1 1. Zielstellung und theoretische Grundlagen Es soll untersucht werden, in wie weit das Management der Versorgung das Spätergebnis von Frakturen der Hüftgelenkspfanne beeinflusst. 1.1. Vorbemerkungen und Aufgabenstellung Die Behandlung von Verletzungen des Azetabulums als dem zentralen Kraftüberträger von der unteren Extremität auf den Beckenring und Körperstamm stellt für den Unfallchirurgen eine besondere Herausforderung dar. Die Prognose ist maßgeblich von einer raschen Diagnostik, einer exakten Klassifikation sowie der Einleitung einer notfallmäßigen Erstversorgung und einer qualifizierten definitiven Therapie abhängig [3,11,24,45,54,55,66]. Durch Verbesserung der diagnostischen und operationstechnischen Möglichkeiten setzte sich seit dem Ende der 60er Jahre zunehmend die operative Versorgung von Hüftpfannenfrakturen durch. Maßgebliche Grundlagen hierfür bildeten die Arbeiten von Judet und Letournel [20,27]. Die von ihnen erarbeitete systematisierte Röntgenanalyse und Klassifikation stellten dazu die Voraussetzung dar. Durch die Entwicklung immer ausgedehnterer Zugänge wurden alle Areale des Azetabulums operativ zugänglich gemacht. Immer ausgereiftere Osteosyntheseverfahren ließen exaktere Wiederherstellungen der verletzten Gelenkflächen mit dem Ziel der anatomischen Rekonstruktion zu. Trotzdem machte eine anfängliche Euphorie der operativen Behandlung Anfang der 90er Jahre nach Auswertung von Spätergebnissen einer gewissen Ernüchterung Platz. Die alleinige chirurgische Rekonstruktion des Azetabulums ist kein Garant für die Wiedererlangung der schmerzlosen, freien Beweglichkeit und Belastbarkeit des Hüftgelenkes. Die Entwicklung einer posttraumatischen Arthrose mit Gelenkpfannendestruktion oder die Hüftkopfnekrose sind multifaktorielle Prozesse [18,24,45]. Welche Faktoren in welchem Maße letztendlich für das Auftreten einer posttraumatischen Arthrose verantwortlich sein könnten, lässt sich nur durch eine ausführliche Analyse aller Begleitumstände herausfinden [33,34,46]. Es wurde in dieser Studie ein Kollektiv von 39 Patienten untersucht, die im Zeitraum
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1. Zielstellung und theoretische Grundlagen 1.1 ... · anderen erfährt er direkten Knochenkontakt distal des Hüftgelenkes um das Tuber ischiadicum [45,64]. Abb.2: Arterielle Versorgung
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1. Zielstellung und theoretische Grundlagen
Es soll untersucht werden, in wie weit das Management der Versorgung das
Spätergebnis von Frakturen der Hüftgelenkspfanne beeinflusst.
1.1. Vorbemerkungen und Aufgabenstellung
Die Behandlung von Verletzungen des Azetabulums als dem zentralen Kraftüberträger
von der unteren Extremität auf den Beckenring und Körperstamm stellt für den
Unfallchirurgen eine besondere Herausforderung dar. Die Prognose ist maßgeblich von
einer raschen Diagnostik, einer exakten Klassifikation sowie der Einleitung einer
notfallmäßigen Erstversorgung und einer qualifizierten definitiven Therapie abhängig
[3,11,24,45,54,55,66].
Durch Verbesserung der diagnostischen und operationstechnischen Möglichkeiten
setzte sich seit dem Ende der 60er Jahre zunehmend die operative Versorgung von
Hüftpfannenfrakturen durch.
Maßgebliche Grundlagen hierfür bildeten die Arbeiten von Judet und Letournel
[20,27]. Die von ihnen erarbeitete systematisierte Röntgenanalyse und Klassifikation
stellten dazu die Voraussetzung dar. Durch die Entwicklung immer ausgedehnterer
Zugänge wurden alle Areale des Azetabulums operativ zugänglich gemacht. Immer
ausgereiftere Osteosyntheseverfahren ließen exaktere Wiederherstellungen der
verletzten Gelenkflächen mit dem Ziel der anatomischen Rekonstruktion zu.
Trotzdem machte eine anfängliche Euphorie der operativen Behandlung Anfang der
90er Jahre nach Auswertung von Spätergebnissen einer gewissen Ernüchterung Platz.
Die alleinige chirurgische Rekonstruktion des Azetabulums ist kein Garant für die
Wiedererlangung der schmerzlosen, freien Beweglichkeit und Belastbarkeit des
Hüftgelenkes. Die Entwicklung einer posttraumatischen Arthrose mit
Gelenkpfannendestruktion oder die Hüftkopfnekrose sind multifaktorielle Prozesse
[18,24,45]. Welche Faktoren in welchem Maße letztendlich für das Auftreten einer
posttraumatischen Arthrose verantwortlich sein könnten, lässt sich nur durch eine
ausführliche Analyse aller Begleitumstände herausfinden [33,34,46].
Es wurde in dieser Studie ein Kollektiv von 39 Patienten untersucht, die im Zeitraum
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vom 01.01.1996 bis 31.12.2000 wegen einer isolierten Azetabulumfraktur in der
Universitätsklinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie an den
Berufsgenossenschaftlichen Kliniken Bergmannstrost Halle behandelt wurden.
Ziel dieser Untersuchung war es, retrospektiv die eingeschlagene Therapie darzulegen
und objektive und subjektive Behandlungsergebnisse daran zu messen.
1.2. Anatomie und Pathomechanik
Die Hüftpfanne hat in der Seitansicht eine nahezu halbkugelige Gestalt mit einem in
Abhängigkeit von der Körpergröße variierenden mittleren Durchmesser von 47 mm.
Die knorpelige Gelenkfläche hat die Form einer „Mondsichel“ und umgibt die zentrale
Vertiefung ohne Knorpelbelag, die sog. Fossa acetabuli [26].
Die Eingangsebene des Azetabulums liegt schräg und bildet mit der Sagittalebene einen
variablen Winkel, der zwischen 42° und 53° und zur Horizontalebene mit einem Winkel
von 41° angegeben wird. Der hintere Pfeiler ist von vorn betrachtet prominent [60].
Dem gesamten knöchernen Rand des Azetabulums ist ein derber Faserring, das Labrum
glenoidale, aufgelagert, das den Hüftkopf über dessen Äquatorebene hinaus umfasst. Im
Bereich der Incisura acetabuli ergänzt das Lig. transversum acetabuli die Lücke
zwischen Vorder- und Hinterhorn und komplettiert die Gelenkfläche [63].
Abb.1: Pfeilerstruktur des Os coxae [60]
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Die Hüftgelenkkapsel wird spiralförmig von kräftigen Bandstrukturen verstärkt, die im
Wesentlichen die Extension im Hüftgelenk hemmen.
Die Blutversorgung des Os coxae ist durch eine komplexe Kollateralisation zwischen
der A. glutaea superior, der A. glutaea inferior und der A. obturatoria gekennzeichnet
[2], die zum einen gute Heilungstendenzen gewährleisten, zum anderen aber auch für
oftmals recht starke Blutungen aus den Frakturflächen verantwortlich zeichnen.
Das Azetabulum ist von 3 Seiten her in direktem oder mittelbarem Kontakt mit
Leitungsbahnen, die bei Frakturen oder chirurgischen Zugangswegen in Mitleidenschaft
gezogen werden können. Dies sind von ventral her die A. und V. femoralis sowie der
N. femoralis. Medial treten die A. und V. obturatoria sowie der N. obturatorius im
Canalis obturatorius in unmittelbare Beziehung zur quadrilateralen Fläche, der medialen
Knochengrenze des Azetabulums. Dorsal kommt der N. ischiadcus zum einen in der
Regio glutaeae in unmittelbare Nähe zur Hinterwand der Hüftgelenkspfanne, zum
anderen erfährt er direkten Knochenkontakt distal des Hüftgelenkes um das Tuber
ischiadicum [45,64].
Abb.2: Arterielle Versorgung des Hüftgelenkes [2]
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Um die komplexen Vorgänge bei Unfallverletzungen des Azetabulums ausreichend
verstehen zu können und daraus ableitend Rückschlüsse auf die Therapie wie
Reposition und Stabilisierung ziehen zu können, reicht die rein morphologische
Betrachtung nicht aus.
Die funktionelle Anatomie des Os coxae ist durch zwei Pfeiler gekennzeichnet, die
einem auf dem Kopf stehenden „Y“ entsprechen. Im Punkt des Zusammentreffens der
beiden Schenkel ist die Hüftpfanne eingefügt. Der hintere Pfeiler ist im Vergleich zum
vorderen kürzer und setzt sich aus Anteilen des Os ilium und des Os ischii zusammen.
Er wird aus dichter, sehr kräftiger Knochensubstanz gebildet und trägt wesentlich zur
Lastübertragung vom Azetabulum zum Sakroilikalgelenk (SI-Gelenk) bei. Der
gelenkbildende Anteil des hinteren Pfeilers ist die sog. „hintere Wand“. Sie ist
prominent und stellt im aufrechten Stand einen wesentlichen Anteil der
lastübertragenden Gelenkfläche dar.
Der vordere Pfeiler umfasst die größeren Anteile des Os ilium. Die kraniale Begrenzung
des vorderen Pfeilers reicht von der Spina iliaca anterior superior entlang des
Beckenkammes bis zum Scheitelpunkt der Konvexität, die distale Begrenzung bildet der
obere Schambeinast in seiner Ausdehnung bis zur Symphyse.
Die für das Zustandekommen einer Azetabulumfraktur notwendige Krafteinleitung ist
in den meisten Fällen indirekter Natur und erfolgt, außer bei Gewalteinwirkung auf das
dorsale Becken, über den Kopf des Hüftgelenkes auf die Pfanne. Hierfür kommen 3
Angriffspunkte über 2 Achsen in Frage. Die Angriffspunkte der Gewalteinwirkung sind
der Trochanter major (seitlicher Anprall), das Kniegelenk (dash-board-injury) und der
Fuß bei gestrecktem Knie (Sturz aus der Höhe), während die Achsen der Krafteinleitung
entlang des Schenkelhalses oder des Femurschaftes verlaufen. Einen weiteren Einfluß
übt die Stellung des Hüftgelenkes dabei in Innen- oder Aussenrotation, Ab- oder
Adduktion sowie Flexion oder Extension aus [28].
Durch die enormen Kombinationsmöglichkeiten der Krafteinleitung in Abhängigkeit
von den Bewegungsachsen lassen sich zum einen die hohe Variabilität der
Frakturverläufe erklären, zum anderen aber auch wichtige Rückschlüsse auf den
Verletzungsmechanismus ziehen. Diese wiederum ermöglichen eine leichtere
Interpretation und Klassifikation der Frakturen und erlauben brauchbare Vorgaben für
die Reposition als prinzipielle Umkehr der Kraftvektoren.
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Abb.3: Kraftvektoren der Gewalteinwirkung in Abhängigkeit von der Gelenkstellung
[28]
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1.3. Präoperative Diagnostik
Die Grundlage der Diagnostik bei Azetabulumfrakturen stellt die exakte Anamnese dar,
die von der gründlichen klinischen Untersuchung ergänzt, einen Überblick über das
Ausmaß der zu erwartenden Verletzung gibt. Ein besonderes Augenmerk dabei gilt
Asymmetrien der Hüftgelenkskonturen sowie Rotations- und Längendifferenzen der
Beine. Prellmarken und Schürfungen dürfen nicht außer Acht gelassen werden, da sie
wichtige Hinweise für die Art und Richtung der Gewalteinwirkung liefern.
Eine orientierende neurologische Untersuchung besonders der sensiblen und
motorischen Funktion des N. ischiadicus sollte neben der Prüfung der
Durchblutungssituation die klinische Befunderhebung abschließen [24,37,45].
Die radiologische Untersuchung stützt sich auf die Standardaufnahmen (Becken a.p.,
verletzte Hüfte a.p., Ala- und Obturatoraufnahme), die bei einer genauen Kenntnis der
Röntgenanatomie die sichere Klassifikation der Frakturen ermöglichen und die
Grundlage erster therapeutischer Entscheidungen bilden [11,18,41,45,55,66].
Abb. 4: Hüfte a.p. und Schrägaufnahmen nach URIST oder JUDET; 1 Linea terminalis,
1: reine Luxationsfraktur, ein einzelnes Fragment .2: reine Luxationsfraktur mehrere Fragmente .3: Luxationsfraktur mit Impressionsfraktur
.1: infratektal .2: juxtatektal .3: transtektal
.1: beide Pfeiler jeweils „einfach“ frakturiert .2: hinterer Pfeiler „einfach“ frakturiert, vorderer Pfeiler mit mehreren Fragmenten (≥2) .3: hinterer Pfeiler und hintere Wand
A2 Gelenk partiell betroffen, Fraktur eines einzelnen Pfeilers, „hinterer Pfeiler“
.1: durch Os ischii .2: durch den Obturatorring .3: in Kombination mit einer Hinterwandfraktur
.1: infratektal .2: juxtatektal .3: transtektal
.1: beide Pfeiler jeweils „einfach“ frakturiert .2: hinterer Pfeiler „einfach“ frakturiert, vorderer Pfeiler mit mehreren Fragmenten (≥2) .3: hinterer Pfeiler und hintere Wand
A3 Gelenk partiell betroffen, Fraktur eines einzelnen Pfeilers, anterior
B3 Gelenk partiell betroffen, Frakturlinie quer orientiert “Fraktur des vorderen Pfeilers/der vorderen Wand mit hinterer Hemitransvers- fraktur