werden. Die angeführten Beispiele sind nicht die vollständige Interpretation; sie
illustrieren, sie beweisen nicht.“ (Kliche/Adam/Jannik 1999:309)
Um dennoch annähernd transparent zu machen, wie ich zu meinen
Ergebnissen komme, füge ich die Text-Steckbriefe aus der Strukturanalyse,
17
meine Notizen aus der Feinanalyse und die Interpretation dieser Notizen
anhand des Schlüssels dem Anhang in digitaler Form auf einer CD bei.
Diese Daten sind jedoch nicht als erweiterte Version meiner
wissenschaftlichen Aufbereitung der Analyse zu verstehen – sie sind rohe
Notizen, die den Prozess meiner Auseinandersetzung mit dem
Forschungsgegenstand dokumentieren. Die Inhalte sind dementsprechend
nicht immer deckungsgleich mit meinen letztendlichen Ergebnissen: Im Zuge
der Analyse habe ich einzelne Befunde verworfen, in anderen Fällen kamen
neue Erkenntnisse dazu. Auch enthalten die Notizen gelegentlich Verweise
auf meine persönlichen Empfindungen bei der Arbeit, die für die
Beantwortung meiner Forschungsfrage nicht relevant und somit nicht in die
Ausarbeitung der Analyseergebnisse einflossen sind.
Kapitel 3.1 – Die Methode
Für die Analyse der ausgewählten Spiegel-Beiträge verwende ich die
kritische Diskursanalyse nach Siegfried Jäger (Jäger 2004), die der Sprach-
und Sozialwissenschaftler erstmals 1993 vorstellte. Jäger stellt damit ein
methodologisches Verfahren bereit, das von denselben diskurstheoretischen
Grundlagen ausgeht wie Said in seiner Orientalismus-Theorie; für beide
spielt der Diskursbegriff Michel Foucaults eine zentrale Rolle:
Diskurse sollen hier – vorläufig formuliert - als eine artikulatorische Praxis begriffen werden,
die soziale Verhältnisse nicht passiv repräsentiert, sondern diese als Fluß [sic] von sozialen
Wissensvorräten durch die Zeit aktiv konstituiert und organisiert. [Fußnote:] Mit dieser
Bestimmung orientiere ich mich strikt an Foucaults Verständnis von Diskurs. (Jäger 2004:23,
Zusatz von A.T.)
I have found it useful here to employ Michel Foucault’s notion of a discourse, as described
by him in The Archeology of Knowledge and in Discipline and Punish, to identify Orientalism.
(Said 2003a:3, kursiv im Original)
Entsprechend beschreiben beide dasselbe Verhältnis von Text und Diskurs.
Texte gelten als „gesellschaftliche Produkte“ (Jäger 2004:24; Said
2003a:xxix). Jäger begreift Texte als „Fragmente von Diskursen“ (Jäger
18
2004:13), die auch als individuelle Sprachhandlungen einzelner Sprecher
oder Schreiber immer in einem gesellschaftlichen Zusammenhang zu
betrachten sind (ebd.:15). Der einzelne Text steht also nicht für sich, sondern
im Zusammenhang mit weiteren Texten, die sich um einen Gegenstand
gruppieren und so die Wahrnehmung dieses Gegenstandes maßgeblich
mitgestalten. Diesen Zusammenhang beschreibt auch Said in seinem Buch
„Orientalism“, in dem er einzelne Texte als repräsentative „Fragmente“ des
gesamten orientalistischen Diskurses klassifiziert (Said 2003a). Die
Annahme, dass der Diskurs „Handeln bestimmt und verfestigt und also auch
schon Macht ausübt“ (Link 1983a, zit. nach Jäger 2004:128), spielt ebenfalls
für die kritische Diskursanalyse wie für die Orientalismuskritik eine
elementare Rolle. Angesichts dieser diskurstheoretischen Parallelen
zwischen Jäger und Said bietet sich die kritische Diskursanalyse zur
Untersuchung orientalistischer Repräsentationen an. Entscheidend ist für
mich zunächst nicht die ideologische Bewertung des Diskurses, sondern
dass die theoretischen Grundannahmen und damit auch die Bedeutung, die
den Analyseergebnissen beigemessen wird, bei Jäger und Said insofern
gleich sind, als dass sie auch einzelnen Texten eine gesamtgesellschaftliche
Wirksamkeit beimessen. Dennoch gehe ich davon aus, dass letztendlich
auch der Anspruch der kritischen Diskursanalyse, auf gesellschaftliche und
politische Verhältnisse einzuwirken, indem „das je anders Mögliche benannt
und das vermeintlich Selbstverständliche infragegestellt [sic]“ wird (Jäger
2008:9), einen fruchtbaren Ansatz für mein Forschungsvorhaben darstellt.
Die kritische Diskursanalyse eignet sich für die Untersuchung von Medien, da
sie über die Analyse der formal-sprachlichen Merkmale des Textes hinaus
auch die „transportierten Inhalte und Vorstellungen“ (Jäger 2004:14)
berücksichtigt. Ich frage also nicht nur danach, wie etwas sprachlich
dargestellt wird, sondern auch, welche Informationen und Assoziationen das
Magazin an seine Leser weitergibt. Diese doppelte Ausrichtung kommt
beiden Aspekten meiner Forschungsfrage – Wie stellt der Spiegel das
Thema „Islam in Deutschland“ dar und wie positioniert er sich damit zum
orientalistischen Diskurs – entgegen.
In den folgenden Kapiteln sollen nun die ausgewählten Spiegel-Beiträge als
Zeugnisse eines gesellschaftlichen Diskurses und als Festschreibungen
19
sozial anerkannten „Wissens“ untersucht werden. In der Terminologie Jägers
bedeutet das: Ich möchte den „Diskursstrang“ zum Thema „Islam in
Deutschland“ anhand einzelner „Diskursfragmente“, also einzelner
Textbeiträge, deren Veröffentlichungszeitpunkte zwischen den „synchronen
Schnitten“ Beginn 2006 und Ende 2008 liegen, auf der „Diskursebene“ der
Medien, genauer gesagt auf der Diskurslinie13 des Nachrichtenmagazins Der
Spiegel, untersuchen mit dem Ziel, die „Diskursposition“ des Magazins in
Hinblick auf den „hegemonialen“ Diskurs des Orientalismus zu ermitteln.
Mit diesem Vorhaben klammere ich einige Instrumente der kritischen
Diskursanalyse aus, die für umfassendere Forschungsprojekte vorgesehen
sind. Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Medien oder
Diskursebenen (etwa zwischen medialer Ebene und Alltagsdiskurs) kann ich
im Rahmen meiner Forschung nicht untersuchen. 14 Von Analyseschritten, in
denen die „Genealogie“ des Diskursstranges ermittelt werden könnte (Jäger
2004:201), um daraufhin Prognosen über weitere Entwicklungen aufstellen
zu können (ebd.:169), sehe ich ebenfalls ab.
Diese Auslassungen wirken sich auf mein Forschungsinstrumentarium aus:
Untersuchungen zur früheren Spiegel-Berichterstattung zum Thema „Islam in
Deutschland“ oder zu Wechselbeziehungen zwischen thematisch
verschiedenen Beiträgen (ebd.:176), Untersuchungen zum allgemeinen
„diskursiven Kontext“ (ebd.:190) sowie eine „synoptische Analyse“ mehrerer
Medien (ebd.:194) erübrigen sich. Da die meisten Spiegel-Beiträge von
mehreren Autoren verfasst werden und der individuelle Einfluss kaum
nachvollziehbar ist, verzichte ich auch auf Recherchen zu einzelnen Autoren
(ebd.:177).
Durch diese Modifizierungen werde ich also nicht alle Mittel der kritischen
Diskursanalyse ausschöpfen, sondern mich gezielt der Werkzeuge bedienen,
die mir in Hinblick auf mein Erkenntnisinteresse sinnvoll erscheinen.
13 Der Begriff „Diskurslinie“ stammt nicht von Jäger, sondern ist von mir zusätzlich eingeführt worden. Da der Terminus „Diskursebene“ nach Jägers Definition nur auf das gesamte Medienspektrum anwendbar ist (Jäger 2004:117, 164), identifiziert der Begriff „Diskurslinie“ ein einzelnes Medium, das, um bei dem geometrischen Bild Jägers zu bleiben, mit anderen Diskurslinien die Diskursebene formt. 14 Publikationen anderer Medien, die ich ggf. hinzuziehen werde, um das Bild des Spiegels zu relativieren oder einen alternativen stilistischen und inhaltlichen Umgang mit dem Thema aufzuzeigen, sollen nur am Rande eine Rolle spielen.
20
Im Gegenzug erweitere ich das Instrumentarium, indem ich konkrete
Befunde aus Saids Untersuchungen (Said 2003a; Said 1981) als zusätzliche
Analysekriterien aufnehme. So möchte ich etwa bei der Untersuchung der
Text-Oberfläche auch den Umgang mit Quellentexten oder
Expertenmeinungen berücksichtigen und die einzelnen Beiträge gezielt auf
Generalisierungen, Essentialisierungen und Dichotomien hin überprüfen.
Damit berücksichtige ich den Hinweis Jägers, dass
(...) die gewählte Methodologie von den vorausgesetzten theoretischen Grundannahmen
jeweils abhängig ist und in Auseinandersetzung mit den zu untersuchenden Gegenständen
weiter modifiziert werden muss. (Jäger 2004:56)
Kapitel 3.2 – Ergebnisse der Strukturanalyse
In der strukturierenden Voranalyse untersuche ich sämtliche Beiträge des
Spiegel der Jahrgänge 2006 bis 2008, in denen erstens Muslime im
Vordergrund stehen und zweitens deren muslimische Identität und ihr Leben
und Wirken in Deutschland eine signifikante Rolle spielen. Anhand dieser
Kriterien definiere ich das Thema „Islam in Deutschland“. In einigen Fällen ist
die Bestimmung eine Gratwanderung: In den zahlreichen Beiträgen über den
Fall Murat Kurnaz etwa verschiebt sich die Debatte von der Hauptfigur
Kurnaz hin zu Frank-Walter Steinmeier, dessen Verantwortung als
Kanzleramtschef und Außenminister zunehmend in den Fokus rückt
(Nr.4/2007, S. 34 ff.; Nr.5/2007, S. 32 ff.). Eine ähnliche Verschiebung ist in
der Berichterstattung über die Berliner Rütli-Schule zu beobachten, in der
Anfangs muslimische Schüler im Vordergrund stehen (Nr.14/2006, S. 22 ff.),
wobei sich der Diskurs später auf Krisenmanagement an Schulen allgemein
ausweitet (Nr.15/2006, S.38). Besonders schwierig ist die Einordnung von
Texten, in denen eine muslimische Identität der Protagonisten eher
suggeriert als belegt wird (Nr.38/2007, S. 58 ff.; Nr.41/2007, S. 74;
Nr.6/2008, S. 12; Nr.8/2008, S. 70) – in den meisten dieser Fälle, in denen es
häufig um Gewalt oder soziale Probleme geht, sehe ich von der Aufnahme in
den Materialkorpus ab, um nicht der Suggestion aufzusitzen, hinter den
21
beschriebenen Problemfällen würden sich vorwiegend Muslime verbergen.15
Nach dieser Auswahl umfasst der Materialkorpus 122 Beiträge und
insgesamt ca. 250 Seiten Text.
Bei der Strukturanalyse erfasse ich Titel, Länge, Inhalt, Genre16, die
wichtigsten Themen und Unterthemen, Verschränkungen mit anderen
Diskurssträngen und die Kernaussage eines Textes in einem Steckbrief und
versehe ihn mit einer Quellenangabe; zudem finden sich in den Text-
Steckbriefen gelegentliche Anmerkungen zu den einzelnen
Untersuchungskriterien.17 In die Kategorie „wichtigste Themen“ fallen dabei
diejenigen Themen, die bei einer Zusammenfassung der wesentlichen
Textaussagen zutage treten. Als „wichtigste Unterthemen“ gelten mir die
Themen, die bei einer verfeinerten Ausführung der Textaussagen auftreten
oder „nebenbei“ gesagt, angedeutet oder hinzugefügt werden. Unterthemen,
die nur knapp angerissen werden, die jedoch Assoziationen hervorrufen und
so die Wahrnehmung des Berichteten lenken oder beeinflussen, stehen in
Klammern. Die Gewichtung eines Themas richtet sich nach meinem
Forschungsinteresse. Eine gesonderte Auflistung von Kollektivsymbolen
schien mir wegen des Umfangs und der thematischen Diversität der Texte
nicht sinnvoll.
Insgesamt lassen sich 63 Themen und Unterthemen herausarbeiten (die
Zahlen geben die Häufigkeit in Prozent an):
Justiz/Behörden 81 international. Kampf gegen Terror 17 Familie 66 Parallelgesellschaft 16 Glaube 65 Frauen im Islam 15 Gewalt/Gewaltverbrechen 63 Konversion 15 zwei Welten 57 interkultureller Dialog 14 Integration 54 Kopftuch 14 Islamismus 54 Überwachung 12 Terrorismus 52 Kunst/Kultur 11 Politik 46 islamisches Recht/Scharia 11 Werte 44 Ehrenkodex 10 Sprache 40 Kampf der Kulturen 10
15 Auch die Steckbriefe der ausgesonderten Texte sind dem Anhang beigefügt. 16 Eine eindeutige Bestimmung des Genres ist nicht immer möglich (vgl. Kapitel 1); die Angaben in den Text-Steckbriefen sind daher als ungefähre Einordnung zu verstehen. 17 Diese Anmerkungen habe ich bewusst stehen lassen, um meine Reflexionen und Entscheidungsprozesse transparent zu machen.
22
Emotionen 36 Kriminalität 10 Bildung 36 Terror-Ausbildung im Ausland 10 Identität 33 Moscheen in Deutschland 10 soziale Ungleichheit 32 Zwangsheirat 9 innere Sicherheit 32 Guantanamo 9 Jugendliche 29 Jugendliche/Kinder 9 Bürokratie 28 Patriarchat 8 Dschihad 27 Abschottung 8 Verfassungsschutz 27 Ghettoisierung 8 Diplomatie 26 Nationalismus 7 Schule 25 Sport 6 Geheimdienste 25 Rechtsextremismus 6 Unterdrückung 24 Rechtsstaat 6 Diskriminierung 23 Ehrenmord 6 Al Qaida 22 Karikaturenstreit 4 muslimische/türkische Organisationen 19 Militär 4 Bedrohung 19 Meinungsfreiheit 3 Eskalation 18 Gesundheit 3 Türken in Deutschland 18 Wissenschaft 1 Internet/virtuelle Räume 18 Verhältnis von Staat und Religion 1 Arbeit/Wirtschaft 17
Die verhältnismäßig hohe Anzahl der Themen und Unterthemen liegt meiner
Einschätzung nach darin begründet, dass ich mit dem Fokus auf Muslime in
Deutschland nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfasse;
hier zeichnet sich ab, wie weit der Mediendiskurs über Islam verzweigt ist
und welches Wirkungspotenzial er durch seine Vielschichtigkeit entfaltet.
Zugunsten dieser Vielschichtigkeit verzichte ich weitgehend auf Raffungen
und Vereinfachungen. In bestimmten Fällen (etwa dem Thema „Arbeit /
Wirtschaft“ oder „Justiz / Behörden“) ist eine Raffung deshalb sinnvoll, weil
eine Auflistung etwa von einzelnen Berufsgruppen oder einzelnen Behörden
keine bedeutende inhaltliche Differenzierung bewirkt hätte. Die
Hervorhebung einzelner, auf den ersten Blick sehr partikular wirkenden
Themen wie „Kopftuch“ oder „Guantanamo“ entspricht der prominenten
Position dieser Schlüsselbegriffe innerhalb des Diskurses. So ergeben sich
Themen von unterschiedlichem Abstraktionsgrad, die jedoch die inhaltlichen
Schwerpunkte der untersuchten Texte widerspiegeln.
Bei der Voranalyse zeichnen sich grob zwei Themenfelder ab: Einerseits das
Themenfeld „Integration“, andererseits „Islamismus“. Beiden Themenfeldern
23
sind wiederum Beiträge mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten
zuzuordnen – so fallen etwa Beiträge über Schule, Jugendliche,
Zwangsheirat, interkulturellen Dialog oder Sprache eher in das Themenfeld
„Integration“, wohingegen Beiträge über Terroristen, innere Sicherheit,
Dschihad oder internationale Terrorismusbekämpfung dem Themenfeld
„Islamismus“ zuzurechnen sind. Obwohl das Feld „Integration“ inhaltlich
heterogener ist als das Feld „Islamismus“, ist die quantitative Verteilung
ungefähr gleich. Die beiden Themenfelder sind jedoch nicht als getrennte
Einheiten zu sehen – einige Themen wie Familie, Glaube, Justiz / Behörden,
zwei Welten oder Gewalt / Gewaltverbrechen kommen sowohl in
„Integrations-Texten“ als auch in „Islamismus-Texten“ vor, was auch die
Häufigkeit dieser Themen bzw. Unterthemen erklärt.
Obschon eine sprachliche Untersuchung der Beiträge in der Strukturanalyse
noch sehr oberflächlich erfolgt, lassen sich bereits einige vorläufige Befunde
festhalten:
Zunächst stelle ich fest, dass sich Stil und Sprachgestus von Beitrag zu
Beitrag teilweise erheblich unterscheiden – in einigen Artikeln wird offen
polemisiert und Stimmung geschürt (Nr.40/2006, S. 40 ff.; Nr.13/2007, S. 22
ff.), andere Artikel sind wiederum einfühlsam, aber distanziert geschrieben,
ohne dass offenkundig gewertet oder Partei ergriffen würde (Nr.45/2006, S.
68 ff.).
Die Dichotomisierung von deutscher Gesellschaft und muslimischer bzw.
muslimisch geprägter Tradition ist auffallend präsent. Oft geht es dabei um
Konfliktfälle, in denen Einzelpersonen zwischen die vermeintlichen Fronten
geraten (Nr.4/2006, S. 62 ff.; Nr.22/2008, S.62 ff.), oder in denen sich zwei
Parteien gegenüberstehen – meist Muslime auf der einen und Deutsche auf
der anderen Seite (Nr.20/2006, S.44 ff.; Nr.12/2007, S. 86; Nr.33/2008, S.
59), manchmal aber auch integrationswillige Muslime auf der einen und
traditionalistische Muslime auf der anderen Seite (Nr.11/2008, S. 135;
Nr.15/2008, S. 102 ff.; Nr.35/2008, S.56 ff.). Als charakteristisch für die „zwei
Welten“ erscheint eine profunde Diskrepanz von Werten und Kultur. Diese
Kluft zu überwinden scheint dem Tenor der Spiegel-Beiträge zufolge das Ziel
von Integration. Bei der Beschreibung muslimischer Traditionen fällt auf,
dass die Familie oft als Hort traditioneller Werte und damit als Bremsklotz für
24
Integration dargestellt wird (Nr.15/2006, S. 40; Nr.17/2006, S. 80 ff.;
Nr.34/2007, S. 52 ff.). Muslimische Mädchen und Frauen treten in Texten, in
denen „Frauen im Islam“ Thema sind, vorwiegend als Benachteiligte oder
Unterdrückte auf (Nr.37/2006, S. 83; . Nr.38/2006, S. 85 ff.; Nr.13/2007, S.
22 ff.). Muslimische Verbände erscheinen meist offensiv (Nr.28/2006, S. 44
f.) (Nr.9/2007, S. 122 f.) (Nr.19/2007, S. 34 ff.), Konkurrenz oder Streit unter
Türken wird mit militant anmutenden Worten („Türkenkrieg“) beschrieben
(Nr.7/2006, S. 50; Nr.24/2006, S. 148 f.).
Auch als Opfer von Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung spielen
Muslime eine Rolle (Nr.17/2008, S.62; Nr.21/2008, S. 52 f.). Gegenüber
deutschen Behörden und politischen Instanzen nimmt der Spiegel vor allem
beim Thema „internationaler Kampf gegen den Terror“ und bezüglich der
Sicherheitspolitik des Innenministers Schäuble eine kritische Haltung ein;
muslimische Terrorverdächtige wie Murat Kurnaz oder Mohammed Zammar
treten als Opfer irrationaler und rechtswidriger Sicherheitsmaßnahmen in den
Mittelpunkt (Nr.2/2006, S. 42 f.; Nr.10/2006, S. 38; Nr.25/2006, S. 58 ff.).
Auffallend bei der Voranalyse des Materials ist auch der Umgang mit
bestimmten ideologischen Begriffen – so taucht etwa der umstrittene Begriff
„Kampf der Kulturen“ (Huntington 2002) häufig auf, bisweilen auch an
prominenter Stelle in der Überschrift oder Unterzeile, ohne dass die Autoren
auf die politische und ideologische Prägung dieses Begriffs hinweisen
(Nr.4/2006, S. 62 ff.; Nr.38/2006, S. 85 ff.; Nr.45/2006, S. 68 ff.; Nr.13/2007,
S. 22 ff.; Nr.13/2007, S. 26 f.). Der „Kampf der Kulturen“ erscheint so als
objektiv feststellbarer Sachverhalt. Ferner werden maßgebende Begriffe wie
„Islamismus“ bzw. „Islamisten“ oder„Islam-Fundamentalisten“ (Nr.13/2007, S.
22 ff), „Hasspredigten“ (Nr.12/2006, S. 58 ff.), „Hass-Seiten“ (Nr.42/2006, S.
32 f.) oder „Hass-Demonstranten“ (Nr.30/2006, S. 94 f.) nicht definiert oder
erklärt, wirken aber aufgrund ihrer eindeutig negativen Färbung
stigmatisierend oder diffamierend (Nr.23/2006, S. 44). Auch von Experten,
die sich solcher Schlagworte in Interviews bedienen, wird keine erläuternde
Definition eingefordert (Nr.40/02.10.06, S. 47 ff.).
Zudem fällt mir auf, dass Implikationen und Suggestionen auf die Darstellung
des Themas „Islam in Deutschland“ einwirken. So wird der muslimischen
Identität von Protagonisten oder Gruppen bisweilen eine erhebliche
25
Bedeutung beigemessen, ohne dass erläutert wird, welche Bedeutung diese
Identität für den beschriebenen Sachverhalt hat; dies ist besonders in
Beiträgen zu beobachten, in denen Jugendkriminalität oder –Gewalt eine
zentrale Rolle spielen (Nr.14/2006, S. 22 ff.; Nr.29/2006, S. 38 ff.;
Nr.32/2006, S. 66 ff.; Nr.50/2007, S. 138).
Zusammenfassend lässt sich also nach einer ersten, oberflächlichen
Untersuchung eine Tendenz zur Dichotomisierung von deutscher
Gesellschaft und Islam beobachten. Außerdem ist bei der Darstellung von
Muslimen die Verwendung von negativen Schlagworten, Implikationen und
Suggestionen feststellbar.
Diese Beobachtungen stellen für sich genommen keine Grundlage für die
Formulierung wissenschaftlich valider Ergebnisse dar; sie sind als
Nebenprodukte der strukturierenden Voranalyse zu betrachten und fließen
als solche in die Gesamtinterpretation der Analyse ein.
Kapitel 3.3 – Dossier und Interpretationsschlüssel
Das aus der Strukturanalyse gewonnene Dossier umfasst acht Beiträge und
insgesamt rund 22 Seiten Text. Die zur Feinanalyse ausgewählten Beiträge
sind folgende:
„Der innerste Ring“ (Nr.46/2007, S. 56 ff.). Ein Bericht mit über den
Terrorverdächtigen Attila Selek, dem eine Mittäterschaft bei den
vereitelten Anschlagsplänen der sogenannten islamistischen Sauerland-
Gruppe vorgeworfen wird. Der Autor stellt die Vorwürfe der Fahnder den
Aussagen des Verdächtigen gegenüber.
„Angst vor dem Befreiten“ (Nr.2/2006, S. 42 f.). Hauptfigur ist der
Guantanamo-Häftling Murat Kurnaz aus Bremen. Im Fokus des Berichts
steht das zwiespältige Verhältnis des deutschen Staates zu Kurnaz –
einerseits bemüht sich die Bundesregierung um seine Freilassung,
andererseits gilt er den Sicherheitsbehörden als Gefahr für die innere
Sicherheit.
26
„,Kaum verhüllte Drohung’“ (Nr.39/2008, S. 36 ff.). Ein Magazinbericht über
den Konflikt zwischen freier Wissenschaft und religiösem Dogmatismus.
Im Mittelpunkt steht der deutsche muslimische Wissenschaftler
Muhammed Sven Kalisch, der wegen seiner Thesen angeblich mit dem
Tod bedroht wird.
„Die Integrierten (Nr.27/2007, S. 58 ff.). Die Magazinstory schildert die
Integrationsgeschichte türkischer Migranten in Deutschland zu
verschiedenen Epochen. Eine besondere Rolle misst die Autorin dem
Islam bei.
„Das Wunder von Marxloh“ (Nr.1/2007, S. 40 ff.). Der Autor der Magazinstory
schildert das friedliche und konstruktive Zusammenleben von Katholiken
und Muslimen in Duisburg-Marxloh als sozialen Ausnahmefall.
„Die Freiheit der anderen“ (Nr. 7/2007, S. 80). Die Milieureportage befasst
sich mit dem Gerichtsfall eines kurdischen Vaters, der angeblich seine
Tochter ermorden lassen wollte. Der Autor richtet den Fokus auf den
Wertekonflikt zwischen der muslimischen Familie und dem deutschen
Rechtsstaat.
„Schlesische Schlachten“ (Nr.50/2007, S. 138) – eine Milieureportage über
Jugendliche aus Berlin-Kreuzberg, die brutale Straßenkämpfe als
Sportereignisse austragen. Der Autor präsentiert eine von muslimischen
Werten geprägte, abgeschottete „Ghettokultur“, die sich dem Einfluss der
Polizei entzieht.
„Das Phantom der Oper“ (Nr.40/2006, S. 40 ff.). Ein stark meinungsgefärbter
Artikel anlässlich der Absetzung der Oper „Idomeneo“ in Berlin aus Angst
vor einem Terroranschlag. Die Autoren kritisieren eine kollektive
Geisteshaltung der Deutschen im Angesicht einer angeblichen
Bedrohung der deutschen Kultur durch „Islamismus“ und Muslime.
27
Diese Artikel unterziehe jeweils einer umfassenden Feinanalyse. Um das aus
der Feinanalyse gewonnene Datenmaterial auszuwerten, setze ich einen
Interpretationsschlüssel, bestehend aus elf Fragen, an:
• Erscheinen Muslime als Individuen oder als Kollektive?
• Welche Rolle spielen Muslime im Text?
• Welche Bedeutung hat der Islam / ihre Zugehörigkeit zum Islam für
• diese Rolle?
• Wie werden Muslime / der Islam charakterisiert?
• Erscheinen Deutsche als Individuen (in welcher Rolle?) oder als
Kollektive
• Wie wird die deutsche Gesellschaft dargestellt?
• In welchem Verhältnis stehen Muslime / der Islam und Deutsche / die
deutsche Gesellschaft?
• Welches Konzept von Integration liegt vor?
• Manifestieren sich Machtansprüche? Wie werden sie bewertet?
• Welche funktionale Rolle nehmen Magazin bzw. Autoren im Diskurs
ein
• Worüber beanspruchen die Autoren Deutungshoheit? Für wen
sprechen sie?
Diese elf interpretationsleitenden Fragen dienen dazu, das Datenmaterial in
Hinblick auf die von Said beschriebenen orientalistischen Darstellungsmuster
hin zu überprüfen (s. Kapitel 2.1). Die ersten vier Fragen richten den Fokus
auf eventuelle Generalisierungen oder Essentialisierungen von Muslimen
und sind darauf ausgelegt, eventuelle Stereotype zu identifizieren. Die
folgenden vier Fragen lenken das Augenmerk auf eventuelle Dichotomien
zwischen deutscher Gesellschaft und Islam und möglicherweise daraus
abgeleitete Essentialisierung der deutschen Gesellschaft; auch hier treten
ggf. Stereotype in den Vordergrund. Die letzten drei Fragen beleuchten den
Machtanspruch des Magazins bzw. der Autoren des Spiegel und ihre Rolle
im Diskurs über Islam in Deutschland.
Der Interpretationsschlüssel ist als Werkzeug gedacht, der mir schrittweise
Zugang zu dem komplexen Datenmaterial der Feinanalyse ermöglicht. Die
28
Antworten auf diese Fragen sind als Annäherung an das Endergebnis meiner
Untersuchung zu verstehen. Im folgenden Kapitel behalte ich mir daher vor,
diejenigen Interpretationsergebnisse herauszugreifen, die zur Beantwortung
meiner übergeordneten Forschungsfrage relevant sind.
Kapitel 3.4 - Ergebnisse der Feinanalyse
Im Folgenden liste ich die Befunde auf, die aus meiner Feinanalyse der
einzelnen im Dossier aufgeführten Spiegel-Artikel resultieren; die Einteilung
der Ergebnisse in gesonderte Kapitel dient dazu, die Schlussfolgerungen, die
ich in Kapitel 4 ziehe, anhand von gezielten Verweisen leichter
nachvollziehbar zu machen.
Kapitel 3.4.1 – „Der innerste Ring“
Der Autor des Artikels „Der innerste Ring“ (Nr. 46/2007, S. 56 ff.)
nimmt eine Gegenposition zum orientalistischen Diskurs über Muslime in
Deutschland ein, indem er fast vollständig auf Generalisierungen oder
Essentialisierungen bei der Beschreibung von Muslimen verzichtet, keine
Dichotomie zwischen Islam und deutscher Gesellschaft herstellt und seine
Leser zur kritischen Einzelfallanalyse animiert.
Hauptfigur des Textes ist Attila Selek. Er und die bekannten
Terrorverdächtigen Fritz Gelowicz, Adem Y. und Daniel S., implizit auch
Dana (Z. 196-198), stehen als potenzielle Aggressoren, denen die Planung
von Anschlägen in Deutschland angelastet wird (Z. 17-21), im Fokus des
Artikels. In der Fahndungssituation erscheinen sie als Gegenspieler zum
deutschen Staat (Z. 227-229). Die Mitwirkung Seleks an den Terrorplänen
stellt der Autor als strittig dar (Z. 4-5). Diese Sonderrolle Seleks unterstreicht
der Autor, indem er ihn von den Terrorverdächtigen Fritz Gelowicz, Adem Y.
und Daniel S. abgrenzt (Z. 399-405, Bilder und Bildunterzeilen S. 56). Eine
prominente Rolle spielt zudem der Imam Yehia Yousif (Z. 243). Er erscheint
als „Ideologe“ und „Vordenker“ (Z. 244-245) und zentrale Figur der
„Islamisten“-Szene in Süddeutschland (Z. 239-247). Die „Islamisten“ im
29
Umfeld des Ulmer Multikulturhauses erscheinen als politische Agitatoren (Z.
241-251, Z. 260-263), die als potenziell kriminelle Staatsgegner behandelt
werden (Z. 263-267).
Grundsätzlich geht der Autor sehr distanziert mit den Befunden von
Geheimdiensten, Verfassungsschutz und Polizei um. Dies zeigt sich vor
allem in dem expliziten Hinweis auf die nebulöse „Welt der Geheimdienste“
(Z. 90-101), die den Agenten Definitionsmacht abspricht, und in der
distanzierten Art, mit der der Autor die Darstellungen und Einschätzungen
der Ermittler wiedergibt (Z. 41-42). Somit stellt der Autor die muslimischen
Verdächtigen nicht als faktische Aggressoren oder Gefahr dar, sondern
betont ihren Status als Verdächtige (Z. 388-399).
Der Autor attestiert den Protagonisten Selek und Gelowicz ein „zerrüttete[s]
Verhältnis [...] zum deutschen Staat“ (Z. 227-229). Den Befund untermauert
er implizit mit dem Verweis auf ihre Aktivitäten im Ulmer Mulikulturhaus, das
offenbar einen Konflikt mit dem Staat austrägt (Z. 229 ff.).
Des Weiteren vermeidet der Autor explizite Charakterisierungen, indem er
vorwiegend Handlungen und Einschätzungen anderer (der Fahnder und
Selek selbst) wiedergibt (Z. 41-42, Z. 102-110) und kritische Distanz zu
diesen Einschätzungen hält (Z. 90-101). Auch mit dem Einsatz des Hilfsverbs
„sollen“ (Z. 84) sowie des Konjunktivs bei wiedergegebenen Aussagen (Z.
178-181) und indem er fortwährend die Quellen einzelner Informationen oder
Einschätzungen angibt (Z. 41-42, Z. 111-115, Z. 161-163), verhindert der
Autor den Eindruck einer eigenen Bewertung oder Charakterisierung. Er
bezieht Aussagen charakterisierende Schilderungen meist auf eine konkrete
Situation (Z.32-35, Z. 222-223) und lässt damit keine Verallgemeinerung
seiner Beobachtungen zu.
Attila Selek und Fritz Gelowicz zeigt der Autor in unterschiedlichen sozialen
Rollen: Selek erscheint außer als Terrorverdächtiger auch als Fremder in
Konya (Z. 28-35), als Sohn (Z. 307-315) und in seinem Berufsumfeld (Z. 252-
255). An einigen Stellen erscheint Attila Selek implizit als Opfer staatlicher
Gewalt (Z. 375-385, Z. 448-449). Gelowicz bildet der Autor indirekt als sozial
kompetenten Freund (Z. 234-238) und als Studenten (Z. 255-256) ab. So
erscheinen die Protagonisten mehrdimensional, der Autor vermeidet
Stereotype.
30
Der Autor stellt keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Glauben der
Terrorverdächtigen und ihren mutmaßlichen terroristischen Plänen her; die
„politischen Biografien“ (Z. 399-400) erscheinen für die Identität als
„Islamisten“ bedeutender als der Glaube. Dies bestärkt der Autor, indem er
die Bedeutung der Sozialisation von Gelowicz und Selek im Ulmer
Multikulturhaus (Z. 230-233, Z. 256-257) und den Einfluss des Imam als
ideologischem „Vordenker“ betont (Z. 244-247) . Die „Islamisten“ in dem
Milieu beschreibt er als politische Gruppe (Z. 239-251, Z. 260-263). Implizit
findet sich dieses politische Motiv auch bei der Beschreibung der
verdächtigen Protagonisten in der Metapher „Vollversammlung“ (Z. 326)
wieder.
Als einzige Verbindung zwischen Glauben und Terrorismus erscheint der
Begriff „Dschihad“, den der Autor jedoch nicht übersetzt, sondern lediglich als
„mystisch[...]“ (Z. 341-342) beschreibt. Offenbar setzt der Autor voraus, dass
seine Leser den Begriff „Dschihad“ als umstrittenes religiöses Konzept des
heiligen Krieges kennen. Ein Rückschluss, dass der „Islamismus“ unmittelbar
aus essentiellen Glaubenssätzen des Islam entspringt, ermöglicht die
Darstellung des Autors nicht. Damit verhindert er eine Generalisierung oder
Essentialisierung von Islam.
Als Terrorverdächtige, die Anschläge in Deutschland geplant haben sollen,
stehen die muslimischen Protagonisten der deutschen Gesellschaft implizit
als Aggressoren gegenüber. Indem er die Muslime jedoch nicht
generalisierend darstellt, baut der Autor keine Dichotomie zwischen den
Muslimen und der deutschen Gesellschaft auf. Dies zeigt sich am
deutlichsten darin, dass der Autor den Protagonisten Selek durch dessen
Selbstbezeichnung als „eher deutsch“ (Z. 32-33) der deutschen Gesellschaft
zurechnet. Auch die Formulierung „der Mann aus Deutschland“, mit dem der
Autor die Perspektive des türkischen Fernsehens wiedergibt (Z. 36-38),
verstärkt diese Zuordnung. Die muslimischen Terrorverdächtigen Fritz
Gelowicz und Daniel S. erscheinen als „deutsche(n) Konvertiten“ ebenfalls
als Teil der deutschen Gesellschaft.
Die Geschichte erzählt der Autor entlang überprüfbarer Fakten und
Handlungen einzelner Personen – dies zeigt sich vor allem daran, dass als
Subjekte überwiegend Personen auftreten und dynamische Verben
31
dominieren. Bei der Wiedergabe von Interpretation dieser Fakten und
Handlungen durch verschiedene Instanzen benennt der Autor fast immer die
Sprechposition, was neben dem Gebrauch von Konjunktiv (Z. 205-209) und
dem Hilfsverb „sollen“ als in Frage stellendem Element (Z. 4) eine kritische
Distanz zu den Vorwürfen und Verdächtigungen gegen die muslimischen
Protagonisten fördert. Der Autor komponiert seinen Text so, dass der
Protagonist sich selbst gegen jeden neuen Verdacht verteidigen kann (Z.
108-110, Z. 176-177, Z. 223-226, Z. 286-293), meist in direkter Rede – der
Autor beansprucht also nicht, für den Protagonisten sprechen zu können. In
der Schuldfrage lässt der Autor dem Angeklagten das letzte Wort (Z. 449).
Mit diesen Mitteln emanzipiert der Autor sich und seine Geschichte von
stereotypen Darstellungsmustern über Muslime oder den Islam.
Eine Ausnahme bildet die Anwendung der Bezeichnung „Islamisten“ (Z. 200)
auf drei Personen, die zu sehr unterschiedlichem Grad als Terrorverdächtige
gelten können (Z.328-390, Z.322-327). Dass der Autor den Begriff
verwendet, aber nicht erläutert, ist insofern problematisch, als dass der
Begriff im Gesamtdiskurs meist mit Gewalt gegen Nicht-Muslime assoziiert
wird (s. Kapitel 3.2). Hier begünstigt der Autor eine dichotomisierende
Rezeption durch seine Leser – die sogenannten Islamisten erscheinen als
Gefahr für Deutsche, bevor ihr Status im Einzelnen juristisch geklärt ist.
Grundsätzlich animiert der Autor seine Leser jedoch dazu, den Einzelheiten
des Falls kritisch auf den Grund zu gehen und sich nicht von Stereotypen
oder Vorverurteilungen beirren zu lassen. Hier stellt die collagenhafte
Erzähltechnik mit raschen Schauplatz- und Perspektivwechseln, die durch
den dramaturgischen Einsatz der Tempi verstärkt wird, einen besonderen
Anreiz für die Leser dar, selbst ins „Spiel“ (Z. 123) der Ermittlungen
einzusteigen.
Kapitel 3.4.2 – „Angst vor dem Befreiten“
In dem Artikel „Angst vor dem Befreiten“ (Nr.2/2007, S. 42 f.) distanzieren
sich die Autoren von orientalistischen Darstellungsmustern, indem sie auf
Generalisierung und Essentialisierung von Muslimen und eine
Dichotomisierung von Islam und deutscher Kultur vermeiden und ihre
32
Darstellungen an überprüfbaren Fakten festmachen. Dennoch geben sie
dem Bild eines gefährlichen „Islamismus“ Raum und ermöglichen so eine
Assoziation von Islam mit Gefahr bei ihren Lesern.
Obwohl in dem Text ein Muslim die Hauptfigur ist und Muslime eine tragende
Rolle spielen, steht der Islam als Glaube nicht im Vordergrund. Die
Personen, die eindeutig als Muslime erkennbar oder bekannt sind,
erscheinen als Individuen. Die wichtigste muslimische Person im Text ist
Murat Kurnaz (Z. 4), in Nebenrollen erscheinen der Bahreiner Guantanamo-
Häftling Issa al-Murbati (Z. 15) und der Terrorverdächtige Mohammed
Haydar Zammar (Z. 181-182). Sie alle stellen die Autoren vielschichtig und in
ambivalenten Rollen dar.
Murat Kurnaz ist als Terrorverdächtiger und Guantanamo-Häftling
vordergründig Hauptfigur des Artikels – die Geschichte, die die Autoren
erzählen, macht sich an seinem „Fall“ fest (Titel, Unterzeile). Im Laufe der
Geschichte erfüllt Kurnaz jedoch eher die Rolle eines Auslösers
diplomatischer Verstrickungen – er tritt kaum als Handelnder auf, sondern
erscheint vorwiegend in einer passiven Rolle (Z. 8-12, Z. 71-74) oder gar
Opferrolle (Z. 103-115, Bildkombination Seite 42-43). Durch ein wörtliches
Zitat geben die Autoren dem Protagonisten die Chance, sich selbst zu
charakterisieren (Z. 19-25). Das Bild, das sich Kurnaz selbst gibt, stützt die
Charakterisierung durch die Autoren, in denen Kurnaz als harmloses
jugendliches Opfer erscheint (Z. 70-77, Z. 116-119), das sich vorwiegend
passiv verhält und nur wenige unbeholfene Versuche unternimmt, sich zur
Wehr zu setzen (Z. 26-27). Im Vergleich zu übrigen Guantanamo-Häftlingen
teilen die Autoren Kurnaz eine Sonderrolle als „pflegeleichter Häftling“ (Z. 7-
8) zu.
Dem gegenüber steht die Rolle des Protagonisten als potenzielle Gefahr für
Deutschland im letzten Abschnitt, die nach Darstellung der Autoren das
Innenministerium Kurnaz zuspricht (Z. 213-221). Hier erscheint Kurnaz aktiv
und sogar aggressiv. Als potenzieller Mujahid (Z. 216-221) erscheint er als
strategisch handelnder Aufrührer, der ein politisches Ziel verfolgt (Z. 220)
und so eine Gefahr für die innere Sicherheit Deutschlands darstellen könnte.
Den Widerspruch zwischen diesen beiden Rollen lösen die Autoren nicht auf,
sie beziehen keine explizite Stellung in der Bewertung der Hauptfigur. Der
33
einzige Hinweis auf eine implizite Bewertung zugunsten einer
Unschuldsvermutung gegenüber Kurnaz liegt in der Verwendung des
Adjektivs „drakonisch(en)“ (Z. 213).
Der prominente Terrorverdächtige Mohammed Haydar Zammar erscheint
ebenfalls in einer ambivalenten Rolle: Zum einen wird er mit gefährlichen
Terroristen (Z. 184-185, Z. 189) und – durch das Wort „Dschihad“ (Z. 188) –
mit religiös motivierter Gewalt in Verbindung gebracht; durch die Verben
„rekrutierte“ (Z. 185), „aufgeklärt“ (Z. 188) und die Formulierung „an das Büro
der Taliban verwiesen“ (Z. 189) erscheint er als routinierter Terror-Profi. Zum
anderen stellen ihn die Autoren als Opfer einer archaischen Strafverfolgung
dar (Z. 183-184).
Murat Kurnaz und Mohammad Haydar Zammar erscheinen als eigenständige
Individuen, die Autoren schreiben ihnen keine Repräsentanten- oder
Symbolfunktion zu. Issa al-Murbati erscheint dagegen als repräsentatives
Beispiel für die aufständischen Guantanamo-Häftlinge (Z. 12-16), was vor
allem das Wort „etwa“ (Z. 14) nahe legt. Al-Murbati erscheint in einer
ambivalenten Rolle als rebellierendes Opfer der US-Terrorpolitik (Z. 15-16).
Im Kontext der Erzählung erscheint er als kompromissloser politischer
Agitator (ebd.).
Als Kollektiv beschreiben die Autoren die Beamten des türkischen (Z. 37-38)
– hier spielt jedoch religiöse Zugehörigkeit weder keine Rolle. Die Abstraktion
von einzelnen Personen (Z. 61-62) liegt in dem Fokus der Autoren auf
diplomatische Prozesse und Handlungen von politischen Instanzen
begründet. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Wahl von Substantiven
(Z. 17, Z. 45, Z. 89) und Verben (Z. 33, Z.42), die Politik, Diplomatie und
Behörden als Handlungsfelder der Geschichte markieren.
Zentraler Streitpunkt des Artikels ist, ob der Guantanamo-Häftling tatsächlich
ein „Islamist“ (Bildunterzeile S. 42) ist, wie die Klassifizierung der US-
amerikanische Geheimdienste (Z. 97) nahe legt. Für die Darstellung der
Hauptfigur Kurnaz als mutmaßlichem „Islamisten“ spielen jedoch dessen
religiöse Gesinnung oder Glaube keine Rolle – sämtliche Indizien, die die
Autoren für oder gegen diese Darstellung anführen, liefern nur Anhaltspunkte
für seine politische Gesinnung (Z. 19-25, 216-221). In dem Zukunftsszenario,
das Kurnaz als radikalisierten Aufrührer zeigt, erscheint er als Demagoge,
34
der religiösen Märtyrerkult (Z. 219) und Moscheen (Z. 220-221) für seine
politischen Ziele instrumentalisiert („PR- und Werbetour“, Z. 220).
Die Autoren stellen „Islamismus“ als terroristisches politisches Lager dar,
dass vor allem als gewaltsamer Aggressor gegen die USA (Z. 97, Z. 100-
102) und Gefahr für Deutschland (Z. 214-221) erscheint. Der Begriff
„Dschihad“ (Z. 188), der verschiedene religiöse Konzepte birgt, wird nicht
erläutert. Im Kontext erscheint er in der Übersetzung als „heiliger Krieg“.
Moral- oder Glaubensvorstellungen thematisieren die Autoren nicht. Dem
entgegen steht, dass die Autoren Murat Kurnaz jeweils einmal als „Taliban“
(Z. 155) und „Islamisten“ (Bildunterzeile S. 42) bezeichnen, ohne sich von
den Begriffen zu distanzieren. In der Gesamtwirkung des Textes relativiert
sich jedoch das darin implizierte Bild eines religiösen Fanatismus. Mit der
weitgehend differenzierten Darstellung der muslimischen Protagonisten und
der impliziten Klassifizierung von „Islamismus“ als politische Ideologie
distanzieren sich die Autoren von dem orientalistischen Stereotyp eines
aggressiven, gefährlichen Islam. Dennoch geben sie dem Bild einer
potenziell gefährlichen Erscheinungsform des Islam – bezeichnet als
„Islamismus“ – ihrem Artikel an prominenter Stelle Raum (Z. 214-221).
Hier erscheint der Muslim Kurnaz in der Rolle als „[R]adikalisiert[er]“ (Z. 218-
219) als künftige Bedrohung für die deutsche Gesellschaft, den die
Behörden, die mit dem Schutz dieser Sicherheit betraut sind, abwehren
müssen (Z. 213-215). Das Bild einer generellen Gefahr für die Gesellschaft
befördert vor allem die Erwähnung „deutsche[r] Moscheen“ (Z. 220-221).
Durch die Platzierung am Schluss des Artikels hinterlässt dieses Szenario
einen schwerwiegenden Eindruck beim Leser.
Andererseits ordnen die Autoren Murat Kurnaz und den Terrorverdächtigen
Mohammed Haydar Zammar der deutschen Gesellschaft zu (Z. 39-41, Z.
181). Indem die Autoren keine Trennung zwischen Zugehörigkeit zu Islam
oder „Islamismus“ und Zugehörigkeit zum deutschen Staat vornehmen,
verhindern sie Essentialisierungen und Dichotomie zwischen Islam und
deutscher Gesellschaft.
Mit ihrer faktenorientierten Darstellung animieren die Autoren ihre Leser zu
einer differenzierten Betrachtung und einer eigenen Bewertung des „Falls
Kurnaz“, wenngleich sie durch subtile Wertungen und Kommentare (Z. 212)
35
die Einschätzung des Lesers lenken. Dabei legen sie eine kritische Haltung
gegenüber staatlichen Machtinstanzen nahe, die sich vor allem in der
Bewertung der Gefangenschaft von Kurnaz durch die USA (Z. 141-142) und
die Implikation einer möglichen Instrumentalisierung des Falls durch die
Bundesregierung (Z. 150) spiegelt.
Kapitel 3.4.3 – „,Kaum verhüllte Drohung’“
Die Autoren des Artikels „,Kaum verhüllte Drohung’“ (Nr.39/2008, S. 36 ff.)
teilen Muslime in verschiedene Gruppen ein. Die Beschreibung der „guten,
Der Koordinationsrat der Muslime erscheint als Organisation, die nach
politischem und gesellschaftlichem Einfluss strebt (Z. 185-197), der ihr nicht
zusteht (Z. 65-68, Z. 166-168). Die Autoren schildern den Anspruch des
Dachverbandes – vor allem durch die Charakterisierung des Sprechers Ali
Kizilkaya, der selbstherrlich (Z. 178) und vorlaut (Z. 184-185) wirkt, – als
anmaßend und dreist. Auch die Schilderung von kirchlichem Einfluss als
Gefahr für den deutschen Staat (Z. 86-87) wirkt sich auf die Bewertung des
Habitus’ des Koordinationsrates aus (Z. 166-171). Der Koordinationsrat
erscheint als Gegner freier Wissenschaft (Z. 191-197) und offener
Herausforderer des deutschen Staates, der die durch historische
Zugeständnisse an die Kirchen ohnehin belastete Integrität der säkularen
Gesellschaft (Z. 72 ff.) angreift.
Implizit skizzieren die Autoren einen potenziellen Konflikt zwischen
religiösen Werten von Muslimen und deutschen Grundrechten allgemein –
hier wirkt das Zitat des Wissenschaftsministers Pinkwart (Z. 203-212), das
mit der Interpretation der „Solidaritätserklärung“ (Z. 226) als „Vorwurf
staatlicher Selbstaufgabe“ (Z. 214-215) bekräftigt wird. Indem sie das Zitat
Pinkwarts nicht kommentieren, übernehmen die Autoren die Implikation, dass
ein nennenswerter Teil von Muslimen auf kritisches Hinterfragen von
Glaubensinhalten im Schulunterricht mit Boykott reagieren würde. Auch die
37
Bezeichnung „Dachorganisation deutscher Islam-Verbände“ (Z. 36-37)
suggeriert, dass der Dogmatismus des Koordinationsrats die Haltung der
meisten Muslime in Deutschland wiederspielt. Dies wird verstärkt durch das
generalisierend wirkende Synonym „die Muslime“ (Z. 43), auch in der
Selbstdarstellung des Rates durch Kizilkaya (Z. 175). Hier fördern die
Autoren das generalisierende Bild eines dogmatischen muslimischen
Kollektivs und implizieren eine Dichotomie zwischen islamischem
Geltungsanspruch und deutschen Grundrechten.
Als nicht identifiziertes, anonymes Kollektiv erscheinen „manche
konservative Muslime“ (Z. 259). Sie charakterisieren die Autoren nur indirekt
über die Interpretation des Experten Kalisch, der sie implizit als aggressiv
und dogmatisch charakterisiert (Z. 259-265), indem er ihnen – auch implizit –
religiös motivierte Mordabsichten unterstellt (Z. 267-269). Obwohl die Leser
von ihnen nur indirekt erfahren, räumen die Autoren ihnen eine prominente
Position ein: Indem sie die implizierte „,(...) Drohung’“ schon in der
Überschrift platzieren, machen die Autoren die Gefahr, die angeblich von
dieser nicht-definierten Gruppe ausgeht, zum vordergründigen Thema des
Textes. Die Autoren setzen das Kollektiv als dramatisierendes Element ein,
indem sie es am Anfang des Textes schemenhaft andeuten (Z. 6, Z. 17) und
erst am Ende des Textes als „manche konservative Muslime“ (Z. 259)
benennen. So wirkt das Bild der latenten Lebensgefahr, ausgehend von nicht
identifizierbaren muslimischen Aggressoren, auf den Leser fort. In der
Bezeichnung dieses Kollektivs als „konservativ“ folgen die Autoren der
Deutung des Protagonisten Kalisch, der zugleich als Experte auftritt (Z. 259-
269). Indem die Autoren ihn den Code, der die „,(...) Drohung’“ birgt,
entschlüsseln lassen (ebd.), steigern sie das Bild unberechenbarer
muslimischer Aggressoren, deren Motive und Kodizes für Außenstehende
nicht nachvollziehbar sind.
Die latente Aggression der „konservative[n] Muslime“ erscheint als
Konsequenz ihres dogmatischen Glaubens – so interpretiert es der
betroffene Experte Kalisch (ebd.). Indem die Autoren ihm in diesem Punkt
uneingeschränkte Deutungshoheit zubilligen (Z. 266-267), machen sie sich
die Interpretation Kalischs zu eigen und stellen sie als faktisch dar. Die
„konservative[n] Muslime“ erscheinen als Bedrohung für den Protagonisten
38
Kalisch als Einzelperson, aber in ihrer Nicht-Greifbarkeit implizit auch als
Bedrohung für die ganze Gesellschaft (Z. 21-22, Z. 45). Hier fördern die
Autoren das Stereotyp gefährlicher, unberechenbarer und irrationaler
Muslime. Da die Autoren die schwammige Kategorie „konservativ“, die als
einziges Merkmal der Aggressoren erscheint, nicht definieren, steigern sie
das gefühlte Bedrohungspotential: Das Stereotyp der gefährlichen,
unberechenbaren „Konservatien“ ist auf alle Muslime anwendbar, die sich
nicht eindeutig als „nicht-konservativ“ präsentieren.
Durch Implikation, dass sich Kalisch mit dem Zweifel an der Existenz des
Propheten quasi zwangsläufig in Gefahr bringe (Z. 33-35), entsteht
verstärkend der Eindruck, dass gewaltsame Sanktionen eine unter Muslimen
konsensfähige Reaktion auf Kritik an Glaubensinhalten des Islam darstellen.
Auch das Bild des muslimischen Dachverbandes als Herausforderer des
säkularen Staates und Gegner von Aufklärung kann im Sinne des
orientalistischen Stereotyps eines irrationalen, aggressiven und gefährlichen
Islam gelesen werden.
Kapitel 3.4.4 – „Die Integrierten“
In ihrer Darstellung türkischer Einwanderer wirkt die Autorin des Artikels „Die
Integrierten“ (Nr.27/2006, S. 58 ff.) Orientalismus entgegen. Bei ihrer
Schilderung von Islam als Triebkraft für Abgrenzung von der deutschen
Gesellschaft bleibt sie jedoch orientalistischen Darstellungsmustern und
Stereotypen verhaftet.
Die Autorin setzt individuelle Protagonisten ein, die sie als Repräsentanten
eines jeweiligen Kollektivs von Einwanderern zu bestimmten Epochen
beschreibt: Die Familie Kandemir steht als repräsentatives Beispiel (Z. 124-
145) für das Kollektiv der sogenannten Gastarbeiter aus der Türkei (Z. 115-
119). Saliha Scheinhardt verköpert eine Epoche, in der die Autorin Trennung
des Kollektivs der türkischen Arbeitsmigranten in politisch engagierte Türken
und traditionalistische Muslime verortet (Z. 232-236) – Saliha Scheinhardt
erscheint einerseits als Repräsentantin der politisch und wirtschaftlich
emanzipierten Einwanderergruppe (Z. 164 ff.), andererseits als Insider-
Expertin, die von Alltagsleben und Machtverhältnissen der Traditionalisten
39
berichtet (Z. 292-297). Der Protagonist Aytac Eryilmaz erscheint als Beispiel
für ausländische Flüchtlinge (Z. 372-376), die potenziell oder tatsächlich
Opfer von Rechtsextremismus werden (Z. 454-459). Im letzten historischen
Abschnitt beschreibt die Autorin eine kollektive „Abschottung“ von
muslimischen Migrantengemeinden (Z. 471-489). Für diesen historischen
Abschnitt, den die Autorin als Ghettoisierung schildert (Z. 570-571, Z. 601),
wählt sie zwei Stellvertreter: Oktay Özdemir erscheint als Repräsentant
derjenigen, die es außerhalb des Milieus „schaffen“ (Z. 604-606). Hülya
Kandemir erscheint als Repräsentantin derer, die den „Rückzug in eigene
Welten“ (Z. 472) wählen und die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft
ablehnen (Z. 611-616).
Einzelne Protagonisten portraitiert die Autorin sehr detailliert und mit
Augenmerk auf ihre individuelle Geschichte (Z. 124-145, Z. 164-224, Z. 394-
408, Z. 546-563) – die Figuren erscheinen in ihrer gegenwärtigen Situation,
zugleich schildert die Autorin ihre persönliche Biografie und Entwicklung (Z.
617 ff.). Die türkischen oder muslimischen Individuen erscheinen
„mehrdimensional“, Religiosität erscheint als eine mögliche Eigenschaft unter
vielen. So wirkt die Autorin Essentialisierungen und Generalisierungen
entgegen. Indem sie einen menschlich-emotionalen Zugang zu den
Alltagswelten der türkischen und muslimischen Einwanderer schafft (Z. 34-
35, Z. 144-145, Z. 208-209), setzt die Autorin einen Kontrapunkt zum
orientalistischen Diskurs. Orientalistische Stereotypen entkräftet die Autorin,
indem sie Rollenklischees an authentischen Bildern bricht. (Z. 11-22).
In der Darstellung von Islam bleibt die Autorin jedoch dem orientalistischen
Diskurs verhaftet, indem sie implizit eine Dichotomie zwischen Islam und
Westen aufstellt und muslimische Migrantenmilieus generalisierend und
essentialisierend mit orientalistischen Stereotypen assoziiert.
Während die Kollektive „Gastarbeiter“ oder „Flüchtlinge“ noch als Nachbarn
(Z. 135-136), Streikende (Z. 242-243), Bewohner von Sammellagern (Z. 431)
oder Opfer lokalisierter rassistischer Gewalt (Z. 441-453) sichtbar in
Erscheinung treten, ist dies beim Kollektiv der traditionalistischen Muslime
oder „Fundamentalisten“ (Z. 474) nicht der Fall. Lediglich im „Ghetto“ (Z. 601)
Kreuzberg treten Angehörige des Milieus noch sichtbar auf; hier stellt die
Autorin einen schwachen Zusammenhang zu Traditionalismus her (Z. 560-
40
563, Z. 597). Die „Fundamentalisten“ stellt die Autorin als anonyme, weltweit
agierende Gruppe dar (Z. 473-475), die sie nur mit der vagen Ortsangabe
„aus den fundamentalistischen Moscheen“ (Z. 486-487) kennzeichnet.
Prominent ist die Darstellung von islamischem Glauben und Tradition als
Gegenmodell zu Integration. Dieses Bild zieht sich durch den gesamten Text;
es manifestiert sich zum einen in der Gegenüberstellung von politisch
engagierten Türken und traditionalistischen Muslimen (Z. 232-243), in der
Schilderung einer Agitation fundamentalistischer Autoritäten (Z. 471-489) und
in der Geschichte des „Rückzugs“ von Hülya Kandemir (Z. 613 ff.).
Besonders plakativ grenzt die Autorin islamischen Glauben von Integration
ab, indem sie Hülya Kandemirs Bruch mit dem Alkoholverbot als
Höchstmarke ihrer Integration hervorhebt (Z. 624-625). Das Kollektivsymbol
des Kopftuchs als Zeichen für muslimischen Traditionalismus stellt die
Autorin implizit in Zusammenhang mit Nicht-Integration (Z. 673-679).
Gleichzeitig stellt die Autorin Islam als Bremsklotz für Bildung dar. Dies zeigt
sich etwa in der Figur der bildungsfeindlichen religiösen Mutter Saliha
Scheinhardts (Z. 174-175). Auch stellt die Autorin Bildungsfeindlichkeit, vor
allem in Bezug auf Mädchen, als Massenphänomen der „abgeschotteten“
muslimischen Gemeinschaften dar (Z. 475-484). Diese These illustriert die
Autorin durch Statistiken, die die Verbreitung von Bildungsdefiziten bei
türkischen Schülern belegen sollen (Z. 490-500). Hier impliziert sie eine
bewusste Behinderung von Bildungsfortschritt (Z. 500-502) – es erscheint
der fundamentalistische Islam als ominöse Machtinstanz (Z. 511-514).
Zudem assoziiert die Autorin Islam mit „Gewalttradition“ (Z. 292-296); dabei
setzt sie auf die Insider-Perspektive der Protagonistin Saliha Scheinhardt (Z.
267-300). Indem sie Gewalt auch als Massenphänomen in türkischen
Familien darstellt (Z. 531-533) und durch implizierte Binnensicht suggeriert,
Gewalt diene den Kreuzberger Jugendlichen als Identifikationsmerkmal (Z.
573-575), bekräftigt die Autorin ihr Bild eines von Gewalt geprägten
muslimischen Migrantenmilieus. Im Zusammenhang mit islamischem
Traditionalismus hebt die Autorin auch das Stereotyp der Unterdrückung von
Frauen hervor (Z. 296). Besonders deutlich wird dies in der Darstellung von
Hülya Kandemirs „neuer“ Identität (Z. 658-674). Auch die Verteilung der
Verbformen zeugt von der stereotypen Darstellung: Der sonst seltene
41
Einsatz des Passivs häuft sich bei der Beschreibung muslimischer Mädchen
(Z. 477-486). Das Wort „Importbraut“ (Z. 305) impliziert zudem, dass eine
frauenverachtende Heiratspraxis bei vielen Türken (Z. 315) Konsens sei.
Indem sie ausschließlich türkischstämmige Protagonisten wählt, erweckt die
Autorin den Eindruck, dass sich die Notwendigkeit von Integration vor allem
an Türken oder Muslime richte. Das Bild von Islam als Hindernis und
Gegenmodell von Integration verstärkt den Eindruck, dass Integration für
Muslime besonders schwierig sei.
Der Ausdruck „Weg in die andere Richtung“ (Z. 612-613) suggeriert, dass es
für Muslime in Deutschland nur zwei Alternativen gibt: die Zugehörigkeit zur
deutschen Gesellschaft oder zum traditionellen Islam. Diese Dichotomie
spiegelt sich in der Schilderung von eindeutiger kultureller Identität als
psychosoziale Notwendigkeit; eine multiple kulturelle Identität erscheint als
zwangsläufig zerstörerisch (Z. 405-408).
Die Autorin stellt türkische oder muslimische Einwanderer nicht per se der
deutschen Gesellschaft gegenüber – eine Dichotomie kultureller Identitäten
liegt insofern nicht vor. Anders geht sie mit religiöser Identität um:
Muslimischer Glaube und islamische Tradition erscheinen als Trennmittel
zwischen nicht-muslimischen Deutschen und Muslimen. Besonders deutlich
wird dies in der generalisierenden und essentialisierenden Beschreibung des
„Rückzugs“ von muslimischen Einwanderern „in eigene Welten“ (Z. 471-489).
Dabei schildert die Autorin die angeblich wachsende „Bedeutung des Islam“
(Z. 473) analog zu sozialer „Abschottung“ (Z. 471); Glaube und
Traditionalismus erscheinen als Triebkräfte der „Abkehr von der westlichen
Welt“ (Z.488-489). Bei der Beschreibung des „Rückzugs“ (Z. 673) von Hülya
Kandemir stellt die Autorin religiöse Konformität in direkten Gegensatz zu
einem „westliche[n](s) Leben“ (Z. 656-658). Damit bekräftigt sie die
verbreitete Dichotomie von Islam und Westen. Die Nicht-Integrierten, die die
Autorin implizit mit beschreibt, erscheinen als „bedeutendes Anderes“ (Hall
1994) zur deutschen Gesellschaft.
Besonders durch das Bild von fundamentalistischem Islam als Gegenspieler
zur deutschen Gesellschaft begünstigt die Autorin die Rezeption ihres Textes
im Sinne eines orientalistischen Islam-Bildes. Die Tatsache, dass die Autorin
weder konkrete Akteure nennt, noch Fundamentalismus erkennbar und von
42
Islam unterscheidbar macht, verstärkt den Eindruck, dass sich bekennende
Muslime allgemein konträr zur deutschen Gesellschaft positionieren. Diesen
Generalverdacht befördert auch das Seite 60: Während das Motiv eine
gewöhnliche muslimische Gemeinde zeigt, suggeriert die Bildunterzeile eine
Nähe zu „Fundamentalisten“ (Z. 472-474).
Einen besonderen Anspruch auf Deutungshoheit erhebt die Autorin in der
Darstellung eines „Rückzugs in eigene Welten“ (Z. 472), den sie kausal mit
Phänomenen wie vermehrtem Kopftuchtragen oder kollektiver Verweigerung
gegenüber bestimmten Schulfächern verknüpft (Z. 471-489) – hier behauptet
die Autorin, den Grund zu kennen, nämlich ein wachsender Einfluss von
Fundamentalisten. 18 Dabei liefert die Autorin keine Belege, sondern setzt
allein darauf, dass ihre Leser ihre Deutung insofern plausibel finden, als dass
sie sich linientreu in den hegemonialen Diskurs einordnet.
Kapitel 3.4.5 – „Das Wunder von Marxloh“
In dem Artikel „Das Wunder von Marxloh“ schildert der Autor das Bild eines
harmonischen und konstruktiven Zusammenlebens von deutschen Christen
und türkischen Muslimen. Damit widerlegt er scheinbar orientalistische
Dichotomien und Stereotype. In seiner Bewertung des Geschilderten als
„Wunder“ (Titel) fällt die Darstellung jedoch in orientalistische Muster zurück.
Der Autor beschreibt alle im Text vorkommenden Muslime als tolerant und
offen gegenüber den christlichen Marxlohern (Z. 176-187, Z. 214-237, 272-
299). Eine zentrale Rolle spielt dabei der Imam Sadik Caglar, der als
Repräsentant der muslimischen Gemeinde und Dialogpartner des
katholischen Pfarrers auftritt (Z. 138-149); gemeinsam mit dem Pfarrer
definiert er nach Darstellung des Autors das religiöse Credo des „neue[n]
Ruhrgebiet[s]“ (Z. 148-161). Die muslimische Ditib-Gemeinde stellt der Autor
als besonders kompromissbereit und rücksichtsvoll dar, indem er sie implizit
von anderen muslimischen Gemeinden abgrenzt (Z. 177-187). Dass er die
Teilnahme an der Islamkonferenz des Innenministeriums (Z. 183-184) oder
18 Hinweise darauf, dass die Deutung der Autorin auf ungeprüften Vermutungen beruht, liefert etwa die Zeit mit einem Bericht über eine Studie zu Wertvorstellungen von kopftuchtragenden Musliminnen (http://www.zeit.de/2006/38/Kopftuch-Studie, Datum des letzten Besuchs: 02.04.2011) und einem Artikel zu vermeintlich flächendeckender Unterrichtsverweigerung von muslimischen Schülern (http://www.zeit.de/2006/50/B-Schulverweigerung, Datum des letzten Besuchs: 02.04.2011)
43
die Tatsache, dass der Ditib nicht vom Verfassungsschutz beobachtet wird
(Z.186-187), als Zeichen für die Bereitschaft zu Austausch und
harmonischem Zusammenleben wertet (Z. 176-177), zeigt, dass der Autor
implizit der Klassifizierung muslimischer Gemeinden durch staatliche
Instanzen als problematisch oder unproblematisch folgt. Als Planer der
neuen Moschee schildert er die Muslime als besonders entgegenkommend
(Z. 314-322). So umgeht der Autor demonstrativ das Stereotyp aggressiver,
imperialistisch auftretender Muslime.
Weitere Muslime setzt der Autor als illustrierende Beispiele ein, um seine
Darstellung zu stützen. Er konzentriert sich dabei auf Frauen: Neben
individuellen Musliminnen, die die Harmonie zwischen Christen und
Muslimen veranschaulichen sollen (Z. 214-226), erscheint ein Kollektiv
türkischer Frauen exemplarisch als eine von vielen Triebkräften (Z. 272-274),
die sich für das interkulturelle und interreligiöse Zusammenleben und die
Etablierung eines Wertekonsenses stark machen (Z. 285-299). Indem der
Autor etwa Musliminnen mit Kopftuch implizit als religiöse Grenzgängerinnen
(Z. 234-237, Z.281-284) darstellt oder die Bildungs- und Berufserfolge
türkischer Frauen (Z. 278-279) und ihr Engagement (Z. 285-299) hervorhebt,
grenzt er sie von dem Stereotyp der traditionalistischen Kopftuchträgerin
oder der auf Heim und Familie beschränkten, ungebildeten Türkin ab. Der
muslimische Glaube erscheint flexibel und undogmatisch (Z. 219-226) –
dieses Bild setzt der Autor dem Stereotyp eines traditionalistischen,
monolithischen Islam gegenüber und verhindert damit zunächst eine
essentialisierende Rezeption seiner Islam-Darstellung.
Intention des Autors war es offenbar, dem hegemonialen Diskurs und der
problemorientierten Integrationsdebatte ein positives Bild von Muslimen in
Deutschland entgegen zu setzen (Z. 309-311). Die Metapher „Wunder“
(Titel, Z. 173) impliziert jedoch, dass friedliche und konstruktive Koexistenz
von Christen und Muslimen eigentlich unmöglich sei. Damit impliziert der
Autor eine wesenhafte Dichotomie zwischen Christentum und Islam. Indem
er die Metapher als Titel an die prominenteste Stelle des Artikels setzt, färbt
die Dichotomie auf den gesamten Text ab. Die Toleranz der Katholiken hebt
der Autor entsprechend als [a]ußergewöhnlich(e)“ hervor (Z. 68-69).
44
Die „interreligiöse Begegnungstätte“ (Z. 63) erscheint als Besonderheit und
Alleinstellungsmerkmal der neuen Moschee – damit impliziert der Autor, dass
andere muslimische Gemeinden keinen so großen Wert interreligiöse
Begegnung legen. In der Klassifizierung Marxlohs als Problemviertel (Z. 162-
163), taucht die Implikation, dass das Zusammenleben von Christen und
Muslimen meist problematisch sei, wieder auf. Zwar stellt der Autor die
Anwesenheit von Muslimen nicht grundsätzlich als Problemfaktor dar; bei der
Schilderung Marxlohs als „Problemviertel“ bezieht er sich vor allem auf das
äußere Stadtbild (Z. 165-171). Mit der Einleitung „Natürlich“ (Z. 162)
verknüpft der Autor jedoch die religiöse Struktur, die bis dahin dominantes
Thema war, mit dem Begriff „Problemviertel“ (Z. 163). Hier scheint der Autor
davon auszugehen, dass seine Leser angesichts der Präsenz von Muslimen
in einem traditionell katholischen Stadtteil (Z. 94-100) Probleme erwarten.
Diesen Eindruck vermittelt auch die als Negation wiedergegebene
Einschätzung der Polizei, die Marxloh als „nicht auffälliger als andere
Stadtteile“ beschreibt (Z. 188-189), sowie die Implikation im Zitat des
nordrhein-westfälischen Integrationsministers Armin Laschet (CDU), der
suggeriert, es sei ein „Klima [...] der Abgrenzung“ zu erwarten (Z. 191-196).
In der unvermittelten Erwähnung des Themas „Angst“ durch den Imam (Z.
148) wirkt unterschwellig das Stereotyp eines gefährlichen Islam als
naheliegendes Thema.
Indem der Autor muslimische Frauen teils unvermittelt und ohne sonstigen
erkennbaren Grund in den Fokus rückt (Z. 231-239), erscheinen sie als
exotische Ausnahmefälle – so entsteht der Eindruck, das Klischee, das diese
Musliminnen zu widerlegen scheinen, sei der eigentliche Normalfall.
Der Autor schreibt Deutschen implizit eine Distanz zum Islam zu. Dies zeigt
vor allem die Implikation, die der Ausdruck „irritierend harmonisch(e)“ (Z.
155-159) beinhaltet. Hier suggeriert der Autor eine kollektive Binnensicht der
Deutschen. Indem er offenbar von vorgefertigten Meinungen seiner Leser zur
Präsenz von Muslimen in der deutschen Gesellschaft ausgeht, beansprucht
der Autor Deutungshoheit über die innere Haltung seiner Leser.
Integration erscheint in der Darstellung des Autors als ein Vernetzen und
Verweben (Z. 157), bei dem die Essenzen der sich Vernetzenden („das
Katholische“, „[das] Muslimische(n)“, „das Deutsche“, „[das] Türkische(n)“, Z.
45
158-159) erhalten bleiben. Indem er diese Begriffe nicht differenzierend
erläutert, fördert der Autor ein essentialistisches Bild von Katholiken und
Deutschen einerseits und Muslimen und Türken andererseits.
Das Kollektivsymbol des Kopftuchs als implizites Zeichen für
Traditionalismus und Nicht-Zugehörigkeit zur deutschen Kultur macht den
suggerierten Kontrast besonders anschaulich (Z. 231-239).
Der Autor entwirft ein homogenisierendes Bild von Marxloh: Der Stadtteil
erscheint als homogene christlich-muslimische Konsensgemeinschaft. Das
zeigt sich vor allem in der Metapher des „neue[n] Ruhrgebiet[s]“ (Z. 160-161),
aber auch darin, dass der Autor alle Kritiker – abgesehen von der Postbotin,
die das harmonisierende Bild des Stadtteils geringfügig in Frage stellt (Z.
163-165) – außerhalb von Marxloh verortet (Z. 134-138, Z. 237-247),
wohingegen alle Muslime als tolerant und offen charakterisiert werden. Dass
es offenbar auch unter Marxlohern Ablehnung gegenüber der Moschee
gegeben hat (Z. 311-313), übergeht der Autor bei seiner Gesamtdarstellung.
So wirkt das Bild, das der Autor von dem Stadtteil zeichnet, geschönt.
Kapitel 3.4.6 – „Die Freiheit der anderen“
Der Autor des Artikels „Die Freiheit der anderen“ (Nr.7/2007, S. 80) inszeniert
seine Geschichte wie ein klassisches Drama, in dem er das Wertesystem
einer muslimischen Familie dem Wertesystem des deutschen Rechtsstaats
gegenüberstellt. Indem er die Muslime wie idealtypische Figuren in Szene
setzt und sie einer archaischen, von Gewalt und Unterdrückung geprägten
„Welt(en)“ (Z. 150) zuordnet, legt der Autor eine Rezeption der Geschichte im
Sinne einer orientalistischen Generalisierung und Dichotomie nahe.
Der Autor stellt alle handelnden Akteure seiner Geschichte als Figuren eines
Gerichts-Dramas dar: Hauptfigur ist die Tochter der kurdischen Familie (Z.
48). Sie erscheint als Opfer ihres Vaters (Unterzeile). Den Sohn der
kurdischen Familie (Z. 51) stellt der Autor ebenfalls als Opfer (Z. 94-97),
gleichzeitig jedoch als wehrhaft dar (Z. 101-102).
Mit Ausnahme des Vaters, der als Familienoberhaupt einerseits und als
Angeklagter (Z. 25) andererseits eine ambivalente Position einnimmt,
reduziert der Autor alle Hauptfiguren auf ihre Rolle innerhalb der
46
Wertegemeinschaft der Familie. Dies wird vor allem in der Bezeichnung der
Subjekte als „die Tochter“ (Z. 69, Z. 111-112, Z.146), „der Sohn“ (Z. 101)
oder „der Bruder“ (Z. 89, Z. 133) deutlich. Seine Erzählung inszeniert der
Autor wie ein Theaterstück: Die Textkomposition entspricht dem Aufbau der
klassischen griechischen Tragödie, der Einsatz der Tempi folgt
dramaturgischen Zielen, die Dominanz dynamischer Verben macht die
Szenen lebendig.
Der Autor stellt die muslimischen Hauptfiguren vorwiegend als irrational dar.
Dies zeigt sich etwa darin, dass den Muslimen vor allem Substantive
zugeordnet werden, die Emotionalität, Gewalt und Irrationalität vermitteln (Z.
4-5, Z. 31, Z. 139-140).
Die Tochter charakterisiert der Autor als das Opfer schlechthin (Z. 3, Z. 10-
11, Z. 155) – sie taucht im Familien-Kontext vorwiegend als Objekt auf (Z.
69, Z. 71-72). Durch die Betonung des eigenmächtigen Handelns der Tochter
(Z. 77-78) als „etwas Unvorhergesehenes, etwas für den Vater
Unvorstellbares“ (Z. 74-76) bestärkt der Autor die untertänige Rolle der
Tochter in der Familie. Durch die Metapher eines Verstrickens in
Widersprüche (Z. 139-141) scheint es, als nehme die Tochter ihren
Opferstatus nicht nur an (Z. 155), sondern verstärke ihn sogar. Indem der
Autor das widersprüchliche Verhalten der Tochter (Z. 120-136) hervorhebt,
charakterisiert er die Tochter als irrational und verängstigt (Z. 153-154).
Auch den Sohn schildert der Autor als Opfer der Gewalt und Tyrannei des
Vaters (Z. 49-54). Zugleich erscheint der Sohn als symbolischer Rebell, der
dem Vater Grenzen aufzeigen will (Z. 101-105), jedoch mit seinem
fatalistisch (Z. 146), die Richterin dagegen aktiv (Z. 138 ff.), emanzipiert (Z.
110-111), rational (Z. 150-153) und energisch (Z. 141-143). Die
gegensätzlichen Frauenbilder verstärken den Kontrast, der patriarchalische
48
Machtbeziehungen in Deutschland als anachronistisch und fehl am Platz
darstellt. Durch die Betonung der historischen Entwicklung in Deutschland,
versinnbildlicht in „vergilbte[n] Bilder[n]“ (Z. 38-39) und dem implizierenden
Begriff „noch“ (Z. 41), erscheint die deutsche Gesellschaft zivilisatorisch
weiter entwickelt als die Wertegemeinschaft der kurdischen Familie.
Mit der Schilderung des Wertsystems der kurdischen Familie als archaisch,
zivilisatorisch unterentwickelt und basierend auf Gewalt und Unterdrückung
von Frauen befördert der Autor orientalistische Stereotype. Mit der
Gegenüberstellung von muslimischer Familie und deutschem Rechtsstaat,
die der Autor als „zwei Welten“ (Z. 149-150) darstellt, kreiert er eine
Dichotomie. Der Autor trifft keine allgemeinen Aussagen über den Islam.
Durch die Inszenierung der Muslime als Idealtypen wirkt der Einzelfall jedoch
exemplarisch; der Autor befördert durch seine Art der Darstellung eine
generalisierende Rezeption durch seine Leser (Z. 64-66), die wiederum eine
Dichotomisierung von Islam und deutschem Rechtsstaat begünstigt.
Kapitel 3.4.7 – „Schlesische Schlachten“
In dem Artikel „Schlesische Schlachten“ (Nr.50/2007, S. 138)
beschreibt der Autor ein abgeschottetes Minderheiten-Milieu, in dem eigene
sozialmoralische Werte vorherrschen und das von Gewalt und archaisch-
patriarchalischen Machtstrukturen geprägt ist. Der Islam erscheint implizit als
Hintergrund der Sozialmoral in dem Milieu. Indem der Autor bestimmte
Szenen und statistisch anmutende Daten auswählt und zu einem Gesamtbild
zusammenfügt, bietet er seinen Lesern ein klischeehaftes Bild eines
muslimisch geprägten Milieus an, das mit orientalistischen
Darstellungsmustern korrespondiert.
Hauptakteure der Geschichte sind die Jugendlichen, die im Berliner Kiez
rund um das Schlesische Tor leben (Unterzeile Z. 4-5, Z. 58-60). Der Autor
stellt sie als Kollektiv generalisierend dar – dies befördert vor allem die
Anwendung des Pronomens „sie“ (Z. 31, Z. 51, Z. 111) und den Gebrauch
des Passivs, mit dem der Autor Gewohnheiten und Gepflogenheiten
impliziert (Z. 46-47, Z. 91-93). Auch der Einsatz statistischer Angaben (Z. 63-
66) trägt zu einem homogenen Milieu-Bild bei.
49
Der Autor wählt einen Hauptprotagonisten, Mahmud (Z. 8), der als Insider
und Repräsentant des Milieus auftritt, indem der Autor ihn für das Kollektiv
sprechen lässt (Z. 28-30, Z. 94-98).
Nach Behauptung des Autors bilden Muslime die überwiegende Mehrheit im
Kiez (Z. 63). Durch diese Verknüpfung von Milieuzugehörigkeit und
Zugehörigkeit zum Islam erscheinen die Muslime als homogene Gruppe –
die einzigen Unterschiede, die der Autor benennt, liegen in nationaler
Herkunft (Z. 60-63) und in biographischen Details, die mit dem Glauben in
keinem konkreten Zusammenhang stehen (Z. 66-78). Indem die
Zugehörigkeit zum Islam statistisch gesehen als „größter gemeinsamer
Nenner“ der Bewohner des Kiezes dargestellt wird, erweckt der Autor den
Eindruck, als seien Alltag und soziale Beziehungen im Milieu durch die
Religion geprägt.
Der Autor richtet sein Augenmerk besonders auf die sozialmoralischen Werte
der muslimischen Jugendlichen (Z. 26-28, Z. 39-40, Z. 86-87). Da die
Bemerkung „Fast alle sind Muslime“ (Z. 63) den einzigen Hinweis auf ein
sozialmoralisches Wertesystem darstellt, impliziert der Autor, dass die Werte
der Protagonisten mit ihrer Religionszugehörigkeit in Verbindung stehen oder
aus dem Islam abgeleitet sind. Den Eindruck einer besonderen Wirkung des
Islam auf die Sozialmoral im Milieu bekräftigt der Autor durch den Verweis
auf Begriffe wie „,Ehre als Mann’“ (Z. 95) oder „,(...) Ehre der Familie (...)’“ (Z.
123), die oft mit Islam assoziiert werden (s. Kapitel 3.2) und die im Kontext
als zentrale Werte erscheinen.
Indem der Autor die Zugehörigkeit zum Islam in eine Reihe stellt mit hohem
Ausländeranteil und verbreiteter Arbeitslosigkeit, erscheint die Religion als
einer von mehreren Indikatoren für eine problematische Sozialstruktur.
Vordergründiges Motiv bei der Schilderung des Milieus ist die Gewalt, die im
Spektakel des Straßenkampfs (Z. 8-16), aber auch in Alltagskonflikten (Z.
121-124) zutage tritt. Diese Gewalt schildert der Autor als essentielles
Charakteristikum der „Schlesier“ – zum einen durch den Titel, zum anderen
durch die generalisierenden sprachlichen Mittel, mit denen der Autor die
Jugendlichen als kollektive, Gewalt bejahende Wertegemeinschaft beschreibt
(Z. 88-98). Auch die Zitate des Protagonisten, der als Repräsentant die
Werte und Kodizes des Milieus erläutert, implizieren, dass Gewalt den
50
muslimischen Jugendlichen als normal gilt (Z. 28-30). Die Feststellung, dass
die Straßenkämpfe nicht der Polizei gemeldet werden (Z. 101-104)
impliziert, dass die Gewalt der Jugendlichen in dem muslimisch geprägten
Milieu akzeptiert wird oder gar konsensfähig ist; dies scheint der
Repräsentant des Milieus zu bestätigen (Z. 94-95). Verstärkend wirkt dabei,
dass der Autor das Milieu als quasi-rechtsfreien Raum darstellt, auf den
Kontroll- und Sicherheitsorgane kaum Zugriff haben (Z. 109-110). Hier wirkt
sich vor allem das Kollektivsymbol der „’Mauer (...)’“ im Zitat des
Polizeibeamten (Z. 101) als Implikation einer hermetisch abgeschotteten
Gemeinschaft aus. Auch der kontrastierende Vergleich mit der Sportart
„Ultimate Fighting“ (Bilder, Z. 72-76) unterstützt den Eindruck von Anarchie.
In den Gewaltszenen schildert der Autor die Protagonisten als animalisch (Z.
20-22), irrational und zügellos (Z. 34-35, Z. 42-46). Das Kollektivsymbol
„Testosteron“ (Z. 17) impliziert – verstärkt durch die diffuse Beschreibung
„liegt in der Luft“ (ebd.) – Kontrollverlust und unzivilisierte Körperlichkeit;
diesen Eindruck verstärkt der Autor, indem er im ersten Abschnitt Körperteile
zu Subjekten erhebt (Z. 8, Z. 14-16).
Der Autor schildert zudem Gewalt als anerkanntes Mittel zur sozialen
Distinktion im Milieu (Z. 114-124) und verknüpft so implizit Gewalt mit einem
muslimisch geprägten sozialmoralischen Wertekonsens. Diese Verknüpfung
stellt der Autor einerseits selbst her (Z. 27-28), andererseits bekräftigt er sie
durch die Worte des Protagonisten Mahmud (Z. 86-87, Z. 122-124) – so
erscheint der Zusammenhang plausibel.
Bei der tiefergehenden Charakterisierung seiner Protagonisten geht der
Autor auf sozialmoralische Konzepte wie Ehrenkodex (Z. 95, 123),
Patriarchat (Z. 39-40, Z. 121-124) und Abgrenzung von „anderen“ (Z. 96-98)
ein. Das Weltbild der Muslime erscheint archaisch ( Z. 35) und geprägt von
einer hierarchischen Rangordnung, die durch die Macht des Stärkeren – hier
wirkt vor allem der Begriff „Opfer“ in seiner milieuspezifischen Bedeutung (Z.
13) – und der Dominanz von Männern über Frauen (Z. 121-124) bestimmt
wird. Auch hier verleihen die Zitate des Repräsentanten Mahmud den
Schilderungen des Autors den Eindruck von Authentizität.
Indem der Autor das muslimisch geprägte Milieu als Keimzelle sozialer
Gewalt und Aggression auch gegen Außenstehende (Z. 97-98) schildert,
51
impliziert er eine latente Gefahr für die deutsche Mehrheitsgesellschaft, die
von der Kombination eines muslimisch geprägten, arachaisch-
patriarchalischen Wertesystems mit wirtschaftlich-sozialer Perspektivlosigkeit
ausgeht (Z. 136-138). So legt der Autor seinen Lesern die Assoziation von
Islam mit Gefahr nahe.
Der Autor wertet nicht explizit, sondern gibt die geschilderten sozialen
Verhältnisse im Milieu zur Bewertung durch seine Leser frei. Durch die Art
seiner Darstellung (Z. 17-18, Z. 22-27) fördert er jedoch eine ablehnende
Haltung seiner Leser und eine Gegenpositionierung zu dem Wertsystem des
Milieus. Zum anderen schafft der Autor eine Gegenüberstellung von
deutscher Gesellschaft und dem muslimisch geprägten Milieu, indem er die
Abgrenzung hervorhebt, die der Repräsentant des Milieus Mahmud selbst
äußert (Z. 55-57, Z. 96-98). Damit regt der Autor seine Leser zu einer
dichotomisierenden Rezeption seiner Schilderungen an.
Indem er dieses Wertsysten implizit als archaisch und unzivilisiert darstellt,
befördert er eine Deutung der Dichotomie als ungleiches Verhältnis einer
moralisch und zivilisatorisch überlegenen und einer moralisch und
zivilisatorisch unterlegenen Gruppe im Sinne orientalistischer Stereotypen.
Auch die Assoziation von Islam mit Patriarchat und Gewalttradition befördert
verbreitete orientalistische Klischees.
Kapitel 3.4.8 – „Das Phantom der Oper“
Die Autoren des Artikels „Das Phantom der Oper“ (Nr.40/2006, S. 40 ff.)
schildern Muslime und „Islamisten“ als Aggressoren in einem Kulturkampf
gegen die deutsche Gesellschaft. Orientalistische Darstellungsmuster und
Stereotype bilden die Grundlage dieser Schilderung.
Die Autoren befassen sich vor allem mit „islamistischen Terroristen“ (Z. 29)
als Kollektiv, das sie nicht näher definieren oder identifizieren; „Islamismus“
wirkt als diffuse Kategorie. Die „Islamisten“ erscheinen als Einzeltäter, deren
Zahl und Präsenz jedoch nicht einschätzbar ist und die theoretisch jederzeit
angreifen könnten. Diese Implikation zieht sich durch den gesamten Text
(v.a. Z. 43-45, Z. 59-61, Z. 71-75). Die Aggression der „Islamisten“ richtet
sich nach Darstellung der Autoren gegen Leib und Leben jedes einzelnen
52
Deutschen (Z. 120 ff.). Hier setzen die Autoren vor allem Substantive und
dynamische Verben aus dem Themenfeld „Krieg“ und „Kampf“ ein, um
Gewaltszenen vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen zu lassen (Z.
15, Z. 42, Z.60, Z.84). Auch indem sie die „Zeiten des Terrors“ (Z. 121) mit
Krieg vergleichen (Z. 117-137, Z. 173-178), befördern die Autoren
Gewaltassoziationen. Besonders gefährlich erscheinen die „Islamisten“
dadurch, das die Autoren sie als irrational und unberechenbar
charakterisieren (Z. 138-139). Dass die Autoren die Motivation zur Gewalt
von „Islamisten“ in ihrem Glauben sehen, geht aus der Implikation hervor,
dass Kritik am Islam oder eine nicht-respektvolle Darstellung des Propheten
Aggression („islamistischen Furor“, Z. 138-139) auslöse (Z. 24-29, Z. 85-87,
Z. 140-144).
Muslime allgemein ordnen die Autoren einer „Parallelgesellschaft(en)“ (Z.
264-265) zu, die sich nach ihrer Darstellung in Deutschland ausbreitet (Z.
278-281) und die kulturelle Dominanz der Deutschen bedroht (Z. 285-286).
Indem die Autoren „vielen Muslimen“ defizitäre Deutschkenntnisse
attestieren (Z. 261-263), „Einwandererkinder“ kollektiv als schlechte Schüler
darstellen (Z. 323-325) sowie eine hohe und implizit stetig steigende
Arbeitslosigkeit von Ausländern hervorheben (Z. 326-329), erscheinen
Muslime (deren Bild hier mit dem der Einwanderer und Ausländer verknüpft
wird) generell als integrationsunwillig, ungebildet, unproduktiv und implizit als
wirtschaftliche und soziale Belastung.19 Die Präsenz und den nach ihrer
Darstellung dramatisch wachsenden Anteil von „Zugewanderten“ (Z. 282)
schildern die Autoren als aggressive und für die innere Stabilität
Deutschlands gefährliche Übernahme der Gesellschaftsmehrheit. (Z. 268 ff.)
Die Implikation, dass deutsche Schüler in „Einwanderervierteln“ (Z. 308) von
muslimischen Mitschülern wegen ihrer Religion und Kultur pauschal
beschimpft (Z. 310-312) und unterdrückt werden (Z. 318-322), stützt das Bild
einer aggressiven und immer dominanter auftretenden muslimischen
Minderheit.
Diese muslimische Minderheit wird essentialisierend als „abgeschlossene
Welt“ skizziert, die sich vor allem durch ihre eigenen Traditionen und
19 Hier fällt die Parallele zu den Thesen Thilo Sarrazins (Sarrazin 2010) auf – die Vermutung liegt nahe, dass die Autoren mit dem Diskursfragment dazu beitragen, den späteren Behauptungen Sarrazins den Weg zu ebnen.
53
sozialmoralische Wertvorstellungen definiert (Z. 265-267); das Verb
„kreisen“ (Z. 268) impliziert dabei eine ergebnislose Selbstbezogenheit, die
den Eindruck von Statik und kollektivem geistigen Verharren in archaischen
Moralkonzepten stützen. Muslimen schreiben die Autoren generell eine
Unterdrückung von Mädchen (Z. 252-256) und Frauen zu (Z. 257-259). So
suggerieren sie, dass muslimische Mädchen und Frauen in Deutschland
kollektiv in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, weil es die patriarchalischen
Traditionen des Islam so fordern. Den Eindruck, dass die angebliche
kulturelle Blockbildung von Muslimen in Deutschland religiös motiviert ist,
erwecken die Autoren vor allem dadurch, dass sie ihre prominenteste
Expertin, Necla Kelek, für diese These plädieren lassen (Z. 343-348).
In der Gesamtwirkung des Textes verschwimmt die Trennlinie zwischen
„Islamisten“ und Muslimen – beide Gruppen erscheinen als das „Andere“,
das die Autoren der deutschen Gesellschaft gegenüberstellen (Z. 57-61).
Den Begriff „appeasement“, der in seiner Fährenfunktion Assoziationen mit
fataler Akzeptanz gegenüber dem totalitären Terrorregime der Nazis weckt,
wenden die Autoren sowohl auf die Haltung zu „Islamisten“ als auch auf die
Haltung zu „Ausländern“, implizit Muslimen, an (Z.30, Z. 382-383). So
verknüpfen die Autoren beide Kollektive. Da die Autoren mit Ausnahme des
Mörders Theo van Goghs (Z. 65-67) keine Individuen beschreiben und die
Gruppen, über die sie sprechen, nicht identifizieren, wirken ihre
Charakterisierungen essentialisierend: Die Attribute und Eigenschaften, die
sie Muslimen zuschreiben, erscheinen als wesenhaft für das Kollektiv aller
Muslime in Deutschland.
Indem sie „Islamisten“ (Z. 105) und implizit auch Muslime (Z. 252-256, Z.
257-259) als „Gegner der Freiheit“ stilisieren, die deutsche Gesellschaft
jedoch als Hort der Freiheit darstellen (Z. 51-53, Z. 431-437) schaffen die
Autoren eine Dichotomie. Auch die deutsche Gesellschaft essentialisieren
die Autoren – einerseits, indem sie ein „Selbst“ beschwören, das sie mit
Nation gleichsetzen (Z. 244-245) und andererseits, indem sie ihr mit dem
Begriff „Angstvolk“ (Z. 106) eine kollektive psychische Disposition
zuschreiben. Essentialisierung und Dichotomie verstärken die Autoren,
indem sie Distanzierung von diesem „Selbst“ als psychische Störung
54
(„Selbsthass“, Z. 209) darstellen und – im Sinne einer Feindbegünstigung –
mit der Bedrohung durch Terroristen oder „Taliban“ assoziieren (Z. 237-240).
Die Autoren richten ihr Augenmerk auf „die Deutschen“ (Z. 54) als Volk.
Deutlich wird dies in zahlreichen Generalisierungen „der Deutschen“ oder
„der Gesellschaft“ (Z. 54 ff., Z. 77). Auch die häufige Verwendung des
unpersönlichen Pronomens „man“ und des Pronomens „wir“, mit dem sich
die Autoren selbst der impliziten Wertegemeinschaft der Deutschen
zurechnen, transportieren ein generalisierendes Volks-Bild. Wie die
Kollektive „Islamisten“ und „Muslime“ ist auch das Kollektiv der Deutschen
unscharf begrenzt – die Autoren verknüpfen es mit dem nicht näher
definierten „Westen“ (Z. 205), der meist mit Christentum assoziiert wird (Z.
384 ff). Die deutsche Mehrheitsgesellschaft und „die westliche Gesellschaft“
erscheinen synonym (Z. 220-222, Z. 434 ff.).
Die Autoren beanspruchen Gestaltungsmacht für die „wir“-Gemeinschaft der
Deutschen über die Gesellschaft. „Die Deutschen“ erscheinen als die Herren
im Haus, die nicht nur das Recht, sondern (aus Selbsterhaltungsgründen)
auch die Pflicht haben, „muslimische Zuwanderer“ zurecht zu weisen und
Anpassung zu erzwingen (Z. 275-276). Das zeigt vor allem die Implikation,
die im Wort „ungestraft“ enthalten ist (Z. 274-277) und das Kollektivsymbol
der „Schranke“ (Z. 17). Selbstbewusstsein bei der Vertretung eigener Werte
(Z. 384-391) gilt den Autoren als Richtmaß kultureller Hegemonie. Hier
werfen die Autoren den Deutschen kollektiv „appeasement“ (Z. 78) und
„Rückzug“ (Z. 269) vor.
Mit dem Artikel „Das Phantom der Oper“ bekräftigt der Spiegel einen
orientalistischen Diskurs über Muslime in Deutschland.
Indem die Autoren ein essentialistisches Bild von Islam als statisches,
archaisches und von Gewalt geprägtes Wertesystem zeichnen und Muslime
generalisierend und dichotomisierend als unberechenbare, irrationale
Aggressoren in einem Kulturkampf der deutschen bzw. westlichen
Gesellschaft gegenüberstellen, bedienen die Autoren alle von Said
definierten Dogmen des Orientalismus (s. Kapitel 2.1).
Dabei verkleiden die Autoren ihre orientalistischen Darstellungen als
Gesellschaftsanalyse: Sie verzichten weitgehend auf eine tatsächliche
Beweisführung ihrer Thesen – in vielen Sätzen ersetzen das Pronomen
55
„man“ (Z. 128-129) oder Formulierungen wie „Es gibt“ (Z. 220), „Es ist“ (Z.
285) oder „Da macht sich (...) breit“ (Z. 235-237) das handelnde Subjekt,
Passiv (Z. 384) oder vage Ortsangaben („in weiten Teilen der Linken“, Z.
357-358) machen Akteure unkenntlich. Die so dargestellten Thesen sind also
nicht überprüfbar; der Leser muss den Autoren glauben.
Plausibiliät in ihrer Argumentation konstruieren die Autoren stattdessen
durch wiedererkennbare Bilder (Z. 127-130, Z. 257-259), die das „Kopfkino“
ihrer Leser in Gang setzen. Auch die Marginalisierung von Gegenpositionen,
die sich vor allem im Umgang mit Expertenmeinungen zeigt, der selektive
Einsatz von statistischen Angaben und ihre Vermischung mit Implikaten (Z.
280-281), die Verwendung emotional gefärbter Substantive und Verben
(„Opfer“, Z. 41, „bedrohen“, Z. 60) und das Beschwören einer „wir“-
Gemeinschaft (Z. 59-61) dienen eher dazu, Ressentiments zu wecken, als
Thesen objektiv zu verifizieren. So wird die Analyse zu einer im wahrsten
Sinne des Wortes populistischen Warnung vor einem diffusen Feindbild.
Die Autoren bieten ihren Lesern einen Standpunkt an und schlagen in dem
Dickicht des Diskurses Argumentationswege frei. Dabei gehen sie offensiv
vor, indem sie einzelne Meinungen abwerten oder gar diffamieren
(„verbale[s] Heldentum“, Z.40) und andere Meinungen aufwerten und positiv
hervorheben. Damit hemmen sie eine kritische Auseinandersetzung der
Leser mit ihren Thesen.
56
Kapitel 4 – Fazit
Die Ergebnisse der Feinanalyse zeigen, wie unterschiedlich die Positionen
der Spiegel-Autoren im orientalistischen Diskurs ausfallen – das Spektrum
reicht von offenkundigem Orientalismus (s. Kapitel 3.4.8) bis zur
Gegenposition zum orientalistischen Diskurs (s. Kapitel 3.4.1). Auch
innerhalb der einzelnen Artikel treten bisweilen konkurrierende
Diskurspositionen zutage (s. Kapitel 3.4.3, Kapitel 3.4.4). Anhand der
Überprüfung der zentralen Charakteristika von Orientalismus lässt sich die
Position des Spiegel im Diskurs über „Islam in Deutschland“ dennoch
einordnen.
Nicht flächendeckend, aber prominent ist das für den orientalistischen
Diskurs zentrale Merkmal der Dichotomisierung (s. Kapitel 2.1): In der
Mehrzahl der Artikel erscheint Islam implizit oder explizit als Gegensatz zur
deutschen Gesellschaft. Hier bestätigt sich die Beobachtung aus der
Strukturanalyse (s. Kapitel 3.2). Besonders auffallend ist diese
Dichotomisierung in Artikeln oder Textpassagen, in denen Islam als
Wertesystem erscheint (s. Kapitel 3.4.3, 3.4.4, 3.4.6, 3.4.7 und 3.4.8). Oft
liegt die Implikation oder Behauptung eines Gegensatzes zwischen Islam
und deutscher Gesellschaft bereits im Thema des Artikels begründet (s.
Kapitel 3.4.3, 3.4.4, 3.4.5, 3.4.6 und 3.4.8). In Artikeln oder Passagen, in
denen individuelle Muslime im Fokus stehen, vermeiden die Autoren die
Dichotomie zwischen Muslimen und deutscher Gesellschaft oder entkräften
sie sogar – damit erklärt sich der auf den ersten Blick verblüffende Befund,
dass ausgerechnet in Artikeln, in denen muslimische Terrorverdächtige die
Hauptrolle spielen, keine Dichotomie zwischen Islam und deutscher
Gesellschaft auftritt (s. Kapitel 3.4.1, 3.4.2).
Weniger prominent, aber mit einer ähnlichen Verteilung tritt das Merkmal der
Generalisierung von Muslimen in Erscheinung: In den meisten Artikeln
stellen die Autoren Muslime allgemein oder bestimmte Gruppen von
Muslimen generalisierend dar oder befördern durch ihre Darstellungen eine
generalisierende Rezeption durch ihre Leser (s. Kapitel 3.4.3, 3.4.4., 3.4.5,
3.4.6, 3.5.7 und 3.4.8) – die häufige Darstellung von Muslimen als Kollektive
begünstigt dieses Muster. Im Gegensatz zeigt sich, dass der Fokus auf
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Individuen einem generalisierenden Bild von Muslimen entgegenwirkt –
besonders, wenn diese Individuen vielschichtig und mehrdimensional
beschrieben werden (s. Kapitel 3.4.1, 3.4.2 und 3.4.4).
Essentialisierungen von Islam kommen in wenigen Texten vor. Nur in einem
Artikel (s. Kapitel 3.4.8) stellen die Autoren Islam offenkundig und mit
Nachdruck essentialisierend dar. In einigen Texten bewirkt die Darstellung
muslimischer Gemeinschaften oder muslimisch geprägter Milieus als
abgeschlossene Welt eine implizite Essentialisierung oder legt eine
entsprechende Rezeption des Geschilderten nahe (s. Kapitel 3.4.4, 3.4.6).
Schwerwiegender ist dagegen der Einsatz von Stereotypen in den
untersuchten Spiegel-Artikeln:
Besonders prominent ist das Stereotyp eines gefährlichen und
gewaltgeprägten Islam – dieses Bild findet in fast allen Artikeln Raum (s.
Kapitel 3.4.2, 3.4.3, 3.4.4, 3.4.5, 3.4.6, 3.4.7 und 3.4.8) und bestimmt oft das
Thema der Spiegel-Beiträge (s. Kapitel 3.4.2, 3.4.3, 3.4.6, 3.4.7 und 3.4.8).
Die Verbreitung dieses Stereotyps deckt sich zum Teil mit der Prominenz von
Dichotomien zwischen Islam und deutscher Gesellschaft. In der
Gesamtwirkung erscheint der Islam als potenzielle Bedrohung für die
deutsche Gesellschaft, die eine ständige Kontrolle und Wachsamkeit seitens
deutscher Sicherheitsorgane erfordert.
Auch die stereotype Darstellung von Muslimen als irrational findet sich in
vielen der untersuchten Artikel wieder (s. Kapitel 3.4.3, 3.4.6, 3.4.7 und
3.4.8), tendenziell unterstützt durch das Bild eines bildungsfeindlichen Islam
(s. Kapitel 3.4.4). In einigen Fällen verstärkt dieses Stereotyp den Eindruck
einer Bedrohung durch den Islam – Muslime werden durch die
Charakterisierung als irrational als besonders gefährlich dargestellt (s.
Kapitel 3.4.3 und 3.4.8).
Ein stereotypes Bild, das den Islam als unterentwickelt oder zivilisatorisch
unterlegen erscheinen lässt, findet sich in drei der acht untersuchten Artikel
wieder (s. Kapitel 3.4.6, 3.4.7 und 3.4.8); das Stereotyp eines statischen
Islam tritt nur in einem Fall auf (s. Kapitel 3.4.8).
Zusätzlich zu den in Kapitel 2.1 aufgeführten orientalistischen
Charakterisierungen tritt das Stereotyp eines Frauen unterdrückenden Islam
in vielen Artikeln zutage (s. Kapitel 3.4.4, 3.4.5, 3.4.6, 3.4.7 und 3.4.8). Auch
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hier decken sich die Ergebnisse von Struktur- und Feinanalyse (s. Kapitel
3.2). Dieses Stereotyp korrespondiert in der Darstellung der Autoren mit dem
Bild von Islam als zivilisatorisch rückständig.
Aufschlussreich ist auch die Überprüfung von Saids Beobachtung, dass
orientalistische Darstellungen sich eher auf Abstraktionen statt auf faktische
Belege stützen (s. Kapitel 2.1): In der Gesamtschau der Artikel zeigt sich,
dass in den Artikeln oder Textpassagen, in denen orientalistische Muster
nach den oben beschriebenen Merkmalen am deutlichsten in Erscheinung
treten, die Autoren ihre Schilderungen vorwiegend auf Behauptungen, diffuse
Konzepte, Feindbilder oder emotionsgeladene Szenarien stützen oder durch
Wiedererkennungseffekte den Eindruck von Authentizität zu vermitteln
versuchen (s. Kapitel 3.4.3, 3.4.4, 3.4.8). Dagegen treten in Artikeln, in denen
sich die Autoren stark an Fakten orientieren, kaum orientalistische
Darstellungsmuster in Erscheinung (s. Kapitel 3.4.1, 3.4.2).
Die Frage nach dem Definitionsanspruch der Autoren, die über Islam und
Muslime schreiben, erfordert eine differenzierte Untersuchung. Schon der
bloßen Tätigkeit des publizistischen Schreibens über Muslime liegt ein
Definitionsanspruch zugrunde – die Autoren zeichnen ein Bild von Muslimen
oder Islam, das durch Autorität und Verbreitung der Medien eine besondere
Wirkungsmacht entfaltet. Die Berichterstattung über Islam und Muslime
deshalb per se als Zeichen für Orientalismus zu werten, halte ich jedoch für
überzogen; dies wird auch den Thesen Saids nicht gerecht (Said 2003a:xxiii).
Wesentlich erscheint mir dagegen, wie das Bild zustande kommt, das die
jeweiligen Journalisten zeichnen und in welchem Maß die beschriebenen
Muslime daran mitwirken. Dies mache ich daran fest, ob die Autoren ihren
Protagonisten Raum geben, sich selbst zu repräsentieren, oder ob sie
beanspruchen, für ihre Protagonisten zu sprechen.
Der Raum, den die Autoren einzelnen Muslimen geben, um sich selbst zu
repräsentieren, fällt insgesamt gering aus. In zwei von acht Artikeln lassen
die Autoren individuelle Muslime in eigener Sache sprechen (s. Kapitel 3.4.1
und 3.4.2). Bei der Charakterisierung von Kollektiven, die die
Gesamtdarstellung des Themas „Islam in Deutschland“ im Spiegel dominiert,
setzen die Autoren oft Repräsentanten ein, die für das Kollektiv sprechen (s.
Kapitel 3.4.4, 3.4.5, 3.4.7). Dabei bleibt offen, ob die Repräsentanten
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tatsächlich einen kollektiven Konsens wiedergeben oder nicht. In einem der
acht Artikel kommt überhaupt kein Muslim zu Wort (s. Kapitel 3.4.8) – hier
beanspruchen die Autoren uneingeschränkte Definitionsmacht.
Häufig zeigt sich dagegen, dass die Autoren für ihre muslimischen
Protagonisten sprechen (s. Kapitel 3.4.4, 3.4.5 und 3.4.8) oder
beanspruchen, die inneren Vorgänge, Gedanken und Gefühle von individuell
oder kollektiv auftretenden Muslimen zu kennen und ihren Lesern erläutern
zu können (s. Kapitel 3.4.6 und 3.4.7).
Zudem fällt auf, dass die Autoren der meisten Artikel Definitionen und
Deutungen von anderen Autoritäten übernehmen, etwa staatlichen Macht-
und Kontrollinstanzen (s. Kapitel 3.4.5, 3.4.7 und 3.4.8) oder muslimischen
Insidern, die zugleich als Experten auftreten (s. Kapitel 3.4.3. und 3.4.4).
Dabei stehen diese Autoritäten fast immer in Opposition zu der Gruppe, die
sie definieren und beschreiben (s. Kapitel 3.4.3, 3.4.4, 3.4.7 und 3.4.8).
Indem sie ausgewählte Personen oder Instanzen mit Deutungshoheit
ausstatten und über ein ihnen gegenübergestelltes Kollektiv sprechen
lassen, machen sich die Autoren diese Definitionen zunutze, um ihrem Bild
von Muslimen Authentizität und Gewicht zu verleihen.
In zwei Artikeln pflegen die Autoren einen kritischen und distanzierten
Umgang mit den Definitionen außenstehender Machtinstanzen (s. Kapitel
3.4.1 und 3.4.2). Diese kritische Haltung tritt meinen Beobachtungen aus der
Strukturanalyse zufolge in Beiträgen über mutmaßlichen Terrorismus
verstärkt zutage (s. Kapitel 3.2).
Die Untersuchung von Merkmalen des orientalistischen Diskurses in den
Spiegel-Artikeln über Muslime in Deutschland deckt auf, wie prominent und
vielschichtig sich orientalistische Darstellungsmuster in dem Bild
niederschlagen, das das Magazin seinen Lesern von Muslimen oder Islam in
Deutschland vermittelt. Dieser Dominanz des hegemonialen Diskurses
setzen nur wenige Artikel Gegenpositionen entgegen; in der Gesamtwirkung
der Diskurslinie des Spiegel gibt die orientalistische Tradition die
Stoßrichtung des Magazins vor.
Auch wenn keines der von Said beschriebenen Merkmale von Orientalismus
flächendeckend in allen Artikeln auftritt, zeigt sich in der Gesamtanalyse,
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dass der Spiegel mit seinen 2006-2008 erschienenen Beiträgen über das
Thema „Islam in Deutschland“ insgesamt Orientalismus bekräftigt.
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Kapitel 5 – Schlussbemerkung
Die kritische Diskursanalyse der verschiedenen Beiträge des Spiegel über
Muslime in Deutschland hat gezeigt, auf welch unterschiedlichen Wegen
orientalistische Darstellungsmuster in journalistische Texte einfließen und
darin Wirkung entfalten. Der Effekt, den Orientalismus in dieser Form erzielt,
ist besorgniserregend: Bekräftigt durch die Autorität und diskursive Macht der
Medien manifestiert sich ein Bild von Islam als fremde, latent gefährliche
Machtinstanz, die einer deutschen Mehrheitsgesellschaft antagonistisch
gegenübersteht. Muslime erscheinen als Außenstehende, deren Werte und
Normen nicht in „unsere“ Gesellschaft passen.20 Frauen und Mädchen mit
Kopftuch haftet das Bild der unterdrückten Muslima, des Opfers
patriarchalischer Gewalt, an.21 Moscheen in deutschen Städten erscheinen
als Fremdkörper und Keimzellen einer latent gefährlichen Ideologie, die sich
der Kontrolle deutscher Sicherheitsorgane zu entziehen droht.22 Wie
destruktiv sich der orientalistische Diskurs auswirkt auf das große Projekt
„Integration“ und das Ziel, dass Muslime eines Tages selbstverständlich als
Zugehörige der deutschen Gesellschaft gelten, ist offensichtlich.
Journalisten, die „[v]erantwortungsethisch(en)“ (Pürer 1996, zit. nach Mast
2004:98) über Islam und Muslime schreiben wollen, müssen sich vom
orientalistischen Diskurs distanzieren. Doch nicht nur sie – auch ihre Leser
müssen sich der diskursiven Techniken des Orientalismus bewusster werden
und Diskurse hinterfragen, indem sie Texte nicht als Abbild von Wahrheit
betrachten, sondern als Produkte menschlicher Arbeit, der bisweilen auch
fragwürdige Methoden zugrunde liegen.
20 Ein Indiz für die Verbreitung dieses Islam-Bildes stellt etwa die Debatte dar, die sich nach der Rede des Bundespräsidenten Christian Wulff am Tag der Deutschen Einheit entzündete, nachdem Wulff gesagt hatte, „(...) der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“. (http://www.bundespraesident.de/Reden-und-Interviews-,11057.667040/Rede-von-Bundespraesident-Chri.htm?global.back=/-%2c11057%2c6/Reden-und-Interviews.htm%3flink%3dbpr_liste, Datum des letzten Besuchs: 28.03.2011) 21 Dieses Bild beförderte etwa Alice Schwarzer mit ihrer Behauptung, das Kopftuch sei „(...) eine Art ‚Branding’, vergleichbar mit dem Judenstern (...)“, das Musliminnen zu „(...) Menschen zweiter Klasse (...)“ mache. (http://www.faz.net/s/RubCF3AEB154CE64960822FA5429A182360/Doc~EF6816D734A5C42A8A352CBB10367B7FA~ATpl~Ecommon~Scontent.html, Datum des letzten Besuchs: 02.04.2011) 22 Belege für die Verbreitung dieses Feindbildes liefern zahlreiche Bürgerinitiativen, die gegen den Neubau von Moscheen protestieren – ein prominentes Beispiel ist etwa die Initiative „Pro Köln“, deren Konzept bereits überregional Nachahmer gefunden hat (http://www.aktuell.pro-koeln.org/, Datum des letzten Besuchs: 28.03.2011)
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Hier soll meine Arbeit einen Beitrag dazu leisten, die Wirkungsmechanismen
des orientalistischen Diskurses sichtbar zu machen und Produzenten wie
Rezipienten des Mediendiskurses über Islam in Deutschland dazu
anzuregen, wachsam und kritisch mit Repräsentationen von Islam und
Muslimen umzugehen.
Wie können sich Journalisten von Orientalismus distanzieren? Die Lösung ist
sicherlich nicht, gar nicht oder nur positiv über Islam und Muslime zu
berichten (s. Kapitel 4). Auch selektive Berichterstattung, die sich auf
scheinbare Ausnahmefälle oder Gegenbeispiele konzentriert und alle
Faktoren ausblendet, die orientalistisch anmutende Bilder befördern könnten,
wirkt letztendlich verfälschend und zeugt weder von Qualität noch von
journalistischem Berufsethos.
Die wichtigste Voraussetzung für eine verantwortungsethische
Berichterstattung über Islam und Muslime ist m. E. ein geschärftes
Bewusstsein für die Wirkungsmacht orientalistischer Darstellungen. Edward
Said liefert selbst einige Ratschläge, die sich sowohl für Wissenschaftler als
auch für Journalisten anbieten (Said 2003a:326 f.):
Zum einen empfiehlt er, eine wachsame und kritische Haltung gegenüber
dem eigenen Geschriebenen einnehmen; die Gefahr, in Orientalismus zu
verfallen, sollten Autoren immer im Kopf behalten. Hilfreich sei es auch, auf
Entwicklungen in anderen Disziplinen achten, um gegebenenfalls „instruktive
Korrektive“ zu finden, die sich auf die eigenen Projekte anwenden lassen.
Zudem sollten Autoren, die über Islam schreiben, eine eigenständige und
konkrete Herangehensweise an das Thema Islam entwickeln, sich von
spezifischen Problemen und Gesellschaften animieren lassen und die
Rituale, Vorurteile und Doktrinen des Orientalismus außen vor lassen.
Diesen Punkt halte ich für die wichtigste und wirkungsvollste Methode, um
bei der Berichterstattung über Muslime und Islam in Deutschland
orientalistische Konzepte zu vermeiden. Auch in meiner Diskursanalyse zeigt
sich, dass die Autoren, die individuelle Muslime als vielschichtige Personen
in den Vordergrund stellen und sich beim Schreiben an Fakten und
Handlungen orientieren, deutlich seltener in orientalistische
Darstellungsmuster verfallen als diejenigen Autoren, die zu pauschalen
Beschreibungen von Kollektiven und „Strömungen“ ansetzen, die sich an
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Fakten und Personen allenfalls notdürftig belegen lassen (s. Kapitel 3.4 und
Kapitel 4).
Einen konstruktiven Vorschlag für eine Technik konkreten und differenzierten
Schreibens liefert die Anthropologin Lila Abu-Lughod, deren Konzept der
„Ethnografie des Partikularen“ auch lohnenswerte Ansätze für journalistische
Praxis bietet (Abu-Lughod 1996). Abu-Lughod plädiert dafür, Menschen als
„Individuen in Zeit und Raum“ (ebd.:33) zu schildern und ihrer persönliches
Handeln im Kontext ihrer sozialen Umgebung in den Fokus zu rücken, mit
dem Ziel, Generalisierungen und Dichotomien zwischen „Selbst“ und
„Anderen“ zu vermeiden. Die Geschichten, die ein solcher Fokus auf
partikulare Lebenswelten hervorbringt, erscheinen gerade für Journalisten
und ihre Leser attraktiv, die sich von Orientalismus verabschieden wollen:
„Der besondere Wert dieser Strategie liegt darin, daß [sic] sie Ähnlichkeiten in allen unseren
Lebensumständen zum Vorschein bringt. Festzustellen, daß [sic] wir alle im Partikularen
leben, bedeutet nicht, daß [sic] alles Partikulare dasselbe ist. Es kann durchaus sein, daß
[sic] wir sogar beim Blick auf den Alltag grundlegende Unterschiede entdecken (...). Aber die
Alltäglichkeit bricht die Kohärenz und führt die Kategorie der Zeit ein; sie orientiert uns so auf
Ablauf und Widerspruch. Und das Partikulare weist darauf hin, daß [sic] andere so leben,
wie auch wir unser Leben sehen, nicht als Roboter, die mit kulturellen „Regeln“ programmiert
sind, sondern als Menschen, die durchs Leben gehen und sich dabei mit Entscheidungen
herumschlagen, Fehler machen, versuchen, gut auszusehen, Tragödien und persönliche
Verluste ertragen, Freude an anderen haben und Augenblicke des Glücks finden. Die
Sprache der Verallgemeinerung kann diese Art von Erfahrungen und Tätigkeiten nicht
vermitteln.“ (ebd.:38)
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Literaturverzeichnis
Abu-Lughod, Lila (1996). Gegen Kultur Schreiben. In: Lenz, Ilse/Germer,