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1 Grundz�ge der Toxikologie
Hans Marquardt, Siegfried G. Sch�fer und Holger Barth
Zun�chst sollen hier einige Aufgaben, Entwicklun-gen und
Begriffe in der Toxikologie skizziert wer-den. Danach werden einige
gesellschaftliche Aspek-te der Toxikologie aufgegriffen. Die
Fremdstoffe,denen der Mensch ausgesetzt ist, lassen sich
unter-scheiden in Stoffe, die sowohl eine heilende alsauch eine
toxische Komponente besitzen (Arznei-stoffe), Substanzen, die keine
heilende Wirkung ha-ben, bzw. N�hrstoffe sind. Den beiden ersten
Grup-pen bleibt gemeinsam, dass sich ihre Toxizit�t imAllgemeinen
in Abh�ngigkeit von der Dosis entwi-ckelt. Eine Ausnahme kçnnten
hier die genotoxi-schen Kanzerogen sein. Die Vielfalt der
Anwen-dung oder der Exposition von potenziell toxischenFremdstoffen
f�hrt dazu, dass sich Wissenschaftlerin zum Teil entfernten
Disziplinen mit ganz unter-schiedlichen Aspekten der Toxikologie
besch�fti-gen, was die Toxikologie zu einer sehr breit gef�-cherten
Wissenschaft macht. Die Konsequenz ist,dass es zahlreiche
Spezialisten in unterschiedlichenFachbereichen gibt, wie
Lebensmitteltoxikologie,Gewerbetoxikologie, Umwelttoxikologie oder
klini-sche Toxikologie.Die Toxikologie teilt sich prinzipiell in
zwei gro-
ße Teilgebiete auf, die experimentelle Toxikologieerarbeitet
Ergebnisse, die einerseits lediglich de-skriptiv sind, andererseits
zum Verst�ndnis der Me-chanismen der Toxizit�t beitragen. Daher
findenStudien aus toxikologischen Laboratorien der che-mischen
Industrie ebenso Eingang in diese Wissen-schaft wie Beitr�ge aus
der Biochemie, Physiologie,Pharmakologie, Zellbiologie oder der
pharmazeuti-schen Forschung. Die regulatorische Toxikologiebewertet
dagegen die erhobenen Befunde in Bezugauf das potenzielle Risiko
f�r den Menschen. Hier-zu wurde in den letzten Dekaden nicht nur
eineVielzahl von Standarduntersuchungen etabliert,sondern auch eine
hohe Datenqualit�t und -sicher-heit durch die Einf�hrung und
�berwachung der sogenannten GLP-(Good Laboratory
Practice-)Richt-linien f�r toxikologische Studien aufgrund der
ICH-Richtlinien (International Committee of Harmoni-zation)
erreicht (Tab. 1.1). Die Standardisierungund Dokumentation der
Untersuchungsverfahrensowie der verwendeten Tierst�mme, Zelllinien
oder
Bakterienst�mme ist unverzichtbar f�r die Ver-gleichbarkeit der
Daten und die daraus resultierendeBewertung der Ergebnisse.Damit
hat die Toxikologie die Aufgabe, Risiken
abzusch�tzen und den Sicherheitsrahmen zu defi-nieren. Das
Risiko repr�sentiert die Wahrschein-lichkeit, mit der eine Substanz
einen Schaden verur-sachen kann. Die Sicherheit verh�lt sich
reziprokzum Risiko, das heißt, sie entspricht der
Wahr-scheinlichkeit, mit der unter definierten Bedingun-gen kein
oder ein akzeptables Risiko zu erwartenist. Was in diesem
Zusammenhang ein akzeptablesRisiko ist, ist von Fall zu Fall zu
entscheiden.Selbst eine extrem toxische Substanz kann daher
weniger gef�hrlich sein, wenn sie unter kontrollier-ten
Bedingungen gehandhabt wird, als ein geringf�-gig toxischer
Fremdstoff, der unkontrolliert freige-setzt oder aufgenommen wird.
Die Inkorporationwird bestimmt von dem Aufnahmepfad, der Matrix,mit
der der Fremdstoff aufgenommen wird, denchemischen Eigenschaften
und von der Dosis.Die Toxikokinetik schafft die
Voraussetzungen,
die Bioverf�gbarkeit, die Verteilung in eventuelleZielorgane,
den Metabolismus und die Elimina-tionskinetik zu beschreiben und zu
beurteilen. Beigenauerer Betrachtung dieses Fachgebietes wirdsehr
schnell deutlich, dass die Meinung „Toxikolo-gie ist die
Pharmakologie hoher Dosen“ nicht nurnicht zutrifft, sondern
wesentliche Aspekte der To-xikologie unber�cksichtigt l�sst.
Vielmehr existie-ren eine Vielzahl von Fragestellungen und
Metho-den, z.B. die der Mutagenese oder Kanzerogenese,die im
Allgemeinen ohne pharmakologische Rele-vanz sind. Sie sind vielmehr
im Vorfeld der Pr�fungvon Arzneimitteln oder Chemikalien von
Bedeu-tung. Aus dem Metabolismus der Fremdstoffe las-sen sich
teilweise auch die Mechanismen der Toxi-zit�t ableiten. Beispiele
hierf�r sind die Hepatotoxi-zit�t von Paracetamol oder die
porphyrinogene Wir-kung von Blei.Die Wirkung einer Substanz wird
neben der Do-
sis auch von der Dauer und der H�ufigkeit der Ex-position
bestimmt. In der Toxikologie unterscheidetman deshalb vier
Kategorien: akute, subakute, sub-chronische und chronische
Expositionen. Akute Ex-
Grundz�ge der Toxikologie 1
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position ist die einmalige Aufnahme eines Fremd-stoffes �ber
weniger als 24 Stunden, unabh�ngigvom Aufnahmepfad. Die �brigen
Expositionen be-schreiben eine wiederholte Gabe. Die subakute
Ex-position entspricht der wiederholten Applikation biszu 28 Tagen.
Die subchronische Exposition erfolgtzwischen einem und drei
Monaten. Eine Applika-tion �ber drei Monate hinaus wird als
chronischeExposition bezeichnet. Die toxischen Effekte nachakuter
Gabe unterscheiden sich oft von der Sympto-matik nach wiederholter
Gabe. Beispielsweise f�hrtakute Benzolaufnahme zu zentralnervçsen
Wirkun-gen, w�hrend die wiederholte Aufnahme eine Leu-k�mie
auslçsen kann. Die Symptomatik einer aku-ten Exposition kann jedoch
auch verzçgert auftre-ten, sodass die Effekte eine Einzeldosis erst
nachTagen beobachtet werden kçnnen, wie nach einerakuten
Paracetamol-Intoxikation. Die Schwere ei-ner solchen Vergiftung
kann daher anf�nglich leichtuntersch�tzt werden.Die wiederholte
oder kontinuierliche Aufnahme
kann jedoch auch zu Toleranz f�hren, das heißt zueiner
reduzierten Wirkung aufgrund einer vorheri-gen Exposition mit
derselben oder einer strukturver-wandten Substanz. Die Toleranz
beruht auf zweiunterschiedlichen Mechanismen. Der eine
beruhtdarauf, dass weniger toxische Substanz das Zielor-gan
erreicht, z.B. nach Induktion des substanzspezi-fischen
Metabolismus. Der zweite Grund kann einereduzierte Empfindlichkeit
des Zielorgans sein.�ber die Ursachen hierf�r ist nur wenig
bekannt.Toleranzen bilden sich zum einen bei einigen
Arzneimitteln aus, aber auch bei toxischen Fremd-stoffen wie
Tetrachlorkohlenstoff. Die wiederholteAufnahme von
Tetrachlorkohlenstoff f�hrt zu einerverringerten Produktion von
reaktiven Metabolitenwie dem Trichlormethyl-Radikal, das f�r die
Hepa-totoxizit�t verantwortlich gemacht wird. Ein ande-res Beispiel
ist die wiederholte Aufnahme von Cad-
mium, das die Synthese von Cadmium-bindendemMetallothionein
induziert und auf diese Weise diefreie Cadmiumkonzentration und
somit die Cad-miumtoxizit�t reduziert.Eine andere wichtige Frage
f�r die Beurteilung
des toxischen Risikos ist die Frage nach der Rever-sibilit�t der
Effekte. Beispielswiese f�hrt die Intoxi-kation durch Carbamate zu
einer reversiblen Hem-mung der Acetylcholinesterase-Aktivit�t. Die
Wir-kung kehrt daher nach wenigen Stunden zur�ck.Dagegen binden
Alkylphosphate irreversibel andasselbe Enzym. Die
Vergiftungssymptome sindsehr �hnlich, die Aktivit�t der
Acetylcholinesterasekann jedoch grçßtenteils nur durch eine de
novo-Synthese des Enzyms wieder hergestellt
werden(Erythrozyten-Mauser). Die Vergiftungssymptoma-tik bleibt
l�nger erhalten und die therapeutischenMaßnahmen bei einer
Intoxikation unterscheidensich daher.Daneben kann die Interaktion
von zwei oder
mehr Fremdstoffen zu einer Verst�rkung oder Ab-schw�chung der
Einzeleffekte f�hren. Eine additiveWirkung liegt dann vor, wenn die
Symptome nachgleichzeitiger Gabe von zwei Substanzen der Sum-me der
einzelnen Effekte entspricht (z.B. Aufnah-me von zwei verschiedenen
Organophosphate). Ei-ne synergistische Wirkung ist gegeben, wenn
dieSymptome nach simultaner Gabe von zwei Fremd-stoffen sehr viel
grçßer sind, als die Summe derEinzelwirkungen erwarten ließe. Zum
Beispiel istdie Hepatotoxizit�t von Tetrachlorkohlenstoff
inGegenwart von Ethanol sehr viel grçßer, als man�ber eine
Summation der Einzeleffekte absch�tzenw�rde. Unter der Potenzierung
versteht man die Si-tuation, dass eine Substanz keine toxische
Wirkungauf ein bestimmtes Organsystem hat, aber die Toxi-zit�t
einer anderen Verbindung deutlich steigert.Beispielsweise ist
Isopropanol nicht hepatotoxisch.Wird es jedoch zusammen mit
Tetrachlorkohlen-
2 Grundz�ge der Toxikologie
Tab. 1.1: Internationale Anforderungen der regulatorischen
Toxikologie in verschiedenen Anwendungsgebieten.
Produktkategorie Kernstudien(akute und chronischeApplikation
1),Mutagenit�t 2))
Spezielle Untersuchungen
Repro-duktions-toxikologie
Kanzero-genit�t
Hautvert-r�glichkeit
Immuno-toxikologie
Neuro-toxikologie
Toxiko-kinetik
Arzneimittel (Mensch)Arzneimittel
(Tier)PestizideChemikalienNahrungsmittelzus�tzeKosmetik
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Zeichenerkl�rung:� Routineuntersuchung
s Teilweise erforderlichd Selten gefordert
1) Chronische Studien kçnnen bis zu einem Jahr ausgedehnt
werden.2) Zwei oder mehr unabh�ngige Tests werden im Allgemeinen
gefordert.
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stoff appliziert, wird die Hepatotoxizit�t des letzt-eren ganz
erheblich gesteigert. Die Interaktion zwi-schen einem toxischen
Agens und einem so genann-ten Antidot wird dagegen therapeutisch
genutzt.Dabei kann das Zustandekommen des „Antagonis-mus“ auf sehr
verschiedenen Prinzipien beruhen.Wenn zwei Substanzen ihre
Wirkungen durch ent-gegengesetzte Effekte an derselben
physiologischenEinheit aufheben, spricht man von einem
funktion-ellen Antagonismus. Beispielsweise werden Kon-vulsionen,
die bei sehr vielen Vergiftungen beo-bachtet werden, durch die Gabe
von Diazepam an-tagonisiert, ohne dass beide Substanzen, z.B.
amselben Rezeptor, konkurrieren. Von einem chemi-schen Antagonismus
(Inaktivierung) spricht man,wenn eine einfache chemische Reaktion
zwischenzwei Substanzen zu einer weniger toxischen Ver-bindung
f�hrt. Es ist bekannt, dass Dimercaprol(BAL) Chelate mit Arsen,
Blei oder Quecksilberbildet. Dieser Metallkomplex entzieht
einerseits dietoxischen Metalle den Zielorganen und bringt
sieandererseits schneller zur Elimination. Die Bindungzweier
Substanzen an demselben Rezeptor wird alsRezeptor-Antagonismus
bezeichnet. Nach diesemPrinzip lassen sich die Morphinintoxikation
mit Na-loxon oder die Benzodiazepin�berdosierung mitFlumazenil
behandeln, da die Wirksubstanzen undAntidote um dieselben
Bindungsstellen an den Re-zeptoren konkurrieren. Dabei muss
sichergestelltsein, dass der Antagonist am jeweiligen Rezeptorkeine
entsprechende pharmakodynamische Wir-kung aus�bt. Die Gabe von
Atropin bei der Organo-phosphatintoxikation ist ein Beispiel daf�r,
dass dasAntidot nicht mit dem Gift am Rezeptor konkur-riert,
sondern vielmehr den Rezeptor f�r das nat�r-liche Agens, das
Acetylcholin, blockiert, das in derIntoxikation akkumuliert.Neben
einer Reihe neuer Werkstoffe und Sub-
stanzen spielen in den letzten Jahren die sogenann-ten
Nanopartikel eine zunehmende Rolle in ver-schiedensten
Industriezweigen. Zudem werden Na-nopartikel in der çffentlichen
Diskussion zum Teilskeptisch gesehen, ohne dass meist die
Diversit�tder Substanzen wie der Formen von Nanopartikelnbekannt
ist. Beispielsweise werden große Mengenvon „Carbon Black“
(Industrieruß) von der Reifen-industrie verwendet. Neben
kohlenstoffhaltigen Na-nopartikeln werden sie synthetisch aus
verschiede-nen Metalloxiden oder als Polymere hergestellt. Da-r�ber
hinaus kçnnen sie in verschiedenen Formenverwendet werden, zum
Beispiel als Nanorçhren.Sie finden zahlreiche unterschiedliche
Anwendun-gen, wie in der Medizin, der Elektrotechnik alsHalbleiter
oder in kosmetischen Produkten, ohne
dass im Detail die Wirkung der verschiedenen Na-nopartikel auf
den menschlichen Organismus ge-kl�rt ist. Daher wurde in dieser
Auflage dieserneuen Substanzgruppe und -form besondere
Auf-merksamkeit geschenkt.Seit einigen Jahren gewinnt die
regulatorische
Toxikologie zunehmend an Bedeutung, die sich mitder Beurteilung
von genetisch modifizierten Pflan-zen in Lebensmitteln oder mit
gentechnisch herge-stellten Arzneimitteln besch�ftigt. Obgleich
bereitseine Vielzahl von Pr�fvorschriften existiert, gibt
esinsbesondere hier ein hohes Maß an çffentlicherDiskussion
(„Gen-Food“) und erforderlicher Auf-kl�rung.Die Toxikologie ist
eine der wenigen wissen-
schaftlichen Disziplinen, deren Erkenntnisse einegroße und oft
sofortige çffentliche Resonanz habenkçnnen. Zurzeit ist die Furcht
vor Sch�digungen derGesundheit und Umwelt durch Chemikalien
einewichtiges Thema der çffentlichen Aufmerksamkeit– zumindest in
unseren hochzivilisierten Kulturkrei-sen. Diese Angst vor den
chemischen Wirkprinzi-pien ist nicht neu. Bereits Plinius der
�ltere stellteim 1. Jahrhundert v.Chr. fest: „So viele Gifte
wer-den benutzt, um den Wein unserem Geschmack an-zupassen, und wir
wundern uns dar�ber, dass unsdies nicht wohl tut.“ Heute aber kann
ein massiver„Einbruch der Chemie in den Lebensraum des Men-schen“
nicht geleugnet werden und zwingt zu kriti-scher
Auseinandersetzung.In zuk�nftigen Geschichtsb�chern wird die
zwei-
te H�lfte des 20. Jahrhunderts als die �ra der syn-thetischen
Chemie und der Biotechnologie Eingangfinden. Beginnend in den
1940er-Jahren haben wireine explosive Entwicklung neuer
industriellerTechnologien und eine Integration
synthetischerChemikalien in unser persçnliches Leben
erfahren.Allein in den USA sind nahezu 600000 chemischeProdukte im
Gebrauch, und im t�glichen Leben um-geben uns etwa 70000 dieser
Produkte und die Ten-denz ist steigend. Von diesen Substanzen
kçnnenqualitativ und quantitativ unterschiedliche
gesund-heitssch�dliche Wirkungen ausgehen. W�hrend zu-n�chst diese
Chemie in unserem Leben als Gewinnpositiv beurteilt wurde,
betrachtet sie die Gesell-schaft – aufgeweckt z.B. durch Rachel
Carson„Stummer Fr�hling“ – heute mit Misstrauen. Ob-gleich wir
heute ein deutlich l�ngeres und qualitativreicheres Leben genießen,
betrachtet die �ffentlich-keit Wissenschaft und Technologie nicht
mehr alswertvolle Verb�ndete, sondern mehr oder wenigerals Feinde
der Natur.Der Druck der �ffentlichkeit hat zu einer strikten
Gesetzgebung hinsichtlich chemischer Exposition
Grundz�ge der Toxikologie 3
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in der Umwelt und am Arbeitsplatz gef�hrt: Wir al-le kçnnen
selbstverst�ndlich gemeinsam nur begr�-ßen und fordern, dass das
Wohl von Mensch undUmwelt gesch�tzt wird. Unbestreitbar ist aber
auch,dass die Industrie ermutigt werden muss, Forschungzur
Entwicklung neuer Materialien zu betreiben, dievon Wert f�r uns
alle sind. Die toxikologische Risi-koabsch�tzung, d. h. die
Beurteilung des Risikos f�rdie menschliche Gesundheit und Umwelt
durch Ex-position gegen�ber Chemikalien, ger�t zum einenzunehmend
zwischen die Fronten dieser beidenPostulate und steht zum anderen
auf durchaus unsi-cherer wissenschaftlicher Basis. Einerseits ist
diemoderne chemisch-analytische Technik heute in derLage, die
meisten synthetischen und nat�rlichenchemischen Stoffe in fast
unvorstellbar geringenSpuren zu bestimmen. Solche Befunde werden
h�u-fig ohne wissenschaftlichen Beweis mit Krankheits-symptomen
verbunden, die solche Stoffe bei Ein-wirkung hoher Dosen auslçsen,
ohne zu beachten,dass zwischen analytisch ermitteltem Wert undkrank
machender Dosis unter Umst�nden viele Zeh-nerpotenzen liegen. Ohne
eine derartige quantita-tive Wirkungsbetrachtung und
Risikobeurteilungaber ist der analytische Befund bedeutungslos.
An-dererseits hat die Toxikologie diesen Fortschrittender Analytik
nicht immer folgen kçnnen: Es ist un-bestreitbar, dass trotz großen
Erkenntnisgewinns inden vergangenen Jahren unser Wissen um die
Me-chanismen der Toxizit�t und unsere F�higkeit zuquantitativer
Risikobewertung begrenzt sind.Die Toxikologie als Lehre von den
Giften und
Giftwirkungen beschreibt als angewandte Wissen-schaft die
chemisch-biologischen Wechselwirkun-gen mit akuter und chronischer
gesundheitssch�dli-cher Auswirkung insbesondere auf den Menschenund
versucht diese zu quantifizieren, um die Sch�-den zu erkennen,
mçglichst zu verh�ten und even-tuell zu behandeln. Damit ist dieses
Fach gefordert,einen wesentlichen wissenschaftlichen Beitrag
zurPr�ventivmedizin zu erbringen („The ultimate goalin medicine is
to achieve to die young as late aspossible“, E. Wynder). Dies war
nicht immer so:Die griechischen Wçrter f�r Bogen und Arzneimit-tel
sind „toxikon“ und „pharmakon“, d. h., ein Pfeil-gift war ein
„toxikon pharmakon“. Zusammen mitdem „logos“, der Lehre, leitet
sich daraus der Be-griff „Toxikologie“ ab.Sicher kann man dar�ber
streiten, inwieweit die
Vermehrung der Chemie – Kosmetika, Waschmitteloder
Nahrungsmittelzus�tze – �berfl�ssig ist; einesolche Debatte aber
ist irrelevant: Diese Produktesind Teil unseres Lebens und werden
dies auch f�rdie vorhersehbare Zukunft bleiben. Die Aufgabe
der Toxikologie ist es sicherzustellen, dass derMensch keinem
unnçtigen Risiko durch Expositiongegen�ber diesen Substanzen
ausgesetzt wird. Da-bei ist die Basis in der Toxikologie der
Tierversuch,um pr�diktiv im Sinne des vorbeugenden
Gesund-heitsschutzes ein Gefahrenpotenzial aufzeigen zukçnnen. So
genannte alternative Methoden anschmerzfreier Materie sind seit
Jahren ein wertvol-les Hilfsmittel, aber auch nicht mehr. Erst die
Ent-wicklung definierter St�mme von Labortieren undMethoden zu
ihrer Haltung ermçglichte die Durch-f�hrung reproduzierbarer
Experimente und muss alsder eigentliche Beginn der experimentellen
Toxiko-logie angesehen werden.Wichtigste Grundlage der Toxikologie
ist die Er-
kenntnis des Paracelsus, dass es keine giftigenSubstanzen gibt,
sondern nur giftige Dosierungen(Anwendungen) von Substanzen. In
seiner 3. K�rnt-ner Defension hat Paracelsus klar gemacht, dassGift
nicht mit Stoff schlechthin definiert werdenkann, sondern dass ein
und derselbe Stoff Gift undNicht-Gift sein kann und dass „allein
die Dosismacht, dass ein Ding kein Gift sei“. Paracelsus fol-gend
muss man heute Gift als ein Wirkprinzip defi-nieren, das an die
chemische Materie und an dieDosis gebunden ist. Als Toxikologen
sind wir dem-zufolge mit dem Problem konfrontiert, dass –
mitAusnahme genotoxischer Verbindungen – eineSubstanz oberhalb
einer Schwellenkonzentration to-xisch (selbst 100 g Kochsalz kçnnen
tçdlich sein),aber unterhalb dieser Schwelle nicht-toxisch
ist.Diese Problematik kann nur durch eine sorgf�ltigeAnalyse der
zugrunde liegenden Wirkungsmecha-nismen und Bedingungen, unter
denen die Toxizit�tentsteht, gelçst werden. Diese
Schwellenkonzentra-tionen werden aus toxikologischen
Untersuchungenals so genannte (no-adverse-effect-level)
NOAELabgleitet und f�hren unter Ber�cksichtigung
von(Un-)Sicherheitsfaktoren aus toxikologischer Sichtzu duldbaren
menschlichen Expositionen (zuGrenz- bzw. Richtwerten, z.B. ADI –
(„accepteddaily intake“).Die heutige Toxikologie mit ihrem
Schwerpunkt
der Erfassung mçglicher Gesundheitsgef�hrdungendurch Belastungen
von Wasser, Boden, Luft oderNahrungsmitteln ist vor besonders
schwierige Auf-gaben und Probleme gestellt, handelt es sich
dabeidoch um die Frage nach biologischen Wirkungenim
Niedrigst-Dosis-Bereich. Die Toxikologie be-handelte zun�chst
(Orfila, 1814) akute Vergiftungennach relativ hohen Expositionen.
Diese Krankheits-bilder sind durch eine mehr oder weniger
typischeSymptomatik, charakteristischen Ablauf und klarerkennbaren
zeitlichen Zusammenhang zwischen
4 Grundz�ge der Toxikologie
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Substanzaufnahme und Krankheitsbeginn sowiedurch weitgehende
Reversibilit�t der Effekte undden eben beschriebenen Begriff des
Schwellenwer-tes gekennzeichnet. Die moderne Toxikologie be-fasst
sich etwa seit den 1950er-Jahren weitgehendmit der chronischen
Intoxikation und den Auswir-kungen der Aufnahme von Spuren
kçrperfremderStoffe �ber lange Zeitr�ume. Zu dieser Entwicklunghat
wesentlich die Identifizierung eines neuen Typstoxischer Wirkung
gef�hrt, n�mlich die Interaktionchemischer Stoffe mit dem
genetischen Material.Bei diesen genotoxischen Wirkungen –
Mutage-
nese, Kanzerogenese – handelt es sich um weitge-hend
irreversible Sch�digungen, die potenziell be-reits bei geringsten
Expositionen auftreten kçnnen.Gerade die (oft mehr theoretische)
Mçglichkeit,dass eine Langzeitexposition gegen�ber Minimal-dosen
Krebs auslçsen kçnnte, verursacht in der �f-fentlichkeit Furcht und
Unsicherheit, w�hrend wiralle wissen und akzeptieren, dass
Chemikalien inhoher Dosierung akut giftig sind:
n 5 von 100000 Kindern sterben j�hrlich an
akzi-dentiellenVergiftungen,
insbesonderedurchHaus-haltschemikalien: Dieses Risiko ist
allgemeinakzeptiert.
n Die Mehrheit unserer Mitb�rger hat dagegenAngst vor einem
Risiko von 5 :1000000 (wenn�berhaupt existent), durch Asbest in
einer SchuleKrebs zu entwickeln und verlangt die so
genannteAsbest-„Sanierung“, obwohl gerade dadurch erstwirkliche
Asbest-Gefahren hervorgerufen werdenkçnnen.
Die Beurteilung des Gefahrenpotenzials von Kanze-rogenen ist
besonders schwierig: Die Ursachen f�rdie Umwandlung einer
Normalzelle in eine Krebs-zelle sind vermutlich vielfach, die
zugrunde liegen-den Wirkmechanismen weitgehend unbekannt,
dieTest-Assays in vieler Hinsicht inad�quat. Trotzdemgibt es auch
hier Grundlagen f�r eine Risikobewer-tung: Nach Paracelsus ist die
Exposition gegen�berKonzentrationen unterhalb des Grenzwertes
unbe-denklich. F�r einen Teil von Kanzerogenen, sol-chen, die mit
dem genetischen Material interagie-ren, kçnnen derartige Grenzwerte
z. Zt. nicht defi-niert werden. Hier gilt der experimentell nicht
be-wiesene Grundsatz der stochastischen Wirkung. Erbesagt, dass mit
sinkender Konzentration einesFremdstoffes zwar die
Schadenswahrscheinlichkeitabnimmt, solange aber nicht null wird,
wie noch eineinziges Molek�l vorhanden ist. F�r eine große An-zahl
so genannter nicht-genotoxischer Kanzeroge-ne, die uns vielfach
umgeben, z.B. Saccharin, aber
auch chlorierte Kohlenwasserstoffe, gibt es jedochkeinen Grund,
nicht der Regel des Paracelsus zufolgen. Wir kçnnen nicht mehr
zusehen und f�rsinnvoll erkl�ren, dass Testergebnisse, die mit
zumTeil exorbitanten Dosen erzielt wurden, in den ppb/ppt-Bereich
der normalen Umweltkonzentrationen(ein Zuckerw�rfel aufgelçst im
Bodensee) extrapo-liert werden.Die toxikologische Bewertung einer
Chemikalie
und einer bestimmten Situation, bei der Menschengegen�ber
Chemikalien exponiert sind, verlangt al-so offensichtlich
Sachkenntnis und große Erfah-rung. Die simple �bertragung von
tierexperimentel-len Daten auf den Menschen ohne
Ber�cksichtigungvon Interspezies-Unterschieden und
Wirkungsme-chanismen und ohne quantitative
Dosis-Wirkungs-Beziehungen f�hrt zwangsl�ufig zu großer
Unsi-cherheit („Extrapolation in toxicology is more thanusing
carbon paper“, A.F. Rahde).Die Bewertung des gesundheitlichen
Risikos ei-
ner Exposition gegen�ber Chemikalien kann nurauf der Grundlage
gesicherter wissenschaftlicherErkenntnisse erfolgen. Wir kçnnen
nicht weiterhinIrrationalit�t beim Umgang mit Chemikalien
tole-rieren bzw. kultivieren. Die Chemophobie, die heu-te beim
Umgang mit Chemikalien so im Vorder-grund steht, ist h�ufig nicht
wissenschaftliche Rea-lit�t. Es wird gewarnt, l�ngst bevor klar
ist, wovorgenau gewarnt werden muss; der findet am ehestenGlauben,
der ein Risiko am schw�rzesten malt (H.R�diger).Was f�r die
Exposition gegen�ber chemischen
Substanzen gilt, ist gleichermaßen f�r eine Exposi-tion
gegen�ber Radioaktivit�t gegeben. In Deutsch-land wurde u.a.
aufgrund der Ereignisse in Fukushi-ma der Ausstieg aus der
Kernenergie beschlossen,weshalb die Energiemengen, die auf diese
Weise re-duziert werden, durch eine andere Energieform er-setzt
werden m�ssen. Das kann durchaus zu einerdeutlich ver�nderten
Bodennutzung durch die Land-wirtschaft durch intensiven Anbau von
Energietr�-gern wie Mais f�hren, der f�r die Biogasanlagen
er-forderlich ist. Zum anderen wird es neben einer an-deren
Betrachtung der �kosysteme (großfl�chigerAusbau von
Windkraftanlagen) auch zu einer nach-haltigeren Nutzung fossiler
Brennstoffe (Kohle,Gas) kommen. Ob dies zu einem Einfluss auf
dieBelastung von Bçden oder Grundwasser durch denvermehrten Einsatz
von D�ngern und Pestizidenf�hrt, bleibt abzuwarten.Die
Verantwortung der Wissenschaft Toxikolo-
gie f�r den Menschen und die technischen Entwick-lungen in der
chemischen Industrie sollten uns er-mutigen, dieses Fach auch
weiterhin mit Sorgfalt
Grundz�ge der Toxikologie 5
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und kritischem Sachverstand zu entwickeln. Derwissenschaftlich
begr�ndeten Risikoabsch�tzungkommt dabei eine besonders große
Bedeutung zu.Die dramatischen Entwicklungen der Toxikologiein den
vergangenen Dekaden m�ssen Eingang fin-den in die toxikologische
Bewertung und vor allem
der Allgemeinheit vermittelt werden. �rzte, Chemi-ker und andere
Naturwissenschaftler m�ssen mehrals bisher mit den toxikologischen
Erkenntnissenund den Prinzipien der toxikologischen
Bewertungvertraut gemacht werden. Dieser Aufgabe sei diesesBuch
gewidmet.
6 Grundz�ge der Toxikologie
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4 Toxikokinetik
Harald M�ckter, Harald Derendorf und Burckhard Fichtl
4.1 Einf�hrung
Die Wirkungen eines Fremdstoffes im Organismusvon Mensch und
Tier werden durch seine pharma-kodynamischen und
pharmakokinetischen Eigen-schaften bestimmt. Die Pharmakodynamik
(griech.farmakon¼Heilmittel;dunamiV¼St�rke)beschreibtdie Wirkungen
und Wirkungsmechanismen einerSubstanz, d. h. „was die Substanz mit
dem Kçrperanstellt“. Ausmaß und Zeitverlauf der Wirkungenh�ngen
aber auch von der Pharmakokinetik (griech.kinein¼bewegen) ab. Sie
beschreibt den zeitlichenVerlauf der Konzentrationen einer Substanz
im Or-ganismus, die aus dem Zusammenspiel von Resorp-tion,
Verteilung und Elimination resultieren. DiePharmakokinetik befasst
sich damit, „was der Kçr-per mit dem Pharmakon anstellt“.
4.1.1 Was ist Toxikokinetik?
Der Ausdruck „Toxikokinetik“ wurde offenbar zumersten Mal 1937
in einer Publikation eines russi-schen Autors gebraucht (Case
1993). In den vergan-genen Jahren ist dieser Begriff zunehmend
popul�rgeworden, sein Gebrauch ist aber recht uneinheit-lich (Tab.
4.1). Es sei hier dahingestellt, ob die An-wendung
pharmakokinetischer Prinzipien auf toxi-kologische Fragestellungen
die Einf�hrung desneuen Begriffs der Toxikokinetik rechtfertigt.
ImFolgenden soll daher der „neutrale“ Begriff „Kine-tik“ verwendet
werden. Entsprechend soll unterFremdstoff jede Substanz oder jedes
Pharmakonverstanden werden, das im Organismus Wirkungenauslçst,
unabh�ngig davon, ob diese als „therapeuti-sche“ oder „toxische“
Wirkungen zu werten sind.
4.1.2 Pharmako-(toxiko-)kinetischeParameter
Das Schicksal eines Fremdstoffs im Organismusl�sst sich durch
das sogenannte LADME-Schema
(Abb. 4.1) beschreiben. Unter Umst�nden muss esaus einer Matrix
oder einer Wirkstoffzubereitungerst freigesetzt werden
(Liberation). Sofern es nichtdirekt ins Blut injiziert wird, muss
es zun�chst re-sorbiert werden (Absorption; z.B. aus der
Gastroin-testinalfl�ssigkeit, einem intramuskul�ren oder
sub-kutanen Depot). Nachdem das Pharmakon in dasBlut gelangt ist,
wird es mit dem Blutstrom in dieGewebe verteilt (Distribution). Die
meisten Fremd-stoffe werden – in unterschiedlichem Ausmaß –
re-versibel an Plasmaproteine und Gewebebestandteilegebunden. Sie
kçnnen durch den Stoffwechsel ver-�ndert werden (Metabolismus) und
werden schließ-
Einf�hrung 41
Tab. 4.1: Was ist Toxikokinetik?
Definition Quelle
„Toxicokinetics is … the applicationof pharmacokinetic
principles to theinvestigation of toxicity and otheradverse effects
of drugs.“
Yacobi et al. (1989)
„The primary purpose of toxicokine-tics is to provide
information on therate, extent, and duration of exposureof the test
animal species to the testcompound during the course of atoxicity
study.“
Chasseaud (1993)
Toxicokinetics may be defined as „thegeneration of
pharmacokinetic dataeither as an integral component inthe conduct
of nonclinical toxicitystudies or in specially designedsupportive
studies, in order to assesssystem exposure.“
ICH2 (1993)
„Toxicokinetics is a unique expansionof the science of
pharmacokinetics.The major difference between thetwo disciplines,
of course, is that toxi-cokinetic studies are generally carriedout
at much higher doses than thoseused in pharmacokinetic
studies.“
Welling (1995)
„Toxicokinetics is a subdiscipline ofpharmacokinetics dealing
with theabsorption, distribution, metabolism,and elimination of
xenobiotics atdoses higher than those expected toproduce
therapeutic effects.“
Dahlem et al. (1995)
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lich – unver�ndert oder als Metabolite – aus demKçrper wieder
ausgeschieden (Exkretion). F�r dieEinzelheiten der komplexen
Vorg�nge, die imLADME-Schema zusammengefasst sind, muss aufdie
Lehrb�cher der Pharmakologie verwiesen wer-den. Ein Aspekt, der in
solchen Darstellungen meistzu kurz kommt, soll hier aber genauer
betrachtetwerden.
4.1.3 „Lipophile“ Eigenschaftenvon Pharmaka
Bei allen Stadien des LADME-Schemas muss einFremdstoff
biologische Membranen permeieren.Die F�higkeit zur
Membranpermeation wird we-sentlich durch die „lipophilen“
Eigenschaften einerSubstanz bestimmt. In der Diskussion der
Stoffei-genschaften, die bei Verteilungsvorg�ngen im Kçr-per eine
Rolle spielen, werden vier Begriffspaare(wasserlçslich –
wasserunlçslich, polar – unpolar,hydrophil – hydrophob und lipophob
– lipophil)h�ufig in derselben Bedeutung verwendet, wenn esum die
Verteilung eines Stoffes, seinen Transportdurch biologische
Membranen oder seine Freiset-zung aus einer Matrix
geht.Wasserlçslichkeit bezeichnet die Lçslichkeit ei-
nes (Fest-)Stoffs in Wasser und wird in g/100ml(pr�zise: g/100 g
Wasser) oder mol/l angegeben.
Bei schwer lçslichen Salzen wie Blei(II)chlorid(PbCl2) ist die
Angabe des Lçslichkeitsprodukts L�blich, das sich aus der
Gleichgewichtsbetrachtungzwischen der fl�ssigen Phase und dem
ungelçstenBodensatz (PbCl2 (fest)) der Salzlçsung ergibt, z.B.
PbCl2 ðfestÞ $ Pb2þþ2Cl� ½Pb2þ� ½Cl��2
½PbCl2�fest¼Kc
oder ½Pb2þ� ½Cl��2 ¼LPbCl2In der Literatur wird h�ufig der
negative dekadischeLogarithmus (pL) des Lçslichkeitsprodukts
angege-ben. Einige Beispiele sind in Tabelle 4.2
zusam-mengestellt.Die Lçslichkeit eines Stoffes h�ngt außer von
der
Art der Komponenten noch stark von der Tempera-tur ab. In der
Toxikologie ist das Lçslichkeitspro-dukt einer Substanz f�r das
Ausmaß ihrer Resorp-tion wichtig. In manchen F�llen wird allerdings
dieBetrachtung der Lçslichkeiten einzelner Ionendurch die
Einstellung von komplexen Gleichge-wichten erschwert. So betr�gt
beispielsweise dieLçslichkeit von Quecksilberchlorid (HgO) in
rei-nem Wasser nur 0,0001mol/l. In Anwesenheit vonChloridionen,
z.B. im Magensaft oder im Blutplas-ma, kommt es zur Bildung von
basischem Quecksil-berchlorid bzw. Sublimat, dessen Lçslichkeit in
Ge-genwart von Alkalichloriden (z.B. Kochsalz) durchBildung von
Hg-Komplexen deutlich zunehmenkann:
42 Toxikokinetik
Wirkort„Rezeptoren“
gebunden frei
KinetischePhase
Liberation
Absorption
Distribution
Metabolism
Excretion
KinetischerParameter
Bioverfügbarkeit
Verteilungsvolumen
Clearance
Pharmakon in„Arzneimittel“
(Matrix)
Resorptionsort
SystemischerKreislauf
Gewebe
gebunden frei
gebunden
frei
Abb. 4.1: Schematische Darstellung des Schicksals eines
Fremdstoffs im Organismus (sog. LADME-Schema).
-
HgOwenig
wasserl€oslich
)�*�þaq
�aqHgðOHÞ2 )���*�
þHCl
�HClHgðOHÞCl )���*�
þHCl
�HCl
HgCl2 )���������*�þ2NaCl
�2NaCl½HgCl4�2�þ2Naþ
gutwasserl€oslich
Mangelnde Wasserlçslichkeit („wasserunlçslich“)impliziert
keineswegs, dass ein solcher Stoff danngut lipidlçslich ist und
Lipidmembranen leicht pas-sieren kann. So ist z.B. das
wasserunlçslicheQuecksilberselenid praktisch nicht
neurotoxisch,weil die Substanz, die zu einem Feststoff aggre-giert,
in Wasser und in unpolaren Lçsungsmittelnunlçslich ist. In diesem
Zustand wird das Quecksil-ber praktisch nicht resorbiert.
Lipophilie „stellt die Affinit�t eines Molek�ls odereiner Gruppe
zu einer lipophilen Umgebung dar.Sie wird �blicherweise durch das
Verteilungsver-halten in einem Zwei-Phasen-System gemessen,entweder
fl�ssig-fl�ssig oder fest-fl�ssig“ (IUPAC).
Hydrophobie „ist der Zusammenschluss unpolarerGruppen oder
Molek�le in einer w�ssrigen Umge-bung, die sich aus dem Bestreben
des Wassers er-gibt, unpolare Molek�le auszuschließen“ (IUPAC).
Polarit�t: Als unpolar im physikochemischen Sin-ne wird eine
Struktur angesehen, wenn ihr Dipol-
moment gegen „0“ geht (dabei kçnnen einzelneBindungen oder
funktionelle Gruppen durchausasymmetrische Ladungsverteilung
zeigen, z.B.beim CO2: d
�O¼Cdþþ¼Od� ) und/oder keine stabile
Ungleichverteilung elektrischer Ladungen festzu-stellen ist. Von
der Polarit�t der betrachteten Teil-chen ist noch die
Lçsungsmittelpolarit�t abzugren-zen, die auch als Lçsevermçgen
bezeichnet wird,womit die „Aktion aller spezifischen und
unspezifi-schen intermolekularen Wechselwirkungen zwi-schen
Lçsungsmittelmolek�len und gelçsten Mole-k�len gemeint ist –
ausgenommen diejenigen, diedie chemische Natur der Komponenten
ver�ndern(also Protonierung, Dissoziation, Oxidation, Reduk-tion,
Komplexierung, etc.)“ (IUPAC). LipophileSubstanzen gelten demnach
als unpolar, da sie ent-weder ein vernachl�ssigbares Dipolmoment
zeigenoder sich in unpolaren Lçsungsmitteln lçsen.Seit 1900 wird
zur Beurteilung der Lipophilie
bzw. Hydrophobie eines Stoffs der
Octanol/Wasser-Verteilungskoeffizient P¼Coct=CH2O benutzt, derdas
Verh�ltnis der Stoffkonzentrationen in einerw�ssrigen (CH2O) und
einer organischen (Coct) Pha-se ausdr�ckt, wenn beide miteinander
im Gleichge-wicht stehen. n-Octanol hat eine hydrophobe Al-kankette
und eine polare Kopfgruppe und ist daherwie biologische Lipide in
der Lage, sowohl Wasser-stoffbr�ckenbindungen (mit hydrophilen
Stoffen)auszubilden als auch hydrophobe Wechselwirkun-
Einf�hrung 43
Tab. 4.2: Lçslichkeitsprodukte ausgew�hlter Salze (angegeben als
pL-Werte bei Raumtemperatur).Zum Verst�ndnis sei das Beispiel
FeðOHÞ3 ausgef�hrt: die Tabelle gibt einen pL-Wert von 37,3 an,
also LFeðOHÞ3 ¼ 10�37,3.Nach dem Massenwirkungsgesetz gilt
½Fe3þ� � ½OH��3½FeðOHÞ3�fest
¼ KFeðOHÞ3 bzw. ½Fe3þ� ½OH��3 ¼ LFeðOHÞ3 ¼ 10�37,3.Mit x¼ ½Fe3þ�
und y¼ ½OH�� wird die Konzentration an freiem Fe3þ in Lçsung
errechnet, indem die Gleichung x � y3 ¼ L¼ 10�37,3nach x aufgelçst
wird. Das gelingt unter der Annahme, dass f�r jedes gelçste
Fe3þ-Ion 3 Hydroxidionen in der Lçsung erscheinen, also
y¼ 3x. Aus der Gleichung xð3xÞ3 ¼ 27x4 ¼ LFeðOHÞ3 ¼ 10�37,3
folgt f�r x der
Wertffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffi10�37,3
274
r� 2 �10�10, entsprechend einer
Fe3þ-Konzentration von rund 0,2 nmol/l.
Salz (Trivial- od. Mineralname) Formel pL Vorkommen bzw.
Verwendung
Lithiumcarbonat Li2CO3 2,77 Antidepressivum
Calciumsulfat (Gips) CaSO4 4,62 F�llstoff
Bleichlorid PbCl2 4,80 obsolet in Schilderfarben (Turners
Gelb)
Bariumsulfat (Schwerspat) BaSO4 8,82 Rçntgenkontrastmittel
Calciumfluorid (Flussspat) CaF2 9,77 Prismenmaterial
Silberbromid AgBr 12,3 Fotografische Emulsionen
Quecksilber(I)chlorid (Kalomel) Hg2Cl2 17,7 Obsolet als
Abf�hrmittel
Zinksulfid (Zinkblende) ZnS 23,9 Leuchtschirme
Eisen(III)hydroxid FeðOHÞ3 37,3 RostQuecksilbersulfid (Zinnober)
HgS 53,8 Rotes Pigment
-
gen (mit lipophilen Stoffen) auszu�ben. Entschei-dend f�r die
tats�chliche Verteilung eines Stoffszwischen Octanol und Wasser ist
allerdings nichtseine Lçslichkeit in Octanol, sondern die
Tendenzder Wassermolek�le, die gelçsten Stoffteilchen
aus-zuschließen. Die Bestimmung geht von der Annah-me aus, dass
Wechselwirkungen der Lçsungsmittel-molek�le untereinander keinen
Einfluss auf dieVerteilung haben und Wechselwirkungen der gelçs-ten
Teilchen der Testsubstanz untereinander ver-nachl�ssigbar sind.
Letzteres wird theoretisch nurbei unendlicher Verd�nnung erreicht;
in der Praxissorgt man daf�r, dass die Stoffkonzentrationen
inbeiden Phasen unter 10mmol/l liegen. �blicherwei-se wird der
dekadische Logarithmus von P tabelliert(logP). F�r viele Stoffe
konnte eine signifikanteKorrelation ihrer logP-Werte und der
Bioakkumula-tion, z.B. in Fischen, gezeigt werden. Auch bei
derAbsch�tzung der Bindung einer Substanz in Bodenund Sedimenten
ist der logP n�tzlich. Ausgew�hltelogP-Werte zeigt Tabelle 4.3.Es
hat in der Vergangenheit nicht an Versuchen
gefehlt, den logP grçßerer Molek�le aus der Struk-turformel oder
den Beitr�gen einzelner Fragmenteabzusch�tzen, indem entweder aus
verwandtenStrukturen extrapoliert oder aus Fragmenten,
derenBeitr�ge zum logP-Wert durch Vergleich ermitteltworden waren,
ein logP des großen Molek�ls be-rechnet wurde. F�r weniger komplexe
Strukturenwie einfache substituierte Aromaten hat diese Stra-tegie
brauchbare Resultate geliefert, aber bei Subs-tanzen wie
Oligopeptiden, Oligonukleotiden, Ste-roiden, Tensiden waren die
�bereinstimmungen mit
den empirisch gefundenen Werten unbefriedigend.Als Grund werden
zum einen Wasserstoffbr�cken-bindungen genannt, die sowohl zwischen
den gelçs-ten Teilchen untereinander als auch zwischen gelçs-ten
Teilchen und Lçsungsmittelteilchen auftretenund in den zuvor
genannten Ans�tzen praktisch ver-nachl�ssigt werden. Nicht
ber�cksichtigt wurdenauch Formfaktoren, die der Tatsache Rechnung
tra-gen, dass ein bestimmtes Molek�lvolumen ver-schiedenartige
Ausdehnung haben kann (z.B. sph�-risch oder elongiert) und damit
unterschiedlicheAngriffsfl�chen f�r Lçsungsmittelmolek�le
bietet.Hier hat in den letzten zehn Jahren durch Arbei-
ten von Abboud, Abraham, Doherty, Kamlet, Pooleund Taft ein
neues Konzept Einzug gehalten, dasdurch seine Vielseitigkeit
besticht, nicht nur in Be-zug auf die untersuchten Phasensysteme
(Octanol/Wasser, Blut/Hirn, Mizellen/Wasser, etc.), sondernauch auf
die interessierenden Parameter, die außerLçslichkeiten und
Akkumulationsph�nomenen auchpharmakologische und toxische Wirkungen
umfas-sen. Es handelt sich um das Konzept der sog. linea-ren freien
Energiebeziehungen (LFER) oder der li-nearen
Solvatationsenergiebeziehungen (LSER).Dabei wird der Vorgang der
Solvatation oder auchdes Phasentransfers als Folge dreier
energieabh�n-giger Schritte betrachtet: (a) im Lçsemittel muss
einHohlraum gebildet werden, in dem das gelçste Teil-chen Platz
findet, (b) ein einzelnes Teilchen mussaus seiner bisherigen
Umgebung (gleichartiger Teil-chen) herausgelçst werden, um in dem
geschaffe-nen Hohlraum Platz zu finden, und (c) Anziehungs-kr�fte
m�ssen zwischen gelçstem Teilchen und derneuen Umgebung existieren,
die die gelçsten Teil-chen im Hohlraum festhalten. Der erste
Schritt ist�blicherweise endergon, die beiden anderen sindexergon.
Solvatation und Phasentransfer kçnnen so-mit als abh�ngig vom
Hohlraum (Grçße), polarenWechselwirkungen und
Wasserstoffbr�ckenbindun-gen beschrieben werden. Das Konzept kann
durchfolgende Gleichung veranschaulicht werden:
log S¼ cþ rR2þ sp2þ aX
aH2 þbX
bH2 þnVx
Die Deskriptoren R2, p2, a2, b2, und Vx bedeutendie molare
Brechung, die Polarisierbarkeit, eine ef-fektive Azidit�t und
Basizit�t, mit denen Donor-und Akzeptorwasserstoffbr�cken erfasst
werden,sowie das sog. McGowen-Volumen des gelçstenTeilchens, das
aus der Molek�lstruktur berechnetwerden kann.Die Verteilung eines
Stoffs zwischen zwei Pha-
sen ergibt sich in dieser Vorstellung aus dem Raum-bedarf der
betrachteten Molek�le einerseits und den
44 Toxikokinetik
Tab. 4.3: Beispiele f�r
Octanol/Wasser-Verteilungskoeffizienten.Angegeben sind die
logarithmierten Werte (logP).
Substanz logP
Anilin 0,9
Phenol 1,5
Anisol 2,1
Benzol 2,1
Trichlorethen 2,4
Atrazin 2,6
Toluol 2,7
Naphthalin 3,6
Biphenyl 4,0
Lauryls�ure 4,2
Phenanthren 4,5
DDT 6,2
-
differenziellen energetischen Wechselwirkungenmit Ursprungs- und
der Zielphase andererseits,zweckm�ßig reduziert auf
Polarisationseffekte,Wasserstoffbr�cken und hydrophobe
Wechselwir-kungen.
4.2 Grundlegende kinetischeParameter
F�r die meisten Fremdstoffe besteht eine Beziehungzwischen ihrer
Konzentration am Wirkort und ihrerWirkung. Diese Konzentration und
auch die Kon-zentrationen in den meisten Geweben des Kçrperssind –
zumindest beim Menschen – einer direktenMessung nicht zug�nglich.
Zur pharmakokineti-schen Analyse ist man daher im Wesentlichen
aufdie Messung der Fremdstoffkonzentrationen inleicht zug�nglichen
R�umen wie Blutplasma oderExkreta (Urin, F�zes, Speichel,
Muttermilch etc.)angewiesen. Insbesondere dem Plasma kommt
einewichtige Rolle als „Referenzfl�ssigkeit“ zu. Sowohlnach
direkter Injektion in den Blutstrom wie nachResorption gelangt eine
Substanz zun�chst ins Blut-plasma. Von dort kann sie in die
Blutzellen eindrin-gen und wird mit dem Blutstrom in die Gewebe
ver-teilt.Es mag auf den ersten Blick verbl�ffend erschei-
nen, dass sich die komplexen Vorg�nge des LAD-ME-Schemas durch
wenige grundlegende kineti-sche Parameter quantifizieren lassen.
Die Parameterzur Quantifizierung von Resorption,
Verteilung,Metabolismus und Exkretion sind die Bioverf�g-barkeit,
das Verteilungsvolumen und die Clea-rance. Zur Beschreibung des
zeitlichen Verlaufsder Konzentrationen dienen die Halbwertszeit,
dieFl�che unter der Konzentrations-Zeit-Kurve AUC(area under the
curve) und die maximalen (Cmax)und minimalen (Cmin) Konzentrationen
im Blut-plasma. Die den Zeitverlauf beschreibenden Para-meter
werden auch als „sekund�re“ kinetische Para-meter bezeichnet, da
sie von den „prim�ren“ Para-metern Bioverf�gbarkeit,
Verteilungsvolumen undClearance bestimmt werden.Zun�chst sollen die
grundlegenden kinetischen
Parameter und ihr Zusammenspiel besprochen wer-den. In der
Praxis basiert die kinetische Analyseweitgehend auf der Messung der
gesamten Kon-zentration im Plasma. Idealerweise sollten zur
kine-tischen Analyse die Konzentrationen der nicht anPlasmaproteine
gebundenen Molek�le, die „freien“
Konzentrationen im Plasmawasser gemessen wer-den. Wegen des
methodischen und zeitlichen Auf-wands zur Bestimmung der freien
Konzentration(z.B. durch Ultrafiltration, Dialyse,
Gelfiltration)basieren kinetische Untersuchungen �blicherweiseauf
den gemessenen Gesamtkonzentrationen. Aufdie sich hierdurch
ergebenden Probleme wird nocheingegangen.
4.2.1 Verteilungsvolumen
Das Verteilungsvolumen eines Fremdstoffs ist defi-niert als
Proportionalit�tsfaktor zwischen der im Or-ganismus vorhandenen
Menge (A) des Fremdstoffsund seiner Konzentration im Plasma (C), d.
h.
A¼V � C ðGl: 1Þbzw.
V¼AC
ðGl: 2ÞAls Proportionalit�tsfaktor zwischen einer Menge(z.B. mg)
und einer Konzentration (z.B. mg/l) hatdas Verteilungsvolumen die
Dimension eines Volu-mens (l oder bezogen auf das Kçrpergewicht
l/kg).In Tabelle 4.4 sind einige Werte f�r Verteilungsvo-lumina
zusammengestellt. Die Beispiele zeigen,dass sich die gemessenen
Werte �ber mehrere Grç-ßenordnungen erstrecken kçnnen und meist
keinemrealen Verteilungsraum entsprechen. Je nachdemwie gut ein
Fremdstoff biologische Membranen per-meieren kann, stehen f�r seine
Verteilung im Orga-nismus prinzipiell drei Verteilungsr�ume
unter-schiedlicher Grçße zur Verf�gung: das Plasma,
derExtrazellul�rraum (Plasma plus interstitielle Fl�s-sigkeit) oder
das gesamte Kçrperwasser. Das Plas-mavolumen eines
„Standardmenschen“ von 70 kgbetr�gt etwa 3 l, entsprechend 0,04
l/kg Kçrperge-wicht. Die meisten Xenobiotika kçnnen sich
aberzumindest im Extrazellul�rraum verteilen, dessenVolumen etwa 15
l bzw. 0,2 l/kg betr�gt. Das ge-samte Kçrperwasser betr�gt rund 42
l oder 0,6 l/kg.Wie die Daten aus Tabelle 4.4 zeigen, kann das
be-rechnete Verteilungsvolumen diese Werte erheblich�bersteigen.
Chlorpromazin hat z.B. ein Vertei-lungsvolumen von 20 l/kg, d. h.
1400 l bei einemKçrpergewicht von 70 kg.Dies erkl�rt sich dadurch,
dass sich Fremdstoffe
nicht gleichm�ßig im Kçrper verteilen. Wenn z.B.ein erheblicher
Anteil einer Dosis im Gewebe ge-bunden oder vom Fettgewebe
aufgenommen wird,ist die resultierende Plasmakonzentration viel
klei-ner, als zu erwarten w�re, wenn sich der Fremdstoff
Grundlegende kinetische Parameter 45
-
8 Chemische Kanzerogenese
Michael Schwarz, Albert Braeuning, Hans Marquardt und Rolf
Schulte-Hermann1)lll
8.1 Einleitung
Die Erkrankung an Krebs gehçrt ohne Zweifel zuden dringlichsten
Problemen der heutigen Medizin.Krebsgeschehen ist ex natura
canceris irreversibel,dennoch ist die Diagnose „Krebs“ heute, dank
mo-derner Methoden der Fr�herkennung und Therapie,in vielen F�llen
nicht mehr unausweichlich gleichbe-deutend mit einem qualvollen
Tod. Trotzdem sindKrebserkrankungen nach den kardiovaskul�ren
Er-krankungen die h�ufigste Todesursache mit j�hrlichetwa 210.000
Opfern in Deutschland. Das griechi-sche Wort f�r Krebs, „karkinoV“
(karzinos), gehtauf Hippokrates und das lateinische Wort f�r
Krebs,„cancer“, auf Celsus zur�ck. „Wie eine Krabbe ihreGliedmaßen
aus allen Teilen ihres Kçrpers nach au-ßen streckt, so schwellen
bei dieser Krankheit dieVenen auf, breiten sich aus und bilden eine
�hnlicheFigur“, sagt Galen. Es wird aber auch behauptet,dass der
Krebs seinen Namen daher erhalten habe,dass er den Kçrperteilen,
die er ergreift, hartn�ckiganhaftet wie eine Krabbe (Paulus von
Aegina).Unter Krebs wird ein bçsartiger Tumor (Ge-
schwulst) verstanden, dessen Wachstum autonomund �berschießend
ist und der gewisse pathologi-sche Charakteristika aufweist, wie
Zellatypien, in-vasives Wachstum und h�ufig Metastasierung
(Bil-dung von Tochtergeschw�lsten, ein eindeutiges Zei-chen der
Malignit�t). Die Wachstumskontrollen desnormalen Organismus sind
beim bçsartigen Wachs-tum von Tumorzellen aufgehoben. W�hrend
gutar-tige Tumoren aus sich heraus expansiv und verdr�n-gend
wachsen, erfolgt das Wachstum bei bçsartigenTumoren invasiv und
infiltrativ unter Destruktionder Umgebung. Als Karzinome werden
dabei ma-ligne Tumoren epithelialen Ursprungs, als SarkomeTumoren
mesenchymalen Ursprungs bezeichnet.
Obwohl ionisierende Strahlen, infektiçses biolo-gisches Material
(zumeist Viren) und erbliche gene-tische Determinanten ebenfalls
eine urs�chlicheRolle f�r die Krebsentstehung beim Menschen
spie-len, wird heute vermutet, dass chemische Substan-zen in der
Umwelt die Mehrzahl der menschlichenTumoren (mit-) verursachen. F�r
die Bedeutungexogener Noxen spricht die Tatsache, dass mehr als90%
aller Krebse bevorzugt an den epithelialen Ge-weben entstehen, von
denen die meisten in direktemKontakt mit der Umwelt stehen (Haut,
Magen-Darm-Trakt, Urogenitalsystem, Bronchialbaum).Dies bedeutet
allerdings gleichzeitig, dass die Ver-minderung der Exposition
gegen�ber exogenenkanzerogenen Substanzen, beispielsweise
durch�nderungen unserer Lebensweise, zu einer Reduk-tion der
Krebsinzidenz f�hren kann. Die Ge-schlechtsunterschiede in der
H�ufigkeit verschiede-ner Tumoren weisen dagegen auf die Rolle
endoge-ner Substanzen bei der Kanzerogenese hin.
8.2 Historischer R�ckblickund Epidemiologie
8.2.1 Historischer R�ckblick
Bereits lange vor der Zeitwende, im Papyrus Ebers,findet sich
eine recht genaue Beschreibung �ber�tiologie und Klinik des
Blasenkrebses der im Nil-tal lebenden Bauern (Bilharziose). Wie wir
heutewissen, wird dieser Krebs durch einen Trematoden(Schistosoma
haematobium) verursacht. Dabei istbis heute ungekl�rt, ob hier
chemische Substanzenoder ein „Reizkrebs“ (Schm�hl, 1981) zugrunde
lie-gen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann davonausgegangen
werden, dass Paracelsus (1493–1541)als Erster eine chemische
Verbindung, das Realgaroder Rauschrot (As4S4), als
Ursache/Mitursache f�rden Lungenkrebs der Bergleute in Schneeberg
undJoachimsthal ansah. Ramazzini (1633–1714) be-schrieb 1700 die
hohe Inzidenz von Brustkrebs bei
Historischer R�ckblick und Epidemiologie 159
1 Das folgende Kapitel basiert auf der vorigen Ausgabedieses
Lehrbuchs. Die Autoren danken ihren Kollegin-nen und Kollegen
Wolfgang Pfau, Brigitte Marian,Wilfried Bursch sowie Bettina
Grasl-Kraupp f�r ihrewesentlichen Beitr�ge zu diesem Kapitel.
-
Nonnen, der englische Arzt, Botaniker und Schrift-steller John
Hill (1716–1775) 1761 sechs F�lle vonPolypen und Krebsen der
Nasenschleimhaut nachlangj�hrigem Gebrauch von Schnupftabak und
Per-cival Pott (1714–1788) 1775 den Ruß als Ursachef�r den
Hautkrebs an Skrotum und Oberschenkelnder Londoner
Schornsteinfeger. Damit war Pott derErste, der eine chemische
Krebsursache bei einerbestimmten Berufsgruppe beobachtete. T. v.
Soem-mering (1755–1830), Professor der Anatomie inMainz und
M�nchen, publizierte 1795 �ber denLippenkrebs bei Pfeifenrauchern.
Im 19. Jahrhun-dert wurde insbesondere die kausale Bedeutung
vonberuflicher Exposition gegen�ber chemischen Sub-stanzen f�r den
menschlichen Krebs aufgedeckt:Hauttumoren nach Arsen-Exposition (I.
A. Paris,1822) und Paraffin bzw. Teer (R. v. Volkmann,1875) sowie
Harnblasengeschw�lste bei Fuchsinar-beitern (L. Rehn, 1895).
8.2.2 Epidemiologie
Einige Zusammenh�nge zwischen Krebs und exo-genen Noxen sind
seit langem bekannt. Heute wer-den epidemiologische Untersuchungen
durchge-f�hrt, um weitere Hinweise auf Zusammenh�ngezwischen
Tumorerkrankungen und bestimmten Ex-positionen zu erlangen. Die
Zusammenh�nge zwi-schen Lungenkrebs und Zigarettenrauchen
sowiezwischen Leberkarzinom und Aflatoxin-kontami-nierter Nahrung
sind �tiologisch am besten unter-sucht. Bei epidemiologischen
Untersuchungen zurTumorentstehung muss allerdings
ber�cksichtigtwerden, dass diese erheblich schwieriger
durchzu-f�hren sind als �bliche Studien �ber andere
toxischeWirkungen, da kanzerogene Effekte infolge der lan-gen
Latenzzeit zumeist erst viele Jahrzehnte nachder relevanten
Exposition in Erscheinung treten.Relativ einfach sind derartige
retrospektive oderprospektive Studien bei Arbeitsstoffen, da hier
dasAusmaß der Exposition oft recht groß und bekanntist und
lediglich ein umschriebener Personenkreismit ihnen in Ber�hrung
kommt. Wesentlich schwie-riger sind diese Studien dagegen f�r
Fremdstoffe(Xenobiotika) in unserer Umwelt, also ubiquit�reund in
meist �ußerst geringen Konzentrationen vor-kommende
Stoffe.Einwandererstudien geben Hinweise auf mçgli-
che exogene Ursachen von Krebserkrankungen. Sokonnte etwa
gezeigt werden, dass sich bei Einwan-derern aus L�ndern mit
geringen Brustkrebsraten(Asien, Afrika) nach Israel oder in die USA
(mit ei-ner hohen Brustkrebsrate) das Risiko binnen einer
Generation in etwa an das des Einwanderungslan-des anpasst.
Umgekehrt sind dagegen die Verh�lt-nisse beim Magenkrebs. Diese
Befunde sind Indi-zien f�r �ußere Einfl�sse (Umwelt oder
Ern�hrung)auf die Kanzerogenese. Im Bereich der Arbeitsme-dizin
konnte bei Chemiearbeitern der Zusammen-hang zwischen
Harnblasenkrebs und Exposition ge-gen�ber polyzyklischen
aromatischen Aminennachgewiesen werden. H�ufig wird auch
versucht,regionale Unterschiede in der Krebsh�ufigkeit
mitlandestypischen Ern�hrungsgewohnheiten zu korre-lieren. Auf
diese Weise konnte die Assoziation zwi-schen einer fleischreichen
Ern�hrung und einem er-hçhten Dickdarmkrebsrisiko best�tigt werden.
Hierwerden verschiedene Ursachen postuliert: Die er-hçhte
Exposition gegen�ber verschiedenen Inhalts-stoffen oder
Stoffwechselprodukten des Fleisches(heterozyklische aromatische
Amine, Ammoniak,Eisen) oder der einhergehende Mangel an
pflanzli-cher Kost (Ballaststoffe, Vitamine).Hypothetische
Zusammenh�nge lassen sich mit-
tels retrospektiver Studien untersuchen: Tumorpa-tienten und
nicht erkrankte Kontrollpersonen wer-den hinsichtlich der
Ern�hrungs- und Lebensge-wohnheiten, beruflicher Exposition,
demographi-scher oder anderer Parameter befragt. Problema-tisch an
diesen Fall-/Kontroll-Studien sind unter an-derem die Auswahl der
Kontrollgruppe und auchdie Beeinflussung der Antworten durch die
aufge-tretene Krankheit. Diese Nachteile gelten nicht
f�rprospektive Kohortenstudien. In diesen ungleichaufwendigeren
Untersuchungen werden große Kol-lektive (bis zu einigen
hunderttausend Probanden)erfasst und befragt. Erst nach einigen
Jahren kçnnenaufbauend auf diesen Daten in diese Kohorten
ein-gebettete Fall-/Kontroll-Studien durchgef�hrt wer-den.
Beispielsweise wurden 1976 f�r die US-ameri-kanische Nurses Health
Study 122.000 Kranken-schwestern im Alter von 30 bis 50 Jahren
erfasstund befragt. Urspr�nglich sollten damit uner-w�nschte
Langzeiteffekte oraler Kontrazeptiva un-tersucht werden. Alle zwei
bis vier Jahre erhaltendie Teilnehmer Fragebçgen zu
Rauchgewohnheiten,Verwendung von Hormonen, menopausalem Statusund
Ern�hrungsgewohnheiten. Mithilfe dieser Stu-die konnten eine Reihe
von Zusammenh�ngen veri-fiziert (Hormonersatztherapie erhçht das
Brust-krebsrisiko, Fols�ure sch�tzt vor Dickdarmkrebs),andere
postulierte Zusammenh�nge jedoch nicht be-st�tigt werden
(fettreiche Ern�hrung beeinflusst of-fenbar nicht das Dickdarm-
oder Brustkrebsrisiko).Die tats�chliche Kausalit�t von
Zusammenh�ngenist umso wahrscheinlicher, je mehr der von
SirBradford-Hill aufgestellten Kriterien erf�llt werden:
160 Chemische Kanzerogenese
-
Reproduzierbarkeit in verschiedenen Studien, St�r-ke der
Assoziation, zeitlich richtige Reihenfolgevon Ursache und Wirkung,
Dosis-Wirkungs-Abh�n-gigkeit, Spezifit�t (fraglich: ein Agens kann
auchmehrere Wirkungen auslçsen, z. B. Tabakrauch),�bereinstimmung
mit bestehendem Wissen, biolo-gische Plausibilit�t sowie
experimentelle Best�ti-gung (Intervention).
8.2.3 Molekulare Epidemiologie
Die Erkenntnisse �ber die molekularen Mechanis-men der
Kanzerogenese ermçglichen es, anhandbiologischer Marker fr�here
Endpunkte als die ei-gentliche Krebserkrankung und deren
Zusammen-h�nge mit kausalen Faktoren in epidemiologischenStudien zu
untersuchen. Dazu gehçren Marker derExposition, wobei die interne,
individuelle Dosis ei-nes Kanzerogens (z. B. Metaboliten im Urin,
Plas-maspiegel oder kovalente Protein- oder DNA-Ad-dukte im Blut)
oder die target-Dosis (DNA-Adduk-te im Zielorgan) als Maß f�r die
individuelle Expo-sition und gleichzeitig den Metabolismus der
Sub-stanz im Individuum gemessen wird.Außerdem kçnnen die
Aktivit�ten relevanter En-
zyme f�r jedes Individuum biochemisch bestimmtoder anhand
genetischer Polymorphismen abge-sch�tzt werden. Dabei sind
zahlreiche Enzyme desFremdstoffmetabolismus (metabolische
Aktivie-rung oder Entgiftung chemischer Kanzerogene)oder der
DNA-Reparatur identifiziert worden, dieeine polymorphe Verteilung
in der Bevçlkerungaufweisen. In der Tat konnte bereits in einigen
F�l-len ein Einfluss dieser Enzymaktivit�ten auf dasKrebsrisiko
beobachtet werden. W�hrend die Be-einflussung des individuellen
Krebsrisikos durcheinzelne polymorphe Enzyme meist nur gering
ist,wird vermutet, dass das Zusammenspiel der vielenam Prozess der
Kanzerogenese beteiligten geneti-schen Faktoren in der Summe einen
erheblichenEinfluss auf das Krebsrisiko hat. Die Aufkl�rungder
Sequenz des menschlichen Genoms und die mo-dernen Mçglichkeiten der
gleichzeitigen Analysediverser Gene mittels Array-Techniken bieten
dieMçglichkeit, in der Zukunft individualisierte Risi-koprofile zu
erstellen.Die Daten zur Tumorinzidenz in verschiedenen
Bevçlkerungsgruppen der USA weisen auf einenethnischen Einfluss
auf das Krebsrisiko hin. BeiAfroamerikanern werden erhçhte Raten an
Tumo-ren der Speiserçhre, Leber, Magen, Lunge, Pank-reas und
Prostata sowie an pr�menopausalemBrustkrebs beobachtet. Dagegen ist
bei europ�isch-
st�mmigen US-B�rgern die H�ufigkeit von Mela-nomen, Leuk�mien,
Lymphomen, Tumoren des En-dometriums, der Schilddr�se, Harnblase
und desGehirns sowie von postmenopausalem Brustkrebshçher.
Einerseits wurden in molekular-epidemiolo-gischen Studien
entsprechende ethnisch bedingtegenetische Unterschiede in der
Enzymausstattungnachgewiesen, anderseits spielen hier aber
auchethnische Unterschiede hinsichtlich demographi-scher,
sozioçkonomischer und umwelt- oder ern�h-rungsbedingter Faktoren
eine Rolle. Dies wurdeauch durch die bereits erw�hnten Studien an
Ein-wanderern aus asiatischen L�ndern in die USA oderIsrael
deutlich.In der �berwiegenden Mehrzahl der F�lle ist
Krebs eine Erkrankung des Alters, daher ist die Zu-nahme der
Krebserkrankungen im vergangenenJahrhundert auch eine Folge der
erhçhten Lebenser-wartung. Vermutlich spielen dabei neben der
le-benslangen Akkumulation von L�sionen im Genomauch die Abnahme
der DNA-Reparaturkapazit�tund reduzierte Immunfunktionen eine
Rolle. Wegender langen Latenzzeit und der komplexen Mecha-nismen
der Kanzerogenese wird allerdings vermu-tet, dass urs�chliche
Expositionen h�ufig schon inder Jugend liegen. Experimentelle
Studien und ne-gative Erfahrungen mit Medikamenten in
derSchwangerschaft (Diethylstilbestrol) belegen, dassbereits die
transplazentare Exposition in utero dasKrebsrisiko im sp�teren
Leben erhçhen kann. Auchkonnte gezeigt werden, dass Kleinkinder
relativzum Kçrpergewicht h�ufig erhçhten Dosen an kan-zerogenen
Stoffen in der Nahrung oder Umweltme-dien ausgesetzt sind.
Expositionen in der pubert�renEntwicklungsphase gelten ebenfalls
als besondersentscheidend, weil es hier zur Ausdifferenzierungder
Geschlechtsorgane kommt. So war bei �berle-benden der
Atombombenabw�rfe im Zweiten Welt-krieg das Brustkrebsrisiko in
besonderem Maße er-hçht, wenn die Strahlenexposition in der
Pubert�terfolgte. Auch das Zigarettenrauchen gilt in der Ju-gend
als besonders gef�hrlich f�r die sp�tere Ent-wicklung von
Lungentumoren.Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Tu-
morinzidenz werden nat�rlich in erster Linie bei
Se-xualhormon-abh�ngigen Tumoren (Brustdr�se, En-dometrium,
Prostata) beobachtet, aber auch beimLungenkrebs weisen Frauen
offenbar eine hçhereEmpfindlichkeit auf als M�nner. So wurden
beiweiblichen Zigarettenrauchern langsamere Nikotin-exkretion,
hçhere Cytochrom P450-Aktivit�t (wich-tig f�r die metabolische
Aktivierung kanzerogenerSubstanzen im Tabakrauch) und hçhere
DNA-Ad-duktgehalte in der Lunge beobachtet.
Historischer R�ckblick und Epidemiologie 161
-
Die genetische Epidemiologie, hier das Studium ei-ner
genetischen Pr�disposition f�r Kanzerogenese,ist ein wichtiges Feld
aktueller und zuk�nftigerKrebsforschung. Neben heredit�ren
Krebs-Syndro-men (Retinoblastom, Wilms-Tumor, Xerodermapigmentosum)
gibt es auch genetische/famili�reKrebs-Dispositionen mit bisher
unbekannter Ursa-che (bekannte F�lle einer famili�ren
Krebsh�ufung
wie der Magenkrebs in der Familie Napoleons). F�rden Betroffenen
ist das Risiko um ein Vielfacheserhçht: So haben Tr�ger erblicher
BRCA1-Mutatio-nen ein bis zu 40-fach erhçhtes Risiko, an
Brust-krebs zu erkranken, meist in fr�hem Alter. In vielen
162 Chemische Kanzerogenese
Tab. 8.1: Substanzen, Mischungen, biologische und physikali-sche
Faktoren mit nachgewiesener humankanzerogener Wir-kung (IARC Gruppe
1).
Substanzen oder Substanz-gruppen
Arzneimittel
Aflatoxine4-AminobiphenylArsen und
-VerbindungenAsbestBenzolBenzidinBeryllium und
-VerbindungenBis(chlormethyl)etherCadmium und
-VerbindungenChrom-Verbindungen(hexavalent)ErioniteEthylenoxid2-NaphthylaminNickel-VerbindungenRadon
und seineZerfallsprodukteSenfgas (sulfur mustard)Silica,
kristallinTalkum mit
asbestiformenFasern2,3,7,8-Tetrachlorodi-benzodioxinVinylchlorid
Analgetische Mischungen
mitPhenacetinAristolochia-haltigeArzneimittelAzathioprineN,N-Bis(2-chloroethyl)-2-naphthylamine(Chlornaphazin)1,4-Butandiol-di(methan-sulfonat)
(Myleran)Chloroambucil1-(2-Chloroethyl)-3-(4-methyl-cyclohexyl)-1-nitrosoharnstoff(Methyl-CCNU)CyclophosphamidCiclosporinDiethylstilbestrolKontrazeptiva,
oralMelphalan8-Methoxypsoralen plusUV-Strahlung
strogen-Ersatztherapie
strogene, nichtsteroidal
strogene, steroidalTamoxifenThiotepaTreosulfan
Mischungen Biologische undphysikalische Faktoren
Alkoholische
Getr�nkeBetelnuss-KautabakHolzstaubKohlenteerKohlenteer-PechMineralçlRußSchieferçlTabak-Produkte
(rauchfrei)Tabakrauch
Ionisierende Strahlung,32P-Phosphat, 239Pu, 131I,Neutronen,
222Rn, 224Ra,228Ra, 132ThUV-Strahlung, SonnenlichtHepatitis
B-VirusHepatitis C-VirusHTLV 1Human
immunodeficienyVirusesEpstein-Barr-VirusHuman papilloma Virus(Typ
16 und Typ 18)Helicobacter pyloriOpisthorchis viveriniSchistosoma
haematobium
Tab. 8.2: Substanzen, Mischungen, Arzneimittel, biologischeund
physikalische Faktoren mit wahrscheinlich humankanzero-gener
Wirkung (IARC Gruppe 2A).
Substanzen oderSubstanzgruppen
Arzneimittel
AcrylamidBenz[a]anthracenBenzidin-Farben1,3-ButadienCaptafola-Chlorierte
Toluole (Benzal-chlorid, Benzo-trichlorid,Benzylchlorid,
Benzoylchlorid)4-Chloro-ortho-toluidinDibenz[a,h]anthracenDiethylsulfatDimethylcarbamoylchlorid1,2-DimethylhydrazinDimethylsulfatEpichlorhydrinEthylendibromidN-Ethyl-N-nitrosoharnstoffFormaldehydGlycidolIQ
(2-Amino-3-methyl-imidazo[4,5-f]chinolin)4,40-Methylenbis(2-chloro-anilin)
(MOCA)MethylmethansulfonatN-Methyl-N0-nitro-N-nitroso-guanidin
(MNNG)N-Methyl-N-nitrosoharnstoffNitrogen
mustardN-NitrosodiethylaminN-NitrosodimethylaminStyrol-7,8-oxidTetrachlorethylenortho-ToluidinTrichlorethylen1,2,3-TrichloropropanTris(2,3-dibromopropyl)-phosphatVinylbromidVinylfluorid
AdriamycinAndrogene (anabole)
SteroideAristolochia-S�urenAzacytidinBischloroethyl-nitrosoharnstoff(BCNU)Chloramphenicol1-(2-Chloroethyl)-3-cyclohexyl-1-nitrosoharnstoff
(CCNU)Chlorozotozin
(DCNU)CisplatinEtoposid5-MethoxypsoralenPhenacetinProcarbazinhydrochloridTeniposid
Mischungen Biologische undphysikalische Faktoren
Kreosot (aus Kohlenteer)Diesel-AbgasHeißer
Mate-TeePolychlorierte Biphenyle
Clonorchis sinensisHuman papilloma-Virus Typ 31Human
papilloma-Virus Typ 33Kaposi�s sarcoma herpesvirus/human
herpesvirus 8UV-Strahlung AUV-Strahlung BUV-Strahlung C
-
F�llen heredit�rer Krebserkrankungen konnten dieurs�chlichen
Gendefekte identifiziert werden. Oftist bei den Betroffenen ein
Allel des entsprechendenTumorsuppressorgens defekt. Der
Funktionsverlustdes anderen Allels (durch Mutation,
Hypermethy-lierung, Allelverlust) kann dann zur Erkrankungf�hren.
So konnte gezeigt werden, dass Mutationenin Tumorsuppressorgenen
f�r famili�re adenomatç-se Polyposis (APC), medull�re
Schilddr�senkarzi-nome (RET), Melanom (CDK4) und f�r Brust-
undOvarialkrebs (BRCA1, BRCA2) pr�disponieren. Ins-gesamt gesehen
sind diese genetisch bedingtenKrebsformen aber selten, erbliche
Formen machennur einen vergleichsweise geringen Anteil
allerKrebserkrankungen aus. So werden heute 5%
derBrustkrebs-Inzidenz als heredit�r bedingt angese-hen. Im
Gegensatz dazu sind genetisch determinier-te Varianten der im
Aktivierungsmetabolismus be-teiligten Enzyme h�ufig. Diese
Polymorphismenhaben zwar f�r den Einzelnen nur eine geringe
Er-hçhung des Krebsrisikos zur Folge, sind aber in Be-zug auf die
gesamte Bevçlkerung von erheblicherBedeutung.
8.3 Das Mehrstufenmodellder Kanzerogenese
8.3.1 Definition von Kanzerogenen
Chemische Kanzerogene sind operational definiertals Substanzen,
die Krebs induzieren, also verant-wortlich sind f�r:
n die Induktion von Tumoren, die in nicht-expo-nierten
Individuen nicht gesehen werden,
n die erhçhte Inzidenz von Tumoren, die auch innicht-exponierten
Individuen gesehen werden,
n die fr�here Entwicklung von Tumoren, die innicht-exponierten
Individuen erst sp�ter gesehenwerden,
n die erhçhte Multiplizit�t von Tumoren.
Nach Applikation eines chemischen Kanzerogensentstehen Tumoren,
deren Anzahl und Latenzzeitvon der Dosis des Kanzerogens abh�ngen.
Insoferngilt auch f�r Kanzerogene das Gesetz des Paracel-sus,
wonach die Dosis �ber die toxische Wirkungentscheidet. Auch die
andauernde, chronische Ein-wirkung von sehr geringen Dosen kann die
Tumor-rate erhçhen. �ber 500 chemische Substanzen hat-
ten bereits bis 1962 tierexperimentell kanzerogenesPotential
gezeigt. Eine Auswahl der von der Inter-national Agency for
Research on Cancer (IARC)der WHO als nachgewiesen oder
wahrscheinlichhumankanzerogen eingestuften Substanzen findetsich in
den Tabellen 8.1 und 8.2. Tabelle 8.3 gibteinen �berblick �ber die
verschiedenen Klassifizie-rungssysteme f�r Humankanzerogene, wie
sie vonunterschiedlichen Gremien/Organisationen einge-f�hrt wurden.
Die Einstufung der einzelnen Sub-stanzen orientiert sich dabei
prim�r an der Verf�g-barkeit und der Qualit�t epidemiologischer
(not-wendig zur Einstufung in die jeweils erste Katego-rie) oder
tierexperimenteller Daten, nicht an derkanzerogenen Wirkst�rke.
Eine Ausnahme stellt dasKlassifizierungssystem der MAK-Kommission
derDeutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) dar.
8.3.2 Initiation, Promotionund Progression
Der Beginn des 20. Jahrhunderts kann als der Be-ginn der
experimentellen Krebsforschung bezeich-net werden; als ihr Pionier
wird der japanische Pa-thologe K. Yamagiwa (1863–1930) mit seinem
As-
Das Mehrstufenmodell der Kanzerogenese 163
Tab. 8.3: Klassifizierung von Humankanzerogenen.
IARC (International Agency for Research on Cancer) derWHO
Group 1 Carcinogenic to humans
Group 2A Probably carcinogenic to humans
Group 2B Possibly carcinogenic to humans
Group 3 Not classifiable
Group 4 Probably not carcinogenic to humans
MAK-Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Kategorie 1 Nachgewiesen kanzerogen im Menschen
Kategorie 2 Wahrscheinlich kanzerogen im Menschen
Kategorie 3A Keine Einstufung (Datenmangel)
Kategorie 3B Verdachtsstoffe, keine Einordnung in
andereKategorie mçglich
Kategorie 4 Nicht-genotoxischer Wirkmechanismus
Kategorie 5 Genotoxisch mit geringer Wirkungsst�rke
Europ�ische Union
Kategorie 1 Nachgewiesen kanzerogen im Menschen
Kategorie 2 Wahrscheinlich kanzerogen im Menschen
Kategorie 3 Mçglicherweise kanzerogen im Menschen
-
25 Kohlenwasserstoffe
Albrecht Seidel, Pablo Steinberg, Klaus Appel, Alfonso
Lampen,Hermann M. Bolt und G�nter Koss=
25.1 AromatischeKohlenwasserstoffe
25.1.1 Benzol
Benzol ist eine Vorstufe bei der Synthese von Sty-rol,
alkylierten, nitrierten und halogenierten Benz-olen, Phenolen,
Anilin, Hexachlorcyclohexan, unddarf seit dem Jahr 2000 in
Deutschland und L�n-dern der europ�ischen Union nur bis zu 1% im
Ot-tokraftstoff enthalten sein. Gem�ß einer Konventionder
Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von1972 ist die
Verwendung von Benzol untersagt (au-ßer beim Ottokraftstoff), wenn
geeignete Substitu-tionsprodukte zur Verf�gung stehen. Seine
Jahres-produktion in der Bundesrepublik betrug 2009 etwa1,65 Mio.
t. Benzolemissionen beliefen sich im Jahr1983 auf knapp 70 000
Jahrestonnen in der Bundes-republik (alte L�nder). Davon gingen
80–90% aufden Kraftfahrzeug-Verkehr zur�ck. Seit der Be-schr�nkung
des Benzolgehalts im Ottokraftstoffund sch�rferer Abgasnormen sind
die kraftverkehrs-bedingten Benzolemissionen r�ckl�ufig. Als
nat�r-licher Bestandteil ist es im Erdçl, Erdgas und
Stein-kohlenteer enthalten. Ferner ist es Bestandteil
desTabakrauches. Seine biogene Entstehung aus Sub-stanzen
biologischer Bedeutung (z. B. durch Decar-boxylierung der
Benzoes�ure) ist vermutlich zu ver-nachl�ssigen. Sowohl
Produktionsumfang und Ver-wendung als auch eine mangelhafte
Entsorgungf�hren zu ubiquit�rer Kontamination und infolge-dessen
seit Jahrzehnten zu einer kontinuierlicherAufnahme mit der Atemluft
sowie �ber Lebensmit-tel und Trinkwasser. Seit dem Jahr 2010 gilt
einLuftgrenzwert f�r Benzol von 5 mg/m3. Bereits seit2007 wurden
deutschlandweit selbst in Ballungs-r�umen keine �berschreitungen
dieses Grenzwertesmehr beobachtet. Die Jahresmittelwerte liegen
der-zeit zwischen 1–2 mg/m3.Wichtigste Aufnahmequellen f�r den
Menschen
sind das Rauchen und die Aufnahme mittels konta-minierter
Atemluft, w�hrend die Aufnahme vonBenzol aus Nahrungsmitteln und
Trinkwasser f�r
die Belastung des Erwachsenen nur eine unterge-ordnete Rolle
spielt. Bei einem Raucher mit einemKonsum von 10 Zigaretten t�glich
liegt die inhalati-ve Aufnahme durchschnittlich bei 200 mg
Benzol/Tag. Sch�tzungen ergeben, dass der Mensch �berdie
verschiedenen Aufnahmepfade etwa 250 mg/Tagaufnimmt. Im Einzelfall
kçnnen am Arbeitsplatzgrçßere Benzolmengen inhalativ und dermal
aufge-nommen werden.
Aufnahme, Verteilung, Metabolismus,Ausscheidung
Nach inhalativer Aufnahme folgt die Benzolresorp-tion einer
S�ttigungskinetik. Bei Beginn einer Ben-zol-Exposition werden ca.
80% des Benzols resor-biert. Im Gleichgewicht zwischen Inhalation
undExhalation liegt die Resorptionsquote zwischen 40und 50%. Der
Zeitpunkt der Gleichgewichtseinstel-lung ist von
Ventilationsparametern (Atemminuten-volumen) und der individuellen
Aufnahmekapazit�t(Biotransformation, Fettgewebe) abh�ngig. Ruhen-de
M�nner (Atemminutenvolumen von 7,4 l/min)resorbieren beispielsweise
bei einer Konzentrationvon 3,25 mg Benzol pro m3 Luft etwa rund
0,72 mgBenzol/h, w�hrend sie bei schwerer Arbeit
(Atem-minutenvolumen von 43 l/min) 4,2 mg Benzol/h re-sorbieren.
Die Geruchsschwelle liegt bei 16 mg/m3
Luft. Benzol wird dermal gut resorbiert. Diemenschliche Haut
kann 400 mg/cm2/h nach Auftra-gen fl�ssigen Benzols resorbieren.
Beim Rhesusaf-fen wurde eine Resorption von 7 mg/cm2 und Stun-de
ermittelt. Bei epikutaner Applikation einer Lç-sung von Benzol in
anderen Lçsemitteln ist dieMenge an Benzol, die resorbiert wird,
wesentlichgeringer. Bei Exposition gegen�ber Benzol in derLuft ist
die dermale Aufnahme von Benzol prak-tisch ohne Bedeutung.Oral
zugef�hrtes Benzol wird nahezu vollst�ndig
aus dem Gastrointestinaltrakt resorbiert. Nach ora-ler Gabe von
1,5 mg/kg 14C-Benzol (entsprechend16 mg/m3 Luft, 6 h eingeatmet)
findet sich beimVersuchstier Radioaktivit�t in Leber, Niere,
Blut,Knochenmark, Nasen- und Rachenhçhlen sowie inZymbal- und
Brustdr�se. Bei Erhçhung der Dosis
Aromatische Kohlenwasserstoffe 593
-
auf 15 mg/kg (entsprechend 160 mg/m3 Luft, 6 heingeatmet)
reichert sich Radioaktivit�t in der Zym-bal- und Brustdr�se an.Die
Verteilung im Organismus h�ngt wegen der
Lipophilie des Benzols wesentlich vom Lipidgehaltder Organe und
Gewebe ab (Tab. 25.1). Das Fettge-webe weist die hçchste
Konzentration und Spei-cherkapazit�t auf (Abb. 25.1). Im Blut
stellt sich einVerteilungsverh�ltnis von 2:1 zwischen Erythrozy-ten
und Plasma ein. Inhalationsstudien an der Rattezeigen, dass die
Benzolkonzentration innerhalb von4 h im Blut, innerhalb von 6 h im
Fettgewebe undin weniger als 2 h im Knochenmark ein Gleichge-wicht
erreichen kann. Die Verteilung von Benzolim Organismus ist
weitgehend unabh�ngig von derSpezies und von der
Applikationsart.Hepatische Cytochrom-P450-abh�ngige Mono-
oxygenasen (CYP, vorrangig CYP2E1) katalysierendie Addition
eines Sauerstoffatoms an den Benzol-
ring. Das gebildete Arenoxid ist ein reaktives, kurz-lebiges
Intermedi�rprodukt, das in einem tautomerenGleichgewicht mit dem
Oxepin existiert und sichnach Aufnahme hoher Benzoldosen
nichtenzyma-tisch haupts�chlich in Phenol umlagert. Ein
kleinererAnteil des Arenoxids wird durch mikrosomale
Epo-xidhydrolase zum trans-Dihydrodiol umgesetzt unddies
anschließend durch Dihydrodiol-Dehydrogena-sen ins Katechol
�berf�hrt. Alternativ kann dasArenoxid in Gegenwart von Glutathion
S-Transfera-sen (GST) mit Glutathion (GSH) konjugiert werden.Das
GSH-Konjugat wird anschließend in die nieren-g�ngige
Phenylmerkapturs�ure umgewandelt (Abb.25.2). Bei kleineren
Benzoldosen (5 ppm in der Luftentsprechend 1,5 mg/kg KG)
katalysieren CYP-En-zyme durch Ringoxidation die Bildung von
Phenol,Katechol und Hydrochinon sowie von 1,2,4-Trihyd-roxybenzol.
Aus dem Gleichgewicht zwischenArenoxid und Oxepin, oder dem
trans-Dihydrodiolsowie �ber das Katechol kann nach
Ringçffnungtrans, trans-Muconaldehyd entstehen, der durchweitere
Oxidation in trans, trans-Mucons�ure �ber-f�hrt wird. In der Leber
und zum kleineren Teil auchim Zielorgan der Benzoltoxizit�t, dem
roten Kno-chenmark, werden die hydroxylierten Metaboliten
inGlucuronide und Sulfatkonjugate umgewandelt.Nichtkonjugierte
Metaboliten unterliegen nach
ihrer Aufnahme in das Knochenmark weiteren Oxi-dationsprozessen.
Hier finden sich rund 90% der imKçrper vorkommenden granulozyt�ren
Leukozyten.Sie besitzen die F�higkeit zum „oxidative burst“, ei-ner
besonderen Form des oxidativen Metabolismus.Dabei kommt es zur
Freisetzung verschiedener ly-sosomaler und peroxidativer Enzyme
sowie vonOxidanzien einschließlich H2O2 und deren Transferin die
Phagosomen und in den Extrazellul�rraum.Zu den Enzymen gehçrt die
Myeloperoxidase, diein peripheren neutrophilen Granulozyten bis zu
5%der Trockenmasse ausmacht. In den im Knochen-mark befindlichen,
noch nicht ausgereiften Granu-lozyten kann der Gewichtsanteil der
Myeloperoxi-dase noch hçher sein. Phenol, Hydrochinon und Ka-techol
scheinen potenzielle Substrate dieser Peroxi-dase zu sein.
„Oxidativer burst“ stimuliertermenschlicher Leukozyten f�hrt zur
Umwandlungvon Phenol in Reaktionsprodukte, die kovalent anzellul�re
Strukturen binden. In In-vitro-Studienwurden Biphenole und
4,40-Diphenochinon identifi-ziert. Katalase und Natriumazid
unterbinden dieBildung derartiger Reaktionsprodukte vermutlichdurch
Entgiftung des H2O2 bzw. durch Hemmungder Myeloperoxidase. Die
Bindung wird außerdemdurch GSH und Ascorbins�ure unterbunden.
BeideFaktoren haben die Eigenschaft eines Antioxidans,
594 Kohlenwasserstoffe
Tab. 25.1: Gemessene Benzolkonzentration in Blut und Gewebeund
berechnete Benzolkonzentration im Fett dieser Gewebe vonRatten nach
einer 6-h-Exposition gegen�ber 1,62 g Benzol pro m3
Luft. Es ergibt sich das Bild einer Gleichverteilung. Die
Berech-nung erleichtert die Absch�tzung der insgesamt vom
Organismusretinierten Benzolmenge, wenn f�r die analytische
Erfassung le-diglich Blut verf�gbar ist.
Benzolgehaltin mmg/g Frisch-g/g Frisch-gewichtgewicht
Fettgehalt inmg/g Gewebe
Benzolgehaltin mmg/g Fettg/g Fett
Blut 11,5 35 329
Knochen-mark
37,0 100 370
Fettgewebe 164,4 600 274
1000
100
10
μg/g
Milz
ZNS
Leb
er
Blu
t
Lun
ge
Nie
re
Kn
och
enm
ark
Fett
gew
ebe
Abb. 25.1: Benzolkonzentrationen im Fließgleichgewicht bei
ei-ner 6-h-Exposition von Ratten gegen�ber 1,62 g Benzol pro m3
Luft. Die Konzentrationen sind in mg Benzol/g Frischgewicht
an-gegeben (nach Rickert et al. 1979).
-
wodurch beispielsweise das Phenoxy-Radikal zuPhenol reduziert
wird. In gleichen Tests wurde dieoxidative Umwandlung von
Hydrochinon in 1,4-Benzochinon beobachtet. Auf die
Myeloperoxida-se-abh�ngige Hydrochinonoxidation kann
Phenolstimulierend einwirken. Neben der Myeloperoxida-se spielen
vermutlich auch andere Peroxidasen so-wie die
Hydroperoxidase-Komponente der Prosta-glandinsynthase eine Rolle
bei der Hydrochinon-Aktivierung. Die Beeintr�chtigung der
metaboli-schen Umwandlung von Benzol in der Leber durchandere
Substanzen sowie eine partielle Hepatekto-
mie mindern das Ausmaß Benzol-induzierter Effek-te. Toluol
antagonisiert die h�matotoxischen undgenotoxischen Effekte von
Benzol durch kompetiti-ve Hemmung mikrosomaler
Biotransformationspro-zesse. Andererseits zeigen Tierexperimente
auch,dass die Zufuhr beider Substanzen zu grçßeren neu-rotoxischen
Effekten (Konzentrationserhçhung beibiogenen Aminen in
verschiedenen ZNS-Regionen)f�hren als die Zufuhr der einen oder der
anderenSubstanz allein. Ursache ist vermutlich die einge-schr�nkte
Biotransformation, die sich daraus erge-bende verl�ngerte
Halbwertszeit und zunehmende
Aromatische Kohlenwasserstoffe 595
6
5
1 2 3
8
7
9 10 11 9
4
OH
OO
OH
OH
H
O
H
O
OH
SG
HOS
OH
O
HO
O
OH
OH
OH
GSH
OSO3-
NIH-shift
OH
OOH
OHO
COOH
SULT UDP-GT
EPHX1
O
OO
O
OH
OH
OH
OHOH
OH
Cys – NHAc
[Ox][Ox]
[Red] [Red]
Umlagerung
CYP
CYP CYP
AKR
Abb. 25.2: Biotransformation von Benzol in der Leber des
S�ugetiers einschließlich reaktiver Intermedi�rprodukte und
identifizierterMetaboliten. Wie am Beispiel des Phenols selbst
gezeigt, werden phenolische Metaboliten in ausscheidbare
Glucurons�ure- *11 undSchwefels�urekonjugate � umgewandelt. Benzol
wird besonders durch CYP2E1 zum Arenoxid � oxidiert, das im
tautomeren Gleichge-wicht mit dem Oxepin ` steht und
nichtenzymatisch in Phenol oder durch mikrosomale Epoxidhydrolase
(EPHX1) in das trans-Dihydro-diol ´ umgewandelt wird. Die
Metaboliten 2 und 3 sowie Katechol ergeben nach Ringçffnung den
trans,trans-Muconaldehyd ˆ, derzur trans,trans-Mucons�ure oxidiert
wird. Das Arenoxid wird außerdem durch Glutathion S-Transferasen
mit Glutathion konjugiert ˜.Aus dem Glutathionkonjugat
(Pr�-Merkapturs�ure) entsteht Phenylmerkapturs�ure ¯. Die aus
Phenol entstehenden Metaboliten 1,4-Hydrochinon und Katechol gehen
durch schrittweise Oxidation in p- ˘ und o-Benzochinon ˙ �ber und
bilden durch weitere Oxidationgemeinsam das 1,2,4-Trihydroxybenzol
¨. In der Maus zeigen sich nach Inhalation von 16 mg Benzol/m3 Luft
unverh�ltnism�ßig hoheKonzentrationen an Hydrochinonkonjugaten und
Mucons�ure, w�hrend nach Inhalation von 1900 mg Benzol/m3 vermehrt
GSH- undPhenylsulfatkonjugate nachweisbar sind.
-
Konzentration beider Aromaten im ZNS. Die be-obachtete
Neurotoxizit�t wird auf die Muttersubs-tanzen zur�ckgef�hrt. Die
gleichzeitige Zufuhr vonBenzol und Blei oder Alkohol f�hrt zu einer
Beein-tr�chtigung der H�m- und Proteinsynthese bei denVorstufen der
roten Blutzellen.Die Eliminationskinetik des Benzols wird durch
die hohe Biotransformationsrate und durch den ho-hen Dampfdruck
(157,8 mbar bei 30 �C) bestimmt.Die Eliminationshalbwertszeit der
unver�ndertenSubstanz in den Geweben der Ratte liegt
zwischen0,4–0,8 h (Blut, Knochenmark, Leber, Lunge, Nie-re, Milz
und ZNS) und 1,6 h (Fettgewebe). Die Eli-minationshalbwertszeit des
Hauptmetaboliten Phe-nol im Blut betr�gt rund 1h. Im Gegensatz
dazubleiben die Konzentrationen von Catechol und Hyd-rochinon im
Blut �ber einen weiten Zeitbereichnach Expositionsende (9 h) nahezu
unver�ndert.Die Ausscheidung des unver�nderten Benzols (ca.50%)
erfolgt haupts�chlich �ber die Lunge (Exhala-tion). Im
Tierexperiment zeigen sich mehrere Pha-sen mit zunehmender
Halbwertszeit (Abb. 25.3).Die Halbwertszeit der initialen
pulmonalen Elimi-nation entspricht derjenigen der
Benzoleliminationim Blut. Sp�tere Eliminationsphasen haben
deutlichl�ngere Halbwertszeiten. Ursache kçnnte ein nichtn�her
charakterisiertes tiefes Kompartiment sein.
Mit dem Urin werden haupts�chlich Phenol und invergleichsweise
geringerer Menge Hydrochinon,Catechol, Trihydroxychinon, Mucons�ure
in freierwie auch in konjugierter Form sowie Phenylmer-kapturs�ure
ausgeschieden. Spuren des retiniertenBenzols erscheinen als CO2 in
der abgeatmeten Luftund in metabolisierter Form in der Galle.
Akute und chronische Toxizit�t
EineBenzolkonzentration von rund2300 mg/m3Luftf�hrt nach 30–60
min zur Bewusstlosigkeit.65 000
mg/m3Luftkçnnenbereitsnach5–10mintçd-lich
sein.ZentraldepressorischeWirkungenstehen
imVordergrundderVergiftung.LeichtereFormenderIn-toxikation sind
durch subjektive Befindlichkeitsstç-rungen (Schwindel,
Benommenheit, Kopfschmerz,Brechreiz, Trunkenheitsgef�hl sowie
Rauschzust�n-de und euphorische Gef�hle) gekennzeichnet. Bei
la-biler Persçnlichkeitsstruktur kann aufgrund der
eu-phorischenWirkungdieGefahr
einerBenzolsuchtge-gebensein.SchwereFormenderVergiftungsind�ber-wiegend
durch objektivierbare Stçrungen charakte-risiert (Tab. 25.2). In
deren Verlauf kann ein Blutge-halt von 1–20 mg Benzol/l auftreten.
Mikroskopischerkennbare Ver�nderungen des Blutbildes sind
dabeinicht zu erwarten (kurze Expositionsdauer). Bei Auf-nahme
großer Benzolmengen sind Sch�digungen
vonLeberundNierenichtauszuschließen.Die chronische Exposition
gegen�ber Benzol
f�hrt zu einer Beeinflussung des h�matopoetischenSystems auf
drei Ebenen, der Erythropoese, Leuko-poese und Thrombopoese (Tab.
25.3).Kasuistiken aus dem gewerblichen Bereich bele-
gen bei l�ngerfristiger Exposition benzolinduzierteH�mopathien
mit unterschiedlichem Schweregradund Verlauf. Die diagnostischen
Kriterien �berlap-pen sich und kçnnen zeitbedingten faktischen
�n-
596 Kohlenwasserstoffe
Ver
ble
iben
der
%-A
nte
il d
es r
etin
iert
en B
enzo
ls100
10
1,0
0,1
t1/2 = 0,7 h
5 10 15 20 25 30 35
Zeit in Stunden
t1/2 =13,1 h
Abb. 25.3: Abnahme der von Ratten nach Beendigung der
Expo-sition gegen�ber Benzol (6 h, 1,62 g/m3) retinierten
Benzolmengedurch Abatmung (nach Rickert et al. 1979).Der
biphasische Verlauf der Benzolelimination ist mathematischals
2-Kompartiment-Modell anzusehen. Das 1. Kompartiment ausBlut,
Knochenmark, Leber, Lunge, Niere, Milz und ZNS eliminiertBenzol mit
einer Halbwertszeit von t1=2 ¼ 0,7 h. Das 2., so ge-nannte tiefe
Kompartiment aus Fettgewebe und Lipiden in ver-schiedenen Organen
eliminiert Benzol mit einer Halbwertszeitvon t1=2 ¼ 13,1 h.
Tab. 25.2: Symptomatik einer schweren Benzolvergiftung.
Schwindel
Schweißausbruch
Kammerflimmern
Absolute Arrhythmie
Erbrechen
Kr�mpfe
Pupillenstarre
L�hmungserscheinungen
Kreislaufversagen (Todesursache)
-
derungen unterliegen. Als folgenschwere Zeichender
Benzolvergiftung werden Panmyelophthise(Aplastisches Syndrom),
Panmyelopathie und Pan-zytopenie sowie isolierte Zytopenien der
drei h�ma-topoetischen Teilbereiche beschrieben. Die Unter-funktion
des erythro-, leuko- oder thrombopoeti-schen Systems kann mit der
�berfunktion eines an-deren Systems einhergehen. Andererseits kann
dieBenzolexposition als erste Reaktion eine Prolifera-tionszunahme
(„initialer Reizzustand“) im erythro-poetischen oder
leukopoetischen System auslçsen,der eine Unterfunktion folgt.
Jedoch ist weder einebestimmte Reihenfolge noch eine Kombination
derKnochenmarksch�digungen regelhaft zu erkennen.Myeloproliferative
Ver�nderungen, denen gelegent-lich eine chronische Panzytopenie
vorangeht, kçn-nen zur malignen Erkrankung, d. h. zu eine Leuk�-mie
vom akuten myelogenen Typ f�hren. Bereits1977 wurde Benzol aufgrund
seiner leuk�mogenenWirkung als Kanzerogen
eingestuft.Expositionsdauer und -dosis sowie die Latenzpe-
rioden bis zum Auftreten h�matotoxischer Effektesind nicht
eindeutig zu quantifizieren. Eine Depres-sion der Blut bildenden
Systeme kann sich bereitsinnerhalb weniger Monate manifestieren.
Dabeikann die auslçsende Benzoldosis dem w�hrend derArbeitsschicht
auftretenden Konzentrationsbereichvon 6,5 bis 81 mg/m3 entsprechen.
Leukosen (Leu-k�mien) traten nach einer Expositionsdauer von 1,5bis
15 Jahren und einer Latenz von bis zu 12 Jahrennach Expositionsende
auf. Die damit im urs�chli-chen Zusammenhang stehenden
Benzolkonzentra-tionen erstreckten sich �ber den Bereich von
durch-schnittlich 513 bis 1594 mg/m3. In einem Fall(chronische
Leukose) wurde der untere Konzentra-tionsbereich mit 52 mg/m3
angegeben.
Bei ausreichend hoher Benzolexposition vonVersuchstieren (Ratte,
Maus) zeigen sich Verzçge-rungen im Zellzyklus und Ver�nderungen
der mito-tischen Indizes im Knochenmark, Untergang vonStammzellen
in spezifischen Phasen des Zellzyklus,Hemmung der zellul�ren
Funktionen und Sch�denim funktionalen Aufbau des Knochenmarks,
wo-durch Stammzellenproliferation und -differenzie-rung gestçrt
werden. Die hemmende Wirkung vonBenzolmetaboliten auf die
Zellteilung von Promye-lozyten, Myelozyten, Erythroblasten und
Pronor-moblasten f�hrt zur Abnahme der Zellzahl. Hier-durch werden
Stammzellen �ber Signalmechanis-men zur Differenzierung angeregt,
was l�ngerfristigzu einer Verminderung des multipotenten
Stamm-zellenpools (colony forming unit stem cell) f�hrenkann.
Knochenmarkmakrophagen, die durch Pro-duktion h�matopoetischer
Wachstumsfaktoren (In-terleukin 1 und 6, Erythropoetin)
Stammzellenproli-feration auslçsen kçnnen, werden als
Zielzellenmyelotoxischer Effekte des Hydrochinons und an-derer
Benzolmetaboliten angesehen.In-vitro-Studien an Knochenmarkzellen
von
M�usest�mmen unterschiedlicher Empfindlichkeitgegen�ber Benzol
(Atemluft) belegen eine hohe zy-totoxische Wirksamkeit von
Benzochinon und Hyd-rochinon gegen�ber einer fr�hen Vorstufe
derErythrozyten (colony forming unit-erythroid [CFU-e]). Deutlich
geringer ist die Wirksamkeit des Cate-chols, der Mucons�ure und des
Phenols. Die zytoto-xischen Effekte manifestieren sich besonders in
dersp�ten DNA-Synthese (S) oder in der pr�mitoti-schen Ruhephase
(G2) des Zellzyklus.
Spezielle Toxikologie
Reproduktionstoxizit�t
Die subkutane Applikation von 3 ml Benzol/kg am13. Tag der
Schwangerschaft f�hrt bei M�usen zuGaumenspalten und
Kiefermissbildungen. Sechs-st�ndige Expositionen vom 6. bis zum 15.
Tag derSchwangerschaft gegen�ber 950 bzw. 6900 mg/m3
Luft verursachen bei Ratten eine verzçgerte Ossifi-kation, wovon
weibliche Feten in grçßerem Aus-maß betroffen sind als m�nnliche
Feten. Diese Ef-fekte wurden nicht beobachtet, wenn die Tiere
ge-gen�ber etwa 320 mg/m3 exponiert waren. In denKeimzellen
m�nnlicher Tiere ruft Benzol nach ein-maliger oraler Dosis (1
ml/kg) clastogene Ver�nde-rungen hervor. Trotz teratogener
Eigenschaft gibtes keinen Hinweis auf einen Einfluss des
Benzols
Aromatische Kohlenwasserstoffe 597
Tab. 25.3: H�matopoetische Stçrungen nach chronischer
Ben-zol-Exposition.
Benzol-induzierte Ver�nderungen des
ErythropoetischenSystems
LeukopoetischenSystems
Thrombopoeti-schen Systems
An�mie (aplast.) Neutropenie Thrombozyto-penie
ErythroblastischeMyelose,akute Erythr�mie
LeukopenieLeukozytoseLeukose (akute myelo-gene, akute
myelo-blastische, chronischemyeloische, chroni-sche
lymphatische)Lymphozytose
Granulothrombopenien
-
auf die Zahl der Implantationen und Lebendgebur-ten.Bei
Exposition gegen�ber 6900 mg/m3 (6 Stun-
den t�glich vom 6. bis zum 15. Tag der Schwanger-schaft) sind
Gewicht und L�nge der Feten stark be-eintr�chtigt. Diese
Beeintr�chtigungen treten nichtbei Konzentrationen von 950 mg/m3
Luft und weni-ger auf. Es ist ungekl�rt, ob die fetotoxischen
Effek-te durch eine reduzierte Futteraufnahme bei denMuttertieren
verursacht werden.
Mutagenit�t
Durch kovalente Bindung reaktiver Benzolmetabo-liten
(Hydrochinon, p-Benzochinon) an Zellkern-DNA (Deoxyguanosin) kçnnen
biologisch stabileSch�den in somatischen Zellen gesetzt
werden.Punktmutationen sowie chromosomale Deletionen,Inversionen
oder Translokationen kçnnen ebenfallsbei Benzolexposition auftreten
und zur Tumorent-stehung beitragen. Chromosomale Ver�nderungen,in
die DNA-Segmente einbezogen sind, die grçßerals ein Gen sind,
kçnnen Proto-Onkogene aktivierenoder Tumorsuppressorgene
deaktivieren. Genotoxi-sche Sch�den, vermutlich ohne urs�chlichen
Zu-sammenhang mit der Auslçsung von Krebs, schlie-ßen die Induktion
von Mikronuklei in peripherennormochromatischen und
polychromatischen Eryth-rozyten u