Uni Fribourg 1 Frühlingssemester 2011 Textmaterial Anagnorismos Anagnorismos — Wiedererkennungsszenen in der antiken Literatur Orientierende Bibliographie Braswell, B.K., A Commentary on the Fourth Pythian Ode of Pindar, Berlin / New York, 1988. Büchner, W., "Die Penelopeszenen in der Odyssee", Hermes 75 (1940), 129–167. Färber, H., Horaz. Sämtliche Werke, München, 1967. Fraenkel, E., Aischylus. Agamemnon, vol. III, Oxford, 1950. Fuhrmann, M., Aristoteles. Poetik, Stuttgart, 1982. Gaisser, J. H., “Adaptation of Traditional Material in the Glaucus-Diomedes Episode”, TAPhA 100 (1969) 165-76. Hölscher, U., "Die Erkennungsszene im 23. Buch der Odyssee", in: E. Römisch, Griechisch in der Schule: Didaktik, Plan und Deutung, Frankfurt am Main, 1972, 156–165. Johnston, S.I., »Totenkult«, DNP 12/1, Stuttgart, 2002, 710–11. Lloyd-Jones, H., „Some alleged interpolations in Aeschylus’ Cheophori and Euripides’ Electra“, CQ 55 (1961), 171–184. Matthiessen, K., Elektra, Taurische Iphigenie und Helena, Göttingen, 1964. Papadopoulou-Belmehdi, I., Le chant de Pénélope. Poétique du tissage dans l’Odyssée, Paris, 1994. Russo, J. / Fernández-Galiano, M. / Heubeck, A., A Commentary on Homer’s Odyssey, vol. III, Oxford, 1992. Schmid, W. / Stählin, W., Geschichte der griechischen Literatur, München, Stoevesandt, M., Feinde – Gegner – Opfer. Zur Darstellung der Torianer in den Kampfszenen der Ilias, Basel, 2004. Willcock, M.M., “Nervous Hesitation in the Iliad”, in: Homer 1987. Papers of the Third Greenbank Colloquium (April 1987), hrsg. von J. Pinsent und H.V. Hurt (Liverpool Classical Papers, 2), Liverpool, 1992, 65–73. Textauszüge 1. Arist. Poet. 6 (Übersetzung: M. Fuhrmann) a) μίμησις πράξεως σπουδαίας καὶ τελείας μέγεθος ἐχούσης / ἡδυσμένῳ λόγῳ b) μέγιστον δὲ τούτων ἐστὶν ἡ τῶν πραγμάτων σύστασις c) τὰ μέγιστα οἷς ψυχαγωγεῖ ἡ τραγῳδία τοῦ μύθου μέρη ἐστίν, αἵ τε περιπέτειαι καὶ ἀναγνωρίσεις. 2. Pl. Minos 320e–321a (Übersetzung: H. Schleiermacher) Δι’ ὃ καὶ σύ, ὦ βέλτιστε, ἐὰν σωφρονῇς, εὐλαβή- σῃ, καὶ ἄλλος πᾶς ἀνὴρ ὅτῳ μέλει τοῦ εὐδόκιμον εἶναι, μηδέποτε ἀπεχθάνεσθαι ἀνδρὶ ποιητικῷ μηδενί. οἱ γὰρ ποιηταὶ μέγα δύνανται εἰς δόξαν, ἐφ’ ὁπότερα ἂν ποιῶσιν εἰς τοὺς ἀνθρώπους, ἢ εὐλογοῦντες ἢ κακηγοροῦντες. ὃ δὴ καὶ ἐξήμαρτεν ὁ Μίνως, πολεμήσας τῇδε τῇ πόλει, ἐν ᾗ ἄλλη τε πολλὴ σοφία ἐστὶ καὶ ποιηταὶ παντοδαποὶ τῆς τε ἄλλης ποιήσεως καὶ τραγῳδίας. ἡ δὲ τραγῳδία ἐστὶν παλαιὸν ἐνθάδε, οὐχ ὡς οἴονται ἀπὸ Θέσπι- δος ἀρξαμένη οὐδ’ ἀπὸ Φρυνίχου, ἀλλ’ εἰ θέλεις ἐννοῆσαι, πάνυ παλαιὸν αὐτὸ εὑρήσεις ὂν τῆσδε Aus demselben Grund, mein Bester, weshalb auch du, wenn du vernünftig bist, dich hüten wirst wie auch jeder andere, dem an einem guten Ruf liegt, euch jemals mit einem Dichter zu verfeinden. Denn die Dichter haben grossen Einfluss auf den Ruf, je nachdem was sie über die Menschen dichten, ob sie sie nun loben oder tadeln. Darin hat denn auch Minos einen Fehler begangen, dass er unsern Staat bekriegte, in welchem sich überhaupt viel Weisheit und namentlich Dichter aller Art sich finden, sowohl in andern Dichtungsgattungen als insbesondere auch in der Tragödie. Die Tragödie aber ist hierzulande schon alt und hat nicht, wie man glaubt, erst mit Thespis begonnen oder mit Phrynichos, sondern wenn du genau hinsiehst, wirst du finden,
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Anagnorismos — Wiedererkennungsszenen in der antiken Literatur
Orientierende Bibliographie
Braswell, B.K., A Commentary on the Fourth Pythian Ode of Pindar, Berlin / New York, 1988.
Büchner, W., "Die Penelopeszenen in der Odyssee", Hermes 75 (1940), 129–167.
Was die Wiedererkennung ist, wurde schon früher gesagt. Von den Arten der Wiedererkennung hat die erste am wenigsten etwas mit der Dichtkunst zu tun, und man verwendet sie aus Verlegenheit am häufigsten: die durch Zeichen. Die Zeichen sind zum Teil angeboren, wie »die Lanze, die die Erdgeborenen an sich tragen«, oder wie die Sterne im Thyestes des Karkinos; zum Teil sind sie erworben, und zwar bald am Körper, wie Narben, bald als äusserer Besitz, wie Halsbänder und wie in der Tyro die durch den Kahn bewirkte Wiedererkennung. Man kann diese Zeichen besser oder schlechter verwenden. Odysseus z.B. wird an seiner Narbe auf bestimmte Weise von der Amme erkannt und auf andere Weise von den Sauhirten. Die Wiedererkennungen, die um eines Beweises willen stattfinden – und alle anderen dieser Art –, sind allerdings kunstloser, die hingegen, die mit einer Peripetie zusammenhängen, wie die in den Niptra, besser. Die zweite Art sind die vom Dichter erdachten, und daher sind sie ebenfalls kunstlos. So gibt Orestes in der Iphigenie zu erkennen, daß er Orestes sei; denn während Iphigenie auf Grund des Briefes wiedererkannt wird, sagt Orestes von sich aus, was der Dichter will, und nicht, was die Überlieferung gebietet. Daher kommt dieses Verfahren dem soeben erwähnten Mangel ziemlich nahe; die Person hätte ebensogut auch bestimmte Zeichen an sich tragen können. Dasselbe gilt von der ›Stimme‹ des Weberschiffs im Tereus des Sophokles. Die dritte Art vollzieht sich auf Grund der Erinnerung, dadurch, dass man bei einem Anblick etwas bemerkt. So im Falle der Kyprier des Dikaiogenes: jemand erblickt das Bild und fängt an zu weinen. Ebenso auch in der Erzählung vor Alkinoos: jemand hört dem Zitherspieler zu, erinnert sich und bricht in Tränen aus. Der eine wie der andere wird daraufhin erkannt. Die vierte Art beruht auf einer Schlussfolgerung. So in den Choephoren: »Es ist jemand gekommen, der mir ähnelt; mir ähnelt niemand, es sei denn Orestes; also ist Orestes gekommen.« So auch im Falle der Erfindung, die der Sophist Polyidos hinsichtlich der Iphigenie gemacht hat: es sei wahrscheinlich, dass Orestes folgere, er werde, da doch schon seine Schwester geopfert worden sei, ebenfalls geopfert werden. Ferner im Tydeus des Theodektes: er kommt in der Absicht, seinen Sohn wiederzufinden, und geht selbst zugrunde. Ferner in den Phineiden: sobald die Frauen den Ort erblicken, schliessen sie daraus auf ihr Schicksal, nämlich dass ihnen bestimmt sei, dort zu sterben; dort waren sie auch ausgesetzt worden. †Es gibt auch eine Art, die auf einem Fehlschluss des Zuschauers beruht. So im Odysseus Pseudangelos. Daß er allein den Bogen
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spannen kann, und sonst niemand, ist vom Dichter erfunden und Voraussetzung, selbst wenn er behauptet, er werde den Bogen erkennen, ohne ihn gesehen zu haben; doch die Annahme, Odysseus werde sich hierdurch zu erkennen geben, ist ein Fehlschluss.† (dunkler, korrupt überlieferter Teil) Die beste unter allen Wiedererkennungen ist diejenige, die sich aus den Geschehnissen selbst ergibt, indem die Überraschung aus Wahrscheinlichem hervorgeht. So ist es im Ödipus des Sophokles und in der Iphigenie; denn es ist wahrscheinlich, dass Iphigenie einen Brief zu übergeben wünscht. Denn derartige Wieder-erkennungen kommen als einzige ohne die erfundenen Zeichen, wie Halsbänder, aus. Die zweitbesten Wiedererkennungen sind diejeni-gen, die sich aus einer Schlussfolgerung ergeben.
6. Hom. Il. 6, 119–236 (Übersetzung: nach H. Voss)
schön an Ackergefild' und Pflanzungen, daß er sie baute.
Jene gebar drei Kinder dem feurigen Bellerophontes,
erst Isandros, Hippolochos dann, und Laodameia.
Laodameia ruht' in Zeus des Kroniden Umarmung;
und sie gebar Sarpedon, den götterähnlichen Streiter.
Aber nachdem auch jener den Himmlischen allen verhaßt ward,
irrt' er umher einsam, sein Herz von Kummer verzehret,
durch die aleïsche Flur, der Sterblichen Pfade vermeidend.
Seinen Sohn Isandros ermordete Ares der Wütrich,
als er kämpft' in der Schlacht mit der Solymer ruchtbaren Völkern.
Artemis raubt' ihm die Tochter, die Lenkerin goldener Zügel.
Aber Hippolochos zeugete mich, ihn rühm' ich als Vater.
Dieser sandt' in Troja mich her, und ermahnte mich sorgsam,
immer der erste zu sein, und vorzustreben vor andern;
daß ich der Väter Geschlecht nicht schändete, welches die ersten
Männer in Ephyra zeugt', und im weiten Lykierlande.
Sieh aus solchem Geschlecht und Blute dir rühm' ich mich jetzo.
Sprachs; doch freudig vernahm es der Rufer im Streit Diomedes.
Eilend steckt' er die Lanz' in die nahrungsprossende Erde,
und mit freundlicher Rede zum Völkerhirten begann er:
Wahrlich, so bist du mir Gast aus Väterzeiten schon vormals!
Öneus der Held hat einst den untadlichen Bellerophontes
gastlich im Hause geehrt, und zwanzig Tage geherbergt.
Jen' auch reichten einander zum Denkmal schöne Geschenke.
Öneus Ehrengeschenk war ein Leibgurt, schimmernd von Purpur,
aber des Bellerophontes ein goldener Doppelbecher;
und ihn ließ ich scheidend zurück in meinem Palaste.
Tydeus gedenk' ich nicht mehr; denn noch ein stammelnder Knabe
blieb ich daheim, da vor Thebe das Volk der Achaier vertilgt ward.
Also bin ich nunmehr dein Gastfreund mitten in Argos;
du in Lykia mir, wann jenes Land ich besuche.
Drum mit unseren Lanzen vermeiden wir uns im Getümmel.
viel ja sind der Troer mir selbst, und der rühmlichen Helfer,
daß ich töte, wen Gott mir gewährt, und die Schenkel erreichen;
viel' auch dir der Achaier, daß, welchen du kannst, du erlegest.
Aber die Rüstungen beide vertauschen wir, daß auch die andern
schaun, wie wir Gäste zu sein aus Väterzeiten uns rühmen.
Also redeten jen', und herab von den Wagen sich schwingend,
faßten sie beid' einander die Händ', und gelobten sich Freundschaft.
Doch den Glaukos erregte Zeus, daß er ohne Besinnung
gegen den Held Diomedes die Rüstungen, goldne mit ehrnen,
wechselte, hundert Farren sie wert, neun Farren die andern.
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7. Hor. Serm. 1, 7, 15–18 (Übersetzung: H. Färber) … duo si discordia vexet inertis aut si disparibus bellum incidat, ut Diomedi cum Lycio Glauco, discedat pigrior ultro muneribus missis …
Sind’s feige Männer, die die Zwietracht stachelt, oder ungleichartige, die in Kampf geraten, wie Diomedes mit dem Lykier Glaukos, so weicht der Schwächere vom Platz und schickt noch obendrein Geschenke
8. Hom. Od. 16, 154–226 (Übersetzung: nach H. Voss)
Aber Odysseus sprach zu Telemachos und zu den Hirten: Geht ihr jetzo hinein in die schöngebauete Wohnung, / Und bereitet schnell zum Mahle das trefflichste Mastschwein. Ich will indes hingehen, um unsern Vater zu prüfen: Ob er mich wohl noch kennt, wenn seine Augen mich sehen; Oder ob ich ihm fremd bin, nach meiner langen Entfernung. Also sprach er, und gab den Hirten die kriegrische Rüstung. Diese gingen sogleich in die Wohnung. Aber Odysseus Eilte zu seinem Vater im obstbeladenen Fruchthain. Und er fand, da er eilig den langen Garten hinabging, Weder Dolios dort, noch Dolios' Knechte und Söhne. Diese waren aufs Feld gegangen, und sammelten Dornen Zu des Gartens Geheg', und der alte Mann war ihr Führer. Nur Laertes fand er im schöngeordneten Fruchthain. Um ein Bäumchen die Erd' auflockern. Ein schmutziger Leib-rock / Deckt' ihn, geflickt und grob; seine Schenkel umhüll-ten / Gegen die ritzenden Dornen geflickte Stiefel von Stier-haut; / Und Handschuhe die Hände der Disteln wegen; die Scheitel / Eine Kappe von Ziegenfell: so traurte sein Vater. Als er ihn jetzo erblickte, der herrliche Dulder Odysseus, Wie er vom Alter entkräftet und tief in der Seele betrübt war; Sah er ihm weinend zu im Schatten des ragenden Birnbaums. Dann bedacht' er sich hin und her, mit wankendem Vorsatz: Ob er ihn küssend umarmte, den lieben Vater, und alles Sagte, wie er nun endlich zur Heimat wiedergekehrt sei; Oder ihn erst ausfragte, um seine Seele zu prüfen. Dieser Gedanke schien dem Zweifelnden endlich der beste: Erst mit sanftem Tadel des Vaters Seele zu prüfen. Dieses beschloss Odysseus, und eilte hin zu Laertes, Der, mit gesenktem Haupte, des Baumes Wurzel umhackte; Und der treffliche Sohn trat nahe zum Vater, und sagte: Alter, es fehlet dir nicht an Kunst den Garten zu bauen! Schön ist alles bestellt; kein einziges dieser Gewächse, Keine Rebe vermisst, kein Öl-, Feigen- und Birnbaum,
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Keines der Beet' im Garten vermisst die gehörige Pflege! Eins erinnre ich nur; nimm mir's nicht übel, o Vater! / Du wirst selber nicht gut gepflegt! Wie kümmerlich gehst du, Schwach vor Alter, und schmutzig dabei, und hässlich beklei-det! / Wegen der Faulheit gewiss kann dich dein Herr nicht ver-säumen! / Selbst der Gedank' an Knechtschaft verschwindet ei-nem Betrachter / Deiner Gestalt und Größe; du hast ein könig-lich Ansehn: / Gleich als ob dir gebührte, dich nach dem Bad und der Mahlzeit / Sanft zur Ruhe zu legen; denn das ist die Pflege der Alten. / Aber verkündige mir, und sage die lautere Wahrheit: / Welcher Mann ist dein Herr, und wessen Garten besorgst du? Sprach's; und den Vater umhüllte die schwarze Wolke des Kummers. / Siehe, er nahm mit den Händen des dürren Stau-bes, und streut' ihn / Über sein graues Haupt, und weint' und jammerte herzlich. / Aber Odysseus ergrimmte im Geist, und es schnob in der Nase / Ihm der erschütternde Schmerz, beim Anblick des liebenden Vaters. / Küssend sprang er hinzu mit umschlingenden Armen, und sagte: / Vater, ich bin es selbst, mein Vater, nach welchem du fragest, / Bin im zwanzigsten Jahre zur Heimat wiedergekehret! / Darum trockne die Tränen, und hemme den weinenden Jammer! / Denn ich sage dir kurz: (uns dringt die äußerste Eile!) / Alle Freier hab' ich in unserem Hause getötet, / Und ihr Trotzen bestraft und die seelenkrän-kenden Greuel! / Ihm antwortete drauf sein alter Vater Laertes: Bist du denn wirklich, mein Sohn Odysseus, wiedergekom-men; / So sage mir doch ein Merkmal, dass ich es glaube! Ihm antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus: Erstlich betrachte hier mit deinen Augen die Narbe, Die ein Eber mir einst mit weißem Zahne gehauen, / Ferne von hier am Parnassos: denn du und die treffliche Mutter Sandtet mich dort zu Autolykos hin, die Geschenke zu holen, Die mir bei der Geburt ihr besuchender Vater verheißen. Jetzo will ich dir auch die Bäume des lieblichen Fruchthains Nennen, die du mir einst auf meine Bitte geschenkt hast; Denn ich begleitete dich als Knab' im Garten; wir gingen Unter den Bäumen umher, und du nanntest und zeigtest mir jeden. / Dreizehn Bäume mit Birnen, und zehn voll rötlicher Äpfel / Schenktest du mir, und vierzig der Feigenbäume; und nanntest / Fünfzig Rebengeländer mit lauter fruchtbaren Stö-cken, / Die du mir schenken wolltest: sie hangen voll mancher-lei Trauben, / Wenn sie der Segen Gottes mit mildem Gewitter erfreuet. / Also sprach er; und jenem erzitterten Herz und Kniee, Als er die Zeichen erkannte, die ihm Odysseus verkündet. Seinen geliebtesten Sohn umarmend, sank er in Ohnmacht
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An sein Herz; ihn hielt der herrliche Dulder Odysseus. Und erhoben die Hände zum Essen. Siehe da nahte Dolios sich, der Greis, und Dolios' Söhne: sie kamen Müde vom Felde zurück; denn die Mutter hatte sie selber Heimgeholt, die alte Sikelerin, die sie erzogen, / Und sorg-fältig des Greises in seinem Alter sich annahm. / Diese, so-bald sie Odysseus sahn und im Herzen erkannten, / Stan-den still an der Schwell', und stauneten. Aber Odysseus Wandte sich gegen den Greis mit freundlichen Worten: Setz dich, Alter, zu Tisch, und seht mich nicht so erstaunt an: Denn wir haben schon lange, begierig der Speise zu kosten, Hier im Saale geharrt, und euch beständig erwartet. Also sprach er. Da lief mit ausgebreiteten Armen Dolios grad' auf ihn zu, und küsste die Hände des Königs, Redete freundlich ihn an, und sprach die geflügelten Worte: Lieber, kommst du nun nach unserem herzlichen Wunsche. Aber ohn' alles Vermuten, und führten dich Götter zur Heimat; Nun so wünsch' ich dir Freude, Gesundheit und Segen der Götter! / Aber sage mir doch aufrichtig, damit ich es wisse: / Weiß es deine Gemahlin, die kluge Penelopeia, Dass du zu Hause bist? oder sollen wir's eilig verkünden? Ihm antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus: Alter, sie weiß es schon; du brauchst dich nicht zu bemühen. Also sprach er, und setzte sich hin auf den zierlichen Sessel. Dolios' Söhne traten nun auch zum berühmten Odysseus, Hießen ihn froh willkommen, und drückten ihm alle die Hände, Setzten sich dann nach der Reihe bei Dolios, ihrem Vater.
Ihr Fraun des Hauses, Dienerinnen vielbewährt, mit mir gekommen seid ihr, dieses Bittgesangs Geleiterinnen; drum so sagt mir euren Rat: Wenn auf das Grab ich gieße diesen Trauerguss, wie soll ich freundlich sprechen? Wie zum Vater flehn?
Sag ich, von seiner lieben Gattin sei ich ihm, dem lieben Mann, von meiner Mutter ich gesandt? Oder sag ich nach dem alten Brauch:
Vergelten mög er denen, die ihm diesen Kranz gesandt, der Bösen bös Geschenk in gleicher Art? Soll schweigend, schmachvoll, so wie einst mein Vater fiel, ich gießen dieser Spende grabgetrunknen Guss, die Schale dann, als wär sie unrein, gottverflucht,
wegschleudern abgewandten Blicks und wieder gehn?
Uni Fribourg 24 Frühlingssemester 2011 Textmaterial Anagnorismos
Chf. Gleich einem Altar ehrend dir des Vaters Grab, sag ich, du willst es, was ich im tiefsten Herzen denk. El. So wie du ehrtest meines Vaters Gruft, so sprich!
Chf. Zur Spende segne, die ihm treu gesinnet sind. El. Wen aber von den Seinen darf ich nennen so? Chf. Zuerst dich selbst und jeden, der Aigisthos hasst. El. Soll für dich und mich denn lauten mein Gebet? Chf. Was ich geraten, denk es selbst dir weiter nach! El. Wenn hab ich sonst denn zuzufügen dieser Schar?
Chf. Gedenk Orestens, weilt er auch im fremden Land. El. Vor allen; du gemahnst mich an das Teuerste! Chf. Und dann den Schuld'gen, wenn du an den Mord gedenkst El. Was dann? Belehr mich, sag es mir, ich weiß es nicht! Chf. Sag, ihnen kommen mög' ein Gott einst oder Mensch El. Meinst du, der sie richten oder der ihn rächen wird? Chf. Du sagst es einfach: der den Mord mit Mord vergilt! El. Doch ist es fromm auch, von den Göttern das zu flehn? Chf. Wie nicht zu flehn, dass seine Schuld dem Feind sich rächt? El. Du höchster Herold hier im Licht, im Hades dort,
<………> o Grabeshermes, [hör mich und] erwecke mir des Erdenschoßes Mächte, dass mein Beten sie vernehmen, sie, die blicken auf des Vaters Blut, und auch die Erde, die gebieret alles Ding, und was sie aufzog, wieder dessen Keim empfängt;
ich gieße diese Spenden für die Toten aus und rufe dich, mein Vater, mein erbarme dich und deines Sohns Orestes. dass er wiederkehrt! Denn sieh, verstoßen leben wir und wie verkauft von unsrer Mutter; den Aigisthos hat sie sich
zum Mann erlesen, der dich mit erschlagen hat; und einer Magd gleich hält sie mich; Orestes ist verjagt aus seinem Erbe, während sie in Prunk und eitler Wollust deines Schweißes Frucht vertun! Dass heim Orestes gottgeleitet kehren mag, drum fleh ich an dich, Vater, du erhöre mich! Mir aber gib du, dass ich bessren Sinnes sei denn meine Mutter, reinen Wandels, reiner Hand! Für uns gebetet hab ich dies; den Feinden lass’ erscheinen, sag ich, einen, der dich, Vater, rächt,
auf dass die Mörder wieder morde ihr Gericht; so bet ich und bezeuge, wie für bösen Fluch ich ihnen wiederfluche diesen bösen Fluch! Du aber send uns alles Heil empor, mit dir die Götter, Erd und siegende Gerechtigkeit!
Uni Fribourg 25 Frühlingssemester 2011 Textmaterial Anagnorismos
Denn so ja würden Mahlzeiten dir nach Menschenbrauch geweiht; und sonst – bleibst bei den reichen Opfern du ohne Ehre, bei den fettdampflohenden deines Landes.
……; mitten trug der Freunde Schar den Patroklos. Überstreut ward ganz mit geschorenen Locken der Leichnam. … die Scheitellocke für des Inachos Fluten ab,
Zum zweitenmal jetzt meine Trauerlocke dir, […] Wir aber Ehren nach Apollons Weisung, erst des Vaters Grab, mit Spenden, auch mit Locken, die ich frisch vom Haupt mir schneide. ……………………………… Du aber schneide von deinem Haupthaar die äussersten Locken ab und nimm von mir armseligen auch eine Kleinigkeit, was ich halt habe, bring ihm diese glänzende Locke dar und meinen schmucklosen Gürtel. Doch vor dem Tore seh’ ich nicht, wie‘s sonst der Brauch im Sterbehaus Becken mit Wasser aufgestellt. Auch kein Löckchen, geschoren vom Haupt, wie sonst für die Toten es fällt, ist am Tore zu sehn; kein Dröhnen erschallt von der Weiber Händen. O Mutter, sagtest du, fürwahr werde ich dir viele meiner Locken abscheren und zum Grab den Zug der Gleich- altrigen führen, den Scheidegruss zu singen. Ich geh’ ins Haus. Drin scher’ ich mir das Haar, vertausche diese weissen gegen schwarze Gewänder und zerkratze mein Gesicht.
Uni Fribourg 26 Frühlingssemester 2011 Textmaterial Anagnorismos
Betraf ein neues Missgeschick vielleicht das Haus? Könnt ich vermuten, ihre Spenden brächten sie für meinen Vater, für die Toten fromme Pflicht? Nicht anders ist es; denn Elektra, glaub ich, selbst geht dort mit ihnen, meine Schwester, tief gebeugt vor Kummer. O Zeus! gib zu sühnen mir den Tod des Vaters, sei mir gern ein Helfer meiner Tat!
Chf. O sprich! Es tanzt mein Herz im Busen mir vor Angst! El. Hier seh ich eine Locke auf das Grab geweiht! Chf. Von welchem Manne oder tiefgeschürzten Weib? El. Deutbar für jeden ist es, der es deuten will! Chf. So lass mich ältre lernen von der jüngeren. El. Ich wüsste niemand außer mir, der's weihete! Chf. Feind ist, für wen sich sonst die Trauerlocke ziemt! El. Und dennoch wahrlich ist so ganz sie wieder gleich - Chf. Sag, wessen Haaren? Hören möcht ich das von dir! El. Ganz meinen eignen ähnlich ist sie anzusehn! Chf. Wär's von Orestes selber heimlich ein Geschenk? El. Mit dessen Locken scheint sie in der Tat mir gleich! Chf. Wie hätte der hierherzukommen sich gewagt? El. Gesandt dem Vater hat er seiner Locke Gruß! - Chf. Was du gesagt, nicht minder wein ich bitter drum, wenn dieses Land doch nimmermehr sein Fuß betritt! El. Auch mir ins Herz gießt flutend sich der Galle Gischt; es schmerzt, als hätte mich ein schneller Pfeil durchbohrt; aus meinen Wimpern stürzt mir durstig, ungewehrt unsäglicher Tränen bittre Brandung wild hervor, da ich die Locke sehe! Sollt' erwarten ich, dass sich ein Bürger nennet dieser Strähne Herr? Und nimmermehr gab dieses Haar die Mörderin, nein, meine Mutter nimmer, die stiefmütterlich und gottvergessen ihren Kindern ist gesinnt; doch wieder, dass ich zuversichtlich sagen soll,
Uni Fribourg 27 Frühlingssemester 2011 Textmaterial Anagnorismos
mir sei ein Kleinod dies vom Liebsten auf der Welt, sei von Orestes - doch wie Hoffnung winkt es mir! Ach! Dass freundlich sie mir sprechen könnte, botengleich, damit der Zweifel nicht mich jagte her und hin! Denn dann, gewiss, ich hätte dies Haar angespien, wär's abgeschnitten einem feindgesinnten Haupt; doch wär's verwandt mir, dürft es mit mir trauern auch des Vaters Totenfeier und den Grabesgruß! Zu den Göttern lasst uns rufen, den Allwissenden, in welchen Wirbelstürmen gleich den Schiffern wir verirrt sind. Dennoch, wenn uns Rettung werden soll, da wächst von kleinem Samen auch ein großer Stamm! - Und da, die Tritte, sieh, ein zweites Zeichen ist's von gleichen Füßen, ähnlich ganz den meinigen; ja, sieh, von zweien eingezeichnet ist die Spur, hier von ihm selber, da von dem, der mit ihm kam; <…> ? der Sohlen Abdruck und der Fersen, mess ich sie, zusammentreffen sie genau mit meinem Fuß! - Wie Wehen durchzuckt's mich! Schwindelnd dreht sich mir der Sinn!
Or. Die Götter bitte, die so weit dir dein Gebet erfüllt, dass auch das andre dir beschieden sei! El. Was wär's, das jetzt schon mir gewährt der Götter Gunst? Or. Dein Auge sieht nun, drum du lange betetest! El. Und wen der Menschen weißt du, dass ich gerufen hab? Or. Ich weiß, Orestes Namen hat dich sehr bewegt! El. Und wo und wie denn wär erfüllt jetzt mein Gebet? Or. Ich bin es, such dir keinen, der dir teurer ist! El. Du betrügst mich, Fremdling, du umgarnest mich mit List. Or. So strick ich wahrlich selber um mich selbst Betrug! El. Und lachen willst du über mich und meinen Gram! Or. Auch über mich und meinen Gram, wenn über dich! El. So red ich denn, dich, Orestes, red ich an? Or. Da du mich selbst siehst, jetzt erkennest du mich nicht; und da du diese Locke sahst des Trauerhaars, da flogst du hoch auf, und du meintest mich zu sehn! †Und deinen Fuß einfügend in meine Spur, <…> ? Die Locke deines Bruders, deinem Haupte gleich, betrachte, diese Locke lag an diesem Schnitt des Haars,† sieh dies Gewand an, deiner eignen Hände Werk,
Uni Fribourg 28 Frühlingssemester 2011 Textmaterial Anagnorismos
des Weberschiffleins Marken hier, der Tiere Bild - sei ruhig, gib das Denken nicht der Freude preis; uns beiden, weiß ich, sind die Liebsten bitterfeind! El. O letzte, liebste Sorge für des Vaters Haus! Beweinte Sehnsucht nach der Rettung letztem Reis! Kraft deines Armes nimm zurück dein Vaterhaus! O süßes Auge! Dein gehört vierfacher Teil in meinem Herzen; sieh doch, nennen muss ich dich nun meinen Vater; meiner Mutter Liebe kommt - denn ganz gerecht hass ich sie selbst -, dir kommt sie zu, dir auch der Schwester Liebe, der geopferten; und treuer Bruder bist du, der mich wieder ehrt!
… die Wiedererken- nung infolge der Haarlocke Denn <das Motiv> stammt von (?) Stesichoros. … Euripides <sagt>, der Bogen des Orestes sei diesem von Apollon als Geschenk gegeben worden.
22a. Soph. El. 42–43. 51–53 (Übersetzung: D. Ebener) οὐ γάρ σε μὴ γήρᾳ τε καὶ χρόνῳ μακρῷ
Man wird dich kaum, alt wie du bist, nach so vielen Jahren erkennen, auch keinen Verdacht schöpfen, wo dein Haar so weiss ist. Wir aber ehren, nach Apollons Weisung, erst des Vaters Grab, mit Spenden, auch mit Locken, die ich frisch vom Haupt mir schneide.
22b. Soph. El. 121–126 (Übersetzung: D. Ebener) ὦ παῖ παῖ δυστανοτάτας
Dir nicht als einziger Sterblichen, Kind, ist Kummer beschieden. Doch übertriffst du im Klagen bei weitem deine Schwestern im Haus, die massvoll nur trauern, Chrysóthemis, Iphianássa, und leben – wie er auch, der glücklich, ferne dem Leid, in der Blüte der Jugend jetzt steht, der Held aus hohem Geschlecht, den das ruhmreiche Land von Mykene begeistert empfangen wird, kommt er zurück in die Heimat, gnädig von Zeus geleitet: Orestes!
22d. Soph. El. 293–298 (Übersetzung: D. Ebener) τάδ’ ἐξυβρίζει· πλὴν ὅταν κλύῃ τινὸς
So schamlos höhnt Klytaimestra. Nur wenn ihr zu Ohren kommt "bald ist Orestes hier", dann fährt sie aus der Haut und schreit mich an: Nur du bist schuld an dem Gerede! Du bist es ja gewesen, die mir hinterrücks Orestes wegnahm und in Sicherheit ihn brachte. Doch glaub mir, angemessen wirst du das noch büssen!
22e. Soph. El. 404–410 (Übersetzung: D. Ebener) Χρ. χωρήσομαί τἄρ’ οἷπερ ἐστάλην ὁδοῦ.
Chr. Dann mache ich mich, wie befohlen, auf den Weg. El. Wohin? Wem willst du diese Grabesspenden bringen? Chr. Dem Vater. Diesen Auftrag gab die Mutter mir. El. Wie das – dem Sterblichen, den sie am meisten hasste? Chr. Den sie erschlug – das möchtest du doch damit sagen. El. Gab ihr ein Freund den Anstoss? Riet es jemand ihr? Chr. Nein, wohl ein schlimmer Traum zur Nacht hat sie bewogen.
22f. Soph. El. 431–452 (Übersetzung: D. Ebener) 434 450
El. Du darfst doch, liebe Schwester, das, was du da trägst, nicht auf das Grab des Vaters bringen! Unrecht, ja, auch gottlos wäre es, wenn du dem Toten noch von seiner schlimmsten Feindin letzte Ehren zolltest! Niemals! Nein, wirf sie fort und schneide von deinem Haupt dir Locken, nimm von mir auch etwas, arm wie ich bin, was ich noch habe, ein paar stumpfe Haarsträhnen, dazu meinen schmucklos schlichten Gürtel.
Uni Fribourg 30 Frühlingssemester 2011 Textmaterial Anagnorismos
22g. Soph. El. 892–915 (Übersetzung: D. Ebener) 895 900 905 910 915
Ich will dir alles, was ich sah, genau berichten. Ich kam zum Ahnengrab, das unsern Vater birgt, und sehe oben auf dem Hügel Spuren frisch vergossner Milch, und rings im Kreise um das Grab noch einen Blumenschmuck, wie ihn das Jahr jetzt bietet. Ich staune bei dem Anblick, halte ängstlich Umschau, ob etwa irgend jemand in der Nähe weilt. Nur menschenleere Stille nehme ich zur Kenntnis. Da schleiche ich ans Grab, ganz nah, und sehe auf ihm eine frisch geschnittne jugendliche Locke! Ich sehe sie, und gleich stellt mir der Anblick das vertraute Wunschbild vor die Augen: Ihn, Orestes, den wir am meisten lieben – der Beweis liegt hier! Vor frommer Ehrfurcht still, berühre ich sie mit den Fingern. Freude treibt mir Tränen jäh ins Auge. Auch jetzt, wie schon vorhin, bin fest ich überzeugt: Von ihm allein kann dieser edle Grabschmuck stammen. Wer sonst noch käme ausser mir und dir in Frage? Ich nicht, das kann ich ohne jeden Zweifel sagen, und du erst recht nicht; nicht einmal zum Gottesdienst darfst du ja ungestraft das Schloss verlassen. Und die Mutter denkt an solche Opfergaben nicht – und wenn, dann wäre es doch nicht geheim geschehen! Nein, nur Orestes konnte diese Locke spenden.
22h. Soph. El. 1123–1125 (Übersetzung: D. Ebener) δόθ’, ἥτις ἐστί, προσφέροντες· οὐ γὰρ ὡς
Or. Bist du Elektra, deren Schönheit einst man rühmte? El. Ich bin es, ja, doch heute übel zugerichtet. Or. Weh dir, du Elende, was hast du durchgemacht! El. Du klagst doch, Fremdling, nicht um meinetwillen etwa? Or. Wie unwürdig und jämmerlich bist du entstellt! El. Tatsächlich, Fremdling, gilt jetzt dein Bedauern mir! Or. Weh! Du, als Mädchen, so verwahrlost und verkommen!
22j. Soph. El. 1200–1203 (Übersetzung: D. Ebener) 1200 Ηλ. μόνος βροτῶν νυν ἴσθ’ ἐποικτίρας ποτέ.
Ορ. μόνος γὰρ ἥκω τοῖσι σοῖς ἀλγῶν κακοῖς. El. Gewiss, nur du hast meiner dich bisher erbarmt. Or. Weil ich auch nur als Opfer gleichen Leides herkam!
Uni Fribourg 31 Frühlingssemester 2011 Textmaterial Anagnorismos
El. Und wo befindet sich das Grab des Unglücklichen? Or. Es gibt gar keins. Ein Lebender hat noch kein Grab. El. Was heisst das, Junge? Or. Was ich sage, ist die Wahrheit. El. So lebt mein Bruder noch? Or. So wahr ich selber lebe! El. Du bist Orestes! Or. Schau hier, der Siegelring des Vaters! Er zeigt dir deutlich an, dass ich Wahres sage.
22l. Soph. El. 1346–1353 (Übersetzung: D. Ebener) 1350
El. Wer ist der Mann, Orestes? Bei den Göttern, wer? Or. Erkennst du ihn nicht? El. Ich kann mich nicht erinnern. Or. Den Mann, dem du mich einstmals anvertrautest? El. Wen meinst du damit? Or. Ihn, dem du persönlich klug zur Flucht ins Phokerland mich heimlich in die Hände legtest. El. Den Mann, den damals ich, beim Mord an unserem Vater, als einzigen der Dinerschaft für treu befand? Or. Der ist es. Aber frag mich, bitte, jetzt nicht länger.
[…] Von Apollons Orakel bin ich auf argivischem Boden angelangt, ohne dass jemand davon weiss, um den Mördern meines Vaters den Mord zurückzuzahlen. Diese Nacht begab ich mich auf das Grab meines Vaters, gab ihm Tränen und schnitt von meinem Haar etwas ab, und spendete dem Grab das Blut eines geschlachteten Schafs. All dies blieb den Herrschern über dieses Land verborgen.
Von Geburt bin ich des Agamemnons Kind und Klytaimestra gebar mich, die verhasste Tochter von Tyndareus. Die Bürger der Stadt nennen mich die unglückliche Elektra.
23c. Eur. El. 283–287 (Übersetzung: H. v. Arnim) 285
El. Fremder, ich würde ihn selbst vor mir stehend nicht erkennen. Or. Kein Wunder: Ihr wart beide klein, als ihr getrennt wurdet. El. Eine einzige, mir teure Person dürfte ihn wiedererkennen. Or. Zweifellos derjenige, der ihn vor dem Tod gerettet haben soll? El. Ja, der Erzieher meines Vaters, jetzt ein alter Mann.
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23d. Eur. El. 509–517 (Übersetzung: H. v. Arnim) 510 515
Ich kam hierher nach eine Abstecher auf das Grab, wo ich mich niederwarf und weinte: ich war ganz allein. Ich löste den Schlauch, den ich für die Fremden bringe, und brachte eine Guss dar, legte Myrtenzweige darauf. Auf dem Altar sah ich ein Lamm mit schwarzem Fell geschlachtet und Blut, erst kurz zuvor vergossen, und eine geschorene Locke blonden Haares. Ich wunderte mich, Kind, was für ein Mensch wohl wagte zum Grab zu gehen. Sicherlich war es keiner der Argiver.
23e. Eur. El. 518–544 (Übersetzung: H. v. Arnim) 520 525 530 535 540
Pr. Vielleicht kam heimlich dein Bruder und ehrte nach seiner Ankunft das elende Grab seines Vaters. Betrachte genau das Haar und vergleiche es mit deinem, ob die Farbe des geschorenen Haares übereinstimmt. Es kommt nämlich gern vor, dass die, welche denselben Vater haben, auch körperlich in vielem sehr ähnlich sind. El. Alter, du redest Dinge, die eines Weisen unwürdig sind, wenn du glaubst, mein tapferer Bruder käme heimlich in dieses Land aus Furcht vor Aigisthos. Zudem, wie sollen Haarlocken vergleichbar sein, die eines vornehmen Mannes, auf dem Ringplatz gewachsen, die andere eines Mädchens, mit Kämmem? Unmöglich. Auch finden sich ähnliche Haare bei vielen Leuten, selbst wenn sie nicht vom selben Blute sind, Alter. Pr. Trete in die Spur seiner Reisestiefel und prüfe, ob sie deinem Fuss entsprechen, Kind. El. Wie könnte auf felsigem Boden überhaupt ein Fussabdruck entstehen? Und wenn es ihn auch gäbe, so wäre der Abdruck zweier Geschwister nicht gleich, zwischen Mann und Frau, sondern der des Mannes ist breiter. Pr. Gibt es nicht, falls dein Bruder das Land beträte, ein Stück Gewand von deinem Webstuhl, das du erkenntest, in welchem ich ihn einst dem sicheren Tod entriss? El. Vergisst du, dass ich, als Orestes aus dem Land vertrieben wurde, noch klein war? Und selbst wenn ich ein Gewand gewoben hätte, wie könnte er, damals ein Kind, heute einen Mantel tragen, es sei denn, dieser wäre zusammen mit dem Körper gewachsen?
23f. Eur. El. 509–549 (ohne 518–544) (Übersetzung: H. v. Arnim) 510
Ich löste den Schlauch, den ich für die Fremden bringe, und brachte eine Guss dar, legte Myrtenzweige darauf. Auf dem Altar sah ich ein Lamm mit schwarzem Fell geschlachtet und Blut, erst kurz zuvor vergossen, und eine geschorene Locke blonden Haares. Ich wunderte mich, Kind, was für ein Mensch wohl wagte zum Grab zu gehen. Sicherlich war es keiner der Argiver. El. Vielleicht weinte irgend ein Fremder dort beim Grab und, verborgen vor den Wächtern, scherte sich das Haar oder ……… über dieses Land ……………………… Pr. Wo sind die Fremden? Ich möchte sie sehen und sie hinsichtlich deines Bruders befragen. El. Sie treten gerade gewandten Schrittes aus dem Haus.
23g. Eur. El. 550–584 (Übersetzung: H. v. Arnim) 550 555 560 565 570 575
Pr. Wohlgeborene, so scheint’s, doch ist dies unzuverlässig. Denn viele, obwohl wohlgeboren, sind schlechte Leute. Dennoch, ich rede die Fremden mit einem Gruss an. Or. Sei gegrüsst, Alter. Welcher deiner Freunde, Elektra, ist dieser Überrest eines Mannes zugefallen? El. Dieser hat meinen Vater erzogen, Fremdling. Or. Was sagst du? Dieser ist’s, der deinen Bruder entriss? El. Ja, er hat jenen gerettet, falls er noch lebt. Or. Oh! Weshalb starrt er mich an als betrachte er die glänzende Prägung eines Silberstücks? Vergleicht er mich mit jemandem? [von Orestes. El. Vielleicht erfreut ihn der Anblick eines Altersgenossen Or. Des geliebten Mannes. Warum umkreist er mich? El. Auch ich wundere mich darüber, Fremdling. Pr. Herrin, Tocher Elektra, bete zu den Göttern. El. Um etwas, was fehlt oder was vorhanden ist? Pr. Einen teuren Schatz zu erlangen, den der Gott zeigt. El. Sieh! Ich rufe die Götter an. Oder was sagst du, Alter? Pr. Schau jetzt auf ihn, Kind, auf den liebsten! El. Lange hab’ ich geschaut. Bist du etwa von Sinnen? Pr. Bin ich von Sinnen, wenn ich deinen Bruder sehe? El. Was meinst du, Alter, mit diesen unerwarteten Worten? Pr. Dass ich Orestes sehe, den Sohn von Agamemnon. El. Was für ein Merkmal sahst du, dem ich vertrauen kann? Pr. Eine Narbe beim Auge, die er sich einst im Palast des Vaters zuzog, als er mit dir ein Hirschkalb verfolgte und fiel. El. Was sagst du? Ich sehe den Beweis des Unfalls. Pr. Willst du nicht endlich in deines Bruders Arme fallen? El. Kein Zögern mehr, Alter! Deine Beweise haben mein Gemüt überzeugt. Oh, Langersehnter, endlich bist du da,
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ich umarme dich, unerwartet. Or. Ich dich auch, spät erst. El. Ich glaubte nicht mehr daran. Or. Ich auch nicht. El. Bist du es wirklich? Or. Ja, dein einziger Verbündeter. Wenn ich mit dem Netzwurf an Land ziehe, wofür ich gekommen bin, <………………………………………> Ich bin guten Mutes. Ansonsten müssen wir nicht mehr länger an die Götter glauben, falls die Ungerechtigkeit über die Gerechtigkeit siegen sollte.
24a. Eur. El. 505–508 (Übersetzung: H. v. Arnim) 505 508
El. Oder weinst du wegen des elenden Exil von Orestes und wegen meines Vaters, den du einst in den Händen hieltst und aufzogst, vergebens für dich und deine Freunde. Pr. Ja, vergebens. Dennoch, was ich nicht aushielt, war dies: <………………………………………………………>
Das andre trug ja voll Geduld ich – all das Leid; doch dass Orestes, meiner Seele süsse Plag, den ich aufzog, seit ich aus Mutterschoss ihn nahm <………………………………………………………> mit nachtruhstörendem, hellauf krähenden Schreins Befehl, mit vieler Mühsal Not, die nun ganz nutzlos ich ertrug.
25. Eur. Kresphontes Ein Usurpator namens Polyphontes hat den rechtmässigen König von Messene getötet und dessen Witwe Merope
gegen ihren Willen zu seiner Frau gemacht. Dieser ist es jedoch gelungen, den kleinen Sohn bei einem Gastfreund zu retten. Ein alter treuer Diener hält die Verbindung zwischen Mutter und Sohn aufrecht. Sobald der Sohn erwachsen ist, kehrt er als Rächer seines Vaters nach Messene zurück. Er ist der Sprecher des Prologes, in dem er die Vorgeschichte erzählt und sich selbst vorstellt. Um ungestört handeln zu können, meldet er wie Orestes seinen Tod, gibt sich darüber hinaus aber als sein eigener Mörder aus. Die Mutter, die vom Diener über das Verschwinden des Jungen beim Gastfreund orientiert wird, beschliesst in ihrer Verzweiflung, zusammen mit diesem den Mörder ihres Sohnes zu töten. Kurz bevor das Beil auf ihn niedergeht, erkennt der Diener den Sohn. Es folgt eine kurze Szene der Wiedersehensfreude, bevor in epischer Manier dazu aufgefordert wird, den Racheplan nicht länger aufzuschieben. Merope versöhnt sich zum Schein mit Polyphontes, und ihr Sohn erschlägt den Usurpator, als dieser fröhlich über den vermeintlichen Tod des gefürchteten Rächers ein Opfer darbringt
26a. Eur. IT 232–235 (Übersetzung: H. v. Arnim) 235
Den ich damals, scheidend von Argos, verliess als er Säugling noch war, noch so jung, noch so zart, in den Arm, an den Busen der Mutter geschmiegt, den Erben des Zepters, Orestes.
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26b. Eur. IT 755–841 (Übersetzung: H. v. Arnim) 755 760 765 770 775 780 785 790 795
PYLADES: Den Fall nimm an, daß Schiffbruch mich betrifft Und diesen Brief mitsamt der ganzen Fracht Die Flut verschlingt und nur ich selbst mich rette. In diesem Fall bin ich des Eides quitt. IPHIGENIE: Dem weiß ich Rat! Man muß an alles denken. Was auf des Briefes Blatt geschrieben steht, Die Botschaft an die Meinen, sag' ich dir. So gehn wir sicher: rettest du den Brief, Erzählt er schweigend, was hinein ich schrieb. Verlierst du meinen Brief in Meeresnot, Du aber lebst, so lebt mein Wort durch dich. PYLADES: Damit kann ich, wie du, zufrieden sein. Sag' also, wem in Argos deinen Brief Ich geben, was ich selber sprechen soll. IPHIGENIE: Sag' dem Orest, des Agamemnon Sohn: »Iphigenie, die geopfert ward in Aulis, Die euch für tot gilt, lebt und spricht zu euch« - OREST: Wo ist sie denn? Erstand sie von den Toten? IPHIGENIE: Hierselbst! Ich bin es! Unterbrich mich nicht. »Hol' mich nach Argos, eh' im fremden Land Ich sterbe, Bruder! Von der Göttin Dienst, Vom Amt des Fremdenrnords befreie mich.« OREST: Pylades, hörst du? Sind wir im Land der Träume? IPHIGENIE: »Sonst bring' ich deinem Hause Fluch!« Orest, Orest! vergiß den Namen nicht. OREST: Götter! IPHIGENIE: Rufst du für mich die Götter an? OREST: Nein! Fahre fort! Gedanken kamen mir. Fragt' ich, ich stünde vor Unglaublichem. IPHIGENIE: Sag': »eine Hündin schob die Artemis Unter für mich; die schlachtete mein Vater, Im Wahn, sein Schwert durchbohre meine Brust. Mich aber brachte sie ins Taurerland.« Das ist's, was in dem Brief geschrieben steht. PYLADES: Leicht zu erfüllen ist, was ich dir schwur, Mir frommt, was du mir schwurst. Drum ungesäumt Erfüll' ich die von mir beschwor'ne Pflicht. Nimm denn, Orestes, in Empfang den Brief, Den deine Schwester hier mir gab für dich. OREST: Ich nehm' ihn an, doch statt den Brief zu lesen Wähl' ich die Lust, die nicht aus Worten quillt. o traute Schwester! ganz betäubt schling' ich Schüchtern den Arm um dich und koste so Des Wunders Wonne, das sich mir enthüllt. IPHIGENIE: Fremdling! vergreif' dich an der Priest'rin nicht!
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Berühre nicht ihr heiliges Gewand! OREST: O Schwester! die derselbe Mann gezeugt Wie mich, Agamemnon, wende dich nicht ab, Vom Bruder, den du unverhofft gefunden. IPHIGENIE: Mein Bruder du? mach' mich nicht ungeduldig. In Argos weilt er und in Nauplia. OREST: Du irrst gar sehr. Dort ist dein Bruder nicht. IPHIGENIE: Gebar dich die Lakonin, Tyndars Kind? OREST: Von Pelops' Enkel; er hat mich erzeugt. IPHIGENIE: Wär's möglich? Ist es wahr? beweise mir's. OREST: Ich kann's. Frag' mich nach deinem Vaterhaus. IPHIGENIE: Erzähle du! Ich höre prüfend zu. OREST: Vernimm, was von Elektren ich gehört. Weißt du vom Streit des Atreus mit Thyest? IPHIGENIE: Gewiß! sie stritten um ein gold'nes Lamm. OREST: Hast du's nicht selbst einst in ein Tuch gewebt? IPHIGENIE: Liebster! Erinnerungen weckst du mir. OREST: War nicht im Bild Umkehr des Sonnenlaufs? IPHIGENIE: Ins feste Tuch hab' ich auch das gewebt. OREST: Gab dir für Aulis Mutter nicht ein Bad? IPHIGENIE: Kein Eh'glück nahm mir die Erinnerung! OREST: Dein Lockenhaar- gabst du's der Mutter nicht? IPHIGENIE: Als Angedenken für mein leeres Grab. OREST: Nun sag' ich dir, was selber ich gesehn: Ward nicht im Haus des Pelops alter Speer, Mit dem in Pisa Hippodamien er Erwarb und Oinomaos tötete, In deiner Kammer heimlich aufbewahrt? IPHIGENIE: Liebster! – jawohl! mein Liebster, der bist du! – Ich hab’ dich wieder, kleiner Orest, den einst ich daheim In Argos geliebt. OREST: Ich habe dich, die lang’ ich tot geglaubt, IPHIGENIE: Ein Strom heisser Tränen der Wehmut und Lust Tropft von den Wimpern dir herab und mir. Den liess ich daheim im Arm seiner Amme Als Säugling zurück, als hilfloses Kind! Ach! unbeschreiblich ist sein Finderglück. Mein Herz, fasse dich! Es ist wunderbar, Es ist märchenhaft. OREST: Könnten wir künftig miteinander glücklich sein!
HELENA: Zu meinem Platz am Grab kehr’ ich wieder, Mit einem guten Spruch Theonoës, Die alle Wahrheit wiess. Sie sagt, mein Gatte Lebt noch un datmet in der Sonne Licht. Irrfahrten ohne Zahl hab’ er erduldet Bald hier, bald dort. Ein vielgeprüfter Wandrer Gelang’ er hier an seiner Leiden Ziel. Sie sagte nicht, ob diese Ziel die Rettung, Und voller Freude, dass mein Mann noch lebt, Versäumt’ ich leider, sie darum zu fragen. Sie sagt, er sei nicht weit von hier ; schiffbrüchig Mit wen’gen Leuten an den Strand gespült. Wann kommst du endlich, heissersehnter Mann ? Halt ! wer ist das ? ich glaub’, er stellt mir nach, Von Proteus’ frevelhaftem Sohn gesandt. Jetzt gilt’s, dem Rennpferd gleich, wie eine Bakche Zum Grab zu eilen. Ganz verwildert sieht Der fremde Mann aus, der mich fangen will. MENELAOS: Du, die in wilder Eile vorwärts stürmst Zum Grabesbau und seinen Feuerständern, Flieh’ nicht vor mir ! Mit unaussprechlichem, Wortlosem Staunen füllt dein Anblick mich. HEL.: Zu Hilfe, Frau’n ! Der fremde Mann versperrt mir Den Weg zum Grab. Ausliefern will er mich Dem König, dessen Werbung ich verschmähe. MEN.: Kein Räuber bin ich, kein gedungener Scherge. HEL.: Furcht weckt das Lumpenkleid, das dich umhüllt. MEN.: Fürchte dich nicht. Hemme den flücht’gen Fuss. HEL.: Hier bleib’ich, hier bin ich in Sicherheit. MEN.: Wer bist du, Weib ? Staunend betracht’ ich dich. HEL.: Und wer bist du ? Mir geht es ganz wie dir. MEN.: Nie fand ich Ähnlichkeit so gross wie diese. HEL.: O Götter ! – Ein Gott ist auch das Wiedersehn ! MEN.: Bist du Hellenin oder Landeskind ? HEL.: Hellenin ! Gib auch du dich zu erkennen. MEN.: Die Helena glaub’ ich, seh’ ich dich, zu sehn. HEL.: Und ich Menelaos – und ich kann’s nicht glauben. MEN.: Doch ! Du hast recht ! Ich bin der Unglücksmann. HEL.: Endlich zurück an deiner Gattin Brust ! MEN.: Wie ? Gattin ? Halt, berühre nicht mein Kleid. HEL.: Mein Vater Tyndar hat mich dir vermählt.
Uni Fribourg 38 Frühlingssemester 2011 Textmaterial Anagnorismos
MEN.: Täuschst du mich, Hekate, mit Höllenspuk ? HEL.: Bin ich ein Nachtgespenst der Wegesgöttin ? MEN.: Ich weiss bestimmt, zwei Frauen freit’ ich nicht. HEL.: Wer ist denn deine Frau, wenn ich’s nicht bin ? MEN.: Die in der Höhle, mitgebracht aus Troja. HEL.: Glaub’ mir, du hast kein andres Weib als mich. MEN.: Bin ich von Sinnen oder krank mein Auge ? HEL.: Erkennst du nicht, wenn mich du siehst, dein Weib ? MEN.: Du gleichst ihr zwar, doch kann ich es nicht glauben. HEL.: Prüfe dich selbst ! Dein Geist ist klar wie je. MEN.: Dass die Erscheinung stimmt, bestreit’ ich nicht. HEL.: Gibt es Gewissres als den Augenschein ? MEN.: Das ist der Punkt : ich hab’ schon eine Frau. HEL.: Nach Troja ging nicht ich ; ein Trugbild war’s. MEN.: Wer kann belebte Bilder fertigen ? HEL.: Aus Äther schuf dir Göttermacht ein Weib. MEN.: Wer von den Göttern schuf’s ? Unglaublich ist’s. HEL.: Hera ! Sie gönnte mich dem Paris nicht. MEN.: Warst du vielleicht gar dort und hier zugleich ? HEL.: Ein Nam’ ist überall, ein Körper nicht. MEN.: Lass mich ! Ich habe Leid genug erlebt. HEL.: Verlässt du mich ? Nimmst die Gefälschte mit ? MEN.: Sei Gott befohlen, weil du Helena gleichest. HEL.: Weh’ mir ! Nun hatt’ ich ihn und kann ihn doch nicht MEN.: Was dort ich litt, ist zweifellos, du nicht. [halten HEL.: Weh’ mir ! Ich bin die unglückseligste der Frauen. Mein Mann verlässt mich. Nie soll ich das Land Der Griechen, nie die Heimat wiedersehn. BOTE: Heil, Menelaos ! Endlich find’ ich dich. Schon lange such’ ich dich auf fremden Wegen. Die Freunde senden mich, die deiner harren. MEN.: Dies Räubervolk – hat’s gar euch ausgeplündert ? BOTE: Ein unaussprechlich Wunder ist geschehn. MEN.: Was her dich trieb, neu scheint’s und unerhört. BOTE: Der langen Heerfahrt Müh’n trugst du umsonst. MEN.: Das ist nicht neu. Was ist denn nur geschehn ? BOTE: Dein Weib ist fort. Empor zu Ätherhöh’n Ist sie entschwebt. Sie wohnt im Himmel jetzt. Aus jener Höhle, drin wir sie bewachten, Trat sie und sprach : »O schmerzbelad’ne Phryger ! O arme Griechen ! Am Skamanderstrand Starbt ihr um mich durch Heras List. Ihr dachtet : ›Paris hat Helena.‹ Paris hatte mich. Ich blieb bei euch, solang ich bleiben sollte
Uni Fribourg 39 Frühlingssemester 2011 Textmaterial Anagnorismos
Nach Schicksalsschluss. Zum Himmel, meinem Vater, Kehr’ ich zurück nun. Ganz unschuldig ist Des Tyndar Kind in üblen Ruf gekommen.« Heil, Tochter Ledas ! Bist du hier ? Ei ei ! Und ich erzähl’ ihm, auf zum Sternenraum Seist du geschwebt. Hör’ ! Dass du fliegen kannst, Das wusst’ ich nicht. Nie wieder sollen sie Dich schelten, dass für dich umsonst in Troja Dein Mann und seine Krieger sich gemüht. MEN.: Da haben wir’s. Nun ist es klar bewiesen, Dass wahr sie sprach. O langersehnter Tag, Der dich zurückführt in des Gatten Arm. HEL.: O Menelaos, liebster Mann ! So lange Kam Zeit auf Zeit, und jetzt erst kommt die Freude. Mein Schatz, liebe Frau’n, ist nun wieder mein. Mein liebreicher Arm umschlingt seinen Hals In lichtheller Glut des langleb’gen Tags. MEN.: Und meiner deinen. Viel hätt’ ich zu sagen Und weiss nicht, was zuerst ich sagen soll. HEL.: Froh ist mein Herz ; hoch sträuben sich die Locken Und möchten fliegen ; Tränenströme fliessen ; Mein Arm schlingt sich fest und voll Lustbegier Um dich, mein Gemahl.
28. Eur. Ion 1369–1451 (Übersetzung: H. v. Arnim) 1370 1375 1380 1385
ION: Ach Gott ! Die Tränen kommen mir ins Auge, Denk’ ich der Stunde, wo die Mutter mich, Ihr heimlich Kind, heimlich hinweggeschafft, Und nicht die Brust mir gab. Ein Unbenannter, Ein Sklav’ musst’ ich im Gotteshause leben. Der Gott war gütig, doch der Dämon drückte Mich schwer. Denn zu der Zeit, wo sonst ein Kind Des Lebens froh in Muttterarmen schwelgt, War ich beraubt der mütterlichen Pflege. Auch meine Mutter litt ; sie litt wie ich ; Denn um ihr Mutterglück war sie betrogen. Dem Gotte will ich dieses Kästchen weihn, Um Unerwünschtes nicht darin zu finden. Wär’ Sklavin sie, wär’s schlimmer sie zu finden, Als ungeklärt die Sache ruhn zu lassen. O Phoibos, deinem Tempel sei’s geweiht. Doch halt ! nicht so ! darf ich des Gottes Huld, Der dieses Pfand mir aufbewahrt, verschmähn ? Ich muss es öffnen ! Fasse Mute, mein Herz ! Denn dem Verhängnis kannst du nicht entfliehn.
Uni Fribourg 40 Frühlingssemester 2011 Textmaterial Anagnorismos
Ihr heil’gen Binden, was verbergt ihr mir ? Was, Knoten, ihr, die meinen Schatz behüten ? Ein Wunder scheint’s. Der schön gewölbte Deckel Des Kästchens blieb vom Alter unversehrt. Von Moder frei ist sein Geflecht, obwohl Viel Zeit verstrich, seit man beiseit’ es stellte. KREUSA: Was seh’ ich ? darf ich meinen Augen trau’n ? ION: Schweig ! schon vorhin hast du zuviel gesprochen. KREUSA: Ich kann nicht schweigen. Schweigen heiss’ mich Dies ist der Korb, in dem einst ich ausgesetzt [nicht ! Dich, mein Kind, als du noch ein Säugling warst, Auf Kekrops Berg, in Makrais Felsengrotte. Fahr’ hin, Altar ! und kostet es das Leben. ION: Ergreift sie ! Gott hat sie betört ! Sie sprang, Von dem Altar herab. Schnell ! bindet sie ! KREUSA: Tötet mich nur ! Erst aber leg’ ich Hand An dich, den Korb und das, was drin verborgen. ION: Hört nur ! Sie sagt, dass sie mich pfänden will. KREUSA: Vielmehr mein Liebstes find’ ich, Kind, in dir. ION: Ich wär’ dein Liebstes, den du mordetest ? KREUSA: Sind Sohn und Mutter sich das Liebste nicht ? ION: Schweig, Lügnerin ! Gleich überführ’ ich dich. KREUSA: Das ist der Zweck, auf den ich ziele, Kind. ION: Ist leer das Kästchen oder birgt es was ? KREUSA: Die Sachen birgt’s, die dir ich mitgegeben. ION: Kannst du sie schildern, ohne sie zu sehn ? KREUSA: Ob ich es kann ! Wenn nicht, so töte mich. ION: Sprich ! staunenswert ist deine Zuversicht. KREUSA: Schaut das Geweb’, das ich als Kind gewebt. ION: Wie sieht es aus ? Webmuster gibt es viel. KREUSA: Recht schülerhaft, ein Erstlingswerk der Spindel. ION: Was stellt es dar ? Du sollst mich nicht betrügen. KREUSA: Ein Gorgohaupt zeigt des Gewebes Mitte – ION: O Zeus ! Ist mir das Schicksal auf der Spur ? KREUSA: Umsäumt von Schlangen. Ägis nennt man es. ION: Sieh da ! So sieht das Tuch aus, das im Korb ich finde. KREUSA: O Arbeit längst entschwund’ner Mädchenzeit ! ION: Eins trafst du richtig. Ist sonst nichts darin ? KREUSA: Zwei Schlangen, die mit gold’nen Zünglein flimmern. ION: Ein Kinderschmuck, scheint’s, den Athena schenkte ? KREUSA: An Erichthonios erinnern sie. ION: Und wie gebrauchte man dies Goldgerät ? KREUSA: Als Halsband trugen es die Neugebornen. ION: Auch das ist hier. Nenn’ jetzt das dritte Stück.
Uni Fribourg 41 Frühlingssemester 2011 Textmaterial Anagnorismos
KREUSA: Ein Kränzlein flocht ich dir von jener ersten Olive, die Athenas Fels getragen. Ist es darin, so grünt es wohl noch heut. Denn ew’ge Jugend ziert den Götterbaum. ION: O süsse Mutter ! endlich hab’ ich dich Und meine Wange schmiegt sich an die deine. KREUSA: O Kind ! mir leuchtender als Helios ! – Der Gott wird mir verzeihn – nun hab’ ich dich, Den unverhofft Gefund’nen, von dem ich geglaubt, Dass er drunten, im Reiche der Persephoneia verweile. ION: Mein Mütterchen, in deinen Arm geschmiegt, Fühlst du den Toten als Lebendigen. KREUSA: Himelsblau, hoch gewölbt über mir, Zu dir schreit empor mein Gefühl ! Woher kam das Glück so ganz unverhofft ? Wer hat mir’s beschert ? ION: Nie hätt’ ich, Mutter, dies mir träumen lassen, Dass ich dein Sohn, du meine Mutter bist.