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Der Name bezeichnete den Zusam-
menschluss von Wissenschaftlern und
Knstlern aller Art, Nationen und Ge-
schlecht zwecks einer zuvor nie ge-
kannten Organisation des gemeinsamen
Wissens. Von einer gemeinsamen Ope-
rationsbasis aus sollten Normierungen
fr Druckformate und bibliographische
Angaben, mglichst vollstndige Wis-
senssystematiken und Adressenlisten
erstellt werden, bis die Brcke zur
Auskunftstelle der Auskunftstellen
wird, die auf jede nur denkbare Frage
eine gengende Auskunft wird erteilen
knnen. [ i] Das klingt neunzig Jahre
spter wie eine der berhmt-berch-
tigten Internet-Legenden, ist es aber
nicht.
Die Brcke hat tatschlich existiert,
rund 30 verschiedene Flugschriften und
Bcher in einer Gesamtauflage von rund
einer halben Million Exemplare ver-
sandt, dazu sechs Monate lang eine
Zeitschrift herausgegeben, die in einer
Auflage von rund 10.000 Exemplaren
kostenlos an alle Brcken-Mitglieder,
smtliche 325 Grobibliotheken der
Welt und 3.000 deutsche Groindus-
trielle sowie an jede/n geschickt wurde,
der sich darum bemhte. Eine Mitglie-
derliste von 1913 verzeichnet knapp
600 Stifter und Ehrenmitglieder,
Ordentliche und Ehrenamtliche Mit-
glieder darunter mehr als ein Dut-
zend Nobelpreistrger, Architekten wie
Hermann Muthesius, Maler wie Adolf
Hlzel, Schriftstellerinnen wie Selma
Lagerlf und die Friedensaktivistin
Bertha von Suttner. [ ii] Ein Knstler des
DIE ORGANISATION DER ORGANISATOREN DURCH DIE BRCKE
EIN VERGESSENES KAPITEL MEDIENGESCHICHTE Metaphern
fr das Internet gibt es wie Sandkrner am Meeresstrand. Die
meisten von ihnen behandeln technische Organisationsformen des
gespeicherten Wissens, wie sie die Enzyklopdisten des 17. und
18. Jahrhunderts begrndeten. Viele Vter der Informationsnetze
und Speichermedien bernahmen diese Metaphorik. Vannevar Bush,
sein Rapid Selector und sein Memex, Ted Nelson und der Hyper-
text ihnen allen ist das Etikett von mentalen Vorlufern heutiger
Netznutzung angehngt worden, und das sicher zu Recht. [ 1]
Vinton G. Cerf vom CERN gilt ohne Zweifel als derjenige, der die
Vermittlung des schriftlichen und mathematischen Wissens durch
das weltweite Spinnengewebe etablierte, indem er die dazu passen-
den Programm(ier)elemente zusammenstellte. [ 2] Die mglicher-
weise aufwendigste Unternehmung zur
Strukturierung allen menschlichen Wissens
dieser Welt schien jedoch lange Zeit dem
Vergessen anheimgefallen zu sein und
dennoch hat sie einige Spuren hinter-
lassen, von denen man nur kaum wei,
wer sie verursachte.
Diese Unternehmung wurde in den drei Jahren vor dem Ersten
Weltkrieg unternommen, bankrottierte frh und trug zudem den
Namen einer inzwischen weltweit bekannt gewordenen Knstler-
gruppe, mit der sie nichts zu tun hatte: Die Brcke. [ 3]
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[ 1] STEVE G. STEINBERG, SEEK AND YE SHALL FIND (MAYBE), IN: WIRED 4,(1996), 5, S. 108-114 U. S. 172-182. VGL.AUCH JANA VARLEJS, RALPH SHAW:LIBRARIAN AMONG DOCUMENTALISTS,IN: THE CONFERENCE ON THE HISTORYAND HERITAGE OF SCIENCE INFOR-MATION SYSTEMS. PITTSBURGH PA, OCT. 23-25, 1998, ABSTRACTS,.
[ 2] STEFAN KREMPL, DAS INTERNETBLEIBT SPANNEND! IM GESPRCH MITINTERNET-VATER VINTON G. CERF, IN:C'T. MAGAZIN FR COMPUTERTECHNIK,(1998), 3, S. 44-46.
[ 3] FR HILFE BEI MEINEN RECHER-CHEN BIN ICH EGIDIO MARZONA UND DER FAMILIE OSTWALD-HANSEL,GROSSBOTHEN, ZU DANK VER-PFLICHTET.
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Zur Geschichte der Brcke hat einer der Betei-
ligten ein Manuskript hinterlassen, das bei aller
Rechtfertigung und Beschnigung der eigenen
Beteiligung insgesamt eine gute Darstellung der
Geschehnisse gibt. Adolf Saager war Journalist
und firmierte ab 1913 als Redakteur der soeben
von Berlin nach Mnchen umgezogenen Illustrierten Die Zeit im
Bild. [ 4] Bezeichnenderweise trgt sein Manuskript aus dem Jahr
1921 zwei Titel: Die erste Version Die Brcke. Ihr Zusammenbruch
und Ihr Wiederaufbau wurde durchgestrichen und vom treffenderen Die Brcke.
Historisches ersetzt. Der Autor sandte einen Durchschlag mit zahlreichen hand-
schriftlichen Korrekturen und Ergnzungen an Wilhelm Ostwald vielleicht sollte
durch den Titelwechsel dem Spiritus Rector auch die zerschlagene Hoffnung auf
einen erneuten Versuch signalisiert werden.
Saager ist dieser Darstellung nach jedenfalls um 1910 in Mnchen
das erste Mal mit Karl W. Bhrer zusammengetroffen, einem Ver-
treter fr Geschftsdrucksachen, Entrepeneur und Idealisten, wie
sie sich zu dieser Zeit rund um die Mnchner Biertische zuhauf
fanden. Der Einfluss jener Biergartenphilosophen auf sptere
Generationen ist unleugbar, auch wenn diese Leute bewusst wenig
oder nichts publiziert haben. [ 5] Bhrer hatte in der Schweiz eine
Version der illustrierten Sammelkarten vertrieben, die als Firmen-
werbung nicht nur den Produkten beigelegt, sondern auch extern
verschenkt oder verkauft werden konnten; obendrein hatte er ein
anthropologisches Museum mitbegrndet, war also offensichtlich
mit Fragen der Menschheitsgeschichte vertraut. [ 6] Sein Geschft
war nicht gut gegangen die Liebigschen, Stollwerckschen oder
Zigarettensammelbilder waren in ihrer Produktbindung nicht zu schlagen und oben-
drein modernste Werbeformen ihrer Zeit. [ 7] So war Bhrer vor 1910 bereits nach
Mnchen ausgewandert, wo ihn bald die Nachricht vom Konkurs seiner Zrcher
Mutterfirma erreichte. Nichtsdestotrotz entwickelte er die fixe Idee, dass von einem
einheitlichen Druckformat aus die Werbung und die Kunst, die Wissenschaft und
Literatur, eben alle Gebiete menschlichen Wissens und Wirkens als anthropo-
logische Hinterlassenschaften zu organisieren seien.
Saager hatte zur selben Zeit offensichtlich eine Reihe von Texten Wilhelm Ostwalds
gelesen, die dieser vor und nach dem Empfang seines Chemie-Nobelpreises als
populre Essays zu allgemeinen Themen publiziert hatte. Er selbst zitiert die
Aufsatzsammlungen Forderung des Tages und Energetische Grundlagen der
[ 4] AUSST.KAT. FOTOGRAFIE INDEUTSCHEN ZEITSCHRIFTEN 1883-1923.STUTTGART 1991, S. 21.
[ 5] WERNER FULD, DIE AURA. ZURGESCHICHTE EINES BEGRIFFES BEIBENJAMIN, IN: AKZENTE 26, (1979), S. 352-370. ALS NEOKONSERVATIVEKRITIK DIESES TEXTES VGL. ROLFH. KRAUSS, WALTER BENJAMIN UNDDER NEUE BLICK AUF DIE PHOTO-GRAPHIE. OSTFILDERN 1998.
[ 6] REGULA ISELIN, AARAU / SCHWEIZ.ZUR GESCHICHTE EINES VERGESSENENFOTOMUSEUMS, IN: RUNDBRIEF FOTO-GRAFIE 5 (1998), NF 20, S. 27-32.
[ 7] AUSST.KAT. FARBE IM PHOTO. KLN 1981, S. 209-210. VGL. AUCHBERNHARD JUSSEN, DIE LIEBIG-SAMMELBILDER UND DER ATLAS DESHISTORISCHEN BILDWISSENS, EIN-LEITUNG, IN: DERS. (HG.), LIEBIG'SSAMMELBILDER, VOLLSTNDIGE AUS-GABE DER SERIEN 1 BIS 1138. CD-ROM, BERLIN 2003.
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Dresdner Brcke-Kreises war allerdings
nicht dabei. Dass die beiden Vereini-
gungen trotz relativer rumlicher Nhe
und gleicher Sprache voneinander nichts
gewusst haben, ist ein weiterer Beleg
fr die Notwendigkeit der Vernetzung
von Wissen, wie sie die hier beschrie-
bene Aktivitt vorhatte.
Untrennbar verbunden sind Idee und
Name der Brcke mit einem Mann,
dessen epistemologischer Weitblick
smtliche Zeitgenossen und viele sp-
tere Interpreten irritierte: Wilhelm
Ostwald (Riga 18531932 Grobothen /
Leipzig). Der Chemie-Nobelpreistrger
des Jahres 1909 war Mitgrnder, erster
Vorsitzender und intellektueller Motor
der Unternehmung, setzte Teile seines
Nobel-Preisgeldes ein und nutzte seine
weitreichenden Verbindungen, um die
Ziele der geplanten Institution in die Tat
umzusetzen. Dahinter stand zum einen
die tiefe Enttuschung des industriell-
wissenschaftlichen Pragmatikers ber
die mentale Unbeweglichkeit des deut-
schen Universittssystems im Kaiser-
reich, zum anderen aber auch der
Wunsch, das eigene Fach zu entmystifi-
zieren, radikal zu rationalisieren und es
in eine Gesamtsystematik allen mensch-
lichen Wissens einzubinden.
Ganz Kind des 19. Jahrhunderts und
Migrant vom Baltikum nach Mittel-
deutschland, fhrte Wilhelm Ostwald die
Grundlagen einer tatschliche[n] Ver-
einheitlichung der Kulturwelt auf die
auerordentliche Steigerung der Ver-
kehrsmittel zurck, die dafr sorgen,
dass an keinem Ende der Welt etwas
geschehen kann, ohne dass die Nerven-
fden, welche dieses Ende mit der
ganzen brigen Welt verbinden, die
Einflsse der dort sich vollziehenden
Ereignisse auf den brigen Anteil
der Menschheit bertragen, wo sie je
nachdem im guten oder blen Sinne sich
geltend machen. Man muss keinesfalls
dem viel kritisierten energetischen
Imperativ von Wilhelm Ostwald folgen,
um dieser Beschreibung jene Vernet-
zung zu entnehmen, die als mediale
Voraussetzung fr weltweite Kommu-
nikationsformen in der Art des Internets
notwendig ist. Ostwalds Engagement fr
die Brcke zeichnete zudem der Impuls
aus, dass alle Wissensgebiete gleich-
wertig seien ebenfalls eine Basis des
Internets, die im Falle dieses Vorlufers
jedoch Anfang und Ende des Unter-
nehmens zugleich markierte.
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Kulturwissenschaft, aus denen er wohl eine Parallelitt der
Interessenslagen von Ostwald und Bhrer entnahm, was die
Vereinheitlichung aller bibliographischen und drucktechnischen
Grundlagen des wissenschaftlichen Daten-, Erfahrungs- und
Meinungsaustausches anging. Auch wenn sich Saager einer
eigenen Stellungnahme enthlt, so ist doch anzunehmen, dass
er aus journalistischem Selbstverstndnis heraus an die Globa-
lisierung aller Informationen mit wesentlich weniger Skrupeln oder
Vorbehalten heranging als fachspezifische Wissenschaftler oder
knstlerisch orientierte Literaten. [ iv]
Bhrer grndete im Juli 1910 mit Saager und einem zweiten, in seiner Darstellung
ungenannten Unterzeichner ein Unternehmen [...] unter der Firma Die Brcke.
Der Name lag also von Anfang an fest und wurde in der bald ausgearbeiteten
Vereinssatzung ausfhrlich begrndet:
Die Brcke bezweckt die Organisierung der geistigen Arbeit.
Diese Organisierung soll auf dem Grundsatz der gegenseitigen Hilfe und freiwillig
geleisteter Mitarbeit der Geistesarbeiter fuend, erfolgen [...] durch berbrckung
der Inseln, auf denen zur Zeit die Mehrzahl aller Gesellschaften, Anstalten, Museen,
Bibliotheken, Vereine, Firmen und Einzelpersonen noch stehen, die im Dienste der
Kultur und Zivilisation ttig sind.
Whrend Bhrer sich alsbald in die Formulierung zahlreicher Vorhaben und Forde-
rungen strzte, hatte sich Saager die Aufgabe gestellt, das ganze Unternehmen mit
journalistischen Mitteln auf feste Grundlagen zu stellen. Er entwarf aus Bhrers
Vorschlgen ein kleines Programm, [ 8] testete dies wohl bei
einigen Mnchner Knstlern, Kunsthandwerkern, Architekten und
Unternehmern an und schrieb im Herbst oder Winter 1910 eine
ausfhrliche Darstellung aller gemeinsamen Ziele und Mglich-
keiten. [ 9] Dieses zweite Werk hatte, wie Saager schrieb, den
Hauptzweck [...], Ostwald fr unsere Sache zu gewinnen. Im
Frhjahr 1911 wurde dem Wissenschaftler ein Korrekturabzug
des Buches bersandt, auf den dieser schnell antwortete und
die beiden Mnchner zu sich nach Grobothen einlud. [ 10] Was
den renommierten Wissenschaftler bewogen haben mag, diesen
Unbekannten so schnell Gehr und Vertrauen zu schenken, ist
kaum zu klren erstaunlich ist es damals wie heute, selbst
angesichts seiner damals enorm weit verzweigten Aktivitten und
Beziehungen. [ v ]
Wilhelm Ostwald kam noch im Frhjahr 1911 nach Mnchen und
leitete dort eine Grndungsversammlung der Brcke, bei der eine
Satzung beschlossen wurde, die zum 15. Juni 1911 rechtskrftig
werden konnte. Neben den Zwecken und Zielen des Unterfangens
sowie den blichen Prliminarien eines deutschen Vereins von
den Stufen der Mitgliedschaft ber die Wahl der Vorstnde und die Arbeit einer
Geschftsfhrung bis hin zu Rechnungsstellungen war ein entscheidender Passus
im letzten Abschnitt als bergangsbestimmung getarnt: In Form einer Stiftung
sollte die Brcke erst dann ffentlich aktiv werden, wenn das Grundkapital eine
Million Reichsmark betrug; sollte dieses Ziel nicht binnen drei Jahren erreicht
sein, ist die ganze Aktion hinfllig. So kam es denn auch: Im Juni 1914 bernahm
der Gerichtsvollzieher das Mnchner Bro. Die Brcke war endgltig Geschichte
geworden.
Zunchst jedoch lie sich das Unternehmen gut an. Wilhelm Ostwald formulierte
einen Aufruf An die Nobelpreistrger zum Beitritt, zeichnete aus seinem Nobelpreis
einen Betrag von hunderttausend Reichsmark (in jhrlichen Raten zehntausend),
und der Brsseler Bergbau-Unternehmer Solvay stiftete einen hnlich hohen Betrag
zur Anschubfinanzierung. Damit lie sich ein Geschftsfhrer finanzieren, ein Bro
erffnen und erhalten, und vor allem konnten erste Druckschriften verfasst, gedruckt
und in alle Welt, mindestens die deutschsprachige, versandt werden. Im Herbst 1911
und Frhjahr 1912 ergoss sich eine wahre Flut von Brcke-Schriften ber die
interessierte deutsche ffentlichkeit, und es scheint auch einige positive Resonanz
gegeben zu haben. berregionale Bltter berichteten freundlich und bernahmen
einzelne Beitrge vor allem von Wilhelm Ostwald. Manche Unternehmen und
D IE BRCKE BEZWECKT
DIE ORGANIS IERUNG DER
GEIST IGEN ARBEIT.
[ 8] ADOLF SAAGER, DIE BRCKE ALSORGANISIERUNGSINSTITUT. ANSBACH1911, 12 S.
[ 9] K.W. BHRER, A. SAAGER, DIEORGANISIERUNG DER GEISTIGEN ARBEIT DURCH DIE BRCKE. ANSBACH/MNCHEN 1911, 178 S.
[ 10] MARIA OBENAUS, ZUM NACHLASSDES WERKBUNDMITGLIEDES WILHELMOSTWALD, IN: WERKBERICHT 2, HG. VOM DEUTSCHEN WERKBUND SACHSEN,LEIPZIG 1996, S. 136-138.
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teurer Misserfolg gewesen. Zudem wurde im Frhjahr 1913 fr die aufwndige
Brcken-Zeitung und ihre kostenlose Verteilung viel Geld ausgegeben. Karl W.
Bhrer, vom Zweiten Vorsitzenden zum Geschftsfhrer abgestiegen, war inzwi-
schen allein fr die tgliche Arbeit der Brcke verantwortlich, und sein anfnglich
sehr gutes Verhltnis zu Wilhelm Ostwald drfte im Verlauf des Jahres 1913 merk-
lich abgekhlt sein. Dennoch war man offiziell weiterhin guten Mutes und plante
diverse Ausstellungs- sowie Messebeteiligungen, mit deren Hilfe man die Idee und
ihre praktischen Auswirkungen jedermann nahebringen wollte.
Ihr Armageddon erlebte die Brcke im Sommer 1913 bei einer weiteren Bayerischen
Gewerbeschau unter dem Thema Bro und Geschftshaus in Mnchen. Dort
prsentierte das Brcke-Institut die Bhrerschen Sammlungen von Werbe-, Rabatt-
und Briefmarken als gelungene Beispiele der Organisation geistiger Arbeit
selbst wenn ein Bonmot des bayerischen Prinzregenten, dann knne man ja auch
Champagnerpropfen sammeln, in den Bereich der Legende gehrte, war damit die
weltumspannende, kulturbergreifende Idee des Unternehmens hinreichend
diskreditiert. Schlagartig wurde es ruhig um die Brcke; es erschien keine weitere
Druckschrift mehr, alle Ausstellungsbeteiligungen wurden abgesagt, die Stiftungs-
gelder und -zusagen zurckgezogen. Im Juni 1914 versiegelte ein Gerichtsvollzieher
das Mnchner Bro. Wilhelm Ostwald, der einen Monat spter die Brcke auf
der groen Werkbund-Tagung wie -Ausstellung in Kln hatte prsentieren wollen,
musste sich mit einem Redebeitrag zugunsten Hermann Muthesius
in der berhmten Typisierungs-Debatte begngen. [ 11] Weder der
Erste Weltkrieg noch eine andere Katastrophe beendete das gro
angelegte Unterfangen; das schlichte Unvermgen der beiden
Grnder und Statthalter sorgte fr einen vorzeitigen und banalen Tod. Wren
da nicht die weitgehend von Wilhelm Ostwald formulierten Vorhaben und Ziele
gewesen, knnte auch die Idee vergessen werden. So aber lohnt sich aus episte-
mologischer Sicht ein genauerer Blick auf die eigentlichen Arbeitsbereiche und
Konzepte, fr die der Name der Brcke histo-
risch stehen sollte.
Es scheint, als habe die Brcken-Idee und
-Nomination der beiden Mnchner bei Wilhelm
Ostwald eine Schleuse geffnet, so heftig ist sein
Aussto an diesbezglichen Vorschlgen und Publikationen in den Jahren 1911 und
1912. Dabei werden, wie wohl in allen Arbeitsbereichen Ostwalds, Theorie und Praxis
unentwirrbar miteinander vermengt und makrokonomische Ideen unter mikro-
skopischen Perspektiven betrachtet. Dieser Anflug von Chaos im philosophischen
Gebude des Naturwissenschaftlers hat frhere Exegeten an den Rand der
Verbnde beschlossen, Anregungen
der Brcke wie die Weltformate in ihre
Arbeit zu integrieren; andere wiederum
gaben Empfehlungen aus, mittelfristig
ber derlei Vorhaben nachzudenken.
1912 mietete die Brcke einen eigenen
Stand auf der Bayerischen Gewerbe-
schau in Mnchen und zeigte dort Orga-
nisationsmittel fr Bro und Handel. Der
dortige Erfolg sollte sich als Pyrrhussieg
erweisen, denn vom vermeintlichen
der wirklichen Interesse zahlreicher
Kleinunternehmer stimuliert, begannen
Bhrer und Saager sich zu verzetteln.
Es erschienen diverse Brcke-Schriften,
die sich mit der Kulturmission der Re-
klame auseinandersetzten und mit der
Gestaltung von Hotel-Drucksachen be-
schftigten. [ vi ] Ein Ausschnitt-Archiv
von Musikkritiken wurde als erster Teil
des kommenden Brcke-Archivs an-
gekauft und K.W. Bhrer begann, kleine
und kleinste Werbedrucksachen in
einer gigantischen Sammlung soge-
nannter Kleingraphik zusammenzu-
fhren. Whrend Wilhelm Ostwald in
Grobothen von supranationalen Wis-
senschaftler-Vereinigungen, internatio-
nalen Hilfssprachen und einem Zu-
sammenschlu der geistigen Arbeit der
gesamten Kulturmenschheit trumte
und die Brcke auch als eine weitere
Basis mglicher Friedenssicherung an-
gesichts der politischen Growetterlage
in Europa kurz vor dem Ersten Weltkrieg
sah, beschftigten sich seine Mnchner
Statthalter mit dem peniblen Aufkleben
von Brief-, Rabatt- und Wertmarken auf
Weltformat Archivkartons.
Im Mrz 1913 fand zu Mnchen eine
erste Jahresversammlung der Brcke
statt; zu diesem Anlass wurde auch ein
Mitgliederverzeichnis herausgegeben.
Dieses demonstriert bereits ein erstes
Missverhltnis: Unter 600 Mitgliedern
waren weniger als 285 zahlende, und
auch deren Beitrge flossen sprlich,
wie gelegentliche Aufrufe in der 1913
herausgegebenen Brcken-Zeitung
ahnen lassen. Adolf Saager firmierte in
Einladung und Mitgliederliste schon
nicht mehr als Geschftsfhrer, sondern
als Mitglied und Redakteur der Illus-
trierten Zeit im Bild. Seiner Darstellung
nach ist die Mitgliederversammlung ein
[ 11] WILHELM OSTWALD, TYPISIERUNG,IN: AUSST.KAT. ZWISCHEN KUNST UNDINDUSTRIE. DER DEUTSCHE WERKBUND.MNCHEN 1975, S. 104.
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Von diesen Begriffen aus ergibt sich fr Wilhelm Ostwald schlssig ein mehr-
stufiges Modell seiner Brcke: zunchst als Vermittlungsstelle fr alle mglichen
Fragen, Adressen und Arbeiten, vergleichbar dem telephonischen Zentralamt
in einer groen Stadt, dann aber als Basis fr alle Formen der Vereinheitlichung
von Normen, Formaten und Sprachen. Hier waren sich Ostwald und seine
beiden Mitstreiter einig, dass die wesentliche Leistung ihres Unterfangens in der
Bereitstellung international gltiger Grundlagen fr alle messbaren, also quantifi-
zierbaren Gegenstnde liegen sollte und dies war im Selbstverstndnis
des positivistischen 19. Jahrhunderts eigentlich alles, worber Menschen reflek-
tieren und was sie feststellen oder erkennen konnten. Ostwald war jedoch klar,
dass das Organisierbare im unteren Gebiet der geistigen Arbeit zu suchen ist.
Die Brcke sollte also das gerade Gegenstck zu den groen Forschungsanstalten
und wissenschaftlichen Laboratorien sein in allen Brcke-Publikationen wird
peinlichst jeder Hinweis auf die Institution Universitt, gar auf Humboldt und das
humanistische Bildungsideal, vermieden; die Brcke sollte allein die einfachsten
und elementarsten Vorgnge der geistigen Arbeit organisieren. Es ist genau
dieser Ansatz, der die Brcke zum diskursiven Vorlufer des Internets macht: die
Festlegung unscheinbarer, sprachhnlicher Grundstrukturen als Basis oder
Transfer-Protokoll eines nicht-hierarchischen, fachbergreifenden, chaotischen
Austauschs von Wissenspartikeln und -referenzen. Einige dieser Strukturen sind
im Kontext der Brcke sehr ausfhrlich, andere allein in halben Nebenstzen
thematisiert worden.
Ausgangspunkt und interne Klammer der
Brcke-Grnder sind Bemhungen um die
Vereinheitlichung von Druck-, Papier- und
Bildtrgerformaten aller Art. Dahinter ste-
hen nicht allein die lstigen Erfahrungen,
die jeder Herausgeber und Gestalter von
Druckerzeugnissen im tglichen Umgang mit Druckern, Papierherstellern und
anderen Zulieferern machen muss, sondern vor allem bei Ostwald die ber-
zeugung, dass die Bereitstellung einheitlicher, letztlich objektivierbarer Grundlagen
jeden gedanklichen oder wissenschaftlichen Austausch heute: Datenverkehr
erleichtern msste. Der Migrant Ostwald kannte die Probleme einer Informations-
beschaffung an entlegenen Forschungssttten aus eigener Rigaer Erfahrung allzu
gut, um nicht hoffnungsfroh an eine Verbesserung wissenschaftlicher Arbeit durch
intensiveren Tauschverkehr zu glauben. Ob es nun die Vereinfachung von Druck
und postalischem Versand oder die Festlegung digitaler Programmiersprachen
sind, hinter beiden steht die Idee eines weltweit gleichmigen Zugriffs auf
Verzweiflung gebracht, [ 12] erweist sich aber unter den Bedin-
gungen wissenschaftlichen und informativen Datenverkehrs am
Ende des 20. Jahrhunderts als enorm weitsichtig: Allein im pragma-
tischen Ansatz kann auf eine Hierarchie behandelter Themen und
Gegenstnde verzichtet werden, darf Kleines und Groes, schein-
bar Wichtiges und Unwichtiges ebenso bruch- wie bergangslos
nebeneinander stehen bleiben. [ vii ] Das gilt auch fr die Brcke
selbst: Ostwald war zu jener Zeit noch in Dutzenden von anderen
Organsiationen engagiert, etwa als Vorsitzender im Deutschen
Monistenbund, mit Stimme in verschiedenen internationalen
Chemikerverbnden wie Nobel-Komitees, privat dazu noch in eher
randstndigen Bereichen wie etwa der Kirchenaustritts-Bewegung.
Wilhelm Ostwald gibt gleich in der ersten Publikation der Brcke
mit exakt diesem Titel einen berblick ber seine Interessenslagen
am Unterfangen wie ber die Mglichkeiten ihrer Realisierung,
die er selbst in naher wie ferner Zukunft sieht. Vom zunehmenden
Verkehr an Waren und Informationen ausgehend, beschwrt Ostwald
zunchst die Einheit der Menschheit, um aber sofort auf ver-
schiedene Realisationsformen der Durchsetzung dieser Einheit
weiterzugreifen. Prinzipiell sei geistige Arbeit der Begriff ist
mit dem Gebrauch des Wortes Kultur gleichzusetzen ohnehin
strker auf Internationalitt hin angelegt als andere, dennoch seien
entsprechende berlegungen auch fr den handwerklichen und vor
allem knstlerischen Bereich ntig. Aus biologischen ber-
legungen heraus Zellteilung wie Bienenvlker spielen hier eine
hnliche Rolle wie in spteren Versuchen der bertragung auf die
Selbstregulierung des Internets [ 13] entwickelt Ostwald einen
Organisationsbegriff als Gegenberstellung von Funktionsdifferen-
zierung, gelegentlich auch als Arbeitsteilung, und Funktions-
vereinigung, die sich auch im Taylorschen Sinn als Zusammen-
fhrung von Arbeitsprozessen verstehen lsst. In diesem Sinn der
Funktionsvereinigung, der den Zeitgenossen um 1910 offensicht-
lich nur schwer nahezubringen war, darf ohne weiteres jene
Beschreibung kollektiven Verhaltens vermutet werden, die sich
durch zahlreiche Theorien autopoitischer Prozesse zieht. [ 14]
Biomechanistische Modelle waren kurz vor dem Ersten Weltkrieg
theoretische Grundlage vieler Aktivitten, unter anderem auch eine
wichtige Basis der technikorientierten Avantgarde in den Zwanziger
Jahren. [ 15] [ viii]
[ 13] KEVIN KELLY, DAS ENDE DERKONTROLLE. DIE BIOLOGISCHE WENDEIN WIRTSCHAFT, TECHNIK UNDGESELLSCHAFT. MANNHEIM 1997.
[ 14] NIKLAS LUHMANN, DIE AUTO-POEISIS DES BEWUSSTSEINS, IN:SOZIALE WELT 36 (1985), S. 402-446.
[ 15] ANDREAS HAUS, MOHOLY-NAGY,FOTOS UND FOTOGRAMME. MNCHEN1978, S. 57-60.
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[ 12] REGINE ZOTT, WILHELM OSTWALDUND PAUL WALDEN IN IHREN BRIEFEN.BERLINER BEITRGE ZUR GESCHICHTEDER NATURWISSENSCHAFT UND DERTECHNIK 17. BERLIN 1994.
[ vii ]
[ viii ]
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eurozentrisch technischen Intelligenz.
Ob er tatschlich als interkulturelle
Grundlage industriellen Zuschnitts taugt,
ist weder damals noch heute ein Thema.
[ 16] [ ix ]
Immerhin hat das Weltformat eine feste
Basis im Druckgewerbe und entspricht
annhernd jenen Gren und Flchen,
die bereits ber dreihundert Jahre im
Gebrauch waren. Ostwald kann von
einer geometrischen Fixierung aus auf
eine konomische Umsetzung blicken,
im direkten Analogieschluss zu vielen
seiner chemischen Untersuchungen. Mit
der einmaligen Festlegung eines For-
matrasters sind Unmengen von Folge-
erscheinungen definiert, auch dies fr
den Pragmatiker kein unbekanntes
Verfahren. Folgt man der Darstellung
Saagers, so hat Wilhelm Ostwald bereits
frh seine Formate festgelegt, doch als
normierende Grundlage werden sie erst
durch die Arbeit der Brcke begrndet.
Mit der Institution Brcke ging allerdings
auch das Weltformat unter. Wilhelm
Ostwald konnte sich 1923 bei der Fest-
legung der deutschen Industrienormen
fr Papier mit seinem Vorschlag nicht
durchsetzen, stimmte jedoch dem auf
Flchen- und damit Gewichtsrelationen
basierenden, bis heute gebruchlichen
DIN-Vorschlag zu. bernommen worden
sind seine Vorschlge zu den Sekund-
ren und Tertiren Weltformaten, die als
Basis geeigneter Verpackungen eben-
falls Jahrhunderte lange Praxis im Druck-
und Papiergewerbe reprsentierten und
nur auf eine rechnerische Basis gestellt
zu werden brauchten. Eine dritte Publi-
kation zu stereometrischen Formaten,
Weltformate fr Krper genannt, ist
unter der Brcke-Flagge angekndigt,
aber nicht mehr erschienen. [ x ]
Speicher von Informationen, unabhngig vom Ort und sozialen Kontext der Benutzer.
Wie es schon 1912 heit:
Die geistige Produktion lt gegenwrtig an Menge und Wert nichts zu wnschen
brig; es wird vielmehr auerordentlich viel mehr produziert, als von der Menschheit,
insbesondere von den Teilen, welche diese Produkte unmittelbar benutzen knnten,
tatschlich assimiliert und zu dauernder Wirkung gebracht werden kann. Ursache
dieses Mangels ist eben das Fehlen eines Gehirnes der Menschheit, das Fehlen
eines Zentralorgans, welches diese einzelnen Produktionen zueinander ordnet und
in geordneter Weise jedem Bedrftigen zugngig macht.
Insofern ist fr Wilhelm Ostwald die Einfhrung eines geometrisch begrndeten
Weltformats metaphorisch dasselbe, was sptere Kommissionen zur Festlegung
von HTML, XML, JPEG, Unicode und Datentransferprotokollen umtreibt. Ostwalds
Mitstreiter Bhrer und Saager hatten ihm als Basis der Brcke pragmatische
berlegungen zur Vereinheitlichung der Druck- und Papierformate prsentiert, die
er in ein System brachte. Seine geometrische Grundlage sind die Seitenkanten eines
rechteckigen Papiers, die in ihrer Lngenrelation untereinander im Goldenen Schnitt
stehen; von der Basis eines Zentimeters ausgehend ergibt sich dadurch eine
geometrische Reihe von Formaten fr alle Arten von Drucksachen, in der dritten
Dimension auch von Volumina. Symptomatisch fr Ostwalds naturphilosophischen
Ansatz ist dabei ein unbedingtes Vertrauen in objektivierbare Grundlagen der Wahr-
nehmung; der Goldene Schnitt gehrt zu den klassischen Sehnsuchtsmustern der
URSACHE DIESES MANGELS
IST EBEN DAS FEHLEN
EINES GEHIRNES DER
MENSCHHEIT
[ 16] ECKE BONK, BER-FLCHEN, IN: HERMANN STURM (HG.), VERZEICH-NUNGEN. VOM HANDGREIFLICHEN ZUMZEICHEN. ESSEN 1989, S. 218-223.
[ x ]
[ ix ]
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Mehr im Sinne Ostwalds ist jener kurze Beitrag Wilhelm Exners, Prsident
des Wiener Gewerbefrderungsamts, gewesen, der die Herausgeber wissenschaft-
licher Zeitschriften zur bernahme des Weltformates animieren sollte. Und in der
Brcken-Zeitung, die 1913 ein halbes Jahr lang erschien, werden smtliche Absichts-
erklrungen aus Industrie, Handel und Verwaltung nachgedruckt, in denen die
baldige Einfhrung des Weltformats auch nur ansatzweise aufklingt. Lange Listen
von Zeitschriften, Bchern und aller Art Publikationen bis hinunter zu Werbe-
markenprogrammen, die sich eines der Weltformate bedienen, werden dort
verffentlicht, und mehr als die Hlfte aller Anzeigen in jedem Heft verweisen auf
Produkte im oder fr das Weltformat. Bei nherem Hinsehen entpuppt sich die
groe Euphorie als kleine Schimre; kaum mehr als ein winziger Bruchteil deut-
scher, sterreichischer oder deutsch-schweizer Druckwerke ist in diesem Format
herausgekommen aus gestalterischer Sicht schade, denn erst in den 1960er Jahren
hat Otl Aicher exakt dieses Format wieder in den
deutschen Buchdruck eingefhrt.
Fr Wilhelm Ostwald sind die Weltformate
metaphorischer Hintergrund fr die Verbreitung
von Wissen und Gestaltung, der vor allem
im Bereich der Speicherung des Gewussten und
in der Erinnerung wirksam werden sollte. Ist
das Gedruckte ohnehin einziger Garant der Verffentlichung von Forschung, Meinung,
Literatur oder Kunst und kaum jemand hat mehr an der Verbreitung vergessener
oder bersehener Texte aus der Geschichte der Wissenschaften gearbeitet als
Wilhelm Ostwald mit seiner Serie Klassiker der Wissenschaft , so reprsentiert
der Druck im Buch doch nur die eine Seite der Kommunikation, die der Produktion.
Fr Wissenschaftler und andere jedoch, die sich einem Wissensgebiet zuwenden,
ist die Beschaffung von Informationen grundlegend und die war und ist von der
Verfgbarkeit medialer Hilfe abhngig. Das Internet ist heute jene Metapher einer
Referenz der Referenzen, die nicht jede Frage nach Informationen beantworten
kann, aber fr fast jede dieser Fragen eine, und sei sie noch so fragwrdige, Referenz
bereithlt. Genau dies ist fr Ostwald erste Aufgabe der Brcke, die sie umso
besser lsen kann, je genormter und einfacher ihre organisatorischen heute:
programmierbaren Grundlagen sind.
Whrend eines Chemiker-Kongresses in Brssel kurz vor der Jahrhundertwende
war Wilhelm Ostwald mit Paul Otlet zusammengekommen, dem Leiter des Inter-
nationalen Bibliographischen Instituts. Dieser wiederum hatte kurz zuvor das
Schlagwortverzeichnis und -schema von Melvil Dewey bernommen, das nach
Magabe der Kenntnisstnde am Ende des 19. Jahrhunderts die faszinierende
Fr die Brcke-Exegeten Ostwalds,
Bhrer und Saager, folgen aus den
Weltformaten zahllose Detaillsungen,
die in ihrer naiven Ernsthaftigkeit eher
kurios wirken. Zunchst variieren sie
ihre Ursprungsvorschlge zum ersten
Brcke-Buch und nennen sie die Orga-
nisierung des Druckwerks, wobei sie vor
allem konomische Grnde anfhren.
Saager setzt konsequent auf die Finan-
zierung der Brcke durch Werbung zu
Zeiten, als es auer Anzeigenacquisi-
teuren und Reisebureaus noch kaum
Werbeagenturen mit vollem Service
gegeben hat und uert sich zur
Kulturmission der Reklame. Damit
diese auch entsprechend gelnge, ver-
sucht er die Knstler und die Brcke
miteinander zu verbinden, wobei er
jedoch durchwegs jene Gestalter an-
spricht, die heute als Designer anzu-
sehen wren: Graphiker, Architekten,
Schaufenstergestalter, Dekorateure.
Bhrer erarbeitet unter dem Titel Raum-
not und Weltformat mit dem Architekten
Emil Pirchan detaillierte Vorschlge fr
Interieurs von Wohnungen und Biblio-
theken, die in Illustration und Beschrei-
bung jenen euphorischen Beglckungen
hneln, von denen auch das Internet
wenigstens teilweise lebt. [ xi ] Ein Kon-
servator der Graphischen Sammlung
der Mnchner Pinakothek erweitert
diese Vorschlge durch Raumvorstel-
lungen fr Sammlungen von Kunstkata-
logen und graphischen Blttern unter
dem Titel Kunsthandel und Weltformat;
in einem weiteren Brcke-Band, der
ohne jeden Zusammenhang mit Welt-
format und anderen Brcke-Zielen
bleibt, bejubelt er das Plakat als Kunst-
form der Zukunft. [ 17]
[ 17] DR. E. W. BREDT, DAS PLAKAT,SEINE FREUNDE UND FEINDE, SEINRECHT UND REICH. MNCHEN 1912.
W E L T -
R E G I S T R A T U R
[ xi ]
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7 9
Die Dewey-Otletsche Registratur repr-
sentiert zunchst einmal den eurozen-
trischen Blick auf die Welt, was sich an
unzhligen Einzelbeispielen vorfhren
lsst: Unter den Sprachen dieser Welt
hat das Plattdeutsche die gleiche Ord-
nungsnummer wie das Japanische, und
die knstlerischen Arbeiten afrikani-
scher wie australischer Vlker finden
keinen Platz im System trotz der in-
zwischen umfassenden Beschftigung
mit diesen Arbeiten um 1900. Die hu-
manen Wissenschaften sind noch im
Sinne des 19. Jahrhunderts geordnet:
Da ist die Phrenologie noch der Psy-
chologie gleichgestellt, und letztere ist
mit Okkultismus, Spiritismus, Geister,
Halluzinationen, Prophetie, Zauberei in
ein Fach geraten. In der Pdagogik steht
die Weibliche Erziehung neben allen
Schulformen allein, und die Frauen-
frage ist dem Volksleben untergeord-
net, neben Kriegsgebruche (Waffen,
Tnze u. hnl.). Diese Systematik belegt
wie alle anderen, dass es keine neu-
tralen Ordnungsverfahren gibt das gilt
auch fr die Standards, die heutige
Internet-Konferenzen festlegen.
Einiges vom Ansatz weltweiter Kommu-
nikationflsse heutiger Art nimmt je-
doch die Registerkarte vorweg, deren
Einzelabfragen gleichwertig nebenein-
ander stehen und somit beispielsweise
dem Designer eines Buches denselben
Stellenwert einrumen wie dem Autor.
Weitsichtig ist die Bereitstellung zweier
Gegenstnde und dreier Verknpfungen,
die ziemlich exakt dem durchschnitt-
lichen wissenschaftlichen Gebrauch heu-
tiger Meta-Suchmaschinen entspricht.
Auch dem Buchhandel ist Genge getan:
Was am Ende des 20. Jahrhunderts fr
die Barcode-Inventur ntig ist, fassen
die sechs unteren Fcher des Schemas
zusammen, inklusive der Preisangabe.
Wilhelm Ostwald knnte in diesem
System schon eine mgliche Basis fr
alle Art Fragenkataloge gesehen haben,
einen ersten Schritt zum Gehirn der
Welt. [ xiii ]
Mglichkeit bot, nahezu alle denkbaren Schlagworte in ein System numerischer
Zuordnungen zu bringen. Von Anfang an gehrte Otlet zu den Ehren-Mitgliedern
der Brcke und zu seinem Organisatoren-Kollegium; und eine der ersten Taten
des Teams Bhrer/Saager bestand darin, die franzsische Verschlagwortung
des Brsseler Instituts ins Deutsche zu bertragen. Unter dem Titel Die Welt-
Registratur wird jedoch nicht nur dieses System als Brcke-Schrift recht aus-
fhrlich bis in einzelne Verstelungen vorgestellt, sondern auch ein Hilfsmittel
angefhrt, das die Bcherei-Karteikarte quasi gleich auf den Buchrcken projiziert.
Ein ausgesprochen komplexes Registraturschema aus nicht weniger als neunzehn
Einzelpunkten soll sicherstellen, dass schon bei der Betrachtung der Rckseite
einer Druckschrift smtliche Ab- und Anfragen an den Inhalt beantwortet
werden. [ xii ]
[ xii ]
[ xiii ]
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8 1
sind die Elaborate der Mitstreiter Ostwalds nicht dazu angetan, die epistemo-
logische Bedeutung einer umfassenden Registratur herauszuarbeiten. Adolf Saager
mht sich redlich, gemeinsam mit Karl W. Bhrer die Organisierung des Druck-
werks auf eine den biederen Handwerkern im Druckgewerbe wie den hoch-
fliegenden Kunstgewerblern des spten Jugendstils gleichermaen passende
Ebene zu stellen, was grndlich misslingt. Dabei sind auch noch Kosten-Nutzen-
Rechnungen aufgestellt worden, die den Zeitgenossen ebenso bertrieben wie im
Zeitrahmen unbrauchbar erscheinen mussten.
Weitere Beispiele einer Welt-Registratur sind zudem alles andere als vertrauens-
bildend. Die Brcke beginnt 1911 mit dem Aufbau eines Brcken-Archivs, das nach
dem Willen von Bhrer und Saager mehr sein sollte als nur eine Adressenkartei.
So sind im Herbst 1911 zwei Ausschnittsammlungen von Theater- und Musikkritiken
gekauft und im Heft Das Brcken-Archiv I. Allgemeine Gesichtspunkte. Das
Kellersche Musikarchiv als beispielhafte Grundlagen eines Weltarchivs auf der
Basis der Weltregistratur geschildert worden. Karl W. Bhrer beginnt mit dem Aufbau
der geschilderten Sammlung von Rabatt- und Werbemarken und fertigt gemein-
sam mit dem Berner Verkehrsamts-Direktor eine umfngliche Liste zur
Organisierung der Hotel-Drucksachen an, damit die Prospekte von Gasthfen und
Hotels miteinander vergleichbar werden. Die Saagersche Kulturmission der
Reklame besteht vor allem in der Einfhrung vergleichbarer und damit hoffentlich
ehrlicher Kriterien zur Bewerbung von Produkten und Dienstleistungen; wie sie
dann noch gengend Geld fr die Finanzierung der Brcke abwerfen soll, wird nicht
gesagt. Was die wackeren Brcke-Streiter nicht geahnt haben: Sie leisten damit
genau jenem Overflow an Werbung Vorschub, der die Arbeit und das Spiel im Internet
ebenso langweilig macht wie das Zappen durch dreiig privatwirtschaftliche
Fernsehkanle.
Derartige Petitessen drften Wilhelm Ostwald
kaum berhrt haben. Er nahm wahrscheinlich
die diversen Druckschriften aus Mnchen in einer
Mischung aus Amusement und rgernis zur
Kenntnis und widmete sich weit greren
Zusammenhngen. Dazu gehrte ein Kollegium
von Wissenschaftlern, Knstlern, Politikern und Autoren beiderlei Geschlechts,
wie er mehrfach betonte , die er in einem Organisatorenkollegium zusammen-
fassen wollte. Nach den biomechanistischen Vorstellungen seiner Zeitgenossen
Avenarius und Mach sollte die Organisation der Organisatoren Nervenstrnge
bilden, die wesentliche Fragen aller Art miteinander verbinden und somit die Politik
beeinflussen konnten. In Bezug auf die mgliche Friedenssicherung seiner Arbeit
Darauf deutet auch eine weiterer Bestandteil des Bndchens zur Weltregistratur hin,
der unter dem Titel Bibliothekenverzeichnis der 325 Grobibliotheken der Erde
auch einzeln verkauft worden ist. Zur vorlufigen Definition der Grobibliothek ist
ein Buchbestand von mehr 100.000 Stck angesetzt worden; die Sortierung erfolgt
nach Lndern und Stdten, allerdings nicht in der vom Weltregistratur-Schema vor-
gegebenen Reihenfolge. [ xiv] Adressbcher in dieser Art htten nach dem Willen der
Brcken-Grnder noch zahlreiche erscheinen knnen und mssen, jedoch waren
die Vorschlge Karl W. Bhrers fr weitere Themen schon etwas abseitig. berhaupt
O R G A N I S A T O R E N -
K O L L E G I U M
[ xiv ]
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8 3
groe Konferenz der Licht-Ingenieure in Paris auf die rechnerische Fixierung der
Spektralfarben und ihrer Wahrnehmung in der CIE-Figur.
Nur kursorisch in seinem Brcke-Text erwhnt ist das Projekt, das Wilhelm Ostwald
ab 1914 bis zu seinem Tod vollstndig in Bewegung hielt und letztlich unvollendet
blieb: der Farbenatlas. Heute ist der Ostwaldsche Farbkreis die Sicherung seines
Nachruhms auerhalb der technischen Chemie schlechthin; und niemand, der einen
Monitor kalibrieren, eine Bildverarbeitungs-Software nutzen oder auch nur ein kom-
plexes Spiel auf dem heimischen Computer installieren will, kommt um (additive)
RGB- oder (subtraktive, fr den Ausdruck) CMYK-Farbrume herum, die allesamt
auf Ostwalds Farbkreis-Untersuchungen basieren. Neben Albert Henry Munsell,
dessen 1916 publizierter Farbkrper die Grundlage der HSL-Programmierung
bildet und in engem Kontakt zu Ostwald stand, bildeten diese Untersuchungen bis
weit in die siebziger Jahre die weltweit einzige Basis fr Farbnormierungen. [ 18]
Im Kontext weltumspannender Systeme zur Ordnung und Organi-
sierung von Wissen stellen Farbtheorien eine wichtige Schnittstelle
zwischen individueller, letztlich unkommunikabler Wahrnehmung
und quantifizierbaren Elementen industrieller Produktion wie
wissenschaftlicher Verstndigung dar. [ 19]
Eines der Ostwaldschen Fernziele hat zur Zeit hohe Konjunktur: die Weltmnze.
Dass der Dollar die Funktion einer Leitwhrung der Welt bernehmen wrde, war
vor dem Ersten Weltkrieg sicher nicht abzusehen; und dass heute dem Euro eine
hnliche Karriere bevorstnde, ist fromme Spekulation all derer, die Europa noch
fr einen produktiven Kontinent halten. Im Zusammenhang aller Brcke-Projekte
kann eigentlich nur das digitale Geld, eCash gemeint sein ein allgegenwrtiges,
in jede andere Whrung, Dienstleistung oder Kompensation tauschbares Zah-
lungsmittel ohne jede Schwankung in sich selbst. Die Weltmnze ist vollends
virtuell, sonst hiee sie nicht so. Ihre Einfhrung steht noch immer bevor.
In einem Punkt allerdings irrte der groe Wissenschaftler, und an ihm hat
er lnger festgehalten als an anderen des Brcke-Projekts: die Weltsprache. Schon
im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts setzte sich Wilhelm Ostwald fr eine
relativ unbekannte Welthilfssprache namens Ido ein, die gegen die seinerzeit
bekannteren Varianten Esperanto und Volapk kaum eine Chance hatte. Ihm
werden auch die heftigen Debatten nicht unbekannt geblieben sein, die die 1907 von
einer Linguistenkonferenz getroffene Entscheidung, keine dieser
Hilfssprachen international anzuerkennen, ausgelst hatten. [ 20]
Dennoch hielt er an der einmal getroffenen Entscheidung fest,
war Ostwald sicher durch Bertha von Suttner geprgt, die in den Jahren vor dem
Ersten Weltkrieg auerordentliche Aktivitten entfaltet hatte, um konkret drohende
kriegerische Auseinandersetzungen zu vermeiden.
Nach seinem Aufruf An die Nobelpreistrger nutzte
Ostwald seine weitreichenden Korrespondenzen und
Beziehungen fr diese Idee, so dass schon im Herbst
1912 eine Liste faksimilierter Unterschriften aus
dem Internationale[n] Organisatoren-Kollegium der
Brcke verffentlicht werden konnte. Dieselben
Namen finden sich satzungsgem in der, zur ersten
Jahresversammlung im Mrz 1913 erschienenen Mit-
gliederliste unter den Rubriken der Stifter und
Ehrenmitglieder wieder. Fr die Finanzierung des
Kollegiums und seiner Aufgaben konkretisierte
Ostwald seine Vorstellungen ber soziales Stiften
und soziales Testieren in einer eigenen Druckschrift,
die eine gute Richtlinie fr die Arbeit der endgltig zu
grndenden Brcke abgegeben htte, wre sie 1914
tatschlich entstanden. Sicher htte die Zusammen-
kunft der Engagierten den Ersten Weltkrieg nicht
verhindern knnen, mglicherweise aber der Kriegs-
begeisterung vieler Intellektueller im Sommer 1914
einige Dmpfer aufgesetzt haben. [ xv ]
Neben Weltformat, Weltregistratur und Organisa-
torenkollegium haben einige andere Ziele der Brcke
direkte Anknpfungspunkte im Alltag des Wissen-
schaftlers Wilhelm Ostwald geformt. Dem Natur-
wissenschaftler lagen die Vereinheitlichungen der
Mae und Gewichte in aller Welt nahe, und mittels
der Brcke htte das metrische System der Lngen, Flchen und Volumina wohl
noch schneller eingefhrt werden knnen am Ende des 20. Jahrhunderts fahren
angelschsische Autos noch Meilen pro Stunde schnell, legen Schiffe ihre Distanzen
in Knoten zurck, und Gold wird an der Brse per Feinunze bewertet. In seinen
Texten verweist Ostwald mehrfach auf die Bedeutung der Vereinheitlichung im Bereich
der Elektrizitt, die schon im 19. Jahrhundert einigermaen erfolgreich abge-
schlossen war sie hat nur noch einiger Nachbesserungen und Nominierungen in
den 1980er Jahren bedurft. Im Todesjahr des Wissenschaftlers einigte sich eine
[ 18] F. W. BILLMEYER JR., SURVEY OF COLOR ORDER SYSTEMS, IN: COLORRESEARCH AND APPLICATIONS 12,(1987), S. 173-186.
[ 19] VGL. MEINEN TEXT IN DIESEMKATALOG, S. 11-38.
[ 20] BAUDOIN DE COURTENAY, ZUR KRITIK DER WELTSPRACHEN,LEIPZIG 1908.
[ xv ]
F E R N Z I E L E
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8 5
Produkten fr die knstlerische Praxis htten niederschlagen
knnen wre die Kunst nicht schon wieder ein Stck weiter
gewesen. Das monumentale Pastell, riesenhafte Kreiden fr al
secco auftragbare Bildvorwrfe, [ 23] wre unter Auspizien einer
naturalistischen Sakral- oder Historienmalerei schnell durchge-
setzt gewesen, doch war die Zeit dieser Darstellungen und Bildformen um 1910
vorbei. [ 24] Es scheint auch so gewesen zu sein, dass Wilhelm Ostwalds intensive
Beschftigung mit der Farblehre aus dieser Zeit stammt und auf die Bewusstwerdung
einer Verschiebung zwischen eigener Wahrnehmung und Zeitstrmungen zurck-
geht. Fr das Verstndnis der Brcke ist jedoch ein umfassenderer Design-Begriff
erforderlich, damals wie heute.
Ordnungen, wie sie die Brcke entworfen hat, folgen prinzipiell sthetischen ber-
legungen von Symmetrie, Hierarchie und Struktur; in dieser Hinsicht steht das
Unternehmen in einer Jahrtausende alten Tradition. Modern im Sinn des frhen
20. Jahrhunderts sind die Begrndungen Ostwalds, die naturwissenschaftliche
Erkenntnisse mit einem weitgefassten Kulturbegriff verbinden. Jenseits nationaler
Kunstgeschichten, diesseits der jeweiligen Landessprache, unterhalb jedweder
Symbolik sollen etwa im Weltformat interkulturelle Maverhltnisse und
Proportionen angesiedelt werden, auf die sich alle Menschen einigen knnen.
Ostwald geht in seinem Brcke-Text sogar soweit, die Begrndung sthetisch-
mathematischer Entscheidungen als Grundlagen aller Kommunikation, allen
Verkehrs und menschlicher Existenz insgesamt hinzustellen. Diese Erkenntnisse
werden achtzig Jahre spter durch physiologische Untersuchungen als Bewusst-
seinsstrukturen ganz langsam Allgemeingut.
Doch auch in diesem Fall klafft zwischen den Nebenstzen eines groen Denkers
und der ihn umgebenden Alltagswirklichkeit ein tiefer Graben. Saagers uerungen
in seinem Buch ber die Knstler und die Brcke deuten allenfalls auf eine ober-
flchliche Kenntnis der Mnchner Sezession, und Bhrers sthetische Kategorien
sind durch die erwhnten Sammlungen an Kleingraphik hinreichend charakterisiert.
Das Signet der Brcke entwickelt sich im Verlauf der Jahres 1911
bis 1913 von einem unbersehbaren Symbolgewirr aus Sonne,
Brcke, Wappenschild und Doppelrahmen zu jenem Logo, das die
Einladung zur Jahresversammlung ziert und als knappste Form
allein die Brcke in einem Kreis vorfhrt. Wohl aus demselben
Anlass heraus ist der wenig elegante Viadukt auch noch in Bronze
gegossen worden; wahrscheinlich erhielt Wilhelm Ostwald diese
Skulptur als Geschenk zu seinem 60. Geburtstag 1913, denn sie
befindet sich in seinem Nachlass. [ xvi ]
fertigte um 1910 ein Fachwrterbuch fr die Chemie in Ido an und verffentlichte
seinen Brcke-Text wie die Weltformate in ebensolchen bersetzungen. Das
Interesse an einer wie er es in allen Texten nannte Welthilfssprache belegt
jedoch die Kenntnis der Grundlage aller Brcke-Ideen in sprachlicher Fixierung und
linguistischer Reprsentation. Auch sie ist durchgesetzt: Die Sprache des Internets
ist ein nahezu auf Nomina reduziertes, in der Orthographie hochkomplexes, dafr
grammatikalisch weitgehend verkmmertes Englisch. In dieser Funktion ist es
ebenso vorlufig zur Weltsprache geworden wie der US-Dollar zur Weltmnze.
Die Summe seiner Nah- und Fernziele mit der Brcke hat Wilhelm
Ostwald in einem Text fr das Jahrbuch des Deutschen Werkbundes
gezogen, dessen Grndungsmitglied er gewesen war. [ 21] Ur-
sprnglich wohl als weitere Werbung fr die Brcken-Idee gedacht,
bleibt nach Eliminierung des Begriffs allein der groe Schritt, welcher unserer Zeit
vorbehalten ist, [...] vom Individualismus zur Organisation. Auch das Zentralorgan,
das die Brcke sein sollte, ist noch im Text zu finden es trgt nur keinen Namen
mehr. Was Ostwald in diesem Text so klar wie selten sonst formuliert, ist die
Herleitung seiner Ideen, die er nunmehr unter dem Stichwort Norm oder, auf dem
Weg dorthin, Normierung zusammenfasst. Ihm geht es um die vermeintliche
Freiheit der Kunst, die sich in romantischer Weise als vllig ungebundener
Individualismus verabsolutiert hat und die nunmehr als Epoche zu Ende geht.
Allgemeinste Formen und Gegenstnde stehen als Konventionen dem persnlichen
Ausdruck individueller Kunst in keiner Weise entgegen, sondern helfen einer
neueren, fr ihn immer hheren Kultur zur Realisation. Die Kunst ist durchaus ein
soziales Produkt. Geschrieben um die Jahreswende 1913/14, ohne persnliche
Kenntnis spterer Avantgardisten und Agitprop-Knstler, ist dieses Axiom Ost-
waldscher Verbindung von Kunst und Wissenschaft seiner Zeit weit voraus. Was er
von der Bedeutung der Konvention, Norm, Organisation und damit auch Brcke
schreibt, lsst sich unter heutigen Auspizien, auch und gerade im Netz der
Informationen, im Begriff des Designs zusammenfassen.
Das Kunstverstndnis Wilhelm Ostwalds ist sicher
konventionell; in spteren Jahren hat er viel gemalt
und einiges photographiert, ist aber ber einige
Fertigkeiten in der Naturschilderung nicht hinaus
gekommen. Auch die Photographien stehen weit
hinter den Arbeiten zurck, die beispielsweise Karl
Blossfeldt oder Edwin Hale Lincoln zur selben Zeit und frher anfer-
tigten. [ 22] Aus der Beschftigung mit Wand- und Deckenmalerei
stammen seine Erfindungen, die sich in chemisch-industriellen
D E S I G N
[ 22] GRETE OSTWALD, BLUMENBILD-NISSE WILHELM OSTWALDS, IN: DIEFOTO-SCHAU 5, (1940), 8, S. 16.
[ 23] WILHELM OSTWALD, MONUMEN-TALES UND DEKORATIVES PASTELL.LEIPZIG 1911.
[ 24] FRIEDRICH GROSS, JESUS, LUTHERUND DER PAPST IM BILDERKAMPF 1871BIS 1918, ZUR MALEREIGESCHICHTE DERKAISERZEIT. MARBURG 1989.
[ 21] WILHELM OSTWALD, NORMEN, IN: WERKBUND-JAHRBUCH 1914, NACH-DRUCK IN: AUSST.KAT. ZWISCHENKUNST UND INDUSTRIE, DER DEUTSCHEWERKBUND. MNCHEN 1975, S. 82-84.DARAUS AUCH DIE FOLGENDEN ZITATE.
[ xvi ]
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8 7
Die Brcke ist grndlich vergessen worden,
ganz wirkungslos ist sie dennoch nicht ge-
blieben. Auch war und ist es nicht allzu schwer,
ihre Geschichte zu recherchieren; dieser
Versuch ist nicht mehr als eine erste Ann-
herung. Das Weltformat ist in die DIN-Gren
der Druckindustrie und in die Gestaltung der Ulmer Hochschule fr Gestaltung
eingeflossen. Viele entscheidende Details der Vereinheitlichung von Geld, Sprache,
Maen und Gewichten sind bereits realisiert oder endgltig auf dem Weg dazu,
Transferprotokolle fr Daten wie Informationen das Organisatorische im
Ostwaldschen Sinne sind weltweit standardisiert. Wichtiger als diese tatsch-
lichen Entwicklungen auf der untersten Kulturstufe, wie Ostwald selbst formu-
liert, sind die Rezeptionsebenen im epistemologischen Bereich.
Wissenschaft und grosso modo auch Kunst, Literatur, Musik als einen Bereich
menschlichen Denkens und Handelns zu definieren, dessen Bewusstseinsstrukturen
von auen bestimmt werden, dessen Rnder die Terrains mglicher Operationen
abstecken: Hier liegt die eigentliche Leistung Wilhelm Ostwalds und der Brcke.
Nicht mehr der individuelle Wissensdrang, nicht mehr die geniale Eingebung und
Erfllung des einsam Schaffenden, nicht mehr der privatistische Sammeltrieb garan-
tieren den Fortschritt menschlichen Wirkens, sondern der Verkehr, die Trans-
portsysteme, die Regeln des Austauschs. Die organisatorische Festlegung wirft
zunchst alle bestehenden Wertkategorien, alle Hierarchien ber den Haufen und
ordnet dem Fluss der Informationen auch die individuelle Bearbeitung unter,
mindestens zunchst und im Anfang einer jeden wissenschaftlichen oder knstle-
rischen Arbeit.
Der Ansatz sei er nun Wilhelm Ostwald, seinen beiden Brcke-Mitstreitern oder
letztlich der Autopoesis ihrer Ideenfindungen geschuldet ist die radikale Umkehrung
einer Vorstellung, die sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hufiger fand
und sich im Wagnerschen Begriff des Gesamtkunstwerks am besten
fassen lsst. [ 25] Nicht die groe, nur auf Zeit praktikable und im
Ritus gebundene Einheit der Knste und Wissenschaften ist
es, was die Brcke suchte, sondern die einfachsten bergnge
zwischen den Inseln des Denkens und Wissens. Was der Einzelne damit machte,
welchen Gewinn er daraus zog, war nur solange interessant, als die Nchsten
daraus ebenfalls Nutzen ziehen konnten, ansonsten gab es weder Legitima-
tionsdruck noch eine Bewertung des Interesses. Wer sich die verschiedenen
Lebensreform-Vorhaben der Zeit um 1910 anschaut, kann sich keinen greren
Gegensatz als den zur Brcke vorstellen.
Druckschriften und Musterbgen der
Brcke tragen durchwegs den Namen
von Emil Pirchan, einem Graphiker und
Architekten aus Brnn, der um 1910
wahrscheinlich als Zeichenlehrer (mit
Professorentitel) in Mnchen an der
Kunstgewerbe- oder einer anderen be-
ruflichen Fortbildungsschule ttig war.
ber ihn drfte die Verbindung mit
Georg Kerschensteiner zustande ge-
kommen sein, dem groen pdago-
gischen Reformer, der ebenfalls im
Organisatorenkollegium der Brcke
sa. Pirchan ornamentiert die weltfor-
matigen Broschren mit Elementen aus
der Jugend und dem Simplicissimus,
verbleibt typographisch mit Brotschriften
und Antiqua-Titeln brav im Durchschnitt
deutschen Druckens jener Zeit und setzt
mit orangeroten Farbauszeichnungen
auch keine auerordentlichen Akzente.
Allein das unendliche Rahmen aller
wichtigen Details in rechteckige Ksten
und die Vorfhrung der Weltregistratur
in einem Setzkasten-hnlichen Gehuse
verweisen auf die Balkengraphik der
Avantgarde in den zwanziger Jahren.
Emil Pirchan zeichnet zudem die Ent-
wrfe fr Bros und Bibliotheken nach
Einfhrung des Weltformats, wie sie in
grerer Zahl etwa Bhrers Raumnot
und Weltformat zieren. Diese Entwrfe
knnen geradezu als Karikatur des
sthetischen Ansatzes von Wilhelm
Ostwald gelesen werden, denn sie pr-
sentieren sich als ungekonnte Varianten
der Entwrfe des Wiener Architekten
und Mbel-Designers Josef Hoffmann
(Quadratl-Hoffmann nach Adolf Loos).
Bei den Perspektivansichten stimmen
die Grenverhltnisse von Personen
und Raum nicht; zwischen Grund- und
Aufriss einerseits und der Innenraum-
perspektive andererseits klafft gelegent-
lich eine deutliche Lcke der Zuordnung,
oder es fehlt schon ein Mal an einem
halben Meter Kantenlnge. Mit einer
Ordnung vor aller Hierarchie und Sym-
bolik haben diese Arbeiten nichts zu
tun, wie letztlich alle Ausfhrungen
der Brcke-Ideen in der Realitt ihrer
Mnchner Macher. Eine wirklich brauch-
bare gestalterische Umsetzung der Ideen
von Wilhelm Ostwald und der Brcke
steht weiterhin aus. [ xvii ]
W I R K U N G E N
[ 25] AUSST.KAT. DER HANG ZUM GESAMTKUNSTWERK. ZRICH/DSSEL-DORF/WIEN 1983.
[ xvii ]
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Auffllig am Vorhaben und seinen
Realisierungsversuchen ist die Ferne
zur den bestehenden Institutionen von
Bildung, Wissenschaft und Kunst. Sicher
trugen die Damen und Herren bei den
Banketten und Jahrestreffen ihre aka-
demischen Titel voller Stolz, doch kaum
ein Seminar und schon gar keine
Universitt oder Akademie trat als Teil
der Brcke auf. Fr Wilhelm Ostwald,
der kurz vor dem Empfang des Nobel-
preises die Leipziger Universitt und
sein dortiges Ordinariat tief enttuscht
verlassen hatte, war das gesamte Bil-
dungssystem des Zweiten Deutschen
Kaiserreichs obsolet geworden, ver-
krustet und in der Gefahr, an der eigenen
Brokratie zu ersticken. Erst diese
Distanz zu hierarchisch gegliederten
Bildungs-, Vermittlungs-, Sammel- und
Archivierungssttten hat die Dynamik
der Brcke-Idee von der Auskunft aller
Ausknfte, vom umfassenden Adres-
sen- und Bibliotheksarchiv, eben vom
Gehirn der Welt entstehen lassen.
Hier vor allem liegt die Gemeinsamkeit
zu den Internet-Ideen der frhen und
mittleren 1990er Jahre: ein nicht-hie-
rarchisches, leicht anarchistisch ange-
hauchtes System der Vermittlung aller
Referenzen, die Schaffung einer Ge-
meinschaft von Wissenden, denen kein
Gedanke zu wertlos ist, um ihn nicht in
die soziale Kommunikation einflieen
zu lassen. [ 26] 1912 ist dieser Gedanke
so romantisch und verklrt gewesen wie
2002; und auch das Internet ist kein
Allheilmittel fr die steinzeitlichen Ag-
gressionstriebe der Menschen unterein-
ander. Aber jeder Schritt auf den unge-
hinderten, unzensierten, unbewerteten
Austausch von Ideen, Informationen und
Meinungen hin markiert ein Stck Me-
diengeschichte, dessen man sich in dem
Sinne erinnern sollte, dass man heute
nur realisieren kann, was andere zuvor
konzipiert haben.
[ 26] HOWARD RHEINGOLD, VIRTUELLEGEMEINSCHAFT, SOZIALE BEZIEHUNGENIM ZEITALTER DES COMPUTERS. BONN 1993.
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GESAMTHERSTELLUNGDR. CANTZSCHE DRUCKEREI
DANKULRIKE HAVEMANN
2004 ZKM | ZENTRUM FR KUNSTUND MEDIENTECHNOLOGIEKARLSRUHE; HATJE CANTZ VERLAG,OSTFILDERN-RUIT; DIE AUTORENUND FOTOGRAFEN 2004 FR DIE ABGEBILDETENWERKE VON JOSEF ALBERS BEI VGBILD-KUNST, BONN
ERSCHIENEN IMHATJE CANTZ VERLAGSENEFELDERSTRASSE 1273760 OSTFILDERN-RUITDEUTSCHLANDTEL. 07 11/ 4 40 50FAX 07 11/ 4 40 52 20WWW.HATJECANTZ.DE
ISBN 3-7757-1475-8PRINTED IN GERMANY
UMSCHLAGABBILDUNG RCKSEITEANZEIGE DER FARBORGEL, AUS:LEHR- UND LERNMITTEL ZUROSTWALDSCHEN FARBENLEHRE.GROSSBOTHEN 1930
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001a Gegenstand
136b Gegenstand
652c Beziehung zu
667d Beziehung zu
750.2e Beziehung zu
[]f Ort
2004g Zeit
[04]h Form des Druckw.
=3i Sprache des Druckw.
Farbsystemej alphab. Stichwort
SCHRGSPUR 2004k Name d. Knstlers / Datum d. Kunstw.
ZKM | KARLSRUHEn Herausgeber oder Quelle
HATJE CANTZ VERLAGo Name des Druckers
19,80 C / sFR 34.-p Preis des Druckwerkes
KARLSRUHEq Ort des Herausgebers
OSTFILDERN-RUITr Ort des Druckers
2004s Datum der Verffentlichung /Jahrgang (Bd.), Heft (No.)
WELTFORMAT IX = 16 X 22,6 CMl Nr. des Druckw. / Gre des Druckw.
SACHSSE, ROLFm Name des Verfassers
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